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ICARUS/014: Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur 1/2010


ICARUS Heft 1/2010 - 16. Jahrgang

Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur



INHALT
Autor
Titel

Kolumne
Wolfgang Richter
"Der Sozialismus ist gar nicht so übel"

Fakten und Meinungen
Irene Eckert
Gerhard Fischer
Boryana Aleksandrowa
Brigitte Queck
Hellmut Kapfenberger
Horst Schneider
Marianne Liebermann
Elisabeth Ittershagen
Werner Krecek
Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch
Ein Ereignis von Jahrhundertbedeutung
Noch mehr NATO-Truppen in Afghanistan?
DU - Trojanisches Pferd der Atomwaffen
Die Bundesrepublik und die historische Wahrheit
Wie "Bürgerrechtler" in der DDR Helmut Kohl halfen
Gegen das Vergessen und das Vergessenwerden
Vom Kinderheim der Roten Hilfe
Als Daisy den Winter brachte

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"
Peter Michel
Heidrun Hegewald
Heike Friauf
Peter Michel
Wolfgang Richter
Die Verhältnisse durchschaubar machen
Frau K. trifft Frau H. - dienstags
Künstlerische Säuberung
Offener Brief
Epilog zum "Lexikon Künstler in der DDR"

Rezensionen
Detlef Joseph
Klaus Przyklenk
Erhard Thomas
Mario Tal
Erika Schwarz: Juden im Zeugenstand
Vermächtnis DDR
Und jedes Wort - ein Flügelschlag
Biografie Alissa Fuss

Marginalien


Ralf-Alex Fichtner

Echo: p.f. 2010 - Neujahrswünsche und Leserbriefe
Aphorismen
Karikatur
Ausstellungen der GBM-Galerie 2010

Raute

Kolumne

Wolfgang Richter

"Der Sozialismus ist gar nicht so übel"

Kurz vor Weihnachten 2009 blätterte ich in einer Sonntagszeitung eher ziellos und ohne besondere Erwartungen nach etwas Lesenswertem. Plötzlich finde ich mich in einem längeren Artikel wieder, stocke und reibe mir erstaunt die Augen. Ein vergewissernder Blick auf die Überschrift signalisiert mir zwar, im richtigen Text zu sein, aber bin ich auch in der richtigen Zeitung? "Warum", heißt es hier "ist der Sozialismus einer sozialen Marktwirtschaft überlegen, die ja auch auf Umverteilung setzt? Die Antwort ist einfach: In einer sozialistischen Gesellschaft nehmen die Menschen um des anderen willen aneinander Anteil. Im Kapitalismus sind die Menschen auch aufeinander bezogen, aber nur, weil sie sich vom Austausch einen Vorteil für sich selbst und ihre eigenen Interessen versprechen. Die Marktwirtschaft nutzt die natürlichen Triebe der Gier und Angst. ... Eine Wirtschaftsordnung soll gut sein, die die Gier befeuert und die Angst braucht? Wie das Christentum weiß der Sozialismus, dass man die Triebe zähmen muss und darauf kein Wirtschaftssystem bauen sollte." Es folgt die provokante Frage: "Ist der Sozialismus wünschenswert? Ja, lautet die Antwort."

Also, ich bin im richtigen, doch ist die Zeitung im falschen Film? Denn es ist die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 21. Dezember. Die Ausgabe für FAZoholics, übers Wochenende nicht an Entzugserscheinungen von der bürgerlichsten aller bürgerlichen Zeitungen des Landes zu leiden. Ich lese hier auch keinen Leserbrief, sondern einen Artikel des Leiters des Wirtschaftsteils, Hank, der die Leser zur Diskussion auffordert.

Natürlich blitzt bei mir sogleich der Gedanke auf, dass eine so große und nachhaltige Weltwirtschaftskrise wie gegenwärtig die Rehabilitierung des Sozialismus nahe legen mag, wird doch über die Verstaatlichung der großen Banken öffentlich debattiert. Auch mag es angebracht erscheinen, als großbürgerliches Blatt das Thema selbst zu besetzen, ehe die Linken Unsinn damit treiben. Aber das ist hier doch noch etwas anderes. Ein Test der öffentlichen Meinung vielleicht? Wenn es kein positives Echo findet, dann lassen wir es eben wieder sein. Dietmar Koschmieder untertitelt seinen Kommentar in der Jungen Welt "Wie Rainer Hank seine Klasse verrät" und schlussfolgert, "dass die klugen Bürgerlichen am Ende ihres Lateins sind und wenigstens ahnen, dass die bestehenden kapitalistischen Verhältnisse auf Dauer nicht haltbar sind."

Aus dem Kommunistischen Manifest fällt mir dazu der Satz ein, den - wenn ich mich recht erinnere - Hermann Duncker einmal die Visitenkarte seiner Verfasser nannte: "In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozess innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, einen so grellen Charakter an, dass ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt." (MEW 4,471) Also nähert sich der Klassenkampf der Entscheidung? Wie sind wir vorbereitet? Und wie geht die Bourgeoisie heute mit dem Sozialismus um? Was ist er ihr, eine Hoffnung oder doch nur eine Bedrohung?

Ich erinnere mich an eine Allensbach-Analyse von 2007, die die FAZ damals unter dem Titel "Der Zauberklang des Sozialismus" vorstellte. Der Autor, Thomas Petersen, konstatierte Ergebnisse, die aufhorchen ließen und lassen. Seit 1991 stellt das Allensbacher Institut regelmäßig die Frage: "Halten sie den Sozialismus für eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde?" In Ostdeutschland bejahte das immer eine Mehrheit. Im Westen waren es damals immerhin auch 30 Prozent, während 45 Prozent widersprachen. 200v sagen schon 45 Prozent der Alt-Bundesdeutschen "Ja" und nur noch 27 Prozent widersprechen. "Inzwischen haben sich die Westdeutschen langsam aber beharrlich dem ostdeutschen Meinungsbild angepasst." Schneller immerhin als sich die ostdeutschen Lebensverhältnisse den westdeutschen angepasst haben. Und erstaunt oder resigniert stellt die FAZ vom 18.7.07 fest: "Das Idealbild des Sozialismus hat das Ende der kommunistischen Diktaturen bemerkenswert unbeschadet überstanden." Hingegen stehen bürgerliche Demokratie und Kapitalismus in Mittel- und Osteuropa einer aktuellen US-Studie zufolge weit weniger hoch im Kurs als 1991. Und den Zerfall der Sowjetunion betrachtet die Mehrheit der Russen bis heute als großes Unglück. Dieser Erfolg der sozialistischen Idee - das ist bemerkenswert - ist nicht neuen theoretischen Entwürfen einer kommunistischen Gesellschaft zu verdanken, die gibt es eher zu wenig, sondern der Faszination des Marxismus, des Manifests. Der Mann, der das "Kapital" schrieb, scheint wieder in zu sein. "Ein Denkmal löst sich aus seiner Erstarrung," kann man heute schon eher angelegentlich von Rezensionen etc. in großbürgerlichen Zeitungen wie auch "Die Welt" vom 24. Januar 2010 lesen. Wie hieß es bei Hank? "Zwar ist der Sozialismus vor zwanzig Jahren kläglich zugrunde gegangen. Der faktische Bankrott muss aber nicht die analytisch scharfe Idee falsifizieren."

Die Weltwirtschaftskrise hat sicher noch vielen die Augen geöffnet. Wenn China die Macht ist, die aus dieser Krise gestärkt hervorgehen sollte, könnten wir evtl. wieder einen globalen Systemgegensatz zweier Supermächte erleben, USA und China, Kapitalismus und Sozialismus?

Am 3. Januar hieß es in der FAS dann: "April, April". Hank selbst gab die Auflassung, sich als Advocatus Diaboli zu verharmlosen. Zwei längere Artikel eines neoliberal gesonnenen Ökonomie- und Philosophieprofessors, Hartmut Kliemt, sowie des Soziologen Jens Beckert rücken sich Hank erst einmal neu zurecht, um ihn zu widerlegen. Als gemeinsamer Zweifel beider Koreferate bliebe festzuhalten, dass sie "Sozialismus" zwar für wünschenswert in der Kleinfamilie oder auf dem Zeltplatz halten, aber nicht für die Großgesellschaft, wo er auch nicht möglich sei. Eine seltsame Ehe. Soll der Marxismus zum Kleingruppenknigge oder zur Platzordnung degeneriert werden? Und spätestens hier fällt auf, dass alle die Frage der Eigentumsverhältnisse als Gesamtheit der Produktionsverhältnisse meiden, die die Grundlage einer Gesellschaftsordnung eines höheren Typs bilden. Kliemt gesteht ein, dass es der Kern des liberalen klassischen Freiheitsideals ist, den Reichen wie Armen zu verbieten, unter den Brücken zu schlafen, auf der Straße zu betteln und Brot zu stehlen. (Anatol France)

Becken verdrängt die Frage, wie wir leben wollen und welchen Utopien wir nachhängen zur Marginalie. Wir sollten uns besser darum kümmern, wie wir die wachsenden sozialen und ökologischen Bedrohungen abwenden können. Das sei die Frage, die uns in Atem hält. Aber das heiße jedenfalls noch lange nicht, dass "die Reichen nicht so reich sein (können), wie sie sind".

Fazit einer Auswahl von Leserbriefen ist dann Altbekanntes. Der Sozialismus sei von "romantischer Weltfremdheit und Naivität", bloße Utopie. Er sei widernatürlich, weil der Mensch nicht gut sei. Er gleite immer in ein Paradies für die Faulen ab. Er gleite immer in eine tyrannische Diktatur ab.

Es würde schon reichen, wenn wir wieder eine soziale Marktwirtschaft hätten, dann brauchten wir keinen Sozialismus. Wir sollten lieber den Kapitalismus zum Wohle des Menschen einsetzen. Wer das nicht schon alles versucht hätte.

Immerhin, Hunderte haben an der Debatte teilgenommen. Die Debatte über Sozialismus ging so kläglich aus, wie in der FAS zu befürchten oder besser, zu erwarten war.

Nach der Weihnachtsbotschaft des Advocatus Dei, Hank, folgt die Neujahrsansprache der FAS-Adressaten (fast) unisono: Kriege auf Erden und den Reichen ein Wohlgefallen.

Raute

Fakten und Meinungen

Irene Eckert

Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch

es bedarf dazu der theoretischen und organisierten Anstrengung

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Das kapitalistische System bietet den Menschen keine Zukunft. Das Bildungswesen versinkt im Privatisierungssumpf. Aufrüstung und Kriege verschlingen Milliarden an Investitionsmitteln, die für basale Infrastruktureinrichtungen fehlen. Massenarbeitslosigkeit und Prekariat sind die Zukunftsmelodie auch für akademisch gebildete junge Menschen. Das kulturelle Niveau befindet sich auf einem beklagenswerten Tiefstand. In Kopenhagen wurde im Dezember des Vorjahres die Hoffnung auf ein Umlenken auch in Sachen Umweltschutz zu Grabe getragen, nachdem im April die Anti-Rassismuskonferenz in Genf kläglich gescheitert war und zu Ende ging, ohne minimale Hilfestellung für die bedrängten Menschen in Palästina zu einzufordern.

Nimmt es nicht Wunder, dass angesichts der sich ständig verschlechternden Lebensbedingungen zumindest in EU-ropa und Nordamerika sich vergleichsweise wenig Widerstand rührt? Vor allem die Jugend, die es besonders angehen müsste, tanzt auf dem Vulkan und sucht sich im - wie auch immer gearteten - individuellen Glücksstreben zu verwirklichen.

Währenddessen versinken Staats- und Gemeindekassen tief in den roten Zahlen. Hypotheken auf die Zukunft werden für das Militär und für die polizeiliche Überwachung der Bürger aufgenommen, auch die private Verschuldung der Haushalte steigt ins Unermessliche. Präventive Mittel gegen Bürgerinnen und Bürger sind schon einsatzbereit, noch ehe diese sich auf die Möglichkeit von Widerstand verständigt haben.

Wenn aber die immer drastischer werdenden Zumutungen vom Volke derzeit noch schwermütig hingenommen und für unabänderlich erachtet werden, dann hat diese bleierne Schwere gewichtige Gründe, die mit dem Ausbau des Polizeistaates allein nicht hinreichend erklärt sind. Die wirklichen Ursachen dafür müssen daher aufgespürt und beseitigt werden, damit die Schneepflüge durchkommen und die Wege, die aus der Gefahr führen, wieder beschritten werden können.

Das Gespenst des Kommunismus, das die Oberen noch als Schattenbild mehr fürchten als der Teufel das Weihwasser, muss wieder sinnliche Gestalt annehmen. Seine reale Bedeutung für das Überleben der Gattung Mensch muss neu ausgelotet werden. Die Tatsache, dass die Länder, die mit Nachdruck und Beharrlichkeit am Aufbau einer sozialen, sozialistischen oder zukünftigen kommunistischen Gesellschaftsordnung weiterarbeiten mit Boykott, Sanktionen und bösartigsten Verleumdungen überzogen werden, ist als Denkaufgabe zu begreifen. Die ebenso gewichtige Tatsache, dass Länder, in denen sozial verantwortungsbewusste Politiker das Sagen haben, schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen wegen angeprangert werden und ihnen mit Krieg, ja sogar mit Atomkrieg, gedroht wird, ist eine gleich große Herausforderung an den gesunden Menschenverstand. Als Denksportaufgabe sollte uns auch die Frage dienen, warum die wenigen kommunistischen Parteien dieser Erde, die nach 1956 nicht allmählich umgekippt sind, sondern sich - wenn auch oft nach schweren inneren Kämpfen - auf das gute alte, weil Erfolg verheißende Erbe besannen, warum gerade diese Parteien sich einen Massenanhang zu sichern wissen. (Siehe allen voran in Griechenland die KKE.) Die Abkehr dagegen von wissenschaftlicher Gründlichkeit und kreativ-klassenkämpferischer Anwendung der Lehre der Klassiker führte allmählich aber dafür zielsicher ins Aus, sprich zur Zerstörung der Grundlagen der sozialistischen Gesellschaftsordnungen und zur Zerstörung der kommunistischen Parteien von innen heraus mit all ihren verheerenden Folgen für die betroffenen Nationen und für die ganze Welt. Die Zerrüttung der kommunistischen Parteien durch den modernen Geschichtsrevisionismus, enthauptet sozusagen die Massen, indem sie ihnen ihre Avantgarde raubt. Sie lähmt folglich zwangsläufig die Widerstandskraft der Massen. Die Folgewirkung auf die Gewerkschaftsbewegung und auf linke Parteien ist fatal. Sie führte zur Sozialdemokratisierung mit all ihren seit spätestens 1917 bekannten Folgen. Ja sie treibt die Sozialdemokratie immer noch weiter nach rechts. Der Geist des Humanismus, den die Arbeiterbewegung im besten und umfassendsten Sinne verkörperte - schließlich war sie angetreten, das Menschengeschlecht aus der Knechtschaft zu befreien - ist damit mitten ins Herz getroffen. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatengemeinschaft, letztlich ein Ergebnis der modernen Geschichtsverdrehung und der Verleumdung ihrer Errungenschaften, wurden die opferreich erkämpften Ergebnisse der Nachkriegsordnung revidiert. Mit immer gewichtigerer Beteiligung der wiedervereinten und neu erstarkten Großmacht Deutschland waren dadurch sehr schnell zunächst in Europa, dann in der Welt, Kriege äußerst zerstörerischen Ausmaßes wieder möglich geworden.

Solches geschah erstmals im Januar 1991, im zweiten Golfkrieg unter Einsatz von Uranmunition. Für diesen Krieg gegen den Irak erwirkten die interessierten Parteien - unter anderem - durch geschickte Manipulation der Weltmeinung die Zustimmung des UN-Sicherheitsrates. Zur Erinnerung aus aktuellen Gründen: Der erste Golfkrieg war Anfang der 80er Jahre gegen den Iran geführt worden. Giftgas kam dabei zum Einsatz seitens des Nachbarlandes Irak. Dieser Krieg war im Kern gerichtet gegen die 1979 einsetzende "grüne" (islamische) Revolution, die das Schah-Regime hinweg gefegt hatte. Angestiftet worden war der US-verbündete Staatschef des arabischen Landes Saddam Hussein zu dem kriegerischen Vorgehen gegen die schiitischen Brudernation von seinen kolonialen Ratgebern. Diese beseitigten ihn später wie ein Ungeziefer - auch weil der einst Vielgepriesene ein Vielwisser war - und sich seinerseits dem Land, das den Schah in den Sattel gehoben hatte, als nicht mehr gefügig genug erwies. (Sein christlicher Außenminister Tariq Aziz wird noch immer unter unwürdigen Bedingungen in Haft gehalten und vermutlich für die Hinrichtung präpariert.) Im Grunde hatte der zum "Erzdiktator und zweiten Hitler" gekürte irakische Regierungschef Hussein nicht viel anders gehandelt als der vor der Inthronisierung des Schah Pahlevi gestürzte iranische Nationalist und Demokrat Mossadegh. Letzterer hatte es 1952 gewagt, die Ölressourcen des Landes zu verstaatlichen. Ersterer verteilte die staatlichen Einnahmen der Ölindustrie für großzügige Investitionen in die Infrastruktur des Landes, den Ausbau der Bildungseinrichtungen, zur Stützung des Lebensniveaus seiner Bürger. So etwas missfällt dem Imperium, wie sich heute an der Bedrohung Venezuelas, aber noch stärker an der des Iran zeigt, das durch den populären, sozial eingestellten und nicht erpressbaren Präsidenten Ahmadinedschad geführt wird. Dass beide "Regime" befreundet sind und eng kooperieren, macht die Sache in den Augen der Herren, die die Welt regieren, nicht besser. Dass Chavez katholischer Christ und Ahmadinedschad ein Muslim ist, ändert nichts an deren Schurkenstatus.

Da die UdSSR 1989 zerschlagen und gedemütigt, dem Westen ausgeliefert, am Boden lag, blockierte das große Russland nicht mehr durch sein Veto den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Das gemeinsame Ziel der imperialistisch geführten Länder schien endgültig erreicht: Der Sozialismus röchelte im Todeskampf. Das Ende der Geschichte wurde ausgerufen. Das wieder vereinte imperialistische Deutschland, das im 20. Jahrhundert zwei Anläufe unternommen hatte, die Welt zu erobern, spendete unter Kanzler Kohl freimütig 18 Milliarden DM für das militärische Eingriffen zur Sicherung der Ölquellen und seiner Einflussmöglichkeiten am Golf. Beim nächsten aber Mal, so wurde bereits damals vollmundig verkündet, würden die Deutschen nicht so billig davon kommen. Nachdem die Ölbrände am Golf nach einem Jahr schließlich gelöscht waren und Tausende irakischer Soldaten bei lebendigem Leib im Wüstensand begraben und vergessen waren, vergessen ebenso wie ihre am Golfkriegssyndrom erkrankten US-amerikanischen Kameraden, die der Uranmunition schutzlos ausgeliefert worden waren, begann man die Zündschnur im Balkan zu legen. Im Frühjahr 1999 entbrannte das Inferno des Bombenkriegs gegen Belgrad, flogen "Irrläufer" auf die Brücke von Vavarin und die Vokabel Kollateralschäden wurde später zum Unwort des Jahres. Inzwischen war die deutsche Unterstützung bereits zur "robusten" herangereift. Noch robuster wurde sie seit dem ersten Kriegseinsatz gegen Afghanistan nach dem 11. September 2001. Der globale Antiterrorkrieg war entfesselt. Dass seither der Terror auf allen Gebieten keine Maßstäbe mehr kennt - man denke nur an Abu Ghraib oder Guantanamo Bay, an Folterflüge und Folterlager weltweit - sollte unsere Nachdenklichkeit weiter herausfordern.

Anstatt aber der immer unfasslicher werdenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu gedenken, die diese neuen "asymmetrischen Kriege", zynisch "humanitären Interventionen" genannt, nach sich ziehen, lenken unsere ins Kriegsgeschehen eingebetteten Medien unsere Aufmerksamkeit lieber auf die "Verbrechen" des Sozialismus. Das ist für manche ergiebiger, sichert es doch gewisse Arbeitsplätze für lohnabhängige Schreiberlinge. Vor allem aber sichert es ab gegen die für das Kapital bedrohliche Wiederauferstehung des Gespenstes "Kommunismus". Deswegen wurden im Super-Jubiläumsjahr 2009 angesichts des 20-jährigen Niedergangs der DDR, deren "Niedrigkeiten" in einer endlos Schleife gewürdigt. Ein Schelm, der Böses dabei denkt und etwa Ablenkungsmanöver von Verbrechen im globalen Stile im Sinn hat.

Wer aber eine Neue Welt aus der Asche der Alten errichten will, um so das Überleben der Gattung zu sichern, muss sich die geschichtlichen Tatsachen vergegenwärtigen und begreifen, welche gesellschaftlichen Kräfte, aus welchem Interesse und mit Hilfe welcher Methoden oder genauer mittels welcher Intrigen die Geschichte für ihre Belange umdefinieren.

Im Januar 1919, der Erste Weltkrieg war kaum zu Ende, versuchten die Herrschenden die anschwellende kommunistische Bewegung in der Wiege zu ersticken. In Russland aber wurde unterdessen, ungeachtet aller gewaltsamen Interventionen, die Gesellschaft von unten herauf umgestaltet. Unter guter kommunistischer Führung erstarkte dennoch - trotz der verhängnisvollen Spaltung - die Arbeiterbewegung im imperialistischen Deutschland so sehr, dass die Oberen zu der List griffen, einen Proleten auszugucken und ihn an die Spitze einer sich national und sozialistisch nennenden Arbeiterpartei zu hieven.

Im Jahre 1939, nur 20 Jahre später, war dann dank massenhafter Konzentrationslager, dank Folter und Mord, dank Verrat und mithilfe von schlimmer Demagogie die Kriegsopposition so geschwächt und die Aufrüstung so weit vorangetrieben, dass ein zweiter Anlauf zur Welteroberung von deutscher Seite aus gestartet werden konnte. Die Welt musste Auschwitz und Hiroshima, musste 60 Millionen Todesopfer erdulden, unter ihnen 27 Millionen Sowjetbürger, bevor, im Gefolge gescheiterter deutscher Welteroberungspläne, 1949 zwei deutsche Staaten erstanden. Diese neue politische Situation im Herzen Europas war ein Ergebnis der Kräfteverhältnisse zwischen den einstigen Alliierten der Anti-Hitler-Koalition.

Noch war man sich in beiden Deutschlands im Volke einig: Von deutschem Boden sollte nie wieder Krieg ausgehen. Aber die Kriegsgegner, so etwa die westdeutsche Frauenfriedensbewegung, (eine Persönlichkeit wie die Romanistin Clara Maria Fassbinder, die Volksbefragung gegen die Wiederaufrüstung und natürlich die Kommunisten) wurden bereits in den frühen 50er Jahren im Westen diffamiert und kriminalisiert. Es gab schon früh ein erstes politisches Todesopfer, ein junger Arbeiter namens Philipp Müller starb 1952 durch eine Polizeikugel, weil er gegen die Wiederaufrüstungspläne der Adenauer-Regierung demonstriert hatte. Zehntausende Ermittlungsverfahren und die erneute Verurteilung erprobter und bekannter Antifaschisten schädigten die Bewegung, konnten sie aber nicht gänzlich auslöschen.

Als Reaktion auf den NATO-Aufrüstungsbeschluss von 1979 erhob sich wieder eine imposante Friedensbewegung. Hunderttausende gingen bis 1983 dagegen auf die Straße. "Dank" Gorbatschow, der die Friedensvermittlung in die Hand nahm und dank "klarsichtigen" Führungspersonals flaute auch diese Bewegung wieder ab. Man setzte blindes Vertrauen in die Friedensfähigkeit des Imperialismus, seinen Raubtiercharakter gänzlich verkennend.

Zehn Jahre nach dem Fall der innerdeutschen Grenze, im Frühjahr 1999 beteiligte sich dann Deutschland zum dritten Mal in einem Jahrhundert an der unprovozierten Bombardierung von Belgrad. Die offizielle "Begründung" lautete, man müsse ein "neues Auschwitz verhindern" so der damalige Außenminister Joschka Fischer. Zum Schutz vor "Menschenrechtsverletzungen" müsse man eingreifen, denn "man könne nicht länger zusehen". Auf dem Spruchband einer Demonstrationsteilnehmerin gegen die Bomben abwerfenden Menschenrechtsbeschützer war treffend zu lesen: "Bombing for human rights is like fucking for virginity".

Noch einmal 10 Jahre später im Jahre 2009 trat der unheilsame Lissabonvertrag in Kraft, die verkappte EU-Verfassung mit ihrer historisch einmaligen Aufrüstungsverpflichtung. Deutschland hat maßgeblichen Anteil am Zustandekommen des Vertragswerks, mit dessen Hilfe das Grundgesetz auszuhebeln ist, insbesondere das Friedensgebot in Artikel 26. Auf ganz "friedlichem" Wege wird diesmal über den festgefügten Zusammenschluss Europas unter deutsch-französischer Führung die neue Eroberung von Ost- und anderen geostrategisch wichtigen Zonen möglich und wir sichern uns erneut unseren Lebensraum und unsere Freiheit am Hindukusch.

Dass die Oberen und die Monopolisten sich ihre Einflusszonen, ihre Ressourcen, ihre Absatzmärkte auf die ihnen zur Verfügung stehende Weise zu sichern versuchen, ist ihrer Logik, der Logik des Profitsystems geschuldet. Dass aber die Beherrschten, die Ausgeplünderten, die Opfer solcher Vorgehensweise nicht rebellieren, ist Ausdruck ihrer gefühlten Ohnmacht, geschuldet der Verkennung historischer Vorgänge, Ausdruck des Erfolgs der Verdummungsmaschinerie, die die Menschenmassen geschickt zu blenden vermag. Die ohnmächtige Hinnahme deutscher Kriegsbeteiligung - trotz nachgewiesener mehrheitlicher Ablehnung des Einsatzes in Afghanistan etwa - ist eben geschuldet dem Fehlen einer orientierenden und den Massenwiderspruch organisierenden Kraft.

Unorganisiert bleiben die Massen so lange, so lange ihnen keine Wegmarkierungen zur Verfügung stehen. Dort wo Wegweiser vorhanden sind, finden die Menschen den Mut und die Energie zu gemeinsamer und damit wirksamer Gegnerschaft. Sie finden zu solidarischem Handeln. Solange aber eine schwammig auftretende "Friedensbewegung" in ihren Reihen mehrheitlich Stimmen verzeichnet, die die Ursachen für die Kriege eher beim Bedrohten ortet als beim Aggressor, sieht die Sache schlecht aus. Wenn in der deutschen Hauptstadt die "Friko", das Akronym für Friedenskoordinationskreis, über das elektronische Netz als Neujahrsbotschaft dazu auffordert, die Opposition im Iran zu stärken, einem Lande, das vom Kriege bedroht ist, so kann man daran sehr schön den verfahrenen Kurs erkennen. Mit solcher Herangehensweise, mit solchem Personal, lässt sich keine Antikriegsbewegung erfolgreich organisieren. Wenn schließlich andere, auch sehr bekannte Stimmen öffentlichkeitswirksam die Meinung vertreten, heute sei es ungleich schwieriger als zu Zeiten des Vietnamkrieges, sich mit den durch Krieg und Besatzung verheerten Länder und ihren Widerstandsbewegungen zu solidarisieren, weil man etwa in Afghanistan, Irak, Gaza keine vertrauenswürdigen Ansprechpartner habe, so hat diese Haltung eine ähnlich lähmende Wirkung. Auch sie hat historische Vorbilder und ähnelt dem Vorgehen von Leo Trotzki, der in Anbetracht einer vom Kriege bedrohten UdSSR dazu aufrief, die von Stalin geführte Regierung zu stürzen.

Wenn das Völkerrecht, das ja den Respekt vor der Souveränität der Staaten zur obersten Maxime erklärt hat, eben um den Frieden zu wahren, wenn dieses oberste Gebot der UN-Charta, marginalisiert und entwichtet wird, dann macht man sich, ob bewusst oder unbewusst, zum Erfüllungsgehilfen der Welteroberer. Dass es heute so schwer fällt, Recht und Unrecht, Kriegtreiber und Friedensstifter, Aufklärung von Demagogie zu unterscheiden, hängt mit der Raffinesse der Herrschenden zusammen, die aus der Geschichte, anders als die Beherrschten, gelernt haben. Erkennend, dass die gut organisierten, gut geschulten, gut geführten Massen, die wissen wofür sie kämpfen, unbesiegbar sind, haben sie sich auf eine weitere Strategie verlagert. Gerade im Januar sollten wir uns daran erinnern, dass der Kampf gegen die Revolution in Deutschland (aber auch anderswo) mit der Parole geführt wurde: "Schlagt ihre Führer tot!" Tötet Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht! Der Kommissarbefehl Hitlers aus dem Jahre 1941 war die Fortsetzung solcher gezielten Ausmerzung von Führungspersonal und entsprach denselben Denkmustern.

Man kann natürlich die Kampfbereitschaft der Massen unterminieren, indem man ihre Führungspersönlichkeiten zum Abschuss freigibt. Man kann aber deren Moral noch viel nachhaltiger treffen und dauerhafter. Ermordete Führer werden schließlich zu Märtyrern, sie leben weiter im Volk, wie die alljährlichen Märsche Zehntausender zur Grabstätte von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zeigen. Der Rufmord gegen vom Volk hochgeschätzte Führungspersönlichkeiten und zwar organisiert von oben herab aus den eigenen Reihen ist eine viel wirksamere Waffe als bloßer Mord.

Zwar wird der Erfolg auch nicht ewig währen, weil Tatsachen eine beharrliche Qualität haben, aber man kann über lange Zeiträume hinweg viel Unheil mit solchem Vorgehen anstiften. Wenn die Argumente der Gegenseite von den (vermeintlich) Eigenen vorgetragen werden und sich gegen gewählte und hochgeschätzte Repräsentanten richten, untergräbt das die Autorität ihres gesamten Wirkens. Noch effektiver ist es, nicht nur Personen, sondern mit ihnen die theoretischen Grundlagen zu verteufeln, ohne die keine Praxis erfolgreich sein kann.

In unserem Lande gibt es derzeit aus Gründen solcher historischer und theoretischer Begriffsverwirrung keine Partei, die über genügend historische Kenntnisse und über das nötige Analyse-Instrumentarium verfügt, um erfolgreich programmatisch für die Interessen der Mehrheit des Volkes zu arbeiten. Ähnliches gilt das für weite Teile der Erde. Computerprogramme können da auch nicht weiterhelfen. Es muss vielmehr die Bereitschaft wieder entstehen, sich das gesamte Erbe, die gesamte Hinterlassenschaft der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung anzueignen. Die gesamte Aufbauleistung der UdSSR zwischen 1924 und 1939, die Kriegsvermeidungspolitik der sowjetischen Regierung zwischen 1939 und 1941, die strategischen Leistungen des Sowjetvolkes beim Niederringen Nazideutschlands werden ebenso ausgeblendet wie die Verdienste der Sowjetunion um den Wiederaufbau des vom Kriege verheerten Landes. Besonders hinderlich ist für die vorurteilslose Befassung mit einem so bedeutsamen Geschichtsabschnitt, dass auch sehr profilierte und engagierte Menschen, ja Kommunisten, die in der DDR geschult wurden und Geschichte lehrten, sich der vom Mainstream und leider auch von der kommunistischen Führung vorgegebenen Geschichtsdeutung scheinbar unhinterfragt unterworfen haben.

Dies geschieht so, während die herrschenden Kreise sehr wohl wissen, warum sie an diesem verqueren Geschichtsbild feilen und jene insgeheim encouragieren die dabei mittun, geht es doch um mehr als Symbolik. Es geht um Vergangenheitspolitik, um die Deutungshoheit der Geschichte,um das Wissen darum, wie man den Sozialismus zum Erfolg führen kann.

Die Chinesen haben vermutlich aus wohlerwogenen Gründen ihren anderen Weg nicht verdammt, obgleich auch sie schwerwiegende Fehler erkannt haben. Vielleicht haben sie als uralte Kulturnation einfach mehr Respekt vor dem Alten, vielleicht aber sind ihnen auch die schmerzlichen Folgen einer Abwendung vom Kurs rascher als anderen deutlich geworden. Dabei haben sich die Chinesen durchaus als kritik- und differenzierungsfähig erwiesen und sind manchen verhängnisvollen Umweg gegangen, wie die von Rolf Berthold (in "Chinas Weg - 60 Jahre Volksrepublik", Berlin 2009) zugänglich gemachten Dokumente erkennen lassen. Ob ihnen der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft am Ende glücken wird, ob die lateinamerikanischen Gegenmodelle langfristig überlebensfähig sind, auf die wir so große Hoffnungen setzen, hängt am Ende auch von unserer Argumentationsfähigkeit und Einsatzbereitschaft ab.

Das opportunistische Einknicken vor den Verführungen der Macht, vor ihrer Demagogie und ihren Tricks, vor dem - wie angedeutet - auch in globalen Umfang vor Kommunisten nicht gefeit sind, hat aber Millionen Menschenopfer zur Folge. Es ist deswegen an der Zeit, dass das alte Gespenst wiederbelebt und mit neuem Geist erfüllt wird. Die alten Errungenschaften der dem Humanismus verpflichteten Arbeiter- und kommunistischen Bewegung müssen neu entdeckt werden. Die Zeit der Kotaus vor den Herrschenden muss in unserem Überlebensinteresse vorbei sein. Es führt um das Wiedererstarken der sozialistischen Kräfte zu erreichen kein Weg vorbei am Studium der alten Quellen aus der Zeit der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, an Quellen, in denen die Aufbauleistung der Sowjetunion angemessen gewürdigt wird.(1) Mit Sicherheit sind viele wertvolle Dokumente von interessierter Seite vernichtet worden, aber andere existieren noch und sind uns zugänglich. Wenn wir eines Tages wieder eine kommunistische Partei in Deutschland haben wollen, die ihres Erbes würdig zu sein vermag, die also nicht sozialdemokratischen Ambitionen erliegt, dann erscheint mir die Befassung mit dem gesamten Erbe dafür die unerlässliche Voraussetzung. Goethes Wort mag uns als Leitgedanke dienen: "Was ihr ererbt von euren Vätern, erwerbt es um es zu besitzen". Im abgrenzenden Sinne gehört dazu allerdings auch die eingehende Befassung mit dem Phänomen Trotzkis, mit seinen Schriften, seinem weltweiten Wirken, um davon Kenntnisse zu haben, auf wen sich seine zahlreichen Epigonen heute berufen und mit welchen Methoden sie gewohnt sind zu arbeiten.(2) Sich einzusetzen für die Wiedergeburt oder das Wiedererwachen einer kommunistischen Partei, die für die moderne Arbeiterklasse, für Kopf- und Handarbeiter, für Millionen Angehörige des Dienstleistungsgewerbes, für das Prekariat, für die durch kapitalistische Anwendung modernster Technologie freigesetzten arbeitslosen Massen zu kämpfen vermag und das mit der nötigen parteilichen Klarheit im Kopf, setzt die ganze Aneignung der Geschichte des Sozialismus und der Ursachen für sein vorübergehendes Scheitern voraus. Wer sich allerdings der Anstrengung umfangreicher Lektüre und theoretisch eingehender Schulung nicht unterziehen möchte, der kann kaum dem dafür erforderlichen Avantgardeanspruch gerecht werden.


Anmerkungen:

(1) Stellvertretend seien hier nur etwa genannt das populäre Buch vom "roten Bischof" von Canterbury: Hewlett Johnson, "The Socialist Sixth of the World", London erstmals 1939, dann in 16. Auflage (!) 1942, Victor Gollancz Verlag oder "20 Jahre Sowjetmacht - Ein Handbuch über die politische, wirtschaftliche und kulturelle Struktur der UdSSR", hrsg. von G. Friedrich/F. Lang, Editions Promethee Strasbourg, 1937 oder "The Great Conspiracy against Russia" by Michael Sayers und Albert E. Kahn, special introduction by Senator Claude Pepper, first published in New York February 1946, Boni and Gear Incorporated Publishers, 15 East 40th Street New York 16, N.Y. deutsch erstmals unter dem Titel Die große Verschwörung bei Volk und Welt 1949, leider ohne das sehr wichtige Vorwort. Es handelt sich nachweislich nicht um ein "stalinistisches Machwerk" (Steigerwald), sondern um das Recherchewerk damals sehr populärer US-amerikanischer investigativer Journalisten, die auch Bestseller fabriziert hatten wie "Sabotage - the Secret War Against America" und "The Plot Against Peace". Das Buch wurde von großen Medien wie Newsweek, Chicago News oder New York Harald Tribune als hervorragender Beitrag zum Frieden gewürdigt - vor Ausbruch des Kalten Krieges.

Dort wird auch anhand von überprüfbaren Quellennachweisen der Behauptung widersprochen, Trotzki sei einem von Stalin beorderten Auftragsmörder zum Opfer gefallen.

Als Hinweis wie am Negativ-Image von Stalin von pan-europäischer Seite gearbeitet und der Begriff "Stalinismus" lange vor den Prozessen 1935 geprägt wurde, siehe Coudenhove-Kalergi "Stalin und Co." Paneuropa-Verlag Wien-Leipzig, 1931

(2) Zu Trotzki siehe außer oben Sayers/Kahn auch Max Seydewitz, "Stalin oder Trotzki" Malik-Verlag, London, 1938; Auch Feuchtwanger "1935" oder Henri Barbusse "Stalin", Paris 1937 Editions du Carefour, 2. Sonderband der Jahresreihe 1937 der Universum Bücherei übersetzt aus dem Französischen von Alfred Kurella; Auch Isaac Deutscher "Stalin", eine politische Biografie 2. Auflage 1966

Raute

Fakten und Meinungen

Gerhard Fischer

Ein Ereignis von Jahrhundertbedeutung

Zum 65 Jahrestag der Befreiung vom Hitler-Faschismus stellte das Berliner Alternative Geschichtsforum folgenden Thesenentwurf zur Diskussion:

1. Der 8. Mai 1945 markiert ein Ereignis von Jahrhundertbedeutung: Die Völker Europas wurden von Hitlerfaschismus und Krieg befreit.

Befreit wurde ebenso das deutsche Volk: befreit von der Herrschaft der Naziclique, befreit von der Nötigung, sich ihrem Rassenwahn zu unterwerfen, ihrem Eroberungsdrang zu folgen, sich an Kriegsverbrechen und Völkermord zu beteiligen - eine Nötigung, der nur eine Minderheit im deutschen Volk widerstand.

In der DDR wurde der 8. Mai seit jeher als Tag der Befreiung begangen; denn Antifaschismus war Staatsdoktrin.

2. In der Bundesrepublik dauerte es vierzig Jahre, bis sich ein Bundespräsident dazu verstand, den 8. Mai einen Tag der Befreiung zu nennen.

Bis dahin galt er mehrheitlich als Tag der Kapitulation, der Niederlage, des Zusammenbruchs, des Untergangs, der Katastrophe - als eine Tragödie. Damit bezeichneten die herrschenden ihren eigenen Standort in der Nachfolge jener, die damals kapitulierten, und bestimmten die Traditionslinie, in der sie selber sich sahen und zum Teil noch immer sehen.

3. Hat sich in den zweieinhalb Jahrzehnten, die seither vergangen sind, das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik nennenswert verändert? Heute spricht man vom 8. Mai offiziell als dem Tag des Kriegsendes. Das jedoch ist eine bloße Datumsangabe. Umgangen werden dabei die wesentlichsten Fragen:

- Wer hatte diesen Krieg von langer Hand geplant und dann in voller Absicht vom Zaun gebrochen? - Wer hat durch diesen Krieg und in diesem Krieg die schlimmsten Verbrechen gegen Frieden und Menschlichkeit begangen?

Diese Fragen zu stellen heißt für uns Antifaschisten und Demokraten, sie zu beantworten: Hauptschuldiger ist Nazi-Deutschland, hauptverantwortlich sind die auf Profit und Expansion orientierten Kräfte des deutschen Großkapitals. Das führt zu den entscheidenden Fragen:

- Wer hat diesen Krieg folgerichtig verloren und am 8. Mai bedingungslos kapituliert?

- Wo wurden die Lehren aus diesem Krieg gezogen und beherzigt, wo wurden sie missachtet und in den Wind geschlagen?

Gesellschaftsstruktur und Politik der beiden Staaten, die bis 1990 auf deutschem Boden existierten, geben die Antwort darauf

4. Seit Jahren will man uns weismachen, die Befreiung Europas habe, wenn nicht am 10. Juli 1943 mit der Landung britisch-amerikanischer Truppen in Sizilien, so am 6. Juni 1944 mit der Landung westalliierter Streitkräfte in der Normandie ("D-Day") begonnen. Die geschichtliche Wahrheit sieht anders aus:

- Die Niederlage Hitler-Deutschlands deutete sich Ende 1941/Anfang 1942 in der Winterschlacht vor Moskau an, als die faschistische Offensive stecken blieb und die Nazi-Wehrmacht erstmals weit zurückgedrängt wurde.

- Die Wende im Zweiten Weltkrieg zeichnete sich ab in der vernichtenden Niederlage der faschistischen Aggressoren bei Stalingrad, diesem historischen Menetekel.

- Die Befreiung Europas wurde vorangeführt mit der Schlacht im Kursker Bogen und den weiteren Schlachten an der sowjetisch-deutschen Front, die in der Schlacht um Berlin gipfelten.

In diesem Kriegsgeschehen offenbarten sich Kampfgeist und Opfermut der Sowjetsoldaten, die politisch-moralische Einheit der Völker der UdSSR, die Überlegenheit ihrer Gesellschaftsordnung gegenüber den nazistischen Welteroberungsplänen.

Dies festzustellen schmälert in keiner Weise die Leistungen der Westalliierten, ihren Anteil am Sieg über den Nazifaschismus und seine Verbündeten.

Die Antihitlerkoalition bleibt ein Beispiel für das erfolgreiche Zusammenwirken von Staaten unterschiedlicher Systemzugehörigkeit im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind und für gemeinsame Ziele.

5. Bestandteil der Antihitlerkoalition waren in übertragenem Sinne die deutschen Antifaschisten. Ihre Gesinnung und Aktivität speisten sich aus unterschiedlichen politischen und geistigen Quellen; aber geschichtlich betrachtet bildeten sie eine gemeinsame Bewegung:

- die Widerstandskämpfer in Deutschland und im Exil,

- die Wegbereiter und Mitstreiter des Nationalkomitees und der Bewegung "Freies Deutschland",

- die Deutschen in der Résistance und in den Streitkräften der Alliierten.

Wir ehren sie und würdigen ihre bleibenden Verdienste um unser Volk wie um den Triumph der Völker über den Faschismus.

6. Der 8. Mai 1945 ist gleichbedeutend mit einer weitgeschichtlichen Zäsur: Die Menschheit wurde vor dem Absturz in die Barbarei bewahrt, der ihr gedroht hätte, wenn der Krieg anders ausgegangen wäre. Zwölf Jahre Diktatur der Nazis hatten dafür einen blutigen Anschauungsunterricht erteilt: Ihrem Antikommunismus fielen Hunderttausende zum Opfer, ihrer Fortschrittsfeindlichkeit viele tausend Sozialdemokraten, Christen, bürgerliche Humanisten und Demokraten. Faschistischer Rassenwahn forderte das Leben von Millionen Juden, hunderttausenden Sinti und Roma, Millionen Angehöriger slawischer Völker, darunter allein 27 Millionen Sowjetbürger.

Solche Tatsachen verbieten es, den Eindruck zu erwecken, als seien Deutsche - etwa die Opfer des Bombenkrieges, die Kriegsgefangenen, die "Vertriebenen" - die Hauptleidtragenden des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen gewesen.

7. Um so schlimmer ist es, wenn heute Nazis wieder frech gegen Frieden und Völkerverständigung hetzen können, und um so verwerflicher, wenn sie sich zusammenrotten dürfen und wenn sie auch vor Mord und Totschlag nicht zurückschrecken - aber auch um so gefährlicher, wenn Behörden und Gerichte ihr Treiben dulden und ihnen gar Wege dafür öffnen. Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!

Weit verbreitet war nach dem 8. Mai 1945 der Vorsatz: "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!" Heute rechtfertigen Regierende "humanistische Interventionen" mit der heuchlerischen Parole "Nie wieder Auschwitz!" Richtig handelt jedoch, wer der Orientierung folgt: "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, damit nie wieder Auschwitz möglich wird!"

8. Über 50 Millionen Tote des Zweiten Weltkriegs mahnen zum Frieden. Dem Vermächtnis des 8. Mai 1945 widerspricht es, wenn heute, seit dem Ende der sozialistischen Staatengemeinschaft, der Imperialismus die Androhung und Anwendung militärischer Gewalt wieder als legitimes Mittel der Politik betrachtet.

Dem Vermächtnis des 8. Mai 1945 widerspricht es auch, wenn die Europäische Union in ihrer Außenpolitik Rüstung und Kriegsbereitschaft laut Lissabonner Verfassungsvertrag favorisiert. Das Europa, das wir meinen, hervorgegangen aus dem antifaschistischen Kampf der Völker unseres Kontinents, muss ein Europa des Friedens und gemeinsamer Sicherheit sein.

Dem Vermächtnis des 8. Mai 1945 widerspricht es, wenn die Bundeswehr einer expansionistischen Militärdoktrin folgt und grundgesetzwidrig als weltweit operierende Interventionstruppe eingesetzt wird. Wir fordern: "Bundeswehr raus aus Afghanistan, raus aus internationalen Krisenregionen!" Dem Vermächtnis des 8. Mai 1945 widerspricht es, wenn in der Bundesrepublik Bürgerrechte und sozialstaatliche Standards abgebaut werden. Wir fordern, Demokratie zu stärken, und kämpfen für soziale Gerechtigkeit.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Max Alpert, Bataillonskommandeur 1942

Raute

Fakten und Meinungen

Boryana Aleksandrowa

Noch mehr NATO-Truppen in Afghanistan?

Am 1. Dezember 2009 hat Präsident Obama seine Entscheidung bekannt gegeben, die amerikanischen Truppen in Afghanistan in den kommenden Monaten um mehr als 30.000 Soldaten aufzustocken. Gleichzeitig unternimmt das Weiße Haus den Versuch, seine NATO-Alliierten dazu zu überreden, zusätzliche Soldaten in das Land am Hindukusch zu schicken. Bald würden dort über 140.000 Soldaten aus 43 Staaten stationiert werden.

Doch das Ziel dieser massiven ausländischen Truppenpräsenz lässt sich derzeit immer schwieriger verstehen. In einem Kommentar der elektronischen Ausgabe des NEW YORKER stellt Hendrik Hertzberg die Frage: Was für ein Krieg wird heute am Hindukusch geführt? Am Anfang, so der Autor, wäre dies ein Vergeltungs- und Präventionsakt gewesen. "Aber wen genau bestrafen wir jetzt? Was genau verhindern wir? Die alte Geschichte ist gebrochen.(1)"


Die bisherigen Kriegsoperationen

Anfang Dezember 2009 berichtete der Nationale Sicherheitsberater in Washington, General James Jones, dass zur Zeit nicht mehr als 100 Al Qaida-Kämpfer in Afghanistan operieren, diese aber über keine Stützpunkte dort mehr verfügen und nicht imstande seien, Attacken gegen die NATO-Verbündeten auszuüben.(2)

Inzwischen gibt die ISAF, die durch den UN-Sicherheitsrat. 2001 genehmigte Internationale Schutztruppe für Afghanistan, zu, dass der Widerstand der Taliban gegen die fremden Streitkräfte in den letzten zwei Jahren in Schwung geraten ist. Professor Stephen Walt von der Universität Harvard verweist hier auf seinen lokalen Charakter, bzw. auf das Desinteresse der talibanischen Kämpfer an einem Angriff auf das Territorium der Vereinigten Staaten, im Gegensatz zu Osama Bin Laden.(3)

Über diese pragmatische Ebene hinaus ist die generelle Logik der achtjährigen militärischen NATO-Handlungen auch zu hinterfragen. Zu einem großen Teil wurden die Attentate am 11.9.2001 in den USA und in Deutschland geplant. Überhaupt sind die Netzwerke des internationalen Terrorismus schwer territorial und finanziell zu fixieren. Neulich hat der US-Verteidigungsminister Robert Gates bestätigt, dass der genaue Unterschlupf von Osama Bin Laden der Alliierten-Koalition nicht bekannt ist. Vielmehr zeigt eine empirisch orientierte Studie der Rand Corporation, dass nur 7 Prozent aller von 1968 bis 2008 existierenden terroristischen Gruppen ihre Tätigkeit durch die Anwendung von militärischen Mitteln aufgegeben haben. 40 Prozent haben ihre Aktivitäten infolge von polizeilichen und Aufklärungsaktionen ein gestellt. 43 Prozent haben sich politisch integriert.(4)

Dazu lehnt die Mehrheit der Bevölkerung in den NATO-Ländern und in der Region den Krieg heute ab und fordert sein Ende. Die Zahl der gestorbenen afghanischen Zivilisten und des Militärpersonals ist nicht genau festzustellen. Noch im Jahre 2002 schrieb THE GUARDIAN, dass 20.000 Menschen als direkte Folge des US-Einmarsches im Jahre 2001 ihr Leben verloren haben. Im Jahre 2008 soll die Zahl der zivilen Opfer um 40 Prozent im Vergleich zu 2007 gestiegen sein.(5) Mittlerweile sind mehr als 1500 ausländische Soldaten im Laufe der Operation "Enduring Freedom" ums Leben gekommen.(6) Allein die amerikanischen Steuerzahler haben die direkten kriegerischen Auseinandersetzungen bis April 2009 171,7 Milliarden Dollar (Haushaltsausgaben) gekostet. Die Einschätzung ist, dass wenn die Okkupations- und Kriegsveteranenkosten mitgerechnet würden, die Summe auf mehr als eine halbe Billion Dollar steigen würde.(7) Vor dem Hintergrund der gut organisierten und international koordinierten Finanzierung von extremen Gruppen spielt sich der Krieg außerdem als eine Kollektivstrafe gegen die in prekären wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen lebende afghanische Bevölkerung ab. Nach zwei Jahrzehnten Bürgerkrieg und fünf Jahren Talibanherrschaft hat ein Großteil der AfghanInnen noch zu Beginn dieses Jahrtausends in Armut, Unsicherheit und Ungerechtigkeit gelebt. Im Human Development Index des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen(8) (UNDP) für 2009, auf Basis 2007, nimmt das Land Platz 181 von 182 erforschten Ländern ein. 70 Prozent der Bevölkerung sind zum heutigen Zeitpunkt unterernährt. Die Alphabetisierungsrate der Männer liegt bei 35 Prozent und die der Frauen zwischen 10 und 20 Prozent. Die Situation der Frauen hat sich in den letzten acht Jahren nicht viel verbessert.(9) In einer Meinungsumfrage des International Republican Instituts vom Juli 2009 geben die befragten afghanischen BürgerInnen die Sicherheit als das wichtigste Problem von Afghanistan an.

Aus dieser Perspektive kommt auch die Bemühung, die fremden militärischen Operationen in Afghanistan auf dem Wege der Entwicklungshilfe zu legitimieren, als nicht adäquat vor. Seit 2001 hat Washington erst 38 Milliarden Dollar für diesen Zweck ausgegeben, 54 Prozent davon für die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte.(10) Die EU hat über eine Milliarde Dollar jedes Jahr seit 2001 zur Verfügung gestellt.(11) Immer mehr Berichte weisen auf die korrupten lokalen Schemata hin, die die Verteilung und das Management der Entwicklungsgelder begleiten.


Die kriegspolitischen Kalküle

Wie sind dann die NATO-Politik in Afghanistan bzw. die Fortsetzung des ISAF-Mandats und der Operation "Enduring Freedom" nachzuvollziehen? Wo kann das letztlich hinführen?

Wie andere geostrategisch wichtige Orte auf der Welt steht Afghanistan heute für ein Symbol politisch-militärischer Dominanz und globalen Diktats. Sein innenpolitisches Leben, sein Territorium und seine Grenzen sowie seine regionale Umgebung werden streng kontrolliert und mitmodelliert.

Seit 2001 wird dieses zentralasiatische Land von demselben, früher der CIA nahe stehenden, auf der Afghanistankonferenz in Deutschland zum Präsidenten ernannten Regierungschef Hamid Karzai geleitet. Als Schwerpunkt ihrer Afghanistanmission versteht die NATO, die afghanische Regierung bei der Ausübung ihrer Machtbefugnisse und der Erweiterung ihres Einflusses, darunter durch den Aufbau einer starken Armee, zu assistieren. Wichtige Systemdefizite des afghanischen Regierungswesens, wie die Korruption und die Rolle von verwandtschaftlichen Beziehungen, einschließlich bei Vergabe von internationalen Entwicklungsprojekten, wurden in diesem Zusammenhang von internationalen Politikern bisher offiziell meistens verschwiegen. So waren auch die Präsidentschaftswahlen 2004 und im August 2009 durch Korruptionsskandale und Gewalt gekennzeichnet. Trotzdem wurden die Wahlergebnisse durch die internationale Zustimmung in der Anwesenheit der NATO-Soldaten legitimiert. Erst mit der Zunahme der weltweiten Proteste gegen die Entscheidung, die Zahl der ausländischen Militärs am Hindukusch zu vergrößern, wird das Thema Korruption als ein wichtiges Problem durch die NATO-Regierungen vor der Weltöffentlichkeit artikuliert.

Im letzten Jahr hat auch die Kriegstaktik der amerikanischen Streitkräfte die strukturellen Schwächen des afghanischen politischen Lebens vertieft. Im November 2009 berichtete THE GUARDIAN über die geheime gesellschaftliche Verteidigungsoffensive (Community Defence Initiative) des gegenwärtigen Kommandeurs der ISAF sowie der Forces Afghanistan, General Stanley McCrystal. Nach ihr sollen lokale Anti-Taliban-Milizen durch UN-Spezialkommandos trainiert und finanziell gesponsert werden, um Ordnung zu schaffen - ein für manche Regionen höchst destabilisierend eingeschätztes Programm.(12) Es wurde sogar herausgefunden, dass talibanische Kämpfer regelmäßig aus Pentagonquellen bezahlt werden, um den Transport von logistischen Mitteln durch private Sicherheitsfirmen aus Kabul in Richtung Süden zu ermöglichen.(13)

Bei seiner letzten Wiederwahl hat sich Hamid Karzai auf die Unterstützung von regionalen Kriegsherren wie z. B. General Dostum verlassen. In einem Land, das noch 2001 vom Bürgerkrieg geplagt worden war, trägt dies zur weiteren Zersplitterung und Militarisierung der Gesellschaft bei zugunsten der Idee der Bestätigung der fremden Machtpräsenz.

Andererseits versuchen die ausländischen Kräfte, den Luftraum, die Landesgrenzen und die Transportwege von Afghanistan unter volle Kontrolle zu bekommen und zuhalten. Afghanistan hat sich für die NATO in eine große Militärbasis verwandelt. Im Februar 2009 hat das Weiße Haus beschlossen, seine Botschaft in der afghanischen Hauptstadt massiv auszubauen. Der Anti-Terrorkrieg wird zurzeit direkt noch im Irak, in Pakistan und in Jemen geführt. Große US-Botschaften werden auch im Irak und in Pakistan gebaut bzw geplant. Mit Ausnahme des Irans pflegt Washington intensive (militärische) Kontakte zu allen regionalen Regierungen.(14) Separatistische Tendenzen werden im Iran gegen das dortige Regime durch die CIA unterstützt.

Außer geostrategischen (Golföl, zentralasiatisches Gas und Öl) spielen auch wichtige innenpolitische Faktoren des amerikanischen Regierungssystems eine Rolle bei der Eskalation des Afghanistan-Krieges - die Militärindustrie, die Auftragnehmer von Entwicklungsprojekten, die konservativen Afghanistankonzepte des Verteidigungsministers Robert Gates, der Außenministerin Hillary Clinton und von General McCrystal. Nicht an letzter Stelle ist auf die Bedenken des Präsidenten Barak Obama hinzuweisen, von der republikanischen Partei "Feigling" genannt zu werden(15) und/oder Schwierigkeiten bei der Durchsetzung seiner übrigen Regierungsagenda zu bekommen.


Die Ausweglosigkeit der NATO-Taktik

Unter den oben erörterten Umständen ist eine definitive Eskalation der militärischen Auseinandersetzung in Afghanistan und in seiner Nachbarschaft mit NATO-Teilnahme zu prognostizieren. Weitere menschliche Opfer und materielle Zerstörung sind zu erwarten. Die Verhärtung der Fronten wird zusätzlich in regionaler und globaler politischer Radikalisierung und diplomatischem Versagen resultieren. Der Dialog mit der muslimischen Welt, den sich Barak Obama am Anfang seiner Präsidentschaft zum Ziel genommen hatte, kann in dieser Situation nur leiden. Genauso jede Sicherheitsstrategie für die Region, die aus der Position der Stärke und im Namen geopolitischer Herrschaftsinteressen formuliert und implementiert wird.


Anmerkungen:

(1) Hertzberg, H. : The Fifth War, http://www.newyorker, 30.11.2009

(2) Interview mit Gen. James Jones vom 5.12.2009, CNN Transcripts, http.//transcripts.cnn.com

(3) Vgl. Walt, St.: The Save Haven Myth. In http://foreignpolicy.com/posts

(4) Jones, Seth G und Martin C. Libicki: How terrorists Groups End. In: http://rand.org/pubs/monograph, 16.12.2009

(5) Vgl. National Priorities Project: The Cost of War in Afghanistan, 14.04.2009

(6) Vgl. http//www.icasualies.org

(7) Vgl. National Priorities Project, a.a.0.

(8) Vgl. Human Development Report 2009: Afghanistan. (Der HDI basiert auf drei Grundkriterien: Lebenserwartung, Bildungsgrad, Einkommen der Bevölkerung.)

(9) Hoffman, Madelyn: The so-called Good War in Afghanistan is Now The High Cost War, 16.12.2009 in: http://opednews.com

(10) Vgl. Tarnoff, Curt: Afghanistan: U.S. Foreign Assistence in Congressional Research Service, 14.7.2009

(11) Pressekonferenz mit dem schwedischen Verteidigungsminister Sten Tolgfors, Göteborg, 28./29.9.2009

(12) Vgl.: Boone, Bon: US Pours Millions into anti-Taliban Militias in Afghanistan, The Guardian, 11.11.2009

(13) Vgl.: Roston, Aram: How the U.S. Funds the Taliban, in The Nation, 11.11.2009

(14) Vgl.: Interview mit Pepe Escobar über das Selbstmordattentat in der iranischen Provinz Sistan, Oktober 2009, in:
http://democracynow.org

(15) Vgl: Interview mit Christian Parenti über den Eskalationsplan des Präsidenten Obama für Afghanistan in. http://democrcynow, 25.11.2009

Raute

Fakten und Meinungen

Brigitte Queck

DU - Trojanisches Pferd der Atomwaffen

in diesem Zusammenhang auch zum Nichtweiterverbreitungsvertrag von Kernwaffen

Obama, der derzeitige US-Präsident, wird überall als Friedensengel gefeiert, weil er vor der UNO das Verbot der Atomwaffen auf der Welt gefordert hat und nun für seinen Vorstoß sogar den Friedensnobelpreis erhalten hat.

Gegen ein Verbot der Atomwaffen wäre nichts einzuwenden, wären da nicht die DU-Depleted Uranium-Waffen.

Dazu bleibt folgendes anzumerken: Auch Depleted Uranium, unter dem Namen Panzer brechende Waffen bekannt, zählen zu den Atomwaffen und müsste unter die vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag 1996 ausgesprochene internationale Ächtung von Atomwaffen fallen. Auf allen in- und ausländischen Konferenzen, die sich bisher mit Depleted Uranium befassten, befanden sich regelmäßig auch Vertreter des Militär-Industriekomplexes der USA, meist unter dem Deckmantel von Nichtregierungsorganisationen auftretend, wie sich später herausstellte.

Alle bestritten die Gefährlichkeit von DU und bezeichneten diese als konventionelle, also herkömmliche Waffen, auf deren Anwendung man nicht verzichten könne.

Dass dies keineswegs so ist, sondern die DU eindeutig den Atomwaffen zuzuordnen seien, beschrieb Leuren Moret, eine unabhängige Wissenschaftlerin und internationale Expertin für Strahlungen. Frau L. Moret hat ihre Dissertation auf dem Gebiet Geowissenschaften in U. C. Davis verteidigt und arbeitete in zwei Nuklearlaboratorien der Rüstungsindustrie. Im Verlaufe der Jahre hat sie etliche wissenschaftliche Berichte über Depleted Uranium für UNO-Kommissionen geschrieben.

Sie arbeitete eng mit Marian Falk, einem früheren Manhattan-Projekt-Wissenschaftler und anerkannten Insider in den Livermor Laboratories zusammen, der ein Experte des radioaktiven Fallouts ist. L. Moret sagte und schrieb u. a. zu Depleted Uranium:

"Depleted Uranium ist zu 9.9,2 % U 238 und zu 0,72 % U 235. Es ist ein spaltbares Isotop, das in Atomwaffen gebraucht wird. Die Halbwertszeit von Depleted Uranium ist 4,5 Millionen Jahre, wirkt aber mit der Zeit sogar schlimmer als Uranium-238-Zerfallsprodukte.

Es transformiert 4 x in radioaktive Tochterprodukte und Tochterisotope und diese sind viel radioaktiver als Uran 238, nämlich 100.000, ja Millionen mal so gefährlich. So wird sich die Radioaktivität mit der Zeit ständig erhöhen.

Deshalb bezeichnen wir Depleted Uranium als Trojanisches Pferd eines Atomkrieges!

Depleted Uranium ist eine Atomwaffe und eine Waffe der Massenvernichtung, die unter der US-Regierung unter dem Begriff WMD läuft."

(Siehe: Don Nordins Interview mit Lauren Moret unter "The Implications of the use of US DU weapons", Internet-Quelle)

Dem bleibt nichts mehr hinzuzufügen, außer dem Umstand, dass man Atomwaffen von heute nicht mehr mit den Atomwaffen von 1945, die in Hiroshima und Nagasaki zum Einsatz kamen, die mit einem riesigen Atompilz in Verbindung gebracht werden und die auf einen Schlag Tausenden von Menschen den Tod gebracht haben, vergleichen kann.

Die neuzeitlichen Atomwaffen töten langsam und mit einer stetig steigenden Zahl von jährlichen Opfern und Krebstoten. Eine Studie der britischen Atomenergiebehörde, im November 1991 zum "Independent" durchgesickert, geht von 500.000 zusätzlichen Krebstoten im Irak aus.

Dieser Hochrechnung wurde eine Hinterlassenschaft von 40 Tonnen DU-Munition zugrundegelegt. (In Wirklichkeit hat man allein im 1. und 2. Golfkrieg 300 Tonnen DU-Munition eingesetzt, im letzten im Jahre 2003 gar 3000 Tonnen, wie uns der unabhängige Wissenschaftler Williams bestätigte d. Verf.). Nimmt man für Jugoslawien einschließlich dem Kosovo ungefähr 10 Tonnen DU an - die vom Pentagon angegebene Zahl - (Williams spricht von ca. 120 Tonnen! - d. Verf.), so würden dort analog ungefähr 125.000 zusätzliche Krebstote zu erwarten sein (siehe auch: junge welt vom 3.7.2008, "Ein strahlender Staat").

Nun zum Nichtweiterverbreitungsvertrag von Kernwaffen aus dem Jahre 1995, auf den Obama ebenso Bezug nimmt, dabei aber vor allem den Iran und Nordkorea aufs Korn nimmt, die diesen Vertrag angeblich nicht einhaken würden:

Dieser Nichtweiterverbreitungsvertrag von Kernwaffen aus dem Jahre 1995 ist geschlossen worden, um einen weltweiten Atomkrieg zu vermeiden.

Was ist daraus geworden?

In der Präambel des Vertrages verpflichteten sich die Kernwaffen besitzenden Staaten keine Atomwaffen einzusetzen. Aber haben sich die USA bzw. die NATO-Staaten daran gehalten?

Nein! In ihrer neuen NATO-Strategie vom April 1999, in Washington angenommen, wurde mit einem Federstrich der NATO-Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten von 1949, der sich ausdrücklich auf die Einhaltung der Prinzipien der UNO-Charta verpflichtete, zunichte gemacht. Nicht mehr die Verteidigung der eigenen Grenzen der Mitgliedstaaten, nein, der Ersteinsatz von Atomwaffen auch gegen nicht Kernwaffen besitzende Staaten in der ganzen Welt wurde nun als neue NATO-Strategie angenommen und verabschiedet.

Das Resultat waren mit Atomwaffen geführte Kriege gegen nicht Kernwaffen besitzende Staaten wie:

dem Irak
- 1990-1991 (1. Golfkrieg)
- 1993 (2. Golfkrieg)
- 2003 (3. Golfkrieg)

Jugoslawien
- Bosnien 1995
- ganz Jugoslawien, einschließlich dem
- Kosovo 1999

Afghanistan 2001

Was folgert daraus?

Die USA in Verbund mit den NATO-Staaten haben den Nichtweiterverbreitungsvertrag nicht eingehalten und müssen vor dem Internationalen Gerichtshof wegen unsäglicher Verbrechen gegen die Menschheit angeklagt werden!

Ich rufe hiermit alle verantwortungsbewussten Völkerrechtler und Atomwissenschaftler bzw. Militärs auf, eine solche internationale Anklage gegen die NATO-Staaten auf den Weg zu bringen!

Der Nichtweiterverbreitungsvertrag von Kernwaffen schließt eine friedliche Nutzung der Kernenergie durch nicht Kernwaffen besitzende Staaten nicht aus. Dies gilt es zu berücksichtigen, bevor man Staaten angreift, die dieses Recht aus dem NWV einfordern.

Raute

Fakten und Meinungen

Hellmut Kapfenberger

Die Bundesrepublik und die historische Wahrheit

Zu den deutsch-vietnamesischen Beziehungen

In den deutsch-vietnamesischen Beziehungen soll dieses letzte Jahr des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend einen Platz einnehmen, wie er auf zwischenstaatlicher Ebene durchaus nicht zu den Alltäglichkeiten gehört. Nach dem Willen der Regierenden in Berlin und Hanoi gilt 2010 hierzulande als Vietnam-Jahr, während es an der Küste des Südchinesischen Meeres als Deutschland-Jahr in die Geschichte der bilateralen Beziehungen eingehen wird. Die deutsche Öffentlichkeit allerdings hat, sieht man von knappen Internet-Verlautbarungen des Auswärtigen Amtes und auch der Deutschen Botschaft in Hanoi ab, von der entsprechenden regierungsamtlichen Vereinbarung bislang aus offiziellem Munde noch keinerlei Kenntnis erhalten.

Erklärter Anlass derartiger gegenseitiger Würdigung ist der 35. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Republik Vietnam am 23. September 1975. Darauf verweisend, war Anfang März 2008 in einer von der deutschen Presse nahezu total ignorierten Presseerklärung über den Besuch des SRV-Ministerpräsidenten Nguyen Tan Dung und dessen Gespräche mit Kanzlerin Angela Merkel in Berlin kundgetan worden: "Die beiden Regierungen planen, dieses Jubiläum mit Festivals in Deutschland und Vietnam feierlich zu begehen." Das Auswärtige Amt lässt im Internet wissen: "35 Jahre diplomatische Beziehungen sind ein Grund zum Feiern: 2010 findet in Vietnam das Deutschland-Jahr 2010 statt - parallel dazu wird von Vietnam in Deutschland ein Vietnam-Jahr veranstaltet". In einem Internet-Grundsatzmaterial des Auswärtigen Amtes zu den "Beziehungen zwischen Vietnam und Deutschland" ist in Bezug auf das "Deutschlandjahr in Vietnam" von einem "Veranstaltungszyklus aus den Bereichen Kultur, Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Entwicklungszusammenarbeit und Sport" die Rede, der "das breite Spektrum der deutsch-vietnamesischen Beziehungen reflektieren" werde. Was von vietnamesischer Seite in Deutschland geplant wird, war bisher aus offizieller Quelle noch nicht zu erfahren.

Aufmerken lassen Formulierungen in den spärlichen amtlichen Verlautbarungen der deutschen Seite, die zwangsläufig an längst überwunden geglaubte Zeiten erinnern. So ließ die Botschaft in Hanoi im Herbst 2009 in einem Internet-Beitrag wissen, es werde der "35. Jahrestag der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen Vietnam und Deutschland" gefeiert. Auch in dem erwähnten Material des Auswärtigen Amtes spricht man vom 35. Jahrestag "der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Vietnam". In einer aktuellen Drei-Satz-Internetverlautbarung verweist die Botschaft - wenn auch mit fehlerhafter Zahl - auf "30 Jahre deutsch-vietnamesische diplomatische Beziehungen". Dahingestellt sei, ob derlei Formulierungen mit Vorbedacht oder einfach leichtfertig gewählt wurden. Bei halbwegs Informierten jedenfalls setzt man sich unweigerlich dem Verdacht aus, dass der Geist der unseligen Hallstein-Doktrin noch immer in manchen deutschen Beamten- und Diplomatenköpfen vagabundiert. Das war jene Leitlinie der Bonner Deutschland-Politik, mit der von 1955 bis Ende der 60er Jahre versucht wurde, die DDR zum Phantom zu erklären und der Weltgemeinschaft unter Strafandrohung den Alleinvertretungsanspruch der BRD in den deutschen Dingen zu oktroyieren.

Nein, weder begannen die "diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Vietnam" oder "deutsch-vietnamesischen diplomatischen Beziehungen" 1975, noch engagierte sich die BRD erst vor 35 Jahren diplomatisch in Vietnam. Ob gewollt oder ungewollt, wird zweifache Unwahrheit verbreitet. Die Bundesrepublik ist zum einen weit davon entfernt, von sich sagen zu können, in Richtung Vietnam für Deutschland Wegbereiter gewesen zu sein. Zum anderen sucht man nicht etwa erst heute höchst offiziell vergessen zu machen, dass Bonn schon zwei Jahrzehnte zuvor ebenfalls den Weg nach Vietnam gefunden hatte. Nebenbei bemerkt: Die Adresse der deutschen Botschaft in Vietnams Metropole lautet Pho Tran Phu 29. Seit 1955 war dieser malerische Gebäudekomplex die Botschaft der DDR. Den heutigen deutschen Diplomaten vor Ort sollte das bekannt sein.

Der deutsche Staat, für dessen Nachrichtenagentur ADN der Autor im Herbst 1970 nach Hanoi kam und noch am Ankunftstag die deutsche diplomatische Vertretung aufsuchte, hatte nur vier Monate nach seiner Gründung die damalige Demokratische Republik Vietnam (DRV) anerkannt. Am 3. Februar 1950 war damit der Grundstein für deutsch-vietnamesische diplomatische Beziehungen gelegt worden. Zu den ersten außenpolitischen Handlungen der DDR gehörte, jenem 1945 proklamierten vietnamesischen Staat, der gegen den französischen postkolonialen Rückeroberungsfeldzug zu kämpfen hatte, mit einer ganz speziell Deutschland betreffenden Aktion freundschaftliche moralische und politische Unterstützung zu erweisen. Zeitgleich mit der diplomatischen Anerkennung der DRV rief die Provisorische Regierung der DDR am 2. Februar die Tausenden in den Reihen des französischen Expeditionskorps stehenden deutschen Fremdenlegionäre auf, "mit dem schmutzigen und verbrecherischen Krieg gegen Vietnam Schluss zu machen und zur Volksarmee Vietnams überzugehen" um dann nach Deutschland zurückzukehren. So könnten sie "nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch die Ehre Deutschlands" retten.

Mit diesem Vorstoß und vielfältigen weiteren Aktivitäten namentlich der FDJ und ihres Zentralorgans Junge Welt in den folgenden Jahren bis hin zur Schlacht von Dien Bien Phu 1954 knüpfte die DDR an Initiativen der vietnamesischen Seite an, deren Kundschafter schon Anfang 1944 Kontakt zu antifaschistischen deutschen Fremdenlegionären hatten aufnehmen können. Zu ihnen gehörte der junge elsässische Sozialist Erwin Borchers, der spätere Oberstleutnant der Volksarmee Vietnams Nguyen Chien Sy. Die Schlacht von Dien Bien Phu war auch Bundeskanzler Konrad Adenauer Anlass, sich zum Thema deutsche Fremdenlegionäre in Vietnam zu äußern. Er tönte am 29. April 1954 im Bundestag: "Der Krieg in Indochina ist nicht allein eine französische Angelegenheit. Die Soldaten, die in Indochina Blut und Leben opfern, tun dies nicht für Frankreich allein, sondern im Dienste der Freiheit für die ganze Welt." Nach der vernichtenden Niederlage des französischen Expeditionskorps Anfang Mai telegrafierte der Kanzler an Frankreichs Premierminister Joseph Laniel: "Nehmen Sie, Herr Präsident, den Ausdruck meines tiefsten Mitgefühls entgegen und gleichzeitig meine Bewunderung für die heldenhaften Verteidiger der freien Welt in Dien Bien Phu."

Das 1950 gelegte Fundament zwischenstaatlicher Beziehungen DDR-DRV wurde Anfang März 1954 mit der Vereinbarung gestärkt, "die zwischen beiden Ländern bestehenden engen freundschaftlichen Beziehungen zu erweitern und gegenseitig Botschafter auszutauschen". Hatten bis dahin die Botschaften beider Staaten in Peking oder Moskau die Verbindung zu halten, so konnte am 12. Januar 1955 Johannes König, Botschafter in Peking, als diplomatischer Vertreter der DDR nunmehr auch in Hanoi sein Beglaubigungsschreiben übergeben. Am 30. August 1955 wurde dann Botschafter Rudolf Pfützner mit Sitz ihn Hanoi akkreditiert. Damit nahm die erste deutsche Botschaft in Vietnam in der Metropole am Roten Fluss ihre Arbeit auf. Etwa zeitgleich setzte die Bundesrepublik Deutschland ihren Fuß auf vietnamesischen Boden. Sie wandte sich allerdings nicht an die rechtmäßige Regierung der DRV in der Metropole Hanoi, sondern in antikommunistischem Geist an ein seelenverwandtes Staatsgebilde namens Republik Vietnam mit Saigon als Hauptstadt.

Nachdem Washington im Oktober 1955 unter Bruch der Genfer Indochina-Abkommen vom Vorjahr seinen Handlanger Ngo Dinh Diem diese Teil-Republik im Süden Vietnams hatte proklamieren lassen, eröffnete die BRD am 12. Dezember in Saigon ein Generalkonsulat. Es wurde am 12. Juni 1957 in eine Gesandtschaft umgewandelt. Am 25. April 1960 erhob man diese diplomatische Vertretung in den Rang einer Botschaft, die während der ganzen Kriegsjahre und auch nach dem Pariser Friedensschluss vom Januar 1973 bis in das Jahr 1975 hinein existierte. Zu ihren Hauptaufgaben gehörte fraglos, die Milliarden zu verwalten, die Bonn für das nach allen Regeln des Völkerrechts illegitime Regime in Saigon und unbestritten auch für die Kriegführung Washingtons zur Verfügung stellte. Nicht vergessen werden darf, dass die Bundesrepublik bis zum Schluss als zweitgrößter Geldgeber für Saigon nach den USA fungierte, dass sie demonstrativ politisch-propagandistisch, direkt finanziell und materiell, verdeckt personell den Aggressionskrieg Washingtons unterstützt hat.

Am 24. April 1975, eine Woche vor der Einnahme Saigons durch Einheiten der vietnamesischen Volksarmee und der südvietnamesischen Befreiungsstreitkräfte (FAPL), schloss die BRD ihre dortige Botschaft. Am 23. September jenes Jahres nahm sie schließlich diplomatische Beziehungen zur DRV auf. Der 20. April 1976 ist als Datum der Einrichtung einer Botschaft in Hanoi registriert. Deren Sitz und Residenz des interimistischen Geschäftsträgers Dr. Peter Truthart war das Hotel Thong Nhat. Nach der Proklamierung der wieder vereinigten Sozialistischen Republik am 2. Juli 1976 "vereinbarten beide Seiten, die diplomatischen Beziehungen fortzusetzen und den 23. September auch als Datum der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Republik Vietnam anzusehen". Am 31. Juli schließlich traf Dr. Peter Scholz als erster bundesdeutscher Botschafter in der SRV in Hanoi ein. Vietnam setzte zur gleichen Zeit einen Mann als Botschafter nach Bonn in Marsch, der die deutsche Sprache beherrschte. Nguyen Trung hatte in der DDR, an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Germanistik studiert. Die einstige Botschaft in Saigon wurde im April 1991 als Generalkonsulat in Ho-Chi-Minh-Stadt wiedereröffnet.

Wohl eher der Not gehorchend als dem eigenen Triebe, entschloss man sich am Rhein nur knapp fünf Monate nach dem Verlust dessen, was zwei Jahrzehnte lang lieb und teuer war, zu diplomatischen Beziehungen mit dem "kommunistischen" Staat, der schon seit einem Viertel-Jahrhundert solche Beziehungen zur DDR unterhielt. Den Ausschlag dafür, nach der bitteren Niederlage nicht nur der US-amerikanischen, sondern auch der bundesdeutschen Vietnam- und Asien-Politik trotz aller ideologischen Barrieren diesen Schritt zu tun, dürfte die Überlegung gegeben haben, das Feld im wieder vereinigten, ganzen Vietnam nicht der DDR zu überlassen. Das zerstörte Nachkriegs-Vietnam versprach als Markt in der Perspektive Riesenprofite. Auch waren gewisse eigene Positionen aus den Kriegsjahren im zivilen Sektor des Südens zu retten.

Der Schritt von 1975/76 blieb dennoch lange Zeit einzig plakatives Zeichen für beginnendes Umdenken am Rhein. Es erwies sich, dass man in Bonn offenbar nicht gewillt war, die Fesseln vasallischer Treue zu den USA abzustreifen. Es sollte noch bis 1990 dauern, ehe sich das 1982 ans Ruder gekommene Kabinett Helmut Kohls dazu entschloss, rigoroser US-amerikanischer Embargo- und Blockadepolitik gegenüber dem "neuen" Vietnam zum Trotz erste entwicklungspolitische Fäden zu knüpfen. Das geschah, als erkennbar war, dass die USA aus eigennützigen ökonomischen Erwägungen den Kurs gegenüber dem einstigen Kriegsgegner zu ändern beabsichtigten, und Gespräche zwischen Washington und Hanoi begannen. Für den ersten deutlichen Schritt hin zu Arbeitskontakten auf Regierungsebene brauchte es noch länger. Offenbar musste zunächst die DDR von der Bildfläche verschwunden sein. Erst Anfang April 1993 reiste Bundesaußenminister Klaus Kinkel mit dem Auftrag in Hanoi an, die Lage zu sondieren und erste Regierungsabmachungen zu treffen.

Kinkels Reise wie auch folgende Visiten demonstrierten, dass die Bundesrepublik fast zwei Jahrzehnte nach der Anbahnung zwischenstaatlicher Beziehungen von vielseitiger, auf gegenseitigem Respekt beruhender und beiden Seiten zum Nutzen gereichender Zusammenarbeit mit der SRV Lichtjahre entfernt war. So bleibt zu konstatieren, dass mit dem Ende der DDR im deutsch-vietnamesischen Verhältnis unermesslich viel Substanz verloren gegangen und Vietnam beträchtlicher Schaden entstanden ist. Inzwischen aber hat sich eine intensive Zusammenarbeit vorwiegend im ökonomischen Bereich, auch auf kulturellem Gebiet, deutlich weniger hingegen auf politischem oder gar gesellschaftspolitischem Terrain, entwickelt. Was zu registrieren bleibt ist, dass weder 1975 noch seit der Aufnahme mehr oder weniger regelmäßiger Regierungskontakte 1993 von offizieller bundesdeutscher Seite irgendwelches Schuldbekenntnis oder auch nur geringstes Bedauern für Geschehenes, geschweige denn die Bitte um Vergebung für die Mitschuld an millionenfachem Tod, an unermessliches Leid und gewaltige Zerstörung in Vietnam ausgesprochen wurden.

Mit dem der historischen Wahrheit geschuldeten Rückblick auf die deutsch-vietnamesischen diplomatischen Beziehungen in ihrer Gesamtheit möchte der Autor nicht falsch verstanden werden. Es soll zum Beispiel nur darauf verwiesen werden, dass im Jahr 2010 gut und gern zunächst des 60. Jahrestages der Anerkennung der DRV durch einen deutschen Staat und damit der Anbahnung deutsch-vietnamesischer diplomatischer Beziehungen gedacht werden könnte.

Alle wahren Freunde Vietnams werden es dennoch begrüßen, wenn der 35. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der SRV auf die geplante Art gewürdigt werden soll. Ihnen dürfte viel daran gelegen sein, dass sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern gedeihlich entwickeln mögen. Vielfältigste enge deutsch-vietnamesische Beziehungen hat es schließlich schon einmal gegeben. Den Festivals in beiden Ländern, die für September zu erwarten sein dürften, ist im Geiste der Völkerverständigung der größtmögliche Publikumserfolg zu wünschen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Auch älter als die offiziell von der Bundesregierung bewilligten 35 Jahre ist die Parteinahme der Friedensbewegung für das vietnamesische Volk: Ausschnitt aus einer Zeichnung Carlo Schellemanns aus dem Buch "Stationen Vietnams", das er zusammen mit Martin Walser 1968 veröffentlichte.

Raute

Fakten und Meinungen

Horst Schneider

Wie "Bürgerrechtler" in der DDR Helmut Kohl halfen

Gottes "Mantel der Geschichte" an sich zu reißen oder Wie die Kirche zum Dach der Unzufriedenen wurde
Staatsminister a. D. Professor Dr. Meyer in der Sächsischen Zeitung vom 27.9.2009

Im November 1989 trompeteten Politiker in die Mikrophone: Die Deutschen sind das glücklichste Volk der Welt!

Die Deutschen? Welche Deutschen feierten den Sieg über die DDR?

Zwanzig Jahre später gibt es keine Bilanz des Weges zu den "blühenden Landschaften". Vergessen ist, dass es keinem schlechter gehen wird und dass "zusammenkommt, was zusammengehört". Können Krupp und Krause "zusammengehören"?

Die Jubelfeiern im Oktober/November 2009 ermöglichten mancherlei Beobachtungen:

Künstliche Lichterspiele auf Steuerkosten ersetzten die Kerzen von 1989. Verordnete Kundgebungen und Demonstrationen imitierten die Protestmärsche von damals. Es regnete Orden, Bambis, Goldene Hennen, Literaturpreise usw. für Leute, deren "Verdienst" einzig daran gemessen wurde, wie stark sie an der "Delegitimierung" der DDR beteiligt sind, Christian Führer und Erich Loest, Dr. Hubertus Knabe, Jutta Fleck (Gallus), die "Frau vom Checkpoint Charly", die ihre Kinder im Stich gelassen hatte und nun zur "Löwin von Dresden" avancierte (obwohl eine Löwin ihr Kind nicht verlässt). Der Bundespräsident setzte dem Ganzen die Krone auf und übernahm in seiner Gedenkrede das Horrorszenarium von Leipzig, das ein bezahlter Lügenbaron vom Hannah-Arendt-Institut geschrieben hatte. Es wimmelt von Helden und Wundern. Deutschland braucht offenbar Helden, bei der Verteidigung am Hindukusch ebenso wie bei der Abrechnung mit der DDR. Wer entdeckt Vernunft, historische Wahrheit, Versöhnung?

In der Situation, in der die Verleumdung der DDR zur Staatsdoktrin wird(1), erinnerte ich mich an Reinhold Anderts "Unsere Besten"(2).

Zusätzlich half mir die Zeitschrift "Cicero", die im August 2009 fünfzehn Namen verdienstvoller selbst ernannter "Bürgerrechtler" veröffentlichte. Damit entfiel für mich die Aufgabe, diejenigen auszusuchen, die besonderen Anteil am Untergang der DDR haben, darunter Marianne Birthler und Bärbel Bohley, Christian Führer und Joachim Gauck, Friedrich Schorlemmer und Markus Meckel. Fast alle heldenhafte Revolutionäre oder revolutionäre Helden im Talar. Da die Helden aus Sachsen im "Cicero" zu kurz kamen, habe ich einige ruhmvolle Persönlichkeiten der "friedlichen Revolution" aus dem Freistaat ergänzt, wie Arnold Vaatz und Pfarrer Christof Ziemer. Und siehe da: Wie im "Cicero" sind die verdienstvollsten "Revolutionäre" in Sachsen auch unter dem "Dach der Kirche" aktiv gewesen, wie Staatsminister a. D. Professor Meyer öffentlich bestätigte.(3)

Diese Offenbarung zwingt mich zu einer Zwischenbemerkung: Deutschland hat auch die Novemberrevolution erlebt. Es gab 1918 Vorkämpfer der Revolution: Arbeiter- und Soldatenräte. Wortführer auf dem linken Flügel waren Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und ihre Mitkämpfer. An die Spitze gespült wurden die Scheidemann, Ebert und Noske, die die Revolution wie die Sünde hassten und zum "Bluthund" (Noske) der Revolution wurden. Ein Vergleich wäre lehrreich. Luxemburg, Liebknecht und Tausende andere wurden ermordet. Die Hugenberg-Presse (Springers Konzern vergleichbar) wütete gegen die "November-Verbrecher" und verbreitete die Dolchstoß-Legende, womit auch die Ebert und Scheidemann getroffen wurden, die den Kapitalismus hatten retten helfen.

Welche Situation gab es in Deutschland 1938, zwanzig Jahre nach der Novemberrevolution? Der geplante Revanchekrieg war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgebrochen.

Kehren wir in die Gegenwart zurück. Zum Streit in Deutschland von heute gehören Fragen wie die nach dem Platz der DDR in der Geschichte und die nach dem Charakter der Ereignisse von 1989.

Ganze Heerscharen von Politikern, Publizisten, Totalitarismusforschern, Juristen nahmen am Streit teil. Mit diesem Text möchte ich mich an dem Streit beteiligen eingedenk der Mahnung von Bundespräsident Horst Köhler: "Ich unterscheide zwischen Streit, der bloß für die Kulisse aufgeführt wird, und Streit in der Sache. Die Kontroverse gehört zur Demokratie wie das Salz zur Suppe. Der demokratisch ausgetragene Streit ist der beste Weg zu Erfahrung und Fortschritt ... Unsere Streitkultur ist laut geworden, aber leider auch sehr flach. Ohne Streit auszukommen, ist zu viel verlangt. Eine grundlegende Umwälzung wie jetzt kann doch nicht ohne Streit gelingen ­... Mut wird selten honoriert ... Ich habe Respekt vor den Menschen in den neuen Ländern, Achtung vor ihren Lebensumständen, vor ihrer Anstrengung und ihrer Leistung. Daran fehlt es manchmal."(4)

In den letzten Monaten wurde mit Begriffen jongliert und manipuliert wie "friedliche Revolution", "Wende", "Wunder von Leipzig", "Mantel der Geschichte", "SED-Unrechtsstaat", "Wiedervereinigung", um die damaligen Ereignisse zu vernebeln und einer rationalen Erklärung zu entziehen.

Wortführer bei der "staatlich verordneten" Begriffsbestimmung waren Autoren im "Deutschland Archiv" und Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Instituts. Für Michael Richter trifft beides zu.(5)

Der Dissident, Theologe und Philosophieprofessor Richard Schröder hat seine Sicht auf die "friedliche Revolution" mitgeteilt: "Manche behaupten nun, der Herbst 1989 habe bewiesen, dass man gewaltfrei eine Diktatur stürzen kann, und knüpfen daran fantastische Erwartungen an die Macht zivilen Widerstands und ziviler Konfliktlösungen. Sie übersehen dabei: All das wirkt nur, wenn die Panzer in den Kasernen bleiben oder: wenn die Diktatur Beißhemmungen hat. Eine Diktatur in der Selbstisolierung kann von unten nicht gestürzt werden, wenn sie keine "Fehler" macht. Was uns vor einer Diktatur schützt, ist weder Charakterstärke noch Mut, schon gar nicht Eigensinn, denn den brechen Diktatoren spielend, sondern mindestens zwei Institutionen: unabhängige (mindestens plurale) Medien und eine unabhängige Justiz. Die SED-Diktatur konnte zum Einsturz gebracht werden, weil sie sich unfreiwillig einige Beißhemmungen auferlegen musste. Den zu allem entschlossenen Genossen fiel das Herz in die Hosentasche, als sie der sowjetischen Panzer nicht mehr sicher waren."(6)

Es gibt noch andere Versuche, den Begriff "friedliche Revolution" zu definieren, aber hier soll lediglich darauf hingewiesen werden, dass der Begriff zum ersten Mal rund um den Erdball bekannt gemacht worden ist, als ihn Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 vor der Ruine der Frauenkirche in Dresden in die Welt setzte.(7) Kohl wusste um die Bedeutung von Begriffen.

Hier wird zunächst die zusammenfassende Betrachtung kurz referiert, die Martin Sabrow am 30. Oktober 2009 in der Leibniz-Sozietät vorgetragen hat.(8)

- "Der Herbstumbruch von 1989 hat zu einer eigentümlichen Renaissance des Revolutionsbegriffs geführt."

- Der Begriff "Revolution" wird von staatlichen Stellen benutzt, die Mehrheit des Volkes redet von der "Wende".

- Der "Wende"-Begriff könne in Osteuropa integrieren.

- "Eine scheiternde Revolution wird in den hergebrachten Mustern der Weltorientierung als Hochverrat verhandelt; eine siegreiche Revolution aber setzt mit der historischen Zäsur zugleich neue normative Maßstäbe des Handelns und Denkens, die sich aus den alten Verhältnissen nicht hätten ergeben können."

- Der Streit hat scholastischen Charakter. Sein analytischer Erkenntniswert tendiert gegen Null.(9)

- "Der Umbruch des Herbstes 1989 stellte eine Revolution ohne Revolutionäre dar. Der Untergang des SED-Staates folgte nicht so sehr aus der Niederlage gegen einen erstarkten Gegner, sondern besiegelte in vielem eine innere Auflösung aus eigener Schwäche. Die einzelnen Gegenbewegungen (Bürgerrechtsbewegung, Massendemonstrationen, Fluchtbewegung und SED-Reformbewegung) agierten bis in den Herbst 1989 weitgehend unabhängig voneinander und hätten weder allein noch gemeinsam das Repressionsregime ernsthaft vor die Machtfrage stellen können. Bis in den Sommer 1989 hinein stellten die wenig mehr als 10.000 sich offen zur Opposition bekennenden Köpfe wohl moralisch einen ernstzunehmenden Faktor, aber zahlenmäßig in Bezug auf den Machterhalt keine imposante Größe dar. Die 150 Basisgruppen, 600 Führungsfunktionäre, 2300 Aktivisten und 60 unbelehrbare Feinde des Sozialismus, die das MfS auflistete, konnten einem gegen den inneren Feind hochgerüsteten Staat kaum gefährlich werden."

- Sabrow verweist auf die Folgerung, die Martina Weyrauch zog: "Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur darf nicht auf das Ziel einer einheitlichen oder gar geschlossenen Gesamtaussage verpflichtet werden. So verlockend es auch klingen mag, politische Bildung muss sich davor hüten, einen richtigen Weg des Erinnerns und ein gültiges Geschichtsbild zu verkünden. Anders als in geschlossenen Gesellschaften gibt es keinen historischen Wächterrat, der den geschichtlichen Wahrheitsgehalt anordnet."(10)

Diese Aussagen Martin Sabrows sind von grundsätzlicher Bedeutung. Zunächst ermöglichen sie, das staatliche Diktat der Definition "friedliche Revolution" zu erkennen und zurückzuweisen. Zum anderen erlauben sie, die "Helden", die als Oppositionelle gefeiert werden, auf die irdische Größe zu reduzieren: Der Mensch "macht" seine Geschichte selbst. "Wunder" und außerirdische Kräfte sind nicht vonnöten. Der Mensch handelt unter historischen Bedingungen und verfolgt dabei Interessen, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Das Ergebnis menschlichen Handelns ist nie das individuell verfolgte Ziel, sondern die Resultate des Kräfteverhältnisses aller agierenden Kräfte.

Welche Forderungen dominierten anfangs, z. B. in Leipzig und am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz? Nicht die Forderung nach der Abschaffung, sondern nach der Reform der DDR. Und das Ergebnis?

Nach 1989 wurden die Umwälzungen in der ehemaligen DDR rückgängig gemacht, eine "friedliche Revolution"? oder "Die Wende" oder eine Konterrevolution? Welche gesellschaftlichen Verhältnisse wurden wieder hergestellt? Die Krupps sind wieder da, die Krauses haben nichts zu bestellen außer ALG/Hartz 4 -, wenn sie denn bis 1989 tatsächlich etwas zu sagen hatten und heute den Anforderungen für ALG/Hartz entsprechen! Hier trifft zumindest der Tatbestand der Definition "Restauration" zu. Die Triebkräfte: Innere Widersprüche und massive Unterstützung restaurativer Kräfte "von außen"! Der "Kalte Krieg" war ein Kampf der Systeme.

Eine Bemerkung zum Zeitablauf: "Der Herbst" war Beginn der Veränderungen, nicht die Ursache, der Abschluss: die Einstellung der Arbeit der Breuelschen Treuhand. Dazwischen liegt die "Wieder-Herstellung der Ordnung in Staat und Wirtschaft". Ergänzend: Der Austausch der Eliten - des "Kaisers" sowieso - der Generäle, von Professoren, fast aller Betriebsdirektoren, Kulturdirektoren, Medienchefs und andere war radikal, ein Ergebnis der "Wende"!

In diesem Sinne war "Wiedervereinigung", vor der Willy Brandt mehrfach gewarnt hatte, die Wiederherstellung der alten Macht- und Eigentumsstrukturen.

Das, was heute von der politischen Klasse mit "friedlicher Revolution" bezeichnet und "friedlicher Wiedervereinigung" etikettiert wird, bestand aus einer Kette von dramatischen Ereignissen, die mit atemberaubendem Tempo abrollten. Wer sich inmitten der Ereignisse bewegte - das war die Mehrzahl der DDR-Bürger - war kaum in der Lage, den Gang der Ereignisse zu überblicken und seinen Platz nach prüfendem Abwägen zu bestimmen. Da verbanden sich im Oktober 1989 das Zerbrechen der Führungsorgane der DDR (Höhepunkt Rücktritt Honeckers) mit dem Aufbegehren großer Teile der DDR-Bevölkerung, gespeist aus zwei Hauptquellen: Den oppositionellen "Dissidenten" unter dem "Dach der Kirche" und den "Reformern" in der SED. Beide Gruppen waren in sich differenziert, waren aber zeitweilig - insbesondere bei den Montagsdemonstrationen - verbunden. Die zentrale Losung war anfangs "Wir sind das Volk". Es folgten die Kundgebung der Millionen auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989, deren Charakter von Reformforderungen von Schauspielern, Pfarrern, Juristen und "Wende"-Politikern geprägt war, und der "Mauerfall" am 9. November 1989. Die Wirkung beider Ereignisse für die Folgezeit ist kaum zu überschätzen: Der "Ostblock" taumelte, die Losung "Wir sind ein Volk" stellte die Weichen neu.

Eine wichtige Zäsur, nach Helmut Kohls Urteil die entscheidende, stellte sein Auftritt an der Ruine der Dresdner Frauenkirche am 19. Dezember 1989 dar, auf der der Kurs auf rasche "Wiedervereinigung" umgesteuert wurde und im Echo der Medien die Zustimmung der meisten Dresdner (und der honorierten Teilnehmer der Kundgebung) fand. Von da an verloren die "Reformer" rasch an Unterstützung durch das "Volk" (wie die Wirkung des Aufrufs "Für unser Land!" zeigt), die Anhänger der Kohlschen Politik gewannen schnell an Einfluss. Aus der "friedlichen Revolution" in der DDR wurde die "Anschluss"-Politik nach dem Muster Österreichs 1938. Im September 1989 schossen Oppositionsgruppen aus dem Boden wie Pilze nach einem warmen Regen und überall wirkten Kirchenleute mit, bei der SDP Markus Meckel und Martin Gutzeit, bei Demokratie jetzt Wolfgang Ullmann und Manfred Stolpe, beim Neuen Forum Hans-Joachim Tschiche, Bärbel Bohley und Katja Havemann, beim Demokratischen Aufbruch Rainer Eppelmann, Ehrhart Neubert und (anfangs) Friedrich Schorlemmer.

Der 9. Oktober 1989 "war der Moment der christlichen Oppositionellen. Das waren bekannte Menschen wie Christian Führer, der Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche oder der Erfurter Probst Heino Falcke, Marianne Birthler, Rainer Eppelmann, Friedrich Schorlemmer, aber auch weniger Bekannte wie Pfarrer Christoph Wonneberger, der Erfinder der Leipziger Montagsgebete, Martin Jankowski oder Waltraud Zachhuber aus Magdeburg."(11) (Die "Bürgerrechtler" organisierten eine "friedliche Revolution", die nach Artikel 81-83 des Strafgesetzbuches der BRD Hochverrat ist.)

Neben dem Begriff der "friedlichen Revolution" ist auch die Kennzeichnung der DDR-feindlichen Opposition von besonderer Bedeutung für die Wertung der Persönlichkeiten. Gebräuchlich ist der Begriff "Bürgerrechtler" und "Dissidenten". Die Literatur über sie ist kaum noch zu übersehen und die Differenzierung muss nicht nur zwischen den Personen und Gruppen, sondern auch bei der Entwicklung jedes "Dissidenten" zwischen 1989 und 2009 beachtet werden. (Aus Bärbel Bohley, der es 1989 "Spaß gemacht hat, die DDR revolutionsreif zu basteln", wurde die Kritikerin, die befand, dass die BRD nicht besser sei als die DDR. Pfarrer Christian Führer, die Ikone der Leipziger Montagsmärsche, hofft auf eine Fortsetzung der "Revolution"). Was darf für 1989 gelten?

- "Für keine frühere Revolution ist die anschauliche Quellengrundlage wohl so günstig, weil sonst vermutlich niemals in der Weltgeschichte ein Nachbarstaat/eine Nachbargesellschaft die Revolutionsanfänge so genau beobachten und veröffentlichen durfte."(12)

- "Die paar tausend Menschen aus den Oppositionsgruppen prägten das Geschehen wesentlich. Denn sie gaben den Protesten Form, Sprache und Ziele."(13)

- Martin Sabrow meint, "dass der Umbruch des Herbstes 1989 eine Revolution ohne Revolutionäre" darstellte. Die selbsternannten "Bürgerrechtler" stellten in Bezug auf den Machterhalt der DDR keine imposante Größe dar: Die 150 Basisgruppen, 600 Führungsfunktionäre, 2400 Aktivisten und 60 unbelehrbare Feinde des Sozialismus, die das MfS auflistete, konnten einem gegen den inneren Feind hochgerüsteten Staat kaum gefährlich werden."(14)

- Die "Dissidenten" und die bekannten Gruppen hatten im September/Oktober 1989 höchst unterschiedliche Ziele und Programme. Die Beseitigung der sozialistischen DDR war weder für die Mehrheit der Bürger der DDR, noch bei den Oppositionsgruppen erklärtes Ziel.

Die SED-Führung, auch das MfS, wussten von den "Bürgerrechtler"-Gruppen. Um der Entspannung willen setzten sie kaum ihre Macht ein. Selbst Helmut Kohl konnte vom 7. bis 9. Mai 1988 ganz privat nach Dresden, Erfurt, Gotha und Weimar fahren. Hunderte Vertreter "westlicher" Politik vernetzten in Zusammenkünften und Versammlungen nicht selten unter dem Dach der Kirchen und mit Hilfe westdeutscher Medien die "DDR-Opposition". Widersinnig richteten "Friedensfreunde" ihren politischen Angriff ausgerechnet gegen die Regierung, die in Europa am dringlichsten für Abrüstung und Friedenserhalt eintrat. Ein Jahrzehnt später konnten die Anstifter dieser "Friedensfreunde" ungestört Pflugschare als verschrotteten Sekundärrohstoff für Stahl nutzen, aus dem Panzer und U-Boote wurden.

- Die Kirchen wurden zum "Dach" und Schutzraum, die Aktion "Schwerter zu Pflugscharen" und die Unterstützung der Ausreisebewegung zum wichtigsten Mittel der Zersetzung der DDR, wobei der Einsatz der bundesdeutschen Medien von besonderer Wirkung war.

- Die Forderung nach der "Wiedervereinigung Deutschlands" wurde zur Schwungmasse der Beseitigung des Realsozialismus im Osten Europas und Kohl wurde zum eifrigsten Durchpeitscher der US-Strategie in Deutschland.(15)

- Bodo von Borries stellte Mitte 2009 fest, "dass die meisten der eigentlich revolutionären Akteure beiseite geschoben wurden."(16)

Michael Diestel hatte schon im Neuen Deutschland vom 21. Mai 1996 gewarnt: "Die CDU sollte erkennen, dass eine Konzentration auf Eppelmann, Vaatz, Heitmann, Bohley, Wollenberger-Lengsfeld oder Konrad Weiß zwingend in eine Sackgasse führt. Diese Personen vertreten Positionen, die falsch, wetterwendisch und nicht mehrheitsfähig sind."

Aus heutiger Sicht darf verallgemeinert werden: Die beiden großen Kirchen führten der Konterrevolution jene himmlischen Bodentruppen zu, die die DDR destabilisierten, in der Volkskammer 1990 die DDR sturmreif schossen und - teilweise - im Osten Generalgouverneure (Quislinge?) im Auftrag der Kohl-Politik wurden. Rainer Eppelmann wurde "Verteidigungsminister" - von wessen Gnaden?

Mögen einige subjektiv auf eine "Reform" der DDR hingewirkt haben, in der konkreten Situation war das Schützenhilfe bei der Liquidierung der DDR als Staat.

Die Grundentscheidung für jeden Bürger dies- und jenseits der Elbe war: Für oder gegen die Existenz der DDR. Es gab 1990 keine andere Alternative.

Die DDR behauptete nicht, den Sozialismus (schon) verwirklicht zu haben. Das war objektiv gar nicht möglich. Auch diejenigen, die die DDR aufbauten, hätten sich bessere Bedingungen gewünscht, vor allem nicht den altbösen Feind jenseits der Elbe.

Verlierer sind nicht nur die "Staatsnahen" in der DDR, sondern alle, die ein friedliches und ausbeutungsfreies Deutschland angestrebt hatten. Aus meinen eigenen Erfahrungen und Freundschaften weiß ich, dass dazu auch viele Christen gehörten und gehören.

Nun darf jeder lesen, wie sich "Christen" darum balgen, nicht nur den "ersten Stein", sondern den tödlichen Felsen auf die DDR gewalzt zu haben.

Als die Adenauer-Stiftung und das Haus Springer Ende Oktober 2009 George Bush, Helmut Kohl und Michail Gorbatschow als "Väter der Einheit" gefeiert hatten, meldete sich Lech Walesa in BILD vom 2. November 2009 (wie früher im SPIEGEL) zu Wort: "Es macht mich heute traurig, dass Heiden aus denen gemacht werden, die keine waren." Gorbatschow habe weder den Kommunismus noch die Berliner Mauer stürzen wollen. Walesa fügt hinzu: "Die Wahrheit ist, dass Papst Johannes Paul II zu 50 Prozent zum Mauerfall beigetragen hat, 30 Prozent der Solidarnosc und Lech Walesa und nur 20 Prozent der Rest der Welt."

Wenn Walesa auf 20 Prozent des Heldentums verzichtet, fragt man sich natürlich, wie viel für Helmut Kohl und Christian Führer übrig bleiben. Der evangelische Bischof Huber jedenfalls urteilte: "Die Veränderungen von 1989 in der DDR und in Polen wären ohne die Kirchen nicht zustande gekommen."(17) Wer Hubers Urteil zustimmt, müsste natürlich fragen: Warum haben die Kirchen die Aktivitäten gegen die sozialistischen Regierungen organisieren helfen? Wie haben sie das getan? Und was ist das Ergebnis?

Christian Führer hatte genügend Platz, auf diese Fragen zu antworten. Auf die Frage nach den Gründen gibt es bei Christian Führer so gut wie keine Antwort. Die evangelischen Bischöfe hatten der DDR nicht den Krieg erklärt (was Gerhard Besier, in den letzten Jahren Direktor des Hannah Arendt Instituts, heftig kritisierte) und die Formel von der "Kirche im Sozialismus" war interpretierbar. Die Erklärung der evangelischen Bischöfe vom 15. Februar 1968 im Kloster Lehnin an Ulbricht lautete: "Als Staatsbürger eines sozialistischen Staates sehen wir uns vor die Aufgabe gestellt, den Sozialismus als eine Gestalt gerechteren Zusammenlebens zu verwirklichen."(18) Das Diktatorische an der DDR hätte die Kirchen auch kaum stören müssen. Hitler konnte bis zum Schluss darauf vertrauen, dass "Gott mit uns" war. Warum der Hass auf die DDR?

Bei der katholischen Kirche war das anders und der Vatikan ist ja nicht nur Kirchenführung, sondern auch Staat. Als Kardinal Wojtyla Papst Johannes Paul II. wurde, rief er öffentlich zum Sturz der gottlosen Staatsmacht wie schon seine Vorgänger auf, die an der Seite Hitlers die "Vernichtung des jüdischen Bolschewismus" gefordert hatten und er fand in Walesa und Solidarnosc seine "willigen Helfer". Ein Kuriosum nebenbei: In der Weimarer Republik zählten die Dibelius und Co. zu denen, die die Novemberrevolution schmähten und Hitler 1938 (buchstäblich) segneten.

1989 drapierten sich Pfarrer als "Revolutionäre" und lassen sich dafür zwanzig Jahre später von Politikern, die Krieg führen, Orden umhängen.

Es dürfte an der Zeit sein zu prüfen, wie die Kirchen jene "Massen" gewannen, ohne die die Restauration in Osteuropa kaum möglich gewesen wäre (wie der Aufbau des Sozialismus auch der Unterstützung der Massen bedurfte, wie wir von Lenin wissen).

- Die Kirchen und Pfarrer wirkten legal.

- Sie wurzeln in einer jahrhundertealten Tradition, die Gewohnheiten - z. B. Gehorsam gegen Gott - überliefern.

- Sie werden zentralistisch geführt, die katholische Kirche geradezu totalitär.

- Die Kirchen haben stabile Strukturen, gehorsame Kader.

- Die Räume, Finanzen, caritativen Einrichtungen usw. erleichtern ihre Arbeit.

Die DDR-Kirchen wurden von bundesdeutschen Einrichtungen materiell und finanziell erheblich unterstützt.

- Regierungen und Medien folgen ihnen in beachtlichem Maße.

- Mit der Beichte als Informationsquelle und dem Vatikan als Völkerrechtsobjekt hat die katholische Kirche weitere Machtmittel in der Hand.

- Der Antikommunismus hat eine lange Tradition. Pius XI. erklärte 1937 in seiner Enzyklika "Divini Redemptoris" (göttliche Erlöser): "Der Kommunismus ist in seinem innersten Kern schlecht und es darf sich auf keinem Gebiet mit ihm auf Zusammenarbeit einlassen, wer immer die christliche Kultur retten will."

- Nicht wenige Kirchenleute ließen sich zum Missbrauch von Bibeltexten im politischen Kampf verleiten "Schwerter zu Pflugscharen" (Eppelmann) als Losung zur Entwaffnung der DDR, nicht für die weltweite Abrüstung. Ein weiteres Beispiel lieferte der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, während eines ökumenischen Gottesdienstes in der Berliner Gethsemane-Kirche. Er zitierte aus der Bibel, Psalm 18: "Mit meinem Gott überspringe ich Mauern", Das habe den Christen in der DDR stets Zuversicht gegeben. So besehen war der "Herbst 1989" göttliches Werk und die "Helden" von damals waren das Fußvolk des Allmächtigen.

Um der geschichtlichen Wahrheit die Ehre zu geben: Die "Bürgerrechtler" hatten im "Herbst 1989" nicht die Mehrheit der DDR-Bürger hinter sich und die Merkel-Regierung hat sie bis heute nicht gewonnen. Ich empfehle zum Schluss, über einige Sätze von Egon Krenz nachzudenken: "Vielleicht versuchen wir es mal mit der Wahrheit? Nämlich: Wir reden die Bundesrepublik einfach nicht mehr schöner, als sie ist, und wir machen die DDR nicht schlechter, als sie tatsächlich war. Siebzehn Millionen Menschen lebten hier, und wenn man die Weggezogenen hinzunimmt, waren es in Summa sogar noch mehr. Jede Einzelne und jeder Einzelne hat seine persönliche Sicht auf die DDR. Jedes Schicksal ist einmalig und individuell. Jeder hat seine eigene Geschichte. Und die Geschichte der DDR-Bürger ist vielseitiger und komplexer, als wir sie von den bürgerlichen Medien, von Politikern, von offiziell bestellten und bezahlten Historikern, in Büchern und Filmen derzeit serviert bekommen."(19)


Anmerkungen:

(1) Heinz Schneider: Hysterische Historiker. Vom Sinn und Unsinn eines verordneten Geschichtsbildes, Berlin 2008.

(2) Reinhold Andert: Unsere Besten, Die VIPs der Wendezeit, Berlin 1995.

(3) Hans-Joachim Meyer: Wie die Kirche zum Dach der Unzufriedenen wurde, Sächsische Zeitung 24.9.2009.

(4) Horst Köhler: Reden und Interviews, S. 30, Interview im FOCUS 13.9.2004.

(5) Michael Richter: Die Wende. Plädoyer für eine umgangssprachliche Nutzung des Begriffs, Deutschland Archiv 4/2007, S. 261 f.

(6) 19. Bautzen-Forum, mai 2008, S. 33.

(7) Horst Schneider: Das Treffen zwischen Ministerpräsident Hans Modrow und Bundeskanzler Helmut Kohl am 19./20.12.1989 in Dresden, Dresden 2009.

(8) Martin Sabrow: Wende? Revolution? Zum Umbruch von 1989 im deutschen Geschichtsbewusstsein, Neues Deutschland 21./22.11.2009

(9) Das zielt gegen Rainer Eckert und Michael Richter, die im Deutschland Archiv den Wendebegriff abgelehnt hatten Rainer Eckert: Gegen die Wende-Demagogie - für den Revolutionsbegriff, Deutschland Archiv 2007, S. 1085; Michael Richter. a.a.O., S. 1087.

(10) Martina Weyrauch, in: Thomas Großbölting/Dirk Hofmann (Hrsg.): Vom Umgang mit Diktaturerfahrungen in Ost- und Westeuropa, Göttingen 2008, S. 127.

(11) Süddeutsche Zeitung 13.10.2009

(12) Bodo von Borries: Zwischen Katastrophenmeldungen und Alltagsernüchterungen? Deutschland Archiv 4/2009, S. 668.

(13) Hans-Jürgen Papier: 60 Jahre Grundgesetz 20 Jahre friedliche Revolution, Deutschland Archiv 4/2009, S. 656.

(14) Martin Sabrow a.a.O.

(15) Klaus Eichner: Hintergründe der Entwicklungen 1989, UZ 13.11.2009.

(16) Deutschland Archiv 4/2009, S. 46.

(17) Der SPIEGEL 20/2008, S. 46.

(18) Martin Greschat. Staat und Kirche in der DDR, Deutschland Archiv 4/2009, S. 633.

(19) Egon Krenz: Gefängnis-Notizen, Berlin 2009, S. 230.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Einige der im Beitrag genannten Akteure erhielten 1992 Post vom EULENSPIEGEL:
"Unsere Agentur ist vom Berliner Panoptikum beauftragt worden, zum 4. November 1993 eine Sonderschau Die Köpfe der Wende vorzubereiten, die anschließend als Dauerexposition in den Räumlichkeiten des Panoptikums verbleiben wird." Zu denen, die dieser Verlockung des allerdings verkleideten Eulenspiegels nicht widerstehen konnten und sich von den Journalisten einseifen und abgipsen ließen, gehörte auch Pfarrer Eppelmann. (Foto auf dem Titel des EULENSPIEGEL 5/1993)


Ich mag nicht Philosophen, die das Haar auf fremden Köpfen spalten. Noch dazu mit einem Beil.

Jerzy Lec

Raute

Fakten und Meinungen

Marianne Liebermann

Gegen das Vergessen und das Vergessenwerden

Du solltest Deine Memoiren aufschreiben, sagen Freunde oft, wenn ich "von früher" erzähle. Aber ich will nicht. Wer bin ich denn? Doch keine "Persönlichkeit der Zeitgeschichte"! Tagebuch habe ich nie geführt, so wichtig nahm ich mich nie.

Sicher habe ich vieles erlebt, ich lebe ja schon ziemlich lange, bin immerhin noch am Ende der Weimarer Republik geboren. Aber vieles habe ich vergessen und vieles nicht so bewusst erlebt. Warum soll ich anderen meine Erinnerungen aufdrängen? Soll mich plagen, in mich gehen, mein Innerstes erforschen, zurück bis in die Kindheit? Mir und anderen etwa Rechenschaft ablegen über mein Leben - jetzt, wo ich nichts mehr ändern kann? Und dabei vielleicht auch noch richten über meine Eltern, die mich mit viel Liebe und nach bestem Wissen und Gewissen erzogen haben und dabei vielleicht doch manches hätten besser machen können, richtiger für mich? Sie mussten ja auch erst ihre Erfahrungen sammeln. Nein, das liegt mir nicht, ich schreibe bestimmt keine Memoiren.

Ins Grübeln komme ich allerdings, wenn es allüberall Mahnungen hagelt wie zum 20. Jahrestag der Implosion der DDR, doch "die Geschichte" ja nicht zu vergessen, die offenbar allein selig machende Wahrheit über die DDR mit ihrer "kommunistischen Diktatur" und Unterdrückung. Die Geschichte des "Stasi-Staates". Oder wenn emsige junge Forscher von außen in unserer Vergangenheit herumstochern wie in einem Panoptikum und immer wieder Kuriositäten aufspießen, die wir selbst nur aus unserem satirischen Eulenspiegel kannten und entsprechend belachten. Die bürokratische Wortschöpfung "geflügelte Jahresendfiguren" zum Beispiel, die ich gerade eben, am 16. Januar 2010, wieder von einem Talk-Gast aus dem tiefsten Westen im Fernsehen hören musste, sogar in der Sendung DAS!, mit der mokanten Erläuterung, das sei doch in der DDR die Bezeichnung für Weihnachtsengel gewesen. Die müssen es ja wissen! Für so dämlich hält man uns immer noch. Oder wenn ein weiser Mann aus dem Westen, gar noch Geschichtsprofessor, alle in der DDR ausgebildeten Bürger, egal welcher Profession, ungestraft als "verzwergt" bezeichnen darf.

Dann muss ich mich wehren und mein Leben dagegensetzen. Ich will nicht, dass meine Nachkommen so von uns denken, ein solches Bild bekommen von unseren Erfahrungen bei unserem historischen Versuch, eine bessere Gesellschaft zu schaffen - nach dem Entsetzen über den Krieg und die Wahrheit über die faschistische Herrschaft, die vielen meiner Generation (ich war 13 bei Kriegsende) erst nach 1945 allmählich bewusst wurde. Wir mussten und wollten nach dem Grauen des Todes und der Zerstörung eine gerechtere und friedlichere Welt aufbauen, nicht nur für uns selbst, sondern für alle. Es geht mir nicht um Beschönigung und Verklärung - wir wissen selbst, dass wir unsere Ideale nicht durchsetzen konnten und auch unser Teil zum Misslingen unserer Bestrebungen beigetragen haben. Auch diese Erfahrungen müssen wir weitergeben. Vor allem aber will ich nicht, dass positive Erfahrungen und die unbeschwerten Seiten unseres Lebensgefühls in Vergessenheit geraten.

Dabei hoffe ich zwar auch auf die Wirkung belletristischer Werke und auf die Mühen anderer "ehemaliger" DDR-Bürger, die ähnlich fühlen wie ich, aber eifriger und tapferer sind, ihre Erinnerungen besser verwaltet haben und sie tatsächlich aufschreiben. Vielleicht lesen ja meine Nachkommen vieles von den beachtenswerten autobiografischen Artikeln oder Büchern, die in letzter Zeit erfreulicherweise mehr und mehr erscheinen. Letzte Woche las ich gar von soziologischen Langzeitstudien zu einzelnen Aspekten des Lebens in der DDR, in denen festgestellt wird, dass DDR-Erfahrungen nachhaltig wirken und von jungen Leuten akzeptiert werden, zum Beispiel zur Betreuung der Kinder berufstätiger Mütter in Kinderkrippen. Da gibt noch es viele Themen für künftige Doktoranden.

Aber wenn ich daran denke, dass ich inzwischen schon drei lesekundige Urenkel habe, kann ich auch selber mal Erinnerungen aufschreiben oder wenigstens erzählen, es müssen ja nicht gleich Memoiren sein. Auch das Alltagsleben widerspiegelt die Entwicklung. Schließlich erinnere ich mich mit Freuden an Großmutters anschauliche Erzählungen aus dem Familienleben, deren Begebnisse nun schon mehr als hundert Jahre zurückliegen und mir die Geschichte anschaulich machten. Also werde ich künftig den Nachkommen mehr und bewusster "von früher" erzählen, zumindest mündlich, vielleicht auch schriftlich. Vielleicht findet die Aufzeichnungen sogar später mal ein Nachkomme in irgendeinem Nachlass, und dann können noch Ortschronisten Honig daraus saugen. Die lauern geradezu auf solche Entdeckungen.

Erwähnen muss ich übrigens, dass meine guten Vorsätze keiner Silvesterlaune entsprangen, sondern einen konkreten Anlass haben: eine Buchlesung. Die Mitglieder der Schreibwerkstatt Schöneiche bei Berlin hatten sich vorgenommen aufzuschreiben, wie sie den 9. November 1989 erlebten und wie sich danach ihr Leben wendete. Sehr verschiedener Herkunft sind die Autoren, sehr unterschiedliche Erfahrungen beschreiben sie: Freud und Leid, auch Trostloses, Häme und Raffgier, aber auch immer wieder tatkräftigen Einsatz für die Allgemeinheit, Glaube und Zuversicht. Jeder gibt ein Stück von sich preis und kann gerade dadurch überzeugen. "Hoffen! Was tun!" überschreibt eine Autorin ihren Text. Diese Maxime könnte über allen Texten des Buches stehen. Und ich kann versprechen: Humor und Selbstironie kommen nicht zu kurz in den Berichten.

In der Diskussion anlässlich der Lesung kam die Sprache darauf, wie wichtig unsere Lebenserfahrungen sind und dass man sich viel mehr mühen müsste, sie den Nachkommen zu vermitteln - sei es auch nur im Familienkreise.


Das Buch mit seinen 22 Erinnerungen vom Berliner Stadtrand heißt "Lebens-Wenden. Geschichte erlebt und erzählt", herausgegeben von Margit Gerisch, 170 Seiten. Erschienen im Individuell Verlag Ines Jerratsch, Schöneiche, 2009. Preis: 12,50 € ISBN 978-3-935552-33-2

Schneller erhältlich per Direktbestellung beim Individuell Verlag Ines Jerratsch, 15566 Schöneiche (bei Berlin), Ahornstraße 3, Tel. (030) 64 38 86-29, Fax (030) 64 38 86-32


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Marianne Liebermann ist auch Autorin mehrerer Beiträge zur Heimatgeschichte Woltersdorfs, obwohl der Ort nicht ihr Heimatort ist.

Raute

Fakten und Meinungen

Elisabeth Ittershagen

Vom Kinderheim der Roten Hilfe

zum Ferienhotel "Am Wald"

So lautet der Titel eines Flyers, mit dem das Hotel "Am Wald" im thüringischen Elgersburg die traditionsreiche Geschichte des Hauses vorstellt. Es war mittlerweile die zehnte Silvesterreise einer Gruppe der GBM, die diesmal zum Jahreswechsel 2009/2010 ins Thüringer Land und in dieses Hotel führte.

Auf die wechselvolle Geschichte des Elgersburger Hotels soll im Folgenden eingegangen werden. Eine Gedenktafel bezeugt: "Dieses Haus wurde am 12. April 1925 als Kinderheim der Internationalen Roten Hilfe (MOPR) eingeweiht." MOPR ist die Abkürzung des russischen Namens der "Internationalen Organisation zur Unterstützung von Kämpfern der Revolution", der Internationalen Roten Hilfe (IRH).

Als Villa Bauer 1890 erbaut liegt das Haus in 600 m Höhe, direkt am Wald. Sein Besitzer war gezwungen, es während der Inflation in den zwanziger Jahren für 15.000 Reichsmark zu veräußern. Als das ZK der Roten Hilfe von seinen Verkaufsabsichten erfuhr, beauftragte es zwei Genossen, sich beim Amtsgericht Berlin-Mitte als Quieta-Erholungsstätten GmbH ins Register eintragen zu lassen. Die hierfür nötigen Gelder stellte die IRH zur Verfügung.

Die Bildung der Organisation war auf Initiative Julian Marchlewskis von den Delegierten des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale am 30. November 1922 in Moskau beschlossen worden. Mit ihr entstand jene weltumspannende Organisation der proletarischen Klassensolidarität, der auch die Rote Hilfe Deutschlands (RHD) angehörte. Geleitet wurde die Solidaritätsorganisation von bekannten Persönlichkeiten der internationalen Arbeiterbewegung wie Julian Marchlewski, Clara Zetkin, Jelena Stassowa, Felix Kon und Wilhelm Pieck.

Die IRH kümmerte sich vor allem auch um die Kinder von eingekerkerten oder ermordeten proletarischen Kämpfern. Ihr bekanntestes Kinderheim befand sich unweit von Moskau in Iwanowo. In Deutschland gab es zwei Heime, eins in Worpswede bei Bremen, den Barkenhoff des Malers Heinrich Vogeler, und eben das hier in Elgersburg.

Doch bevor das Heim seiner eigentlichen Bestimmung übergeben werden konnte, versuchten die Staatsorgane in Thüringen das Projekt der Roten Hilfe zu verhindern. Grund hierfür bot im Oktober 1924 ein Rundschreiben des ZK der Roten Hilfe, in dem von Pacht- und Kaufabsichten und dem Auftrag für die Suche eines geeigneten Objekts für ein Kinderheim die Rede war. Dieses Rundschreiben gelangte auch in die Hände der Polizei und damit zur Kenntnis des damaligen Reichskommissars zur Überwachung der öffentlichen Ordnung. Auf dessen Weisung mobilisierte das Thüringer Ministerium für Inneres und Wirtschaft den Leiter der Landespolizei und das Landeskriminalamt, alle Stadt- und Kreisdirektoren sowie alle Gemeindekommissare, auf Kauf- oder Pachtabsichten der Roten Hilfe zu achten. Als dann im Februar 1925 die bürgerliche Tarnung der Roten Hilfe bemerkt wurde,war der Eigentumswechsel der Villa bereits vollzogen. Der Kreisdirektor Papst konnte nur noch an sein Ministerium berichten: "Da als Käufer die Quieta-Erholungsheim GmbH Berlin auftrat und mir damals eine Warnung noch nicht zugegangen war, lag für mich kein Anlass vor, etwa eine Mitwirkung der Roten Hilfe zu vermuten. Infolgedessen ist der Kaufvertrag, nachdem sowohl die Gemeinde Elgersburg als auch das thüringische Bauamt als Vertreter des Staatsfiskus auf die Ausübung des Vorkaufsrechts verzichtet hatten, von mir am 12.1.1925 genehmigt worden. Inzwischen ist am 1.2.1925 mit der Räumung des Grundstücks begonnen worden."(1)

Als große Solidaritätsaktion gestaltete sich die Herrichtung des Hauses als Kindererholungsheim. Aus allen Teilen Deutschlands gelangten Spenden jeglicher Art von Arbeitern, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Organisationen sowie Einzelpersönlichkeiten hierher. Inzwischen versuchte die Regierung in Weimar gegen die Eröffnung des Heimes vorzugehen, indem sie mit juristischen Winkelzügen den Kaufvertrag anzweifelte. Der Gemeinde drohte man die Sperrung staatlicher Wohnungszuschüsse an. Schließlich verbot der Kreisdirektor von Amts unter fadenscheiniger Berufung auf eine Wohnungsmangelverordnung die für Ostern geplante Eröffnungsfeier. Doch dann sah sich das Ministerium in Weimar durch den Druck einer mächtigen Protestbewegung zur Aufhebung des Verbots veranlasst.

Am 2. April 1925 veröffentlichte die RHD im "Thüringer Volksblatt" den Aufruf "An alle klassenbewussten Arbeiter und Freunde der Roten Hilfe Thüringens" und die Einladung zur Eröffnung ihres Kinderheimes in Elgersburg.(2)

Wilhelm Pieck, seit 1924 Leiter der Roten Hilfe Deutschlands, eröffnete am Ostersonntag, dem 12. April 1925, auf einem Meeting mit mehr als 1000 Teilnehmern, darunter vielen Bürgern von Elgersburg und umliegenden Orten, von Arbeiter-, Kultur- und Sportvereinen und Kindergruppen das Heim. Auch ausländische Vertreter der MOPR waren zugegen.

Schon bei der Eröffnung wurde deutlich gemacht, dass es sich bei diesem Kinderheim nicht um eine Herberge oder um ein Heim für "Arme-Leute-Kinder" handelt, sondern dass es der Erholung der Besten des Proletariats dienen solle. Es war ein Unternehmen, dass von Anfang an die Solidarität nötig hatte. "Als Ausdruck der internationalen Solidarität wurde das Erholungsheim Kinderheim MOPR getauft und eine rote Fahne mit den Buchstaben MOPR auf dem Dach gehisst."(3)

Die Presse berichtete über die Einweihung: "Auf dem Lindenplatz in Elgersburg sammelten sich die Massen. Eine mehr als 1500 Köpfe zählende Menge lauschte den einheitlichen Kampfgesängen der vereinigten Arbeitergesangsvereine und den Aufführungen eines schwedischen Genossen, der als Vertreter des Exekutivkomitees der IRH sprach und des Genossen Wilhelm Pieck, der als Beauftragter der Zentrale der KPD erklärte, dass die Aufgabe des revolutionären Proletariats nicht nur darin bestehe, für die Opfer der mörderischen Klassenjustiz zu wirken, sondern vor allem diese Tätigkeit überhaupt unmöglich zu machen durch schärfsten Klassenkampf gegen die herrschende Gesellschaftsordnung und deren Organe ... In geschlossener mustergültiger Ordnung marschierte der Riesenzug, voran das Trommler- und Pfeiferkorps des Bezirks Arnstadt des RFB, vom Lindenplatz durch den Ort hinaus nach dem Kinderheim. Hier füllten sich die Anhöhen sehr rasch mit Menschenmassen. Vor dem Kinderheim hatten die 31 ersten Gäste des Heimes in schmucken blauen Blusen und mit roten Halstüchern, einem Geschenk der Elgersburger kommunistischen Frauen, Aufstellung genommen."(4)

Unterstützt wurde dieses Heim auch durch Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller wie Egon Erwin Kisch, Heinrich und Thomas Mann, Kurt Tucholsky, Käthe Kollwitz, Albert Einstein und Heinrich Zille, die im Juni 1926 ein Kuratorium für die Kinderheime der Roten Hilfe gründeten.(5) Die materiellen Voraussetzungen konnten durch regelmäßige finanzielle Zuwendungen der Roten Hilfe sowie Solidaritätsspenden gesichert werden. So war auch ein Erweiterungsbau (Speisesaal und Badeinrichtung) möglich geworden, der im April 1926 wiederum durch Wilhelm Pieck eingeweiht werden konnte.

Für das MOPR-Heim gab es seitens der Behörden ständig Schwierigkeiten und Probleme, so die Befürchtung um die Schließung der Einrichtung wegen finanzieller Einschränkungen, und schließlich forderte man 1926 u. a. die Unterlassung der kommunistischen Beeinflussung der Kinder. Um das Weiterbestehen des Heimes nicht zu gefährden, nahm man die öffentliche Bekundung zur Klassenkampferziehung deutlich zugunsten anderer Formen der politischen Bildung zurück. "Das Kinderheim tritt gegen früher in der Öffentlichkeit viel weniger hervor. In Elgersburg selbst und seiner Umgebung merkt man von dem Heim recht wenig. Umzüge der Kinder bzw. geschlossene Spaziergänge erfolgen nicht mehr. Die Kinder tragen auch nicht mehr die frühere Heimkleidung mit dem Sowjetschlips, sondern erscheinen jetzt in ihrem bürgerlichen Gewand. Sie halten sich fast ausschließlich mit den Lehrern in den Grundstücksräumen auf."(6)

In Durchgängen von 30 bis 40 Kindern kamen von 1925 bis 1928 jeweils für 8 bis 12 Wochen Hunderte leidgeprüfte Kinder vor allem aus Deutschland, aber auch aus Bulgarien oder Österreich hierher. Sie erlebten bei Spiel, Lernen und Beschäftigung mit der Natur eine unbeschwerte Zeit.

Elsbeth Mühlpforte, 11 Jahre, Herbert Lehmann, 8 Jahre, beide aus Halle, und Kurt Krell, 10 Jahre, aus Delitzsch, schrieben am 3. Juni 1925 in einem Brief an das Bezirkskomitee der Roten Hilfe: "Liebe Genossen! Morgen schon ist die Stunde gekommen, wo wir von unserem schönen Kinderheim scheiden müssen. Vor 8 Wochen sind wir drei Hallenser und Delitzscher Kinder von Euch hierher geschickt worden, denn unsere Väter und Mütter sind entweder im Volkspark verwundet oder von Stahlhelmern erstochen worden, wie es bei dem Vater von Kurt Krell in Delitzsch war. Aber wie sahen wir damals aus, als wir in das Heim kamen? Ganz blass und mager waren wir da. Aber, wenn wir jetzt nach Haus kommen, kennt uns unsere Mutter sicher nicht mehr, denn wir haben tüchtig zugenommen. Mein Leibchen ist mir viel zu eng geworden, und von der Sonne sind wir auch schon tüchtig braun geworden. Das kam von den Spaziergängen im Thüringer Wald und von den Spielen auf der Wiese am Goldfischteich. Einmal sind die Größeren von uns schon sogar um 4 Uhr früh aufgestanden und auf den Schneekopf gewandert, das ist ein hoher Berg in Thüringen. Wir Kleinen durften leider nicht mit, weil wir schlappgemacht hätten.

Am ersten Pfingstfeiertag haben wir mit den Geraberger Sängergenossen einen Ausflug gemacht. Da gab es Himbeerlimonade und auch Fischbrötchen und Wurst ... Wir haben nicht nur tüchtig gegessen und sind nicht nur fleißig gewandert, wir haben auch viel gelernt. Wenn wir jetzt nach Hause kommen, können wir unseren Kameraden viele schöne Kampflieder vorsingen, damit sie auch wissen, dass wir ebensolche Kämpfer werden wollen wie unsere Väter ... Wir wollen alle noch recht oft an die schöne Zeit im Arbeiterkinderheim "MOPR" denken, wo wir einmal 8 Wochen wie die reichen Kinder lebten. Aber es wollen auch noch andere Kinder herkommen, von denen die Väter auch eingekerkert sind. Seid recht herzlich bedankt."(7)

Im Juli 1928 reisten die letzten Kinder ab. Die thüringische Staatsregierung untersagte die Tätigkeit des Kinderheimes. Nunmehr mietete die KPD von der Roten Hilfe das Heim für Schulungszwecke, aber auch zur Erholung für aus der Haft entlassene Genossen. Unter diesen waren auch die später von den Nazis ermordeten Albert Kuntz und Ernst Schneller.

"Nach einem langwierigen Prozess, den die Rote Hilfe während des Jahres 1931 unter Berufung auf Reichsverordnung zur freien Wohlfahrtspflege führte, gelang noch einmal die Verwendung des MOPR-Heimes in seiner ursprünglichen Funktion, so dass Kindern, deren Väter von faschistischen Horden getötet oder deren Eltern von der bürgerlichen Klassenjustiz verurteilt worden waren, mit brüderlicher Solidarität geholfen werden konnte. Die beiden letzten Jahre des MOPR-Heimes vor der Errichtung der Nazidiktatur waren eine Zeit verstärkter Repressalien, in der das Heimkollektiv fünfzehn große polizeiliche Durchsuchungen über sich ergehen lassen musste."(8)

Unter diesen unruhigen Bedingungen und dem zunehmenden politischen Druck in Thüringen verlor das Haus seine einstige Bedeutung als Kindererholungsheim. 1933 nahmen die Nazis das Haus in ihren Besitz. Es diente als Führerschule der Hitlerjugend, als Offiziersheim und während des Zweiten Weltkrieges als Marine-Kinderheim.

"Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Haus von den amerikanischen Truppen beschlagnahmt und genutzt bis zu ihrem Abzug im Juni 1945. Unter der sowjetischen Militäradministration, die die Arbeit von Parteien und Massenorganisationen in Thüringen wieder zugelassen hatte, wurde das Heim von der Volkssolidarität übernommen, die erneut ein Heim für Kinder einrichtete. 1949 wurden Gebäude und Grundstück der Landesleitung Thüringen der SED als Kinder- und Erholungsheim übergeben. 1949 bis 1990 nutzte die Bezirksleitung Suhl der SED das Haus als Ferienobjekt. Unter den Erholungssuchenden gab es viele nationale und internationale Gäste, Parteiveteranen der SED, Genossen der KPD und später der DKP aus der Bundesrepublik, aus den Partnerschaftsgebieten Smoljan (Bulgarien), Kaluga (UdSSR), Ceske Budejowice (CSSR), Pest (Ungarn), Leszno Bialystok (Polen)."(9)

"Im Zuge des wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruchs der DDR und des Beitritts zur Bundesrepublik wurden die einstigen Immobilien der SED-PDS unter Treuhandverwaltung gestellt. Zwar konnte das inzwischen in Haus am Wald umbenannte Haus per Pachtvertrag als Hotel etabliert werden, doch wegen der bestehenden Rechtsunsicherheiten waren zunächst keine Investitionen möglich. Erst im Juli 1995 wurde durch einen gerichtlichen Vergleich das Eigentumsrecht der PDS bzw. ihres Organisationseigenen Betriebes (OEB) Fundament geregelt. Grundlage dafür war das Original des Kaufvertrages von 1924."(10)

Das Hotel am Wald wurde am 29. April 2008 als ein Drei-Sterne-Hotel entsprechend der Deutschen Hotelklassifikation eingestuft. Jährlich nutzen etwa 5000 Gäste das Ferienhotel mit dieser bewegten Geschichte. Gäste wie wir von der GBM.


Anmerkungen:

(1) Werner, H.: Das Kinderheim MOPR in Elgersburg. In: Der Barkenhoff der Roten Hilfe 1923-1932, Dokumentation zur Ausstellung im Barkenhoff 1991, S. 122.

(2) Beiträge zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung im Bezirk Suhl: Zur Geschichte des MOPR-Heimes in Elgersburg, Suhl 1987, S. 10.

(3) Weise, K.: Arbeiterkinderheim MOPR in Elgersburg/Thüringen Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv (SAPMO-Barch) SgY 30/1923.

(4) Werner, H., a.a.O., S. 124.

(5) Vgl. MOPR-Heim, Elgersburg 1925, Zur 75-jährigen Geschichte des Hauses, hrsg. Von der Bundesstiftung Rosa Luxemburg, Berlin, o.J., S. 12.

(6) Werner, H., a.a.O., S. 127.

(7) SAPMO-BArch, SgY 30/1923, Brief aus dem Kinderheim MOPR, 3. Juni 1925.

(8) Vgl. MOPR-Heim, Elgersburg, a.a.O., S. 32.

(9) Vgl. MOPR-Heim, Elgersburg, a.a.O., S. 23-29.

(10) Flyer des Ferienhotels Am Wald, o.J.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Das ehemalige MOPR-Heim zu DDR-Zeiten in den achtziger Jahren

Raute

Fakten und Meinungen

Werner Krecek

Als Daisy den Winter brachte

Das war doch mal eine Sensation inmitten dem langweiligen Allerlei und Gehacke von Steuergeschenken und Gesundheit und Klima. 40 Zentimeter Neuschnee versprach der Mann vom Lerchenberg - auch seinen Mitstreitern von allen Mediengewerken. Die zogen los, was Sendezeiten und Druckerschwärze nur hergeben konnten. Alle waren sich einig - die Katastrophe kurz vor dem Weltuntergang stand bevor.

Heuer, im Jänner Zwanzig Zehn - wie wir Neudeutschen das Jahr Zweitausendzehn zu nennen pflegen - strandete ein kleines Tief, vom Südatlantik kommend, nichtsahnend am Südwestzipfel des alten Kontinents und machte sich sogleich auf den Weg - Richtung NNO. Als es sich gemütlich über den Pyrenäen den Jakobsweg besah, geschah ihm das Unglück: Ein Meteorologe aus Mainz entdeckte es, besah es sich mit wissenschaftlicher Akribie unter der Lupe und dichtete dem Tiefelchen ein ungeheures Schneegebiet von gewaltigem Ausmaß an.

Bis zur Landesgrenze hatte aber Klein-Daisy schon die Hälfte Neuschnee verloren. Macht nichts, wenn man die 20 cm mit einem Temperatursturz auf 2 (zwei) Grad - minus! - kombiniert. Im Norden, so hauptstädtisch nach oben, würden es noch ein paar mehr - 6 (sechs) Grad - wieder minus! Aber auch das klang trotz Sturz auf Dauer doch etwas wenig, also musste ein eisiger Nordostwind hinzugefügt werden. Eisig klingt nicht so kalt wie sibirisch. Also steckte die Meteorozunft ihre Nasen zusammen und die errochen mindestens 20 Grad gefühlte sibirische Kälte hinzu.

Einige der medialen Seriosität Verfallene begannen sich einzudecken: Nudeln, Brot, Mehl, Öl Haferflocken, Cola-light. Was man so braucht, wenn man am Kollwitzplatz von der Außenwelt abgeschnitten ist.

Jetzo konnte die nächste Wetterrakete gezündet werden .Aus Katastrophe, Neuschnee, Temperatursturz und sibirischer Kälte wurde ein Kürzel: CHAOS und das allüberall. Was schert uns schlechte Wartung, wenn es ein paar Schneeflöckchen auch tun, also: Chaos bei der S-Bahn und im Fernverkehr. Hei, wie waren die paar Flöckchen, die zunächst den Anschluss verpasst hatten, von ihren Wichtigkeit überrascht. Fünf gründeten gleich einen Verein und versteckten sich in einer Weiche, die plups! - zufror, also: Chaos bei der Straßenbahn.

Zusatznahrung für die Wetterfrösche in den Redaktionen: Im Norden konnte ein Zug abfotografiert werden, der tatsächlich zugeweht war, und ein paar Autos blieben stecken. Die Insassen wurden vom Roten Kreuz und anderen Helfern mit Decken und Getränken versorgt. Das tun die dankenswerterweise im Sommer etwa bei langen Staus auch, aber da sind es kalte Getränke. Sind die Flüssigkeiten jedoch heiß, nennt man die Verteiler Helden. Das klingt nach Kampf - und der wird auch geführt. Jetzt z. B. von der BSR, der Straßenreinigung. Deren Sprecher verkündete eines Vormittags life auf dem Spezialsender für Pop aus den sechziger Jahren (garantiert tantiemenfreie Musik) 88,8, seine Mannen "kämpfen an der weißen Front" (wörtlich!). Solche Verlautbarungen kannte man bisher nur gelegentlich aus den Filmschnippelchen vom finnischen Krieg 1941/42, wie sie Historien-Guido aus Mainz zusammenklebt.

Ein bisher vom meteorologischen Hauptkampfplatz vernachlässigter Mitarbeiter fand heraus, dass die Schneedecke dafür gesorgt habe, dass Väterchen Frost nicht allzu tief im Erdreich wirken konnte bereits in 10 cm Tiefe wurde 1 Grad plus (!) gemessen. Also drehte es einen verblichenen Vorgänger der Wettermacher aus dem vorigen Jahrhundert in seiner Ruhestätte einmal um die Achse, wobei er murmelte "ganz normaler Winter". Diese zersetzende Plattitüde gelangte auf geheimnisvollem Wege in die Wettermachermeinungszentrale, die entrüstet etwas von öffentlich-rechtlicher Informationspflicht konterte. Hellhörig vernahm es der Verblichene, den es bei dieser "Begründung" nochmals umdrehte und er prägnant konsultierte: Sensationshascherei und Panikmache.

Kleine Nachbemerkung: Die geschilderte Medienkampagne zur Verunsicherung der Leser, Hörer und Zuschauer mit "Wetterprognosen" wurde in den ersten Januartagen geführt, als das Tief, genannt "Daisy", etwas Schnee und einige Minusgrade brachte. Erst mit einem Hoch aus Osteuropa wurden die Minusgrade beträchtlicher und die Schneedecke höher. Dann kam wirklich einmal Winter und zwar lange und mit viel Schnee.


Es ist nicht der Augenblick, dem man die volle Bedeutung zumessen soll, der Sinn zeichnet sich immer erst später ab, ordnet die Erlebnisse der Jugend dort ein, wo sie wirklich hingehören.

Hanns Cibulka

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter Michel

Die Verhältnisse durchschaubar machen

Laudatio zur Verleihung des Menschenrechtspreises Der GBM an Heidrun Hegewald, Willi Sitte und Walter Womacka am 10. Dezember 2009

Im Dezember 1937 richtete Thomas Mann - aus seinem schweizerischen Exil - eine Botschaft an amerikanische Künstler, die sich zu einem antifaschistischen Kongress zusammengefunden hatten. "Man hört sagen", schrieb er, "der Künstler solle bei seinem Leisten bleiben und vergebe sich etwas, wenn er 'in die politische Arena hinabsteige', um sich an den Kämpfen des Tages zu beteiligen. Ich halte diesen Einwand für hinfällig eben in der Überzeugung, oder vielmehr in der klaren Erkenntnis von der Untrennbarkeit der Sphären des Menschlichen, mögen sie nun Kunst, Kultur oder Politik heißen."(1) Diese "klare Erkenntnis" bestimmt auch das Verhältnis unserer Menschenrechtsorganisation zu zahlreichen Künstlern aller Bereiche; und der Entschluss, heute Prof. Willi Sitte, Heidrun Hegewald und Prof. Walter Womacka mit unserem Menschenrechtspreis zu ehren, hat in dieser Erkenntnis seine Grundlage.

Alle drei sind als Maler und Graphiker ihr ganzes bisheriges Leben lang untrennbar mit dem verbunden, was sie an Widersprüchen, Schönheiten, Schändlichkeiten und Leidenschaften in ihrem großen und kleinen Umfeld umgab und umgibt. Künstlerisches und gesellschaftliches Engagement sind bei ihnen auf selbstverständliche Weise eins. Das hat seine Ursachen in den Biografien.

Krieg und Nachkrieg prägten ihr Leben entscheidend. Heidrun Hegewald erlebte als Kind im Flammeninferno Dresdens, wie ihr heimatliches Haus in Schutt und Asche sank. Walter Womacka und Willi Sitte wurden in Naziuniformen gepresst und verloren durch die unermessliche Schuld des faschistischen Deutschland ihre böhmische Heimat. Für Walter Womacka endeten der Krieg in amerikanischer Gefangenschaft und der Nachkrieg mit der Entscheidung, aus Braunschweig in die gerade gegründete Deutsche Demokratische Republik überzusiedeln. Willi Sitte kämpfte in Italien an der Seite der Partisanen; auch er entschied sich für ein Leben im Osten Deutschlands.

Alle drei beeinflussten mit ihrer Kunst in starkem Maße das spezifische Erscheinungsbild der "anderen Moderne" in der DDR und nach 1990 in Ostdeutschland. Ja, wir sind so frei, den Terminus der Moderne für uns zu besetzen, so wie das unser Freund Prof. Peter H. Feist bereits vor einigen Jahren praktizierte, und ihn nicht jenen zu überlassen, die heute mit höchstem Aufwand Gleichgültigkeiten empormanipulieren. Und wenn von Avantgarde die Rede ist, so steht das Werk dieser drei Künstler paradigmatisch für den eigentlichen Inhalt dieses Begriffs. Alle drei leiden nicht an dünkelhaftem Hochmut dem Betrachter gegenüber; sie suchen den Dialog mit ihm und nehmen ihn ernst; sie entfernen sich nicht von ihm, bauen auch auf seine Erfahrungen und fordern ihn.

Alle drei erlebten Demütigungen: Heidrun Hegewald mit der Nichtachtung ihrer künstlerischen Arbeit durch selbsternannte Kunstrichter, durch den Verlust ihres in vielen Jahren mühevoll den eigenen Bedürfnissen angepassten Ateliers, durch den Zwang, heute auf andere Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen, Walter Womacka durch die Zerstörung seiner besten Wandbilder beim Abriss des Außenministeriums der DDR oder durch das schließliche Verweigern seiner Eintragung ins Goldene Buch Eisenhüttenstadts durch den inzwischen abgewählten Bürgermeister - und Willi Sitte durch die unsäglichen Vorgänge um seine langfristig geplante und schließlich verbotene Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Von allen drei Künstlern wurden in Dresden und auch andernorts nach dem November 1989 Werke aus den Präsentationen der Galerien entfernt und in die Depots verbannt. Das sind Schandflecke, die so schnell nicht von der polierten Oberfläche der deutschen Kulturnation zu beseitigen sind.

Doch es gibt auch die unübersehbaren Zeichen herzlicher, achtungsvoller Verbundenheit und aktiver Solidarität. Walter Womacka erfährt sie durch das Wirken seines Freundeskreises und die erfolgreichen Mühen von Kulturverantwortlichen in Berlin-Mitte und Eisenhüttenstadt, seine baugebundenen Werke zu restaurieren und unter Denkmalschutz zu stellen. Heidrun Hegewald hat in unserem Freundeskreis "Kunst aus der DDR", im ANTIEISZEITKOMITEE, in der Rosa-Luxemburg-Stiftung und im Berliner Kulturverein "Helle Panke" Partner, die ihr Werk präsentieren und verbreiten helfen, nicht nur ihre Bilder, sondern auch die klugen, anspruchsvollen Texte, mit denen sie in den vergangenen zwanzig Jahren verstärkt in die Öffentlichkeit trat. Willi Sittes Werk fand in der neuen Merseburger Galerie eine Heimstatt Stiftungsrat, Stadt und weitere Partner leisteten bei der Einrichtung eine hervorragende Arbeit, und das tun sie auch heute. Als diese Galerie eingeweiht wurde, warnten Ministerpräsident Böhmer und Exbundeskanzler Schröder davor, die Arbeit von Künstlern mit der billigen tagespolitischen Eile zu messen. Solcherart Vernunft ist nötig, um die viel beschworene innere Einheit der Deutschen zu entwickeln, von der wir noch so weit entfernt sind; doch diese Mahnung vergessen auch die gegenwärtig Mächtigen immer mehr.

Der Aachener Kunstmäzen Peter Ludwig schrieb am 2. Juni 1990 an Walter Womacka: "Bleiben Sie, wie Sie sind! "Alle drei sind sich treu geblieben. Sie haben ihre Biografien nie verbogen. Sie ließen sich ihre Würde nicht nehmen, denn alles, was sie seit ihrer Kindheit bis heute erlebten und erkannten, sitzt viel zu tief und fest in ihnen.

Alle drei meldeten sich - nicht nur mit ihren Bildern, sondern auch in öffentlichen Auseinandersetzungen und in ihren Publikationen - politisch mutig zu Wort; Heidrun Hegewald z. B. in ihrem Buch "Frau K. Die zwei Arten zu erbleichen", in ihrem Hörbuch "Land - dreimal anderes" oder in zahlreichen Beiträgen in Zeitschriften und anderen Medien, Walter Womacka und Willi Sitte u. a. in ihren Autobiografien "Farbe bekennen" und "Farben und Folgen".

Was sie eint, ist ihre Haltung. Was sie unterscheidet, ist ihre künstlerische Sprache. Für jeden ist sie unverkennbar. Doch auch sie hat ein Gemeinsames, das bei allem Eigensinn als Fundament unerschütterlich ist: Es ist die Entscheidung für einen reichen, differenzierten Realismus, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht - in der Ganze seines Lebens und Erlebens, seines Glücks und seines Schmerzes. Alle drei machen mit ihrer Kunst Menschen, Dinge und Verhältnisse durchschaubarer, verdeutlichen Ursachen und Hintergründe. Alle drei begreifen Gegenwart und Zukunft aus der Geschichte. Ihre Werke sind dem Menschen gemäß und seinen grundlegenden Rechten. Zugleich sind sie Fortsetzung kunstgeschichtlicher Tradition. Willi Sitte, Heidrun Hegewald und Walter Womacka fragen nach ihren Wurzeln und leugnen sie nicht. Sie spielen das Spiel nicht mit, nach dessen Regeln angeblich stets das Neue das Bessere ist, um marktkompatibel zu sein. Heidrun Hegewald entdeckte mit ihrer ganz eigenständigen Kunst den Geist der Käthe Kollwitz durch sich selbst. Willi Sittes Werk entstand stets im Dialog mit den Großen der Kunstgeschichte bis hin zur Klassischen Moderne. Das ist bei Walter Womacka ganz ähnlich; zu seinen vielen imaginären Gesprächspartnern gehören Pablo Picasso, Diego Rivera und David Alfaro Siqueiros.

Als wir im Januar dieses Jahres eine Personalausstellung Willi Sittes in unserer Galerie in der Berliner Weitlingstraße eröffneten, bezeichnete ich sein großes, mehrteiliges Gemälde "Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und Freiheit" als ein Programmbild unserer Menschenrechtsorganisation. Er malte es nach dem Ende des Vietnamkrieges und nach dem blutigen Putsch Pinochets in Chile, aber er schlug einen weiten Bogen in Geschichte und Gegenwart, um Menschenrechte einzuklagen und ihren Missbrauch anzuprangern. Dafür nutzte er die sakrale Pathosform des Triptychons und seine Erfahrungen in der Simultanmalerei. Auf der Mitteltafel wird ein Vietnamese - mit verbundenen Augen an ein Kreuz gebunden wie an einen Pfahl zum Gleichnis für ein geschundenes Volk. Er hängt weit nach vorn und ringt mit dem Tod. Doch die innere Spannung seines Körpers macht ihn zum Symbol kraftvollen Widerstands. Die abwehrende Geste eines abgeschossenen US-amerikanischen Piloten, der mit gekreuzten Armen die Augen vor seiner Schuld, vor seinem Verbrechen verschließt, wirkt hilflos. Sein Mordwerkzeug ist zerstört. Die Bildtafel brennt in den Farben des Infernos, und diese flammenden Farben wirken in die anderen Bildtafeln hinein. Hinweise auf die Anklagebank der Nürnberger Prozesse, auf die zerschlagene Gitarre Victor Jaras, auf Menschenversuche und Folter, auf die Zerstörung kultureller Werte provozieren auf der linken Seitentafel die ganz aktuelle Forderung nach der Notwendigkeit von Kriegsverbrechertribunalen nach dem NATO-Überfall auf Jugoslawien, nach massenhaften "Kollateralschäden" auch in Afghanistan heute, wo erst vor wenigen Wochen, am 4. September, in der Nähe von Kundus Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder, auf Anforderung eines deutschen Oberst von Bomben zerfetzt wurden und verbrannten. Im unteren Teil der rechten Tafel quillt aus dem Leib eines umgestürzten Trojanischen Pferdes sein todbringender Inhalt. "Friedensmission" nannte sich der Mord an friedlichen Menschen bei der Bombardierung der Brücke von Varvarin. Die Predella beschwört noch einmal das grausige Ende des deutschen Faschismus. Das Bild erzwingt Gedankenketten, wie sie uns ständig beschäftigen. Es ist heute so zeitgemäß wie damals.

Ein ebensolches Programmbild schuf Walter Womacka. Hier wird weniger assoziiert, doch mit gleicher Wucht angeklagt. Es zeigt eine Beweinungsszene mit einem direkten Bezug auf die Ereignisse des Aggressionskrieges in Jugoslawien. Ermordete liegen im Vordergrund, davor eine trauernde, verzweifelte Frau, im Hintergrund die Szene eines Massakers vor brennenden Ruinen. Groß und bildbestimmend drängt sich als ein Gegenstück zum erschreckenden Bildinhalt eine blaue, in Schönheit gemalte Rose hervor. Die blaue Blume ist das Zeichen der Dichtung im Roman "Heinrich von Ofterdingen" von Novalis; sie wurde seit Beginn des 19. Jahrhunderts zum Symbol der romantischen Poesie und ihrer auf das Unendliche gerichteten Sehnsucht. Diese bildnerische, ganz und gar unkriegerische Metapher steht im Fadenkreuz eines elektronisch geführten Krieges. Ihr droht Vernichtung, wenn sie nicht geschützt wird. Für die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde wurde sie zum sinnstiftenden Zeichen.

"Kassandra sieht ein Schlangenei" nannte Heidrun Hegewald ihr eindringliches Gemälde. Um den tiefen, menschenbezogenen Sinn des Dargestellten zu ergründen, ist unser Wissen über antike und christliche Mythologie ebenso gefragt wie unsere Fähigkeit, die Symbolik ganz gegenwärtiger Dinge zu erfassen. Von den Siebziger- bis zum Ende der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts tauchte die tragische Frauengestalt Kassandra in den Künsten der DDR, nach Heidrun Hegewald auch bei Christa Wolf, immer wieder auf - als Warnerin vor einer nuklearen Katastrophe, als Mahnerin, die offensichtlichen Widersprüche der eigenen Entwicklung bei Strafe des Untergangs nicht zu überdecken. In der Überlieferung konnte Kassandra Künftiges richtig voraussagen, doch niemand glaubte ihr. Dieses Bild, 1981 entstanden, ist ein Appell gegen immanenten und aufkommenden Faschismus, gegen die Vision eines totalen Weltenbrandes, ist eine ästhetische und intellektuelle Provokation. In einem fahlen, verheißungsvollen Licht erkennt man den Hurraschrei eines Glatzköpfigen, das gläubige, faszinierte Aufblicken einer Schwangeren. Stärker farbig akzentuiert, kleinwüchsig, flachköpfig, ledergeschnürt, die Augen unter einer SA-Mütze verborgen, trägt ein eigenartiges Mischwesen aus Mann und Frau mit dem Gesicht eines Hitler ein Schlangenei ins Bild. Noch zwängt sich die Schlange in die zum Zerreißen gespannte, durchsichtige Haut. Bald wird sie Unheil verbreiten und mit hypnotischer Energie Doppelzüngigkeit und Hinterlist in die Welt bringen. Ihr giftiger Biss wird die Menschen willenlos machen und ihr kritisches Denken lähmen. Niemand erkennt die Gefahr. Der Schrei der Kassandra verhallt ungehört. Der Massenwahnsinn ist stärker als die Weissagung der künftigen Katastrophe. Kassandra weiß um die Nutzlosigkeit ihres Tuns, doch sie kann nicht anders; sie muss ihrer Verantwortung gerecht werden. Mit einer Schutzgeste verhindert sie, dass das Kind auf ihrem Arm das Verderben bringende Schlangenei wahrnimmt. Es hält in der Hand einen Papierkranich, wie ihn das japanische Mädchen Sadako Sasaki hundertfach faltete, bevor es an den Folgen der Atombombenabwurfe starb. Diese Malerei ist anschauliches Denken; erwartet wird, dass der Betrachter solcherart Herausforderung annimmt. Ästhetisches und Ethisches konkretisieren sich im Bild als weltanschauliches Bekenntnis.

In den Fünfzigerjahren zeichnete und malte Willi Sitte u. a. an einer Bildfolge, die die Verbrechen der deutschen Wehrmacht in der tschechischen Gemeinde Lidice und andernorts zum Inhalt hatte. Mit dem Gemälde "Massaker II" und anderen Werken arbeitete er sich an diesen komplexen Stoff heran. Er war damals in einer für ihn wichtigen Phase der Auseinandersetzung mit dem Gedanken- und Formenreichtum der Kunst Pablo Picassos, Renato Guttusos und der italienischen Realismo-Bewegung. Das war für ihn kein formaler Akt, sondern eine Frage der Haltung, die ihm in den Jahren der Formalismus-Diskussion viel Arger einbrachte, den heute niemand mehr versteht. Wie Picasso sein großes "Guernica"-Bild so und nicht anders malte, weil das grausige Geschehen ebendiese Form verlangte, so kam auch Willi Sitte zu bildnerischen Entscheidungen, die wie kaum andere in seiner Zeit geeignet waren, über Betroffenheit hinaus zu wirken. Er studierte sehr genau die Dokumente und fand eine komplexe, streng und spannungsvoll formulierte künstlerische Sprache, die uns auch jetzt tief berührt und uns auffordert, solche Verbrechen nie wieder zuzulassen.

Walter Womackas Gemälde "Verwundeter Stier" existiert in mehreren Varianten. In dieser Fassung von 1997 wird die ganze Tragweite des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989/90 unmittelbar erlebbar. Eine zerfetzte Zeitung mit einem Foto Gorbatschows ist zu sehen, in einer wild bewegten Zuschauermenge das Porträt Che Guevaras, eine Coca-Cola-Werbung, der Tanz um das Goldene Kalb, Zeichen der Vermarktung von Liebe und Sexualität, eine Gruppe bewaffneter Polizisten. Im Zentrum aber drängt sich keilförmig ein Stier unserer Blickrichtung entgegen. Er kämpft nicht mehr und gibt sein Leben auf. Noch steht er. Unter den Banderillas strömt Blut aus seinem Nacken. Maul und Nüstern triefen. Die Muleta reizt ihn nicht mehr. Der Tod wird ihm zur Erlösung. Schwer und schwarz wartet er auf den Degen, den ihm der Espada frontal zwischen die Schulterblätter stoßen wird. Die gesichtslose Masse hinter der sicheren Bande tobt. Aus der Erinnerung steigt wieder Picassos "Guernica" auf. Dort erhebt sich ein Stier wie ein schützender Fels über einer verzweifelt schreienden Mutter, in deren Händen ein totes Kind hängt. Seit 1937 hat der Stier seine vorwiegend mythische Bedeutung erweitert. Er wurde zum Topos für ein verletztes, aber nicht erniedrigtes Volk. Und Walter Womacka griff genau 60 Jahre später erneut zu diesem Zeichen. Ein solch sorgenvoller, bis zur Bitternis reichender Grundton liegt über vielen Arbeiten, die er in den letzten beiden Jahrzehnten schuf. Jene, die ihn als Schönmaler abwerten wollen, sollten genauer hinsehen. Vieles weist nun stärker in ein Erschrecken, in Nachdenklichkeit über Gefährdungen, über das Scheitern von Hoffnungen und in direkte, für wache Sinne entschlüsselbare Warnungen.

Es war ein Grundzug der in der DDR entstandenen Kunst, dass als Teil ihres Traditionsbewusstseins immer wieder Bezug genommen wurde auf die christliche Ikonographie. "Die Mutter mit dem Kinde" von Heidrun Hegewald ist ein Beispiel dafür. Ein Madonnen-Motiv und das Kreuz bestimmen die Komposition. Mit einer unendlich zarten Behütungsgeste trägt sie das soeben Geborene, dessen Hülle noch anmutet wie der Rest einer Fruchtblase. Ihr Blick ist voller Misstrauen. Das Mutter-Kind-Motiv wird vom Kreuz durchdrungen. Seine Symbolik ist ambivalent. Als Fensterkreuz wäre es ein Zeichen für innen und außen, für Geborgenheit und erhofften Schutz vor Bedrohung; als Fadenkreuz ist es ein direkter Hinweis auf unmittelbar bevorstehenden Mord. Beide Sinngebungen sind gemeint. Ein gleißendes Licht streift die Baumgruppe und trifft das Kind. Aus dem Himmel dringt tief leuchtendes Rot und lässt die Frauengestalt im Feuerschein glühen. Diese Schönheit aber trügt. Erkennt man im feurigen Rot nicht nur die Abendstimmung, sondern das Unheil bringende Signal, wird auch die drängende kalkige Helle der Gegenseite vom möglichen Erlösungszeichen zur alles verschlingenden nuklearen Gefahr. Eines im Anderen, Hoffnung und Schrecken, bildgewordene Dialektik.

Solch dialektisches Denken prägt auch das Stillleben "Helm mit Lilien", das Walter Womacka 1984 malte. Es setzt die Überlieferung der Vanitasbilder der Niederländer fort, in denen bestimmte Gegenstände zu Symbolen wurden. Hier stehen sich Zeichen des Todes - ein zerschossener, verrosteter Stahlhelm und der knöcherne Schädel eines Stiers - und des Lebens gegenüber. In der Volkssymbolik ist die Lilie nicht nur Zeichen für Reinheit, sondern auch für den bleichen Tod. Natürlich hatte Walter Womacka alles das im Hinterkopf, als er dieses Bild malte; zugleich lässt er uns an seiner Freude an meisterhaft komponierten Bildelementen teilnehmen. Die Botschaft heißt: Nie wieder Krieg!

So ist es ein Beispiel dafür, wie Kunst aus Imaginationen entsteht, die uns alle fesseln und in die wir unser Wissen und unsere Erfahrungen einbringen. In Heidrun Hegewalds Gesamtwerk ist unverfälschte, produktive Betroffenheit ständig präsent; sie ist nicht zur Floskel verkommen wie bei Politikern, die Betroffenheit zelebrieren, wenn es um Verbrechen an Juden, um Amokläufe oder besonders auffällige Opfer neofaschistischer Gewalt geht, und dann ihre Tagesordnung fortsetzen. Und wenn in dieser Hegewaldschen Rigorosität Verehrung und Huldigung aufscheinen - so wie in ihrem Rosa-Luxemburg-Bildnis -, so gehört auch das zu ihrem künstlerischen Credo. In einer Reflexion über dieses Bild schrieb sie, sie könne nur ihre eigene Rosa malen; jeder, der sie betrachte, müsse sich die Frage stellen, ob es auch seine Rosa sei. Nach allem, was wir von oder über Rosa Luxemburg wissen, kann man diese Frage nur bejahen. Das Bild hatte - durchaus vergleichbar z.B. mit dem,was Willi Sitte in den Fünfzigerjahren oder Walter Womacka nach der politischen Rückwende widerfuhr - ein bitteres Schicksal: Als Auftragswerk des Ministeriums für Kultur der DDR sollte es für die X. Kunstausstellung in Dresden geschaffen sein. Es fand aber keine Abnahme statt; das Bild wurde der Jury nicht vorgestellt und es landete schließlich im Depot des Staatlichen Museums Schwerin. Von dort holte ich es für meinen Teil der Berliner Kunstkritikerausstellung "Der eigene Blick", die November/Dezember 1988 im Ephraim-Palais stattfand. So war es vor dem Ende der DDR wenigstens einmal öffentlich zu sehen. Dass es ängstlich verborgen werden sollte, hängt sicher damit zusammen, dass selbsternannte Bürgerrechtler das verkürzte Luxemburg-Zitat von der Freiheit, die stets die Freiheit des Andersdenkenden sei, für ihre Zwecke missbraucht hatten. Man sollte diesen Luxemburg-Kennern die Frage stellen, ob das Zitat heute noch gilt. Das Luxemburg-Bildnis Heidrun Hegewalds gehört geistig zu uns. Vielleicht kann es eines Tages das Schweriner Depot verlassen.

Nun schließt sich der Kreis. Ein Bild Willi Sittes soll uns noch einmal in seinen Bann ziehen. Es entstand als Studie zu seinem großen Bild "Mensch, Ritter, Tod und Teufel" und zeigt einen Geschundenen, von dem nur Kopf, Oberkörper und Oberarme zu sehen sind - schmerzvoll ins Bildformat gepresst. Ein Kreuz ist nicht vorhanden. Dennoch erkennt jeder sofort die Ikonographie des Gekreuzigten. Ein Haupt ohne Dornenkrone, doch mit zerschossener Zielscheibe auf der Stirn hängt dem Betrachter entgegen, schwer wie der blutverkrustete Körper, den es in die Tiefe zieht. Auch die verdeckten, ausgelöschten Augen sind nach unten gerichtet; sie können nicht mehr - Erlösung suchend - nach oben blicken. Der Mund des Sterbenden ist halb geöffnet; die Unterlippe hängt herunter. Heftige, vibrierende, bis ins Tachistische gesteigerte Pinselhiebe sind Ausdruck höchster Dramatik, unerträglicher Schmerzen. Dieses Bild des Todes nutzt das zwei Jahrtausende alte "ecce homo" (Siehe, ein Mensch!) als universales Zeichen. Mancher wird es in religiöser Denkart als modernen Kruzifixus verstehen; anderen kann es ein Memento für verübte Gräuel sein. Das eine schließt das andere nicht aus. Immer aber ist dieses Bild die Darstellung eines Menschen, an dem sich Unmenschlichkeit austobt.

Ständig werfen alle drei Künstler in ihren Werken Fragen auf - an sich selbst und an uns: Fragen nach den Ursachen von Verbrechen, Fragen nach dem Glück, hartnäckig wiederholt gegen substanzlose Glücksverheißungen der Gegenwart, nach der Verantwortung für sich und andere, nach dem ehrlichen Umgang mit uns selbst.

Solche Fragen sind unverzichtbarer Teil dessen, was ihre Kunstwirkung ausmacht, nicht mehr und nicht weniger. Für jeden von ihnen ist die künstlerische Form als kultiviertes Handwerk das Maß und der Wert, mit dem ein großes Anliegen transportiert wird, ist sie Ausdruck des ganz Persönlichen, des im ureigensten Sinne Menschlichen, das schließlich Liebe heißt. Und hier beginnt für uns, die wir eine gemeinsame Geschichte haben, die Suche nach Werten, die künstlerischer Arbeit - und nicht nur ihr - in der unmittelbaren Gegenwart gemäß sind. Schiller stellte, als er 1795 die "Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" schrieb, dieselbe Frage: "Wie verwahrt sich aber der Künstler vor den Verderbnissen seiner Zeit, die ihn von allen Seiten umfangen? Wenn er ihr Urteil verachtet. Er blicke aufwärts nach seiner Würde und dem Gesetz ...; er aber strebe, aus dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen ..., präge es aus in allen sinnlichen und geistigen Formen und werfe es schweigend in die unendliche Zeit."

Mit der heutigen Verleihung unseres Menschenrechtspreises möchten wir Euch, liebe Heidrun, lieber Walter und lieber Willi, zugleich ehren und Euch Dank sagen; Dank für Euer bisheriges Lebenswerk, Dank für Eure enge Verbundenheit mit unserer Gesellschaft und mit allen, die ihr nahe stehen, Dank für Euer künstlerisches und publizistisches Wirken für die Menschenrechte. Unser Dank gilt ebenso Euren Lebenspartnern, die Euch uneigennützig zur Seite stehen, und allen, die mit Eurem Werk engagiert verbunden sind.

Wir lieben und achten Eure Arbeit, weil wir sie brauchen in dieser Zeit.


Anmerkung:

(1) Thomas Mann: Tagebücher 1937-1939, hrsg. von Peter de Mendelssohn, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1980, S. 868.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Willi Sitte. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und Freiheit. 1973/74. Triptychon mit Predella.
Mischtechnik auf Hartfaserplatten. Mitteltafel: 275 x 140 cm, Seitentafeln: 275 x 125 cm, Predella 125 x 275 cm

Walter Womacka. Die blaue Rose. 1999. Öl auf Leinwand. 120 x 80 cm

Heidrun Hegewald. Kassandra sieht ein Schlangenei. 1981. Acryl auf Leinen. 135 x 155 cm

Willi Sitte. Massaker II. 1959. Öl auf Hartfaser. 160 x 207 cm

Walter Womacka. Verwundeter Stier. 1997. Öl auf Leinwand. 114 x 144 cm

Heidrun Hegewald. Die Mutter mit dem Kinde. 1984/85. Öl auf Leinen. 145 x 114 cm

Walter Womacka. Schädel, Helm und Lilien. 1984. Öl auf Leinwand. 80 x 100 cm

Heidrun Hegewald. Die Rosa. 1987. Öl auf Leinen, kaschiert auf Hartfaser. 184 x 88 cm

Willi Sitte. Gekreuzigter (Studie zu "Mensch, Ritter, Tod und Teufel"). 1968. Öl auf Karton. 61 x 55 cm

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Heidrun Hegewald

anlässlich der Verleihung der Menschenrechtspreise der GBM 2009

Liebe Freundinnen und Freunde der eingreifenden Kunst,
als meine beiden verehrten Kollegen mich in unserem Schaffen noch weit hinter sich ließen, hätte ich den Gedanken abgewehrt, es könnte einen Tag geben wie diesen, an dem wir gemeinsam eine Wertung zu repräsentieren haben.

So ist es geschehen. Nun vermittle ich unseren gemeinsamen Dank. Unsere Eignung für diesen Menschenrechtspreis haben wir ein ganzes Künstlerleben als eine Mission ins Werk getragen und mit ihm vorgetragen. Die Beteuerung, weiter in unserem Selbstverständnis menschenrechtswürdig zu arbeiten und zu denken ist fortgeführtes Programm.

Dass dem menschliche Grenzen gesetzt sind, ist natürlich - weil wir spät dran sind. Dass dem Ausgrenzung widerfährt, liegt an der politischen Natur unserer realistischen, bildgewordenen Neigung.

Zu widerspenstig für Marktspekulation, zu sehr der anderen Kultur verhaftet.

Wir sind gemeinsam ein Erinnerungswerk, das so ganz eigen bewahrt, was mit Kultur in einer sozialistischen Zivilisation gemeint war und ist.

Willi Sitte, unser lieber Freund und Kollege, fehlt in unserer Mitte, weil ihm Kraft nicht mehr zur Verfügung steht. Das lässt für diesen freundlichen Anlass der Preisverleihung einen Rahmen von Traurigkeit zu.

Zum Vortrag bringe ich jetzt einen Text - geschrieben nicht für diesen Anlass. Aber passend. Denke ich. Urteilen Sie selbst.

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Frau K. trifft Frau H. - dienstags

Ein Selbstgespräch

Die eine sagt es der anderen. Und die andere der einen.

Frau K.: Was haben wir wohl alles ins Bild genommen! Geben Sie doch zu: Wir glaubten, zu bewegen und zu treffen: Blender und Geblendete. Wir waren doch geradezu besessen von der tatsächlichen Wirkweise der Künste. Wir waren fanatische Friedensaktivisten, Weltverbesserer. Kunst war uns nicht zu schade für unser Engagement. Wir besetzten sie thematisch und damit eine ganze Nische, die DDR. Massenwirksam, was bewiesen ist. Wir glaubten an eine friedfertige Mission. Wir hatten die Grenze, aber die Welt in uns.

Frau H.: So war es. Wir glaubten an unsere Mittel und gaben ihnen einen Zweck. Die siebziger und achtziger Jahre waren drängender Anlass durch den nuklear aufgerüsteten Kaltkrieg.

Frau K.: Was ist passiert, Frau H.? Dass nach so viel verhandelter und demonstrierter Erkenntnis die Gleichgültigkeit die Sinne der Menschen besetzt und diese als von Sinnen belässt. Angesichts des atomaren Waffenpotentials, das schon lange mehrfach ausreicht, den blauen Planeten mit seiner Menschheit auszurotten. Ein Potential, das einen apokalyptischen Einakter überschreitet. "Die Atombombe trifft auch den, der sie anwendet."(1)

Frau H.: Wie kann man dabei noch Fortschritt für Vernichtungseffekte in der Waffenproduktion fordern? Die Geltungsgrenze für Fortschritt ist doch hier aufgehoben.

Frau K.: Aber es wirkt auch hier der Fortschrittswahn wie bei allen Industriezweigen.

Frau H.: Denn die Liquidation ist nun mal das Ziel einer Produktion. Konsumtion von Waffen ist Krieg. Zerbomben ist waffengeschäftig.

Frau K.: Günter Anders nennt die Menschen dabei "Konsumenten des Todes".

Frau H.: Jetzt sind wir bei ihm angekommen, Frau K.! Aber die Gedankenspur, die Sie in unser Gespräch gelegt haben, nimmt mich sofort für diese Richtung ein. 1992 habe ich mich über Sie lustig gemacht, weil Sie immer wieder auf den "Rufer mit dem Rücken zur Wüste" kamen. So nannten Sie ihn und "den Meister des letzten Wortes".

Frau K.: Das stimmt. Ich vermute, dass der Meister Ihnen jetzt nicht mehr so fremd ist und in Ihnen wenigstens eine Einfühlung entstanden ist. Ich komme auf ihn zurück, weil ich bei mir selbst schon eine Gewöhnung an diesen unerträglichen Zustand feststelle. Dagegen will ich sein.

Frau H.: Ja. Im Angesicht dessen, dass die atomare Gefahr nicht verringert ist, sondern wächst. Anders nennt die nukleare Bombenlast dieser Erde den "blutenden Mond".

Frau K.: Der "blutende Mond" ist über uns, auch wenn er seine kriegerische, versehentliche, terroristisch beabsichtigte Bestimmung noch nicht erhalten hat. Sein Vorhandensein allein ist die Bedrohung. Und die ist der Apokalypse-Reiter, dessen Entsorgung schon apokalyptisch ist.

Frau H.: Ich habe in dem Buch "Die Antiquiertheit des Menschen" gelesen. Gefunden habe ich treffende Aussagen. Zum Beispiel: dass wir Menschen "apokalypseblind" und "Analphabeten der Angst" sind. So gilt: "Die Zukunft kommt nicht mehr wir machen sie."

Frau K.: Machen wäre doch nicht das größte Verhängnis, aber das WIE. Sie zitieren die Kernsätze von Anders. Nicht weit von diesen steht im Buch: "Die Menschheit als ganze ist tötbar". Dem stellt er gegenüber, dass der "individuelle Tod so etwas wie ein Friedensluxus" wäre.

Frau H.: Wenn ich bedenke, dass die USA als atomar gerüstete Großmacht sich anmaßen, anderen selbstbestimmten Nationen vorzuschreiben, ob sie Plutonium besitzen und atomar rüsten, ist das eine Groteske. Die USA haben die atomare Drohgebärde doch erfunden und in die mörderische Tat umgesetzt. Was wundert's, wenn andere Staaten zum Selbstschutz auch die Drohgebärde haben wollen und brauchen. Das ist der teuflische Kreislauf.

Frau K.: Ja, das ist die verhängnisvolle Spirale. Sie spiraliert unweigerlich immer weiter und weiter ins Verhängnis. Der blutende Mond bleibt über uns. Diese Spirale lässt sich nicht partiell, sondern nur als ganze zurückdrehen. Über die zu vereinbarende Vernunft. Wie intensiv haben wir in Ost und auch in West das Thema der Angst und Besinnung getrommelt. Als Ausweg die Vernunft beschworen.

Frau H.: Mein Gott, wie hilflos dieser Begriff da steht. Vernunft. Ohne Kraft, weil sie nicht zünden und nicht schlagen will. Ich erinnere mich, dass Sie mal gesagt haben - in Bedrückung eines Weltgefühls: "Wir müssen, wenn möglich, für unsere Bilder Metaphern der Vernunft erfinden".

Frau K.: Ja, das kann ich heute noch gutheißen. Als Absicht. Unseren Mitteln sind zwar die Zwecke nicht ausgegangen, aber das Mittel-Zweck-Prinzip hat seine angestrebten Effekte verloren. Denn das Wahrhabenwollen in der Partnerschaft der Angstverweigerung verdammt die Offensichtlichkeit von Verhängnis in kolossale Abgründe. Aus der Wirklichkeit vertrieben.

Frau H.: Günter Anders sagt: "Die Bombe ist kein Mittel." Ich zitiere: "...von einem Mittel zu reden wäre also nur dann sinnvoll, wenn jemand wirklich in herostratischer Absicht auf das Ende aller Dinge abzielte ... Was eintreten würde, wäre nicht, dass der Weg im Ziel bzw. das Mittel im Zweck aufginge, sondern umgekehrt, dass der Zweck in der Wirkung des angeblichen Mittels sein Ende fände".

Frau K.: Meine Haut schauert, Frau H. das macht die zwingende Logik des Gedankens. Lesen wir weiter, dann finden wir: "Klassifizieren kann man die Bombe nicht, Sie ist ontologisch ein Unikum und das macht ihren anarchischen Charakter aus ... Sie ist da, obwohl wesenlos." Aber: "... ihr Unwesen hält uns in Atem." Das Wesen der Günter-Anders-Texte ist, wesentlich dem Unwesen nahe zu kommen. Um die Lähmung aufzulösen: nicht durch Angst, sondern die Lähmung der Angst, die die Menschen als kurzweilige Betäubung tragen.

Frau H.: Und das ist so unglaublich schwer. Kein einziger Narr ist noch nötig, um das Narrenschiff sinken zu lassen. Vor lauter Getöse kommt die Drohung der Katastrophe nicht zu Wort. Das SOS wird zum Markenzeichen von etwas Handelbarem oder Käuflichem. Nichts und gar nichts kann uns von der Apokalypseangst lossagen. Die Zerstörung der Welt geht viele Wege. Die Zerstörung der Umwelt wird aus derselben Dummheit gemacht. Umkehr wäre die Folge von Angst, die ein Impuls des Bewahrens und Beschützens sein sollte. 1945 - seit Hiroshima und Nagasaki - ist das nukleare Drohpotential in die politische Diplomatie, in die Theorie verlagert worden. Und die Gnade der Ereignislosigkeit - in der Praxis - erzeugt Gleichgültigkeit, und die Gefahr scheint marginal. Die Bedrohung durch die Bombe hat mit der Veränderung des kalten Krieges ihre konkreten Thesen und messbaren Maßnahmen verloren.

Frau K.: Ohne, dass die Monstra in ihrem Unwesen verringert worden wären. Sie sind nur beängstigend schwer zu bändigen, weil das Ausmaß des möglichen Zugriffs unkontrollierbar wurde und nach Möglichkeit terroristischer Begierde ausgesetzt ist. Eine Frage wäre: Welche alle? Wer zählt - und darf das - zu den drohfähigen Mächten? Wer übereignete ihnen blind Verantwortung? Und was sagen wir an diesem Punkt, liebe Frau H.? Die bombensichersten Argumente, mit zielsicherer Wahrheit treffend formuliert, sind ganz und gar keine friedenssichernde Waffe.

Frau H.: Warum, Frau K., haben Sie so martialisch formuliert?

Frau K.: Ich wollte kämpferisch Zorn ausdrücken, in beschämter Hilflosigkeit. Bei Sloterdijk lese ich: "Wer hingegen den Zorn hat, für den ist die blasse Zeit vorüber ... Der glühende Angriff weiß, wohin er will. Der in Hochform Zürnende fährt in die Welt wie die Kugel in die Schlacht." Er bezieht sich hier auf Heinrich Mann und dessen Napoleon-Essay von 1925. Für eine Massenbewegung der Vernünftigen brauchte es eine übermächtige Animation. Bei Sloterdijk klingt es gut, wenn er das Thymotisierung nennt, eine Zornkörperbildung. Aber die Aktion und die Zielbildung sind weit schwerer herzustellen als die beeindruckende Begriffsbildung. Noch dazu von Denkvirtuosen, die zur Tat aus ihren Büchern nie herauskämen. Aber bedenken Sie, Frau H., auf die gleiche platonische Weise haben wir Realisten unsere kämpferischen Bilder in die Welt gestellt. Zornig-naiv-vermessen in überzeugter Mission. Doch wollen wir nicht kleinreden, Haltung bezeugt zu haben. Das tun wir bis zum Ende. Aber die ungeheure profitorientierte Verderbtheit in dieser Welt, die mit einem sozialistischen Vorschlag nichts zu tun haben will, macht die These Kunst ist Waffe stumpf.

Jürgen Todenhöfer fragt: "Wie viel Unehrlichkeit verträgt eine Demokratie?" Zum Beispiel, in einen Krieg einbezogen zu sein, einen Krieg, den man im kriegführenden Deutschland nicht so nennen darf.

Frau H.: Ja eben - und dabei ist es Einmischung wider das Völkerrecht. Bevormundete, denen in zweifelhafter Verheißung Demokratie versprochen wird. Als wäre diese in jedem Chaos einfach zu installieren. Die USA führen Krieg in Afghanistan und Irak wie einst in Korea und Vietnam. Blutig wird die Zivilisation zerstört. Das lässt die Büchse der Pandorra von ihrem Deckel nur noch träumen. Krieg mit gelogener Legitimation, um Machtmonumente einseitig zu begünstigen. Mit welcher Schamlosigkeit der Westen in fremde Gefühlswelten und religiöse Kulturen eindringt. Mit dem Kampfauftrag, Freiheit und Sicherheit - auch Deutschlands, wie behauptet wird - in NATO-Hörigkeit am Hindukusch zu verteidigen. Das möchten uns die herrschenden Volksvertreter einflüstern - mit mir haben sie da ein vernunftbedingtes Vermittlungsproblem.

Frau K.: Man vergisst oder weiß es nicht: Taliban ist nicht gleich Taliban. Eine der drei sehr unterschiedlichen Gruppen sind die "gekauften amerikanischen Taliban", die mit mörderischen Anschlägen auch gegen Zivilisten den USA den Vorwand liefern, in Afghanistan zu bleiben. Es ist falsch und gefährlich zu glauben, dass unsere Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird. Es wächst nur die Gefahr des Revanche-Terrorismus. Der internationale Terrorismus, der sich einst in Afghanistan, in Tora Bora zentralisierte, ist längst globalisiert und dezentralisiert. Er ist unter uns. Machen sie uns fürchten. Weiß man's denn. Und Al Qaida ist keine afghanische, sondern eine saudiarabische Organisation. Peter Scholl-Latour spricht dem NATO-Einsatz am Hindukusch jeden Sinn ab. Jedenfalls jeden vorgegebenen, schließlich stimmt immer noch, was die Courage sagt: "Der Krieg ist nix als die Geschäfte / und statt mit Käse ist's mit Blei." Scholl-Latour sagt, eine NATO-Kontrolle über Afghanistan könne es nicht geben.

Frau H.: Frau K., kennen Sie die Ballade, die Theodor Fontane 1859 schrieb? Das Trauerspiel von Afghanistan? Kennen sie. Seit Alexander dem Großen gibt es in der Geschichtsbetrachtung die Formulierung "Afghanistan, der Friedhof der Imperien". Fontane beschreibt, wie 1849 eine Garnison ihrer Majestät von England, 13000 Krieger und deren Familien, in den Schluchten des Hindukusch von Stammeskriegern niedergemetzelt wurde. Ein einziger Mensch, ein Militärarzt, kehrte zurück. Die letzten Zeilen der Ballade:" Mit dreizehntausend der Zug begann, einer kam heim aus Afghanistan." Die Frage, was die Engländer dort zu suchen hatten, wird von Fontane nicht formuliert, aber sie springt mich an.

Frau K.: Ich sehe eine historische Kette der Einmischung. Denken Sie an die von Brzezinski gestellte Falle mit den in Pakistan mit amerikanischem Geld trainierten Taliban, in die die sowjetische Führung ihre Truppen gehen ließ, als das Afghanistan von Babrak Karmal überfallen wurde. In den westlichen Medien ein Aggressor - und zurück kamen die Särge der Soldaten. Zehn Jahre währte der Versuch, die Taliban in den Schluchten und Höhlen zu finden und zu besiegen. Der Zermürbungskrieg zermürbte die Sowjetunion, und die Rechnung ging auf und die Falle schlug zu. 1988. Wäre das nicht eine warn-sinnige Erfahrung? Die Panzerruinen liegen gespenstisch in der Landschaft und markieren scharf eine Niederlage. Aber die Sowjetunion hat das Warschauer Bündnis nicht in Anspruch genommen. Die NVA der DDR wurde zu keiner Beteiligung verpflichtet. Alle anderen Partner auch nicht. Am Hindukusch wird es keinen Sieg der NATO geben und Bundeswehrsoldaten verbluten dort aus Feigheit vor dem Freund ihrer Regierung.

Den afghanischen Krieg sollte man nicht ohne Aufmerksamkeit auf Pakistan beurteilen. Pakistan in zunehmender Destabilisierung - ein Land, das über nukleare Waffen verfügt, deren Kontrolle immer fraglicher wird. Pakistan ist ein Land, in dem die Selbstmordattentate detonieren.

Frau H.: Frau K., haben Sie nicht auch zwischendurch gedacht, dass wir ein Männergespräch führen?

Frau K.: Nein! Unsere Gene geben uns sogar geeignete Impulse, friedliche Übereinkunft zu beschwören. Also geht uns das alles was an. Unterschätzen wir nicht den völkerrechtlichen Zorn. Terroristischen Zorn, die Wut der Hoffnungslosen. Und vergessen wir nicht: Es droht über uns der blutende Mond. Die Bombe ist da. Immer.

Frau H.: Ich habe einen hintergründigen friedlichen Antikriegsgedanken. Nach Waterloo weiß Wellington im Angesicht der auf dem Feld Geschlachteten nicht, was besser ist: In der Schlacht zu siegen oder zu verlieren.

Frau K.: Aber keiner kann von den Konsequenzen berichten. Eine vorübergehend kurze Zeit - vierzig Jahre - hat sich die DDR mit ihrer Bevölkerung an die Lehren aus der Geschichte gehalten: kein Krieg.

Zum Schluss nehmen wir noch mal WaskanndieKunst in unsere Überlegungen. Nichts ändert sich daran: Talent hält die Mittel bereit. Aber der Zweck vernachlässigt die Effekte. Der Zweck verleugnet sich. Die Mittel ermüden.

Heute den thematischen Ernst gegen den doktrinierten Spass zu stellen, provoziert Ausschluss im Affekt. 60 Jahre. 60 Bilder. Wir ostsozialisierten Mittler, die - Sie und ich - wir, die den Ernst der Zeit immer noch ernst nehmen, sehen in ihm keinen Anlass zur Vermarktung. Wir kriegen ihn auch nicht bunt genug. Ein Laster.

Wir, Sie, ich und noch einige, sind die Clowns. So, wie der eine bei Kierkegaard, der dem Publikum den Brand hinter der Bühne meldet und tosenden Beifall erntet.


Anmerkung:

(1) Günter Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Band 1, S. 239.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Heidrun Hegewald. Freiheit - das deutsche Schindluder. 1991. Kohle. 75 x 94,5 cm

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Heike Friauf

Künstlerische Säuberung?

Der Hans-und-Lea-Grundig-Preis liegt in Greifswald auf Eis

Was wie die Verleumdung einer einzelnen Künstlerin aussieht, ist tatsächlich ein weiterer Schritt in einem größeren Prozess. Wir beobachten in Greifswald die neuen Herren beim langsamen, aber stetigen Aufrollen und damit Zerstören der reichen Kulturlandschaft der DDR, wobei sie sich nicht scheuen, köstlich erscheinende Pfründe mitzunehmen. Wie aber übernimmt man Stiftungsgelder, die zum Renommee der eigenen Universität beitragen können, wenn der Stiftungsgeber den neuen Herren nicht genehm ist?

Ein schwieriger Fall. Seit 1996 laboriert die Universität Greifswald, insbesondere das betroffene Caspar-David-Friedrich-Institut für Bildende Kunst und Kunstgeschichte (CDFI), an diesem selbstkonstruierten Casus. Seit jenem Jahr wird der 1972 von Prof. Lea Grundig gestiftete Hans-und-Lea-Grundig-Preis nicht mehr an förderungswürdige Studentinnen und Studenten der Kunstwissenschaft verliehen. Es hat offensichtlich nicht gereicht, Hochschullehrer aus dem Amt zu jagen, weil sie zu Zeiten der DDR im Amt waren und weil es genügend Wissenschaftler aus der alten Bundesrepublik gab, die sich über die frei gewordenen Stellen freuten. Hier trifft es mit der 1977 verstorbenen Lea Grundig eine Künstlerin und Hochschullehrerin, deren Platz niemand mehr einnehmen kann.

Aus Gründen, die der Öffentlichkeit verborgen blieben, bat um das Jahr 1996 herum der damalige Greifswalder Universitäts-Rektor Prof. Jürgen Köhler das CDFI um Stellungnahme. Dessen Direktor, Prof. Ulrich Puritz, erst kurz zuvor nach Greifswald berufen, sprach nach eigenen Angaben "mit Zeitzeugen" (Ostsee-Zeitung vom 21.1.2009). Ergebnis seiner informellen Befragung sei die Erkenntnis gewesen, Lea Grundig habe in ihrer Funktion als Präsidentin des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands dafür gesorgt, nicht "linientreue" Künstler aus dem Verband auszuschließen und in ihrer Laufbahn zu behindern. Namentlich wird Prof. Günter Regel genannt. Professor Regel war seit 1963 Direktor des Kunsthistorischen Instituts in Greifswald, als er für zwei Jahre Lehrverbot erhielt. 1971 wurde er nach Leipzig versetzt, wo er bis 1991 die Professur für Kunsttheorie innehatte. Dass Lea Grundig mit dieser Versetzung nichts zu tun habe, bezeugen heute die damals in Greifswald unterrichtenden Hochschullehrer Prof. Günter Bernhardt und Dr. Kurt Feltkamp (Ostsee-Zeitung, Ausgabe Greifswald, vom 3.7.2009). Kenner der Verbandsgeschichte wissen außerdem, daß der Ausschluss eines Künstlers oder andere gewichtige Entscheidungen nie einsame Präsidentenentscheidungen sein konnten, sondern stets in Gremien beraten wurden.

Der Kunsthistoriker Wolfgang Hütt weist darauf hin, dass es nicht "die" Kulturpolitik in der DDR gab (ND vom 6.8.2009). Lea Grundig selbst sei nicht zuletzt wegen ihrer antistalinistischen Haltung von ihrer Partei, der SED, zur Präsidentin des Künstlerverbandes vorgeschlagen worden. Nachdem sie sich in diesem Amt, das sie von 1964 bis 1970 innehatte, "zu einer der offiziellen Kulturpolitik angepassten Künstlerin" entwickelt habe, so Hütt, sei sie in den Folgejahren erneut auf innere Distanz gegenüber der Kulturpolitik gegangen. Solche und andere Differenzierungen sind jedoch bei den neuen Posteninhabern in Greifswald unerwünscht. Im Gegenteil.

Westdeutscher Einfluss auf die Greifswalder Alma mater begann schon zu Honeckers Zeiten. Dass die Universität instrumentalisiert wird als kulturpolitische Bastion mit Blick auf den "Ostseeraum" wird jedoch erst heute offen formuliert. Laut Universitätsangaben ist "die Alfried-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung mit ihrem Kuratoriumsvorsitzenden Berthold Beitz (ein) besonders generöser Förderer der Universität". Der Forschungsschwerpunkt Integration und Identität im Ostseeraum (sic!) konnte zudem "dank der ZEIT-Stiftung" und "dank der Mercator-Stiftung" erweitert werden. Es verwundert nicht, daß eine "Greifenberg-Stiftung" die historische Forschung "vornehmlich auf dem Gebiet der Geschichte Pommerns" fördert.

Wenn man liest, dass der in Essen ansässige Großunternehmer Beitz, der in bundesdeutschen Medien gern "einflussreich" und "bedeutend" genannt wird, der unzählige Würdigungen und Ehrendoktortitel und zu seinem 95. Geburtstag eine Laudatio des Bundespräsidenten Köhler erhielt, bereits 1983 Ehrendoktor der Uni Greifswald wurde, dann lohnt weitere Recherche. Hier nur kurz: Beitz lernte um 1953 den Industriemagnaten Alfried Krupp kennen, als Krupp gerade sein während der "Nazi"-Zeit in der Rüstungsindustrie erworbenes Vermögen von den Alliierten zurückerstattet bekam, und wurde sein Generalbevollmächtigter. Als solcher begründete er die oben genannte Krupp-Stiftung, deren vielgelobter Kuratoriumsvorsitzender er ist. Die Förderung der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald liegt ihm besonders am Herzen, betont er doch gern seine pommersche Herkunft. Folgerichtig wurde er 1991 zum Ehrensenator der Uni ernannt. Im Juni 2000 schließlich rief seine Stiftung zusammen mit der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern und der Uni Greifswald die "Stiftung Alfried Krupp-Kolleg" ins Leben. Damit dürfte endgültig klar sein, wer besonderen Einfluss gewonnen hat an dieser in den Ostraum ragenden Bildungsbastion.

Spätestens seitdem der große Umbau der bundesdeutschen Hochschulen im sogenannten Bologna-Prozess begonnen hat, schielen Universitäten mit Exzellenz-Ambitionen nach dem Gelde und nach nichts als dem Gelde. Drittmitteleinwerbung statt Forschungsarbeit. Sponsorensuche statt wissenschaftlicher Diskussion. Viele Hochschullehrer können, viele müssen gegen ihren Willen dieses Lied singen. Wenn, um nur ein Beispiel zu nennen, die Technische Universität in Berlin mit größter Selbstverständlichkeit für die Bedürfnisse der Privatwirtschaft forscht, dann kann sich ein kunsthistorisches Institut auch für die Selbstvergewisserung neuer bundesrepublikanischer Eliten einspannen lassen. Denn nichts anderes scheint nach der endgültigen Übernahme im Jahr 1989 in Greifswald zu passieren. Hier ist eine politische Klasse am Werk, die schon zu Adenauers Zeiten die Restauration ihrer Pfründe besorgte. Es steht vollkommen in ihrem Belieben, ob sie den Namen Lea Grundigs "ausmerzt". Oder restituiert, wenn die Stiftungsgelder nicht anders zu reaktivieren sind und letztendlich beim Ausbau der Exzellenz-Schmiede helfen könnten.

Die öffentlich rechenschaftspflichtigen Einrichtungen wie Uni und Ministerium haben in dieser Sache offensichtlich nichts mehr zu melden. Die Landesregierung erklärt wörtlich in ihrer Antwort auf die jüngste Kleine Anfrage zur Hans-und-Lea-Grundig-Stiftung: "Die Landesregierung sieht keinen Anlaß, die (...) mitgeteilten Beweggründe für die Nichtvergabe des Hans-und-Lea-Grundig-Preises am Caspar-David-Friedrich-Institut der Universität Greifswald zu überprüfen." Der derzeitige Geschäftsführende Direktor des CDFI beabsichtigt, keine Verantwortung zu übernehmen; in einer hinhaltenden Nicht-Erklärung schrieb er im August letzten Jahres: "Die Klärung und Umsetzung der hier dargestellten Aspekte erfordert Zeit." (vgl. ICARUS 04/2009) Mehr als zehn Jahre Zeit hatte das Institut bereits.

Der frühere Institutsleiter, Prof. Puritz, hatte zum unliebsam gewordenen Hans-und-Lea-Grundig-Preis in aller Unschuld erklärt: "Wir hatten die Idee, ihm einen anderen Namen zu geben" (vgl. Ostsee-Zeitung vom 21.1.2009). Diese besondere Art der Enteignung Post mortem wurde die Übernahme aus dem Westen komplett machen. Professuren haben sie, Stiftungsgelder bekommen sie und die Entsorgung der Vergangenheit wird gleich miterledigt. Zur Kunst geschweige denn zur Wissenschaft hört man in diesem Zusammenhang kein Wort aus dem Greifswalder "Institut für Bildende Kunst und Kunstgeschichte". Die wichtige künstlerische Arbeit Lea Grundigs soll den Studenten in Greifswald verschwiegen werden, die Erinnerung an das bedeutende malerische Werk Hans Grundigs, des, so der Berliner Kunstwissenschaftler Günter Feist, "am meisten unterschätzten Künstlers des 20. Jahrhunderts" (junge Welt vom 5.10.2007), soll unterdrückt werden; damit hat ein kunstwissenschaftliches Institut seine fachliche Qualifikation verspielt.

Viele Institutionen wären glücklich, mit den Stiftungsgeldern im Sinne von Hans und Lea Grundig arbeiten zu können. Der Kunstwissenschaftler Dr. Peter Michel nennt in seinem offenen Brief an den Greifswalder Uni-Rektor den Jüdischen Kulturverein Sachsen als einen möglichen Träger des Preises (junge Welt vom 20.8.2009). Wenn es nur unser kulturelles Erbe wäre, das hier zu Schaden kommt - es wäre schlimm genug. Doch der Versuch, Lea Grundig zu diffamieren und ihren Namen aus der Universitätsgeschichte auszulöschen, trifft nicht nur eine Künstlerin und eine zeitweilige Repräsentantin der Kulturpolitik in der DDR. Hier wird eine jüdische Antifaschistin und Kommunistin erneut zum Opfer, die nach Ausstellungsverbot und Gefängnis den deutschen Faschisten entkommen konnte, deren Mann wie durch ein Wunder KZ und Krieg überlebte Und das macht die Vorstellung, dass Krupp-Geld den Ausschlag gegeben haben könnte, besonders bitter. "Mit Abscheu und Wut nehme ich den Versuch zur Kenntnis, an der Universität Greifswald den tiefen Humanismus von Lea Grundig zu beschädigen. In einem solchen Deutschland zu leben ist zunehmend widerwärtig und gefährlich" schreibt der Maler und Grafiker Thomas J. Richter in seinem offenen Brief an den Rektor (junge Welt vom 20.8.2009).

Geschichte wird nun mal von den Gewinnern geschrieben. Diesen zu Diensten steht der "Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin". Zur Klärung der Sachlage könnte man aus Versehen in das von diesem Forschungsverbund verantwortete Buch schauen "Eingegrenzt - Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961-1989". Doch auch hier geht es gar nicht um bildende Kunst. Gegenstand sind die Kunstverhältnisse und die staatlichen Regulierungsmittel. Die Diffamierung von Leben und Arbeit in der DDR wird auf den verschiedensten Schlachtfeldern geführt. Auf dem Gebiet der Kunst erweist sich der Kampf als besonders leicht zu führen, weil die Grundkenntnisse verlorengehen, weil das Wissen um humanistische Kunst und das Erkennen von künstlerischer Qualität zur Ausnahmeerscheinung werden. Und weil hier am leichtesten zu vertuschen ist, dass es um Geld und nicht um Inhalte geht.

Doch es meldet sich Widerstand. Sammler, Wissenschaftler und Künstler in ganz Deutschland verfolgen mit Staunen die beschämenden Greifswalder Abläufe. Dr. Maria Heiner, enge Freundin Lea Grundigs und mit der Arbeit am Werkverzeichnis der Künstlerin betraut, fordert mit vielen anderen "einen normalen, dem Stiftungsrecht entsprechenden Umgang mit der Hans-und-Lea-Grundig-Stiftung". Dieses Frühjahr finden im Rahmen der Hans-und-Lea-Grundig-Ehrung 2010 zwei Ausstellungen statt, außerhalb des medienwirksamen Kulturbetriebs, dafür um so kenntnisreicher zusammengestellt und begleitet. (Siehe in ICARUS 2/2010) Der Prozess der kulturellen Säuberung ist kaum aufzuhalten, die Diffamierung kommunistischer und antifaschistischer Künstlerinnen und Künstler wird noch ganz andere Ausmaße annehmen, und für ernste künstlerische Arbeit interessiert sich am Ende niemand mehr. Um so wichtiger, diesen Abstiegsprozess nicht unwidersprochen hinzunehmen.

Protestschreiben an:
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald,
Rektor Prof. Dr. Rainer Westermann,
Domstraße 11, 17487 Greifswald,
rektor@uni-greifswald.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Hans Grundig 1956 in seinem Atelier in Dresden

Lea Grundig - 1949 bei ihrer Rückkehr nach Dresden aus der Emigration in Palästina

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter Michel

Offener Brief

An den Rektor
der Ernst-Moritz-Arndt-Universität
Prof. Dr. rer. nat. Rainer Westermann
Domstraße 11
17489 Greifswald


Berlin, d. 21. Februar 2010

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Westermann,
vielleicht erinnern Sie sich an meinen Brief vom 1. August 2009, der sich mit den Vorgängen um die Hans-und-Lea-Grundig-Stiftung befasste. Auf diesen Brief erhielt ich von Prof. Soltau eine wenig aufschlussreiche, hinhaltende Antwort. Eine Entscheidung über den Umgang mit dieser Stiftung ist - trotz der Ankündigung Prof. Soltaus, das Problem bis Ende des Jahres 2009 zu klären - wohl bis jetzt noch nicht gefallen.

Nun las ich in den vergangenen Tagen den im Internet öffentlich zugänglichen Aufsatz "Hans und Lea Grundig: DDR-Staatskunst heute. Nachtrag zum Fall der Mauer und was von ihr noch steht" von Prof. Puritz in der Schriftenreihe des CDFI zur Theorie und Praxis der bildenden Kunst, und ich erlaube mir, den vorliegenden Brief ebenso öffentlich zu machen.

Nach der Lektüre des o. g. Textes wurde mir klar, dass die Hans-und-Lea-Grundig-Stiftung an Ihrer Universität tatsächlich fehl am Platze ist. Solcherart politische Leichenfledderei habe ich selten gelesen. Mit Differenzierung und Wissenschaftlichkeit, wie sie an einer Universität üblich sein müssten, hat dieser Artikel nichts zu tun. Allgemeine politische Verurteilungen treten an die Stelle eines fundierten, juristisch nutzbaren konkreten Schuldnachweises. Zitate werden aus ihrem historischen Zusammenhang gerissen. Die Dialektik von gesellschaftlichen und künstlerischen Prozessen wird nicht untersucht. Es herrscht der Ton des überwunden geglaubten Kalten Krieges. Prof. Puritz praktiziert - mit umgekehrtem Vorzeichen - dasselbe, was er bornierten Parteifunktionären der SED vorwirft. Er übersieht völlig, dass auch Hans Grundig unter den Formalistenjägern der DDR litt und dass Lea Grundig am Ende ihrer Entwicklung ziemlich einsam war. In jeder Künstlerbiografie gibt es sowohl in den Lebensumständen als auch im Werk Höhen und Tiefen; das ist heute ebenso. Die beiden Grundigs waren großartige Künstler; und wer nicht in der Lage ist, das zu erkennen, der sollte die Finger von solchen öffentlichen Verlautbarungen lassen. Er dokumentiert sonst nur sein kunsthistorisches Unwissen. Bemerkt Prof. Puritz nicht, dass er mit der Art und Weise seiner Argumentation gefährlich in die Nähe jener Kulturpolitiker des Dritten Reiches gerät, die Hans und Lea Grundig als entartete Künstler brandmarkten und mit Ausstellungsverbot belegten? Und ist ihm nicht klar, dass er mit solchen Auslassungen dem Ansehen der Universität Greifswald Schaden zufügt? Was will man "gründlich erforschen"? Es kann doch nur darum gehen, festgefressene Vorurteile "wissenschaftlich" zu begründen. Über Hans und Lea Grundig gibt es genügend Literatur, u. a. von Günter Feist und Erhard Frommhold, die beide von dem Verdacht, Erfüllungsgehilfen der Macht gewesen zu sein, weit entfernt sind.

Um der Vermutung zu entgehen, den Namen der Stiftung beseitigen, aber die inzwischen angewachsenen Stiftungsgelder behalten zu wollen - was dem Stiftungsrecht widerspräche -, empfehle ich nach dem Schmäh-Artikel von Prof. Puritz der Alma mater in Greifswald, diese Stiftung aufzugeben und sie in Hände zu legen, die seriös damit umzugehen wissen. Wenn Sie dafür Vorschläge brauchen, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Peter Michel


*


Hans Grundig erinnerte sich:

"Sachsenhausen, das klingt nicht unangenehm in den Ohren. Es erinnert an alte Schulgeschichten, an rauschende, wilde Forsten, in denen einst das Volk der Sachsen hauste ...

Wir fuhren in den Morgen hinein, ein eisiger Morgen war es, magerer Schnee lag auf Feld und Rain ... Dann hielt der Zug plötzlich, auf freiem Feld, so schien es. Tiefe Stille, uns bedrückende Stille umgab uns, die noch nicht gesprochenen Worte, gleichsam von der Zunge abgebrochen, glitten in uns zurück. Helles, scharfes Licht überstrahlte uns, es gab kein Entrinnen, weder vor uns noch vor dem über uns Hereinbrechenden. Graue, verzerrte Schatten fielen uns an ­... Tierisches Gebrüll warfen in grauenvollem Echo die stählernen Wände zurück ... bis wir als angstvoller, deformierter Haufen auf einem Bahnsteig standen ... "

Hans Grundig: "Zwischen Karneval und Aschermittwoch"', Berlin 1962, S. 268

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Wolfgang Richter

Epilog zum "Lexikon Künstler in der DDR"

Kunstwerke werfen ein besonderes Licht auf die Geschichte der Menschen, ihren Alltag, ihre Erwartungen und Enttäuschungen, ihren Frieden, ihre Kriege, ihre Revolutionen, ihre Siege und Niederlagen. Sie geben eigene Antworten auf die ewigen Fragen, die Immanuel Kant uns hinterließ: "Was ist der Mensch? Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen?" Doch das Faszinosum dieses Scheins, in den sie ihre Zeit durch ihre Werke tauchen, ist wie könnte es anders sein? - zugleich immer ein Widerschein des eigenen Lebens und Erlebens der Schöpfer, wie es hier im Lexikon über DDR-Künstler als Konvolut von über 7000 Biografien mit den Verzeichnissen ihrer wichtigsten Werke vorstellt. Es ist damit weit mehr als ein alphabetisch geordnetes Namensregister von Künstlern. Denn: was immer sie auch schufen, sie hatten sich anderen damit zugänglich gemacht, offenbart. Das Lexikon ist ein Geschichtsbuch vieler Leben, deren Werke man zwar auszugsweise zu nennen, doch ob ihrer Fülle nicht zu zeigen vermag. Mit zahlreichen Namen können viele Bekanntes assoziieren. Doch bekannt - wenn auch ganz unterschiedlich nah - ist einem immer die Zeit, in der sie lebten und leben. Ihre Kunst hat die DDR mitgeprägt; sie spielte in ihr eine vielschichtige oder auch kontroverse Rolle.

Das zwanzigste war ein großes Jahrhundert in der Weltgeschichte. Wer konnte sich ihm entziehen? Wann prallten je solch gewaltige globale Klassenkräfte aufeinander in ihrem Ringen um die Durchsetzung unvereinbarer Interessen, um die Zukunft der Menschheit und ihre soziale Ordnung? Seit den bürgerlichen Revolutionen, die uns mit der Erklärung der Menschenrechte der Französischen Revolution und dem Kommunistischen Manifest die beiden wohl wichtigsten Programme der Neuzeit hinterließen, hat die Forderung, die Welt des "homo homini lupus" durch die Welt des "homo homini homo" abzulösen, ihre ungebrochene Faszination. Keine Verheißung hat die Menschheit mehr beflügelt als der kategorische Imperativ von Karl Marx, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." Und das betrifft auch die Kunst und ihre Schöpfer.

So war es nur natürlich, dass eine Menschenrechtsorganisation wie die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V. (GBM) nach zwei Jahrzehnten erfolgreicher Tätigkeit ihres Arbeitskreises Kultur dieses Lexikon zu ihrem Projekt erklärte.

Raute

Rezensionen

Detlef Joseph

Erika Schwarz: Juden im Zeugenstand

Die Spur des Hans Globke im Gedächtnis der Überlebenden der Schoa
Berlin 2009, Hentrich & Hentrich, geb., 269 S., ISBN 978-3-938485-97-2,
Schriftenreihe des cenrrum Judaicum, Bd 8, 32 €

Soeben erschien ein Buch, das mit Fug und Recht als eine bedeutsame Dokumentation der Schicksale jüdischer und "arischer" Bürger während der Nazizeit angesehen werden kann.

Die von der Historikerin Erika Schwarz vorgelegte Ausarbeitung hat ihre Geschichte. In Vorbereitung des Prozesses des Obersten Gerichts der DDR gegen den engen Adenauer-Vertrauten Hans Globke hatten die zuständigen Organe in der DDR es unternommen, mögliche Zeugen des verbrecherischen Inhalts der Aktivitäten Globkes zu ermitteln. Der Nebentitel des Buches lautet daher auch "Die Spur des Hans Globke im Gedächtnis von Überlebenden der Schoa". Mit 636 Bürgern wurden von 73 Staatsanwälten und 48 Angehörigen der Volkspolizei in 13 Bezirken der DDR Befragungen durchgeführt. Es handelte sich dabei um Personen, die der nazistischen Einteilung in "Juden in Mischehen" oder "Mischlinge" (die Kinder aus solchen Ehen) unterfielen. Einige der Befragten standen dann als direkte Zeugen während des Prozesses, der am 8. Juli 1963 begonnen hatte, im Gerichtssaal. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte für die DDR-Vernehmer "methodische Hinweise" erarbeitet, die es ermöglichten, die Aussagen der Zeugen vergleichbar zu strukturieren. Erika Schwarz unterbreitet Auszüge aus 128 Protokollen. Sie gliederte das Material chronologisch in einer Weise, die es ermöglicht, die Schritte der antisemitischen Praxis des NS-Staates in der historischen Abfolge zu erkennen. Schon an den Überschriften der einzelnen Kapitel wird sichtbar, dass die antisemitischen nazistischen Unterdrückungs- und Vernichtungsmaßnahmen sukzessive entwickelt und potenziert wurden: Antisemiten an der Macht (1933 bis 1935); Entrechtete Staatsbürger (Der 15. September 1935); Leben im Ungewissen (1936 bis Herbst 1938); Terrorisiert, beraubt, vertrieben (November 1938 bis September 1939); Schwindende Lebensbasis (September 1939 bis Juni 1941) und In der Phase der "Endlösung" (Juni 1941 bis 1945). Thematisch werden die Aussagen der Befragten diesen Zeiträumen zugeordnet. Die von der Autorin gewählte Methode, das Material historisch zu ordnen und zu erklären, verdeutlicht die Perfidie der nazistischen Repression, in sich steigernder Art und Weise "kleine" Handlungen zur psychischen und physischen Drangsalierung zu praktizieren, die im schlimmsten Falle mit der Verschickung in die Vernichtungslager endeten. Die Betroffenen lebten, das wird aus den Zeugenaussagen sichtbar, in der permanenten Ungewissheit, den Faschismus überleben zu können. Beweisführend sind den Zeugenaussagen jeweils mehr oder weniger umfangreich Dokumente im Faksimile beigeordnet. Völlig zu recht schreibt Schwarz, dass es auch die nazistischen Gesetze waren, die das Unheil über die in "Mischehen" lebenden Männer und Frauen brachten. Sie enthielten Handlungsvorgaben, die das Verbrechen "legalisierten". Auch aus diesem Grunde waren die in dem Buch gesammelten Zeugenaussagen zu den praktischen Erfahrungen von Bedeutung. Schließlich gab auch Globke verbal die juristisch fixierte Anleitung mit menschenmordenden Konsequenzen. Berechtigt verweist Schwarz auf die Lobeshymne des Präsidenten des nazistischen Volksgerichtshofes Freisler über den Strafrechtskommentar, als dessen einer Verfasser Globke agiert hatte.

Bedeutsam ist auch das Kapitel, das Schwarz mit den Worten überschrieb: "Widerstand, Selbsthilfe, Solidarität". Es ist besonders bewegend, dass es gelegentlich durchaus Unterstützungen von nichtjüdischen Menschen gab, die ungeachtet der sich daraus für sie möglicherweise ergebenden Gefahren geleistet wurden. Bekanntlich gehörte Globke zu jenen Nazi-Aktivisten, die durch Mitarbeit an den "gesetzlichen" Regelungen zur Unterdrückung und letztlich Vernichtung der Juden unermessliche Schuld auf sich geladen hatten. Da in der BRD keinerlei Anstalten gemacht wurden, Globke juristisch zur Verantwortung zu ziehen, sah sich die DDR in der Pflicht, einen Prozess vorzubereiten und durchzuführen.

Die DDR-Presse informierte damals ausführlich über den in Abwesenheit Globkes gegen ihn durchgeführten Prozess. Eine Ladung Globkes hatte dieser nicht befolgt. Bereits am 18. Juni 1963 wurde eine Zusammenfassung der Anklageschrift veröffentlicht. Zusätzlich zu den Zeitungsberichten während des Prozesses erschien nach dem Verfahren eine umfangreiche Broschüre mit dem Titel "Im Namen der Völker. Im Namen der Opfer". In ihr wurden Auszüge aus dem Protokoll der Verhandlungen vor dem Obersten Gericht mitgeteilt. Minutiös war dargelegt worden, wie Globke mit seinen Gesetzestexten und Entscheidungen dazu beigetragen hatte. Schon 1960 war eine Publikation erschienen, die unter dem Titel "Globke und die Ausrottung der Juden" über die verbrecherische Vergangenheit des Staatsekretärs im Amte des Bundeskanzlers Adenauer informierte. Spätestens seit dieser Zeit kann man kaum noch behaupten, die DDR hätte über die Juden und deren Verfolgung in der NS-Zeit Kenntnisse nur unzulänglich vermittelt.

Man hätte sich allerdings gewünscht, wenn eine solche Arbeit wie die von Erika Schwarz noch in der DDR publiziert worden wäre. Denn die Gesamtheit der direkten Zeugenaussagen unterstrich die schrecklichen individuellen Wirkungen des nazistischen Antisemitismus, der seine Ausprägung auch in den von Globke verfassten "Rechts"vorschriften gefunden hatte.

Raute

Rezensionen

Klaus Przyklenk

Vermächtnis DDR

Horst Jäkel (Hrsg.), GNN-Verlag Schkeuditz, 2009,
445 S., ISBN 978-3-89819-311-5, 20,00 €

Ein Beitrag, der von Rudolf Denner, ist mit "Die DDR hat's nie gegeben" überschrieben. Ja, so hätten sie es gern, die besoldeten Amtswalter der deutschen Geschichte aus der Bundeszentrale für politische Bildung, denn die DDR, die 40 lange Jahre gelebt hat, war nicht so, dass sie als böser schwarzer Mann und Kinderschreck taugt.

Dass es die DDR gab, belegen die Autoren der 84 Textbeiträge dieses Sammelbandes. Sie ergeben eine überzeugende Vielfalt sinnvoll gelebten Lebens.

"Schreib das auf Kisch!" Hätte es vor siebzig Jahren heißen können. Nun, die Arbeiter, die Wissenschaftler, Soldaten, Bauern, die Internationalisten, Ärzte, Handwerker, ja sogar Pfarrer haben diese Aufgabe keinem Reporter anvertraut. Sie haben es selbst aufgeschrieben.

Das ist nicht immer Literatur, ist aber immer wahrhaftig. Wenn es ein Grundanliegen gibt, das alle Texte eint, dann das, Zeugnis abzulegen, von dem was war.

Wenn die herrschende Meinung immer die Meinung der Herrschenden ist, dann ist dieser Band die Meinung der Beherrschten, die sich im Impressum als Unabhängige Autorengemeinschaft "Als Zeitzeuge erlebt" zu erkennen geben.

Dass das Buch reich bebildert ist, ist eine Stärke. Dass in vielleicht noch folgenden Bänden die Illustrationen sorgsamer mit dem Blick auf die technischen Möglichkeiten des Druckverfahrens ausgewählt werden sollten ist ratsam. Es ist einfach unüberlegt, wenn auf einer Buchseite 23 eigentlich wunderschöne farbige Briefmarken der Post der DDR in flauem Grau vorgezeigt werden. Was bleibt da von Gebrauchsgrafik? Auch die schönen Bücher aus der DDR sind unser Vermächtnis.

Aber es bleibt natürlich ein Grund, das Buch zu lesen und gespannt auf einen weiteren Band der Reihe zu warten.


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Unzufriedenheit.

Bei Unzufriedenheit betrachte man den engen, feuchten Aufenthalt armer Leute und denke dabei an sein eigenes Wohlbefinden. Bei Ehrgeiz, Habsucht, Neid, Stolz, Selbstsucht, auch bei schwerem Kummer, bei Sorgen, Niedergedrücktsein und dergleichen mehr besuche man einen Friedhof und lese die Grabinschriften. Auch die schweren Sorgen werden dann verschwinden.

Raoul Tranchirer (Ror Wolf)

Raute

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Erhard Thomas

Und jedes Wort - ein Flügelschlag

E. Rasmus: Und jedes Wort - ein Flügelschlag, Gedichte,
Verlag Wiljo Heinen Berlin, 2009, 163 S., ISBN 978-3-939828-52-5, 8,50 €

Vor mir liegt ein Kompendium im Taschenbuchformat mit 111 Gedichten, die der Autor auf 163 Seiten zusammengefasst hat. Endlich. Beim Wenden des Büchleins stößt man auf die wie aus Wolken fallenden wenigen Worte "Poesie ist das Salz in der Suppe des Proleten". Wiljo Heinen, der Verleger, hat sein Programm um eine interessante Variante mit den Gedichten von E. Rasmus bereichert. Die Gestaltung ist sehr gelungen. Die Friedenstaube fliegt, in der Spannbreite von "Jahresreigen & Natur" über "Empfindungen & Zweifel" bis zu "Ereignissen & Personen". Sie erreicht zum Schluss die Zukunft, derer sie sich bereits erinnern kann. Der Begriff Flügelschlag beinhaltet Bewegung sowohl im Vorausdenken als auch im Nachdenken und darüber hinaus in der Überleitung zum Leben in solidarischen Gemeinschaften. Die aktuellen Gedichte halten das, was der Titel verspricht: "Und jedes Wort - ein Flügelschlag". Im Klartext heißt das, progressive Lebenshaltung findet in der Kraft des Wortes ihr Echo, und Gedanken und Erkenntnisse werden buchstäblich in alle Himmelsrichtungen, überall hin, getragen.

Alle literarischen Nuancen sind enthalten: kämpferisch, hin und wieder melancholisch, ohne dass daraus Traurigkeit resultieren würde, überwiegend hoffnungsvoll, ohne ins Reich der Utopie abzugleiten, niemals beim Lesen, Nachdenken und Sinnieren resignierend. Wiederholt ertappt man sich als Leser bei einzelnen Gedichten, dass man sich - gewollt oder ungewollt - wiederfindet im Zustand des Nachdenkens, des Verweilens, des Grübelns.

Dem Autor ist es gelungen, seine politische Überzeugung mit Sachverstand, aus vollem Herzen, mit scharfer Zunge und spitzer Feder treffend zu charakterisieren, und damit alle Unebenheiten und Wirrnisse unserer gegenwärtigen Gesellschaft. E. Rasmus schreibt ehrlich, was ihn bewegt. Manche Gedichte mögen unterschiedlich interpretiert werden, doch in ihrer Aussage dulden sie keinen Zweifel an ihrer Menschlichkeit. Der gelernte Schriftsetzer bringt sein zutiefst humanistisches Anliegen aus der DDR für ein sinnerfülltes Leben im Einklang mit der Natur vor. Er lässt Friedrich Schiller und Nikolai Ostrowski vor einzelnen Kapiteln sprechen. Der Einzelne möge selbst urteilen. So mancher wird sich auch in den hiesigen vom Geld dominierten Zuständen wiederfinden, die wir als DDR-Bürger nicht kannten oder nur vom Hörensagen.

Es ist ein Kompendium der Dreieinigkeit aus hoch aktuellem gesellschaftlichen Aufklärungsanspruch, hohem Bildungswert und Unterhaltungsgehalt. Man erlebt Lyrik zur Stärkung des Lebens im Alltag. Schmerz bricht sich immer dann freie Bahn, wenn E. Rasmus die rückwärtsgewandte Gesellschaftsentwicklung vom Sozialismus zum Kapitalismus beschreibt. Der Gedichtband, Zeugnis und Denkmal, erinnert und mahnt die junge Generation. Ihr zeigt er den Weg, auf dem sie voranschreiten kann und auf dem sie das Ziel hoffentlich auch erreicht. Ein Lob dem Autor, der solche Haltung bewahrt. Heutzutage muss man lange suchen, um progressive Gegenwartslyrik auch gedruckt zu finden. Gratulation. Bleibt noch die Frage: Dichter, was hältst Du vom zukunftsweisenden Sinn der proletarischen Revolution, von der Umwälzung der Verhältnisse?

Schlussfolgernd aus dem Gelesenen glaube ich, erhält zu ihr, denn er ist kein Wendehals, kein Wackelhut. Das bezeugt auch die Vita E. Rasmus im Vorspann.

Als ehemaliger Universitätsdozent an der Charité, wo ich viele Doktoranden zur Promotion und zur Habilitation begleitete und ihre Leistungen zu bewerten hatte, weiß ich, wovon ich rede: Benotung "magna cum laude".


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Ich glaube, dass es auch im Menschen eine Schönheit gibt, die von der Arbeit kommt.

Hanns Cibulka

Raute

Rezensionen

Mario Tal

Das tätige Leben der Alissa Fuss

eine verdienstvolle Biografie

Barbara Heber-Scherer: Solidarität und Eigensinn. Das tätige Leben der Alissa Fuss.
Berlin, Tel Aviv, Berlin, Papyrossa Verlag 2009, 257 S., 18.00 €

Das Bundesverdienstkreuz zu erhalten ist in aller Regel kein Zeichen des Fortschritts. Ausnahmen wie zuletzt bei der deutsch-israelischen Menschenrechtsaktivistin Felicia Langer bestätigen die Regel. Die Rückgabe der Auszeichnung verdient in der Regel mehr Respekt. Jüngste Ausnahmen hier wiederum: Arno Hamburger, seit 1972 erster Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde in Nürnberg, und der israelische Reiseführer Motke Shomrat. Empört über die Auszeichnung Langers gaben sie den Orden zurück, während es bei Arno Lustiger und Ralph Giordano bei einer Drohung damit blieb. Ausnahme und Regel zugleich war Alissa Fuss (1919-1993), deutsche Jüdin und israelische Staatsbürgerin. In der nun vorliegenden Biografie über sie heißt es:

"Alissas erster Impuls war, diese Auszeichnung abzulehnen; sie wusste zu gut, dass auch einstige Nazis sie schon bekommen hatten. Sie hat sie erst angenommen, als ihr klar wurde, dass sie sie auch wieder zurückgeben konnte, um durch diesen aufsehenerregenden Schritt gegen die geplante Verfassungsänderung zu protestieren ... Am 29.6.1993 schrieb sie an den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker: Ich möchte Ihnen die Gründe nennen, die mich zu diesem Schritt, der mir nicht leicht gefallen ist, veranlasst haben. In seiner Sitzung vom 26. Mai 1993 hat der deutsche Bundestag mit der dafür notwendigen Zweidrittelmehrheit den Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes durch den Artikel 16a so weit eingeschränkt, dass vom Grundgesetz auf Asyl nichts mehr bleibt als eine Worthülse. Die faktische Abschaffung des Asylrechts, vor dessen Aushöhlung ich mit vielen anderen seit Jahren gewarnt habe, wird, wie schon die unsägliche Debatte darum in den letzten Jahren, die Republik verändern, und nicht zum Besseren."

Alissa Fuss mag eine der unbekannteren Ausgezeichneten gewesen sein, ihre Persönlichkeit gehört aber zweifellos zu den beeindruckendsten. Ihre Stationen: 1935 als deutsche Kommunistin nach Palästina emigriert; dort politische Radikalisierung ("Der Kommunismus war für den Kibbuz ein rotes Tuch."); Anschluss an die KP; diverse Jobs: in Orangenplantagen, als Haushaltshilfe, Malerin auf dem Bau, schließlich pädagogische Tätigkeiten (Schule für verhaltensauffällige Kinder); Verhaftung 1940, zu einer Zeit, als sie nachts Flugblätter verteilte, auf die Dächer stieg, um von oben herab Parolen an die Wände zu malen, und Aufrufe plakatierte; 1956 Verurteilung zu sechs Jahren Gefängnis, da sie einmal einem polnischen Freund zugesagt hatte, dem sowjetischen Block Informationen über US-amerikanische Aktivitäten in Israel zukommen zu lassen; 1976 Rückkehr in die BRD, dort beruflich an der Laborschule Bielefeld tätig; 1981 Mitbegründerin des Berliner Flüchtlingsrates; 1983 erste öffentliche politische Rede auf einer antifaschistischen Demonstration der VVN; politisch engagiert in Kampagnen zu Kemal Altun, Nah-Ost-Gruppe Berlin etc., 1993 Rückgabe des Bundesverdienstkreuzes wegen der Aushöhlung des Asylrechts; 1991 bis zu ihrem Tod 1997 Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte.

Allein diese Stichworte zeigen: Hier liegt nicht nur eine weitere aus der Vielzahl von Biografien aus der Nazi-Zeit vor. Denn unter dem treffenden Titel "Solidarität und Eigensinn" zeichnet die Schweizer Literaturübersetzerin und Autorin Barbara Heber-Schärer ein anschauliches Bild eines facettenreichen Lebens. Gelungen ist eine jener dankbaren Biografien, die nicht allein eine eindrucksvolle Persönlichkeit schildern, sondern zugleich historische Zusammenhänge verständlich werden lassen. Greifbar wird auch der Umgang mit persönlichen und politischen Widersprüchen geschildert, etwa hinsichtlich ihrer Kinder zur Zeit ihres Gefängnisaufenthaltes.

Alissa Fuss selbst war im Übrigen keine Gegnerin von Auszeichnungen. Bei der Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille hielt sie als Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte Berlin 1991 ff. jährlich die Laudatio. Die Reden kamen stets, so Heber-Schärer, einer Art Gegenbericht zur Lage der Nation gleich.

Raute

Ahasverus
Glaubst du noch oder denkst du schon?

Ein mutiges kleines Büchlein, das der Verfasser im Selbstverlag vorgelegt hat. Es ist auch nur direkt vom Verfasser zu erwerben.

Jürgen Kuhlmann, Wilhelm-Pieck-Straße 6, 19406 DABEL, 6.00 €, im Doppel 11.00 €

Raute

Marginalien

p.f. 2010

pour feliciter - Neujahrswünsche 2010

Es ist das 65. Jahr der Befreiung vom Faschismus und das 20. Jahr des Anschlusses, was uns vor nicht geringe Aufgaben stellt, alten und neuen Geschichtsfälschungen entgegenzutreten. "Aber wir stehen noch mitten im Kampf; es ist uns nicht gestattet, zu sehr zurückzudenken" schrieb Friedrich Engels 1890 - und es ist noch heute gültig. Möge es ein Jahr werden, das unseren Kampf um Frieden, gegen Sozialabbau und für Menschenrechte belohnt, unsere Solidarität stärkt und unsere Hoffnungen für die Welt nicht entmutigt.

Wolfgang Richter, Bundesvorsitzender der GBM


­... Die feste Gewissheit: unsere schöne, hässliche Welt ist veränderbar - zum Guten.

Günter Berger, Leipzig


Die besten Wünsche zum Jahreswechsel, und achten Sie auf Ihre Gesundheit, da trachten Ihnen mehr danach, als Sie denken.

Hans Benkmann, Soltendieck


Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.

(Benjamin Franklin)


Mehr Aufmerksamkeit im neuen Jahr bei Telefonüberwachung, Datenschutzskandalen, Online-Durchsuchung und ungehemmter Vorratsdatenspeicherung.

Rudolf Grüttner, Oranienburg


­... und ich werde auch in 2010, so gegen 17.30 Uhr, wieder für alles Gute, Schöne und Rechte eintreten. Reiht euch ein.

Klaus Georg, Landkreis Oder-Spree


Dieser Gruß möchte Anstoß sein, dem ausufernden, höchst reaktionären Trend zu widerstehen, die Zukunft in scheinheilig verklärter wie bösartig beschimpfter Vergangenheit zu suchen. Vorwärts und nichts vergessen, das bleibt der beschwerliche Weg.

Ilse und Arno Neumann, Blankenfelde


Wir wünschen, dass Ihr das vor uns liegende Krisenjahr möglichst ohne Blessuren durchhaltet. Wir werden starke Nerven und eine gute Portion Galgenhumor brauchen.

Ingeborg und Lothar Springer, Berlin


Heiser vom vielen Hosianna und Halleluja-Schreien, mit frommen Fingern vom Frohlocken (wie frohlockt Ihr?) sind wir, Kampfgenossen, an Eurer Seite und 2010 pünktlich 17.30 Uhr zur Stelle. Wir denken, wir werden's schon richten. Unsicherheiten gibt es aber: Wir waren das Volk, was zum Teufel sind wir jetzt?

Eure Rahnsdorfer Kämpfer Maria und Peter Michel

Raute

Marginalien

Echo

Zum Beitrag Absolvent einer Arbeiter- und Bauernfakultät in ICARUS 4/2009

Den Beitrag habe ich mit erwartungsvollem Interesse gelesen. Vorbildlich hat es der Autor verstanden, die gesellschaftliche Notwendigkeit der Arbeiter- und Bauernfakultäten zu begründen und mit der Darstellung der eigenen Biografie zu verknüpfen. Die eingangs kritisierte Nichtbeachtung des 60-jährigen Jubiläums der Gründung der ABF ist ein weiteres Beispiel der Tabuisierung fortschrittlicher Bildungspolitik der jungen DDR durch Massenmedien und sonstige Meinungsmacher. Ein Blick auf die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft heute offenbart, dass sich zu jener vom Autor für 1947 zitierten - 8,7 Prozent Arbeiter und 16,7 Prozent Angestellte - nichts geändert hat. Mit der Gründung der ABF fielen die alten Schranken, die früher vielen befähigten jungen Menschen den Zugang zu höherer Bildung und zur wissenschaftlichen Arbeit blockierten. Damit wurde im Bildungssystem die demokratischen Erneuerung eingeleitet, einem Gebiet, auf dem sich Klassen- und Kastengeist mit besonderer Zähigkeit hielten.

(...) Der Beitrag verdient Beachtung noch unter einem anderen Blickwinkel. In Westdeutschland war die dem Nationalsozialismus sich angedient habende Intelligenz im Chaos des Untergangsszenarios am Ende des Zweiten Weltkrieges zwar erschlafft, aber auferstanden und erstarkt unter dem Einfluss der Antikommunismusdoktrin des kalten Krieges. Durchdrungen vom "alten preußisch-deutschen Hochmut" ging es der westdeutschen Hochschulelite nach 1990 nicht nur darum, ihren Anwärtern Professuren und andere beamtete Positionen im Osten zuzuschanzen, sondern die aus dem Volke gewachsene, mit ihm verbundene, von ihm anerkannte und international respektierte wissenschaftliche Gemeinschaft der DDR auszumerzen. Hinsichtlich der Breite, Tiefe, Totalität und Rasanz ist dieser Akt einmalig in der deutschen Bildungsgeschichte.

Prof. Dr. Gerhard Gerber, Berlin


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Eigene "Wendegedanken"

Leserbrief

Das Buch der beiden Autoren Herbert Kierstein und Gotthold Schramm "Freischützen des Rechtsstaates - Wem nützen die Stasiunterlagen und Gedenkstätten" leistet einen wichtigen Beitrag, die politische Zweckbestimmung der "Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR", im Volksmund Gauck-Behörde genannt, zu erkennen.

Wie man sehr leicht nach der Bildung einer rot-roten Koalitionsregierung im Lande Brandenburg feststellen kann, dienen die von dieser Behörde erhobenen Stasi-Vorwürfe gegenüber Mitarbeitern der Landesregierung seitens der CDU-Opposition allein dem Ziel, einen politischen Konkurrenten loszuwerden, um damit schließlich im nachhinein die bei den letzten Wahlen in Brandenburg zum Ausdruck gebrachte Volksmeinung zu konterkarieren.

Fragen wir doch einmal nach dem Lebenslauf des Herrn Joachim Gauck, der dieser Behörde ihren Namen gab.

Joachim Gauck ist von Beruf evangelischer Pfarrer.

Er war vor 1989 nie ein ernsthafter Kritiker der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der DDR.

Als Pfarrer und Theologe gehörte er zu den privilegierten Kadern. Sein Vater war während der Zeit des Faschismus Marineoffizier und später DDR-Schiffskapitän. 1951 wurde er von einem sowjetischen Gericht aufgrund gefundener Unterlagen und zahlreicher Zeugenaussagen verurteilt, weil er während der Zeit des Faschismus an der Erschießung politischer Gefangener teilgenommen hatte. Erst 1955 wurde er auf Grund der bekannten Fürbitte Adenauers in Moskau zusammen mit mehreren Tausend weiteren verurteilten deutschen Strafgefangenen des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit begnadigt und vorzeitig freigelassen.

Sein Sohn, Joachim Gauck, konnte in der DDR das Abitur machen und von 1958-1965 an der Universität Rostock mit DDR-Stipendium Theologie studieren. Später bekam er eine Pfarrstelle und wurde dann als Kreis- und Stadt-Jugendpfarrer eingesetzt. Ab 1982 war er Leiter der Kirchentagsarbeit in Mecklenburg und später Mitglied des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentages. In dieser Funktion saß Herr Gauck bei Kongressen neben hohen Staats- und Parteifunktionären der DDR und anderer sozialistischer Staaten, ja er verhandelte sogar oft mit ihnen. Herr Joachim Gauck trat dabei stets angepasst und untertänig auf. Deshalb erschien sein Verhalten ab Oktober/November 1989 wie die Haltung eines Wendehalses. Auf jeden Fall bedurfte es dazu keines politischen Mutes mehr. Wie oft er zu DDR-Zeiten heimlich die Faust in der Hosentasche geballt hat, kann er ebenso wenig beweisen, wie die Opfer der Gauckbehörde, die dieses für sich nun in Anspruch nahmen und nehmen. Beweisbar ist: Joachim Gauck hatte im Gegensatz zu den meisten, die er später mit den Stasi-Akten (ob echt oder gefälscht und manipuliert) belasten ließ, auch schon vor 1989 das Privileg, das nur sehr wenigen auserwählten DDR-Kadern Zustand, jederzeit nach Westdeutschland und in andere westliche Länder reisen zu dürfen, ausgestattet mit Staatsgeldern der von ihm angeblich schon damals so gehassten DDR. Über seine West-Reisen und West-Besuche berichtete er auch treu und brav den DDR-Oberen und letztlich auch dem Staatssicherheitsdienst. Er konnte unbegrenzt West-Kontakte pflegen, jeden West-Besuch empfangen, West-Pakete und West-Geldspenden entgegennehmen und dergleichen mehr. Solche Privilegien hatten nicht einmal hohe Staats- und Parteifunktionäre der DDR. Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Sohn des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt der Hitler-Regierung, Ernst von Weizsäcker und als dessen Sohn zu Nazi-Zeiten selbst verdienter Wehrmachts-Hauptmann, ernannte Joachim Gauck am 3. Oktober 1990 zum Sonderbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. J. Gaucks weiteres Wirken ist allgemein bekannt. Er hat Hunderttausende von Bürgern und Bürgerrinnen mit größtenteils wenig fundierten Anschuldigungen um ihre Existenz und Zukunftsperspektive gebracht, manche in den Selbstmord und viele aus sozialen Gründen in den frühen Tod getrieben. Und dieser Mann, Sohn eines Nazis, der dem Faschismus nahe genug war, ihn zu kennen, steigert jetzt seinen Verfolgungswahn, indem er das faschistische Mord-Regime, den Holocaust der Nazi-Zeit, die Hitler-Aggressionen mit dem Wirken der sozialistischen DDR gleichsetzt.

Ein solcher Mann, der in der DDR alle Vorzüge des sozialistischen Staates genießen konnte und darüber hinaus ein wichtiger Kader war, ist ein Pharisäer ersten Ranges und gehört endlich an den Pranger.

Brigitte Queck und Dr. Hans-Jürgen Falkenhagen, Potsdam


*


Extrapost von früher

1981, Rainer Eppelmann an Erich Honecker:

Rainer stellt 16 Forderungen, u. a.:

Verbot der Herstellung, des Verkaufs, des Besitzes und der Einfuhr von Kriegsspielzeug; Keine großangelegten Feiern von militärischen Ehrengarden und keine Präsentation von militärischem Material bei Volksfesten. Treten Sie öffentlich für den Abzug aller ausländischen Truppen aus allen Ländern Europas ein.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

p.f. 2010, Martin Stelzig, farb. Linolschnitt

Peter Felix, Berlin, Linolschnitt

Raute

Marginalien

Aphorismen

Geschäfte treibt man von außen. Arbeit muss man von innen heraus tun.
Hanns Cibulka

Ohne Wachstum verhungert die Marktwirtschaft, mit Wachstum erstickt sie.
Daniela Dahn

Als der Druck des Sozialismus verpuffte, ja seine Eigentumsordnung als kriminelles Unrecht verdammt wurde, war niemand mehr da, der dem Neoliberalismus Paroli bieten konnte. Da entpuppten sich die sozialen Grundrechte als Zugeständnisse des Kapitals auf Zeit.
Asbjörn Wahl - attac Norwegen

Die einzig antike Valuta, die heute noch im Umlauf ist: die dreißig Silberlinge.
Jerzy Lec

Ein Mann, der seine Wege kennt, bedarf nicht mehr der Eile.
Hanns Cibulka

Wenn die Würde des Menschen unantastbar sein soll, muss das Eigentum an Produktionsmitteln und Finanzvermögen antastbar werden.
Daniela Dahn

Ich habe immer geglaubt, die Zeit wächst hinter mir zu, ich hätte nie gedacht, dass sie eines Tages auch wieder aufbrechen kann.
Hanns Cibulka

In Wirklichkeit sieht alles anders aus, als es wirklich ist.
Jerzy Lec

Die Welt ist so eingerichtet, dass die dämlichsten Sprichwörter recht behalten.
Alfred Döblin

Die Schaumgeborene. Aphrodite? Nein, die DDR, mit Schaum vor dem Mund gesprochen.
Klaus Georg

Optimismus und Pessimismus unterscheiden sich lediglich im Datum des Weltunterganges.
Jerzy Lec

Jedes Ding hat drei Seiten: eine positive, eine negative und eine komische.
Karl Valentin

Wir haben vorerst zwar die schlechteren Karten, aber immer noch die besseren Argumente.
Walter Ruge


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ralf-Alex Fichtner, 2009, Lavierte Finelinerzeichnung, 14,8 x 21 cm

Raute

Marginalien

Ausstellungen 2010 in der GBM-Galerie Berlin

Bis April 2010
Hans und Lea Grundig
Grafik aus der Sammlung Dr. Maria Heiner


April - Juli 2010
Karlheinz Schamal
Plastik und Zeichnungen


Juli - September 2010
Sommergalerie
Mit Arbeiten von Dr. Christa Anders (Fotografien), Renate Aulfes, Ernst Jager und Prof. Erich John


September - November 2010
Anke Besser-Güth & Siegfried Besser
Plastik, Malerei und Grafik


November 2010 - Januar 2011
Ralf-Alex Fichtner
Karikaturen und Comics


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

• Lea Grundig, aus dem Zyklus: Im Tal des Todes
• Hans Grundig, Der Streik, Linolschnitt
• Ernst Jager, Faltenwurfstudie, 1984, Kohlezeichnung
• Anke Besser-Güth, Daphne und Apoll, Terrakotta, H 46 cm
• Ralf-Alex Fichtner Selbstbildnis, Computergrafik

Raute

Ikarus

Ist eine Sage nur, er wär
gestürzt, tot an Doliches Strand getrieben.
Gelandet auf Utopia im Meer
ist er in Wahrheit und ist jung geblieben.

Klaus Georg


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Michalis Garudis, Ikarus II, 1976, Öl und Assemblage auf Leinwand

Raute

Unsere Autoren:

Boryana Aleksandrowa, Dr. - Politologin, Münster
Gabriele Eckert - Studienrätin, Berlin
Gerhard Fischer, Prof. Dr. - Historiker, Berlin
Heike Friauf - Journalistin, Berlin
Heidrun Hegewald - Malerin, Berlin
Elisabeth Ittershagen - Archivarin, Berlin
Detlef Joseph, Prof. Dr. - Staats- und Rechtswissenschaftler, Berlin
Helmut Kapfenberger - Journalist, Berlin
Werner Krecek, Dr. - Medienwissenschaftler, Berlin
Marianne Liebermann - Journalistin, Woltersdorf
Peter Michel, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Klaus Georg Przyklenk, Dr. - ICARUS-Redakteur, Woltersdorf
Brigitte Queck - Gesellschaftwissenschaftlerin, Potsdam
Wolfgang Richter, Prof. Dr. - Philosoph, GBM-Vorsitzender, Wandlitz
Horst Schneider, Prof. Dr. - Historiker, Dresden
Mario Tal - Journalist, Berlin
Erhard Thomas, Dr. - Mediziner, Berlin


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Titelbild:
Martin Wetzel, Weiblicher Torso, verdreht, 1967/68, Bronze 70 cm

2. Umschlagseite:
Ronald Paris, Ikarus, 1995. Federzeichnung

Rückseite des Umschlages:
Michalis Garudis, (* 1940), Ikarus II, 1976, Öl und Assemblage/Lw

Abbildungsnachweis:
Max Alpert S. 9
Archiv Ittershagen S. 26
Archiv Michel S. 31-36, 38
Archiv Przyklenk S. 49 und 4. US
Anke Besser-Güth 3. US
Eulenspiegelverlag S. 21
Peter Felix S. 51
Ralf Alex Fichtner S. 52
GNN Verlag S. 46
Rudolf Grüttner S. 49
Ernst Jager 3. US
Marianne Liebermann S. 24
Carlo Schellemann S. 15
Martin Stelzig S. 50
Verlag der Kunst Dresden S. 41, 42
Wiljo Heinen Verlag S. 47
Verlag Hentrich u. Hentrich S. 45

Raute

Impressum

Herausgeber: Gesellschaft zum Schutz von
Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
Weitlingstraße 89, 10317 Berlin
Telefon: 030/5578397
Fax: 030/5556355
Homepage: http://gbmev.de
E-Mail: gbmev@t-online.de
V.i.S.d.P.: Wolfgang Richter
Begründet von:
Dr. theol. Kuno Füssel,
Prof. Dr. sc. jur. Uwe-Jens Heuer,
Prof. Dr. sc. phil. Siegfried Prokop,
Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Richter

Redaktion:
Dr. Klaus Georg Przyklenk
Puschkinallee 15A, 15569 Woltersdorf
Tel.: 03362/503727
E-Mail: annyundklausp@online.de
Layout: Prof. Rudolf Grüttner
Satz: Waltraud Willms
Redaktionsschluss: 16.2.2010

Verlag:
GNN Verlag Sachsen/Berlin mbH Schkeuditz
ISBN 978-3-89819-335-1

Die Zeitschrift ICARUS ist das wissenschaftliche und publizistische Periodikum der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.; sie erscheint viermal jährlich und kann in der Geschäftsstelle der GBM, Weitlingstraße 89, 10317 Berlin abonniert bzw. gekauft werden. Ihr Bezug ist auch unter Angabe der ISBN (siehe weiter oben) über den Buchhandel möglich. Der Preis beträgt inkl. Versandkosten pro Heft 4,90 EUR für das Jahresabonnement 19,60 EUR.

Herausgeber und Redaktion arbeiten ehrenamtlich. Die Redaktion bittet um Artikel und Dokumente, die dem Charakter der Zeitschrift entsprechen. Manuskripte bitte auf elektronischem Datenträger bzw. per E-Mail und in reformierter Rechtschreibung. Honorare können nicht gezahlt werden. Spenden für die Zeitschrift überweisen Sie bitte auf das Konto 13 192 736, BLZ 10050000 bei der Berliner Sparkasse. Helfen Sie bitte durch Werbung, die Zeitschrift zu verbreiten.


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Quelle:
ICARUS Nr. 1/2010, 16. Jahrgang
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2010