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INTIFADA/003: Zeitschrift für antiimperialistischen Widerstand Nr. 27/Winter 2008


Intifada Nummer 27 - Winter 2008
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand



INHALT
Editorial
SCHWERPUNKT: KRISE
Der große Crash
Ende des Neoliberalismus und der US-Hegemonie?
Schluss mit dem System der Diebe und Räuber
Alternativen zur aktuellen Krise des Kapitalismus
Katharsis
Die Krise als Chance
ARABISCHER RAUM
Zwei Baraks sind zwei zu viel
Palästina im Zeichen der amerikanischen Wahlen
Boykott, Desinvestition und Sanktion gegen Israel
Unser Beitrag zum Frieden in Palästina
Antirassismus und israelische Apartheid
Die Durban-Folgekonferenz in Genf
"Siedlungsstopp vollkommen unglaubwürdig"
Interview mit Ilan Pappe
INTERNATIONAL
Kontrapunkt Russland?
Oligarchen-Kapitalismus selbst in schwerer Bedrängnis
"Keine Möglichkeit eines Kompromisses"
Interview mit Vladimir Acosta
EUROPA
Rebellion in Griechenland
Anarchismus versus Klassenkampf?
Erosionserscheinungen
Verfall der politischen Lager in Österreich
Kein Platz unter der Sonne?
Überlegungen zu einem linken Projekt in Österreich
Übersetzungsarbeit als "Terrorismus"
Interview mit Mona S.
THEORIE
Kopfgeburten der Kriegstreiber
Feindbild Islam
Islamophobie und Nationalismus
Eine Analyse
Hitler-Bärtchen, Antifaschismus und der Starke Staat
Vom Wandel und Funktion einer Ideologie
REZENSIONEN
Buchbesprechung: "Comment le peuple juif fut inventé"
(Wie das jüdische Volk erfunden wurde) von Shlomo Sand
Buchbesprechung: "Streifzüge durch Palästina"
von Raja Shehadeh
Impressum

Raute

Editorial

In der Endphase der der Redaktion dieser Nummer der Intifada begann am 30. Dezember der israelische Angriff auf den Gazastreifen. Auch wenn diese Nummer sich weitgehend mit der weltweiten Finanzkrise beschäftigt, können die Ereignisse in Gaza nicht isoliert betrachtet werden.

Der israelische Angriff war nicht unerwartet (siehe Mohammad Abu-Rous auf Seite 17), im Zeitpunkt jedoch schon überraschend.

Angegriffen wurde, als die ägyptische Regierung sich als "Vermittler" um die Durschsetzung eines neuen Waffenstillstands bemühte und die Hamas-Führung vorsichtig Zustimmung signalisierte.

Andrerseits war dieser Angriff diplomatisch und medial so gut vorberteitet, dass die Weltöffentlichkeit lange keine Worte der Verurteilung fand. Die Rufe nach "beidseitiger Beendigung der Gewaltsaktionen" entsprechen nicht dem Ausmaß des Massakers. Bis zum 12.1. zählen die Palästinenser in Gaza um die 900 Opfer. Die meisten davon sind Zivilisten. Über die militärischen Verluste auf beiden Seiten gibt es keine verlässlichen Angaben.

Dabei begreifen auch die israelischen Generäle und Politiker, dass die militärischen wie politischen Aussichten des Angriffes eher beschränkt sind. Ihre militaristischen Versprechen werde kaum zu halten sein. Das angekündigte Ziel, den Sturz von Hamas in Gaza, musste nach einigen Tagen relativiert werden. Das militärische Ziel, die Raketenlager zu zerstören, hat sich auch heute, mehr als zwei Wochen später, nicht erfüllt. Auch die Version, es ginge darum "der Hamas einen schweren Schlag zu versetzen", ging bisher nicht in Erfüllung. Bis auf den Mord an den Militärführer, Nizar Rayyan samt seiner ganzen Familie (10 Personen), konnte Israel die Kader der Bewegung nicht treffen. Der Angriff ist ein Massaker an Zivilisten zwecks Einschüchterung der politischen Führung.

Wichtiger als militärische Bilanzen sind im Moment die politischen Aspekte.

Die Hamas und die anderen palästinensischen Widerstadsorganisationen verteidigen eine "befreite Zone", die tatsächlich durch den Kampf und nicht durch Verhandlungen befreit wurde (man erinnere sich an den israelischen Abzug und Abbau der Siedlungen im Jahr 2005). Eine befreite Zone, die auch der Kollaborationsbehörde von Abbas entglitt.

Gaza wird belagert, weil sich die Bewegung dort verweigert, den Anspruch der Palästinenser auf Freiheit und Souvernität nicht aufgibt. Die Wiederauferstehung dieses Anspruchs bedeutet eine Neugeburt der palästinensischen Bewegung. Die Palästinenser befreien sich damit politisch von den Bürden des Osloer Abkommen. Daher werden Israel und seine Alliierten alles nur Mögliche tun, damit die Palästinenser erneut kapitulieren und sich der regionalen Ordnung fügen.

Die Hamas hat zu mehreren Anlässen ihre Bereitschaft zu einem langfristigen Waffenstillstand gezeigt. Dieser soll aber die Beendigung der Blockade und die Einstellung der extralegalen Morde und der Repressalien seitens Israels beinhalten, wozu die israelische Führung nicht bereit ist.

Sei es durch Frieden oder Krieg, Israel will jede Zukunftsperspektive der Palästinenser vernichten, auf politischer, wirtschaftlicher, kultureller und militärischer Ebene. "Die Palästinenser sollen ihre Träume aufgeben", drückte es einmal Ehud Olmert präzise aus.

Israel muss nicht nur siegen, sondern auch die Ordnung "danach" sichern. Der Widerstand in Gaza muss nur standhalten.

Der Widerstand in Gaza verteidigt nicht nur die Zukunft der Palästinenser, sondern auch die Zukunft einer Region, wo der Würgegriff der bestehenden Weltordnung am brutalsten ist.

Die Redaktion

Raute

SCHWERPUNKT: KRISE

Der große Crash

Ende des Neoliberalismus und der US-Hegemonie?

Von Stefan Hirsch


Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise ist von gewaltiger Tragweite. Kurz zusammengefasst betrachten wir sie als gleichzeitige Krise des finanzmarktgesteuerten Akkumulationsmodells, des exportorientierten Entwicklungsmodells und der US-amerikanischen Hegemonie. Damit einher geht eine Krise des marktradikalen Liberalismus.


Fakten

Ende 2009 werden in Europa 10 Millionen zusätzliche Arbeitslose bezeugen können, dass die Träume des ewigen Wohlstands per amerikanischem Kapitalismus beendet sind.

Im letzten Jahrzehnt - und je weniger weit zurückliegend, umso deutlicher - war privater Konsum extrem ungleich über die Erde verteilt. Grundlegender Motor der Weltwirtschaft war der stark steigende Konsum in den USA (und in einigen europäischen Ländern, die natürlich nicht die gleiche Bedeutung haben), während das Wachstum anderer Regionen stark exportabhängig war. Die großen Investitionen, etwa in China, dienten ebenfall zum Aufbau von Exportkapazitäten. Das internationale Ungleichgewicht im Konsum musste natürlich durch entsprechende Kapitalströme in die Gegenrichtung finanziert werden: Die US-Haushalte haben sich verschuldet, die Sparguthaben der restlichen Welt (und deren Dollar-Devisenreserven) haben das finanziert.

Die genauen Wirkungsmechanismen - Immobilienblase, Kreditboom und deren Ende - wurden an anderer Stelle beschrieben und brauchen nicht wiederholt zu werden. Es reicht zu sagen: zu einem bestimmten Zeitpunkt hat die Risikoneigung der Investoren gedreht, die Schulden der US-Haushalte wurden nicht mehr automatisch refinanziert, die Blase ist geplatzt. Das internationale Finanzsystem hat festgestellt, dass das Geld, das den US-Haushalten geborgt wurde, wohl nicht mehr vollständig zurückgezahlt werden kann. Die folgende Panik erklärt den Rest der aktuellen Bankenkrise.


Erste Schlussfolgerung:

Das Problem der aktuellen Wirtschaftskrise sind faule Kredite und die damit verbundenen Kapitalverluste. Das Problem ist auch eine Finanzmarktpanik, die die Refinanzierung von Schulden verunmöglicht. Beides kann früher oder später gelöst werden, auf Kosten der Steuerzahler, die die Banken auffangen müssen. Dabei ist aber auch ein völliger Zusammenbruch des Finanzsystems noch durchaus möglich. Eine durchaus denkbare Variante: Zahlungsbilanzkrise und Ausfall der Schulden in Rumänien, Russland, Ungarn und dem Baltikum, in der Folge der Zusammenbruch der österreichischen Banken und vielleicht der schwedischen (deren imperiale Osteuropa-Abenteuer immer noch als blendendes Geschäft gefeiert werden), und dann der Staatsbankrott in Wien (gemessen am BIP hat Österreich das größte Bankenhilfspaket der Welt, aber keine Chance die Garantien auch wirklich zu bezahlen - Island in den Alpen). Die folgende Panik wirft dann noch Griechenland und Italien über die Klippe, oder es bricht zuerst das englische Pfund zusammen, was einen Totalausfall der britischen Banken bringt. Und dann steht nicht mehr viel.

Präziser: der Zusammenbruch des Finanzsystems wäre eigentlich unvermeidbar, in Europa in ungefähr der oben beschriebenen Wirkungskette, wenn die Regierungen nicht massiv dagegen steuern würden. (Rumänien wird wahrscheinlich aufgefangen werden, weil Österreich mit dranhängt und damit die Stabilität des Euro.) Was bleibt, ist ein ungeheurer Berg staatlicher Verschuldung.


Zweite Schlussfolgerung:

Eine weitere Folge der Krise ist aber der Ausfall des amerikanischen Privatkonsums, um den sich die Weltwirtschaft seit Jahren gedreht hat. Der Weltwirtschaft fehlt ein entscheidender Motor und es gibt keine Antwort darauf, woher die zusätzliche Nachfrage kommen soll, die die jetzige Rezession wieder beendet. (Was natürlich auch die Probleme der Banken weiter verschärft.) Über längere Zeit wäre es möglich gewesen, dass billiges Geld, nach einem etwas kürzeren oder längeren Einbruch, eine neue Vermögenspreisblase bilden hätte können, als Stütze für weiteren kreditgestützten Konsum. Das wird zunehmend unwahrscheinlich, die Verluste sind zu groß. Falls diese Überlegung zutrifft, dann steht die Architektur der Weltwirtschaft tatsächlich vor einem radikalen Umbruch.


Ursachen:

Umbruch in welche Richtung? Damit wir dieser Frage näher kommen können, brauchen wir eine Erklärung für das zentrale Problem, die extrem ungleiche globale Verteilung des Konsums in den letzten Jahren. Die etwas gemäßigten Globalisierungskritiker, etwa Joseph Stieglitz, haben die Deregulierung des Bankensystems als Ursache erkannt. Das trifft sich ganz gut mit konservativen Kommentatoren, die die niedrigen US-Zinsen als Ursache sehen: Billiges Geld oder Deregulierung: entscheidend ist der Kreditexzess, der die Häuserpreise in die Höhe getrieben und den Privatkonsum aufgebläht hat. Das hat schließlich, so die Kommentatoren, gleich einem riesigen Pyramidenspiel die Sparguthaben der ganzen Welt inhaliert. Das ist sicher nicht falsch: Ohne die Deregulierung der Banken wäre eine Blase dieses Ausmaßes nicht möglich gewesen, der US-Konsum wäre früher eingebrochen und die Nebenwirkungen von Kreditausfällen und Finanzmarktpanik entsprechend geringer ausgefallen.

Aber diese Analyse geht dennoch am Kern der Sache vorbei. Normalerweise werden Menschen mit Versprechen von hohen Gewinnen in ein Pyramidenspiel gelockt. Anlagen in den USA haben allerdings erbärmliche Renditen abgeworfen, zumal in den letzten Jahren, in denen der Dollar zumeist an Wert verloren hat. Das geht soweit, dass die Schulden der USA im Ausland von 2001 bis 2007 zwar gestiegen sind, aber die von Amerikanern im Ausland gehaltenen Vermögen noch schneller an Wert gewonnen haben. Die Nettoverschuldung hat also gar nicht zugenommen - trotz eines Leistungsbilanzdefizits von zuletzt 6 Prozent des BIP! (2008 ist sicherlich das Gegenteil eingetreten, aber das war nach dem Ausbruch der Krise und kann somit nicht zur Erklärung dienen.)

Viele marxistische Analysen sehen eine Krise der Profitrate im Zentrum (etwa Sarah Wagenknecht, oder die Reste des Trotzkismus). Wegen dieser wäre das internationale Finanzkapital nicht mehr in der Lage gewesen, außerhalb der USA Anlagemöglichkeiten zu finden, aufgrund dessen hätte man den US-Konsumenten das Geld vorgeschossen. Es handle sich um eine Verwertungs- und Profitkrise, ausgelöst vom Fall der Profitrate und vom US-Konsumboom nur verschleiert. Das Gegenargument bleibt aber das gleiche: Wenn es nur um die Suche nach Profit geht, warum akzeptierte man dann in den USA schlechtere Renditen, als sie in vielen anderen Ländern zu holen waren?

Tatsächlich sind die bedeutendsten Kapitalflüsse in die USA nicht von privaten Akteuren getätigt worden (denen durchaus aufgefallen ist, dass man woanders mehr verdienen kann.) Das steht im Gegensatz zu den Jahren des New-Economy-Booms, wo der US-Aktienmarkt Glücksritter aus der ganzen Welt angelockt hat. Im neuen Jahrtausend waren es häufig Notenbanken, die ihre Devisenreserven gewaltig aufgeblasen haben. China sitzt auf der unglaublichen Summe von knapp 2 Billionen Dollar, aber auch eine ganze Reihe von anderen "Schwellenländern" (eigentlich alle bedeutenderen, mit Ausnahme von Osteuropa) verfügt über hohe Devisenreserven. (Und eine Zunahme der Dollarreserven bedeutet gleichzeitig Kapitalfluss in die USA).

Dabei geht es nicht um Rendite. Ohne die Bilanzen der chinesischen Zentralbank genau zu kennen, können wir davon ausgehen, dass sie beim Anhäufen von Devisenreserven und den in der Folge notwendigen Sterilisierungsoperationen (1) relativ viel Geld verliert - und nicht verdient. Warum also dieses Vorgehen?

Die Politik der chinesischen Nationalbank ist Ausdruck eines exportorientierten Entwicklungsmodells, das auf den amerikanischen Markt fixiert und daher an einer unterbewerteten Währung interessiert war, um die Ausfuhren billig zu halten (und daher beständig Dollar kaufen musste, um den Renminbi, die chinesische Währung, niedrig zu halten). Diese Politik ist auch Ausdruck einer gesunden Vorsicht: die gesamten 80er und 90er wurde die Peripherie von Finanzkrisen verheert. Thailand oder Indonesien wurden Anfang der 90er von Kapitalzuflüssen ersäuft, die Kredit- und Immobilienblasen ausgelöst haben. Die Zuflüsse drückten gleichzeitig die Währung nach oben, die Industrie war nicht mehr konkurrenzfähig und die Verschuldung in Fremdwährung stieg. Dann wurden die Investoren von Panik erfasst, die Kapitalflucht hat die Währung verfallen lassen und die heimische Wirtschaft brach unter der Last der in Dollar gezeichneten Schulden zusammen. Die Schlussfolgerungen der Regierungen: Ja keine überbewertete Währung zulassen, Devisenreserven können gar nicht zu hoch sein; hohe Sparquoten, wenig Konsum und staatliche Investitionen, um diese Politik abzustützen.

Mit Ausnahme Osteuropas (das hohe Auslandsverschuldung zugelassen hat) folgt die weltweite Peripherie seit der Asienkrise einer Entwicklungsstrategie, die dem Export Vorrang vor der Armutsbekämpfung und dem Binnenmarkt gibt und die damit natürlich auch im Interesse der heimischen Eliten war. Aus der Sicht der Oligarchie ist das eine durchaus vernünftige Überlebensstrategie im globalisierten Kapitalismus, die jetzige Finanzkrise hat in der Folge auch kaum zu großen Zahlungsbilanzkrisen in der Peripherie geführt (wieder mit Ausnahme Osteuropas). Aber eine Strategie, die davon abhängig ist, dass die USA die überschüssigen Sparguthaben aufnimmt und die Konsumlücke schließt.


Schlussfolgerungen:

Die tieferen Ursachen der Krise liegen teilweise bei den deregulierten Finanzmärkten, die zahlreichen Schwellenländern eine brutale Politik abverlangten und darin von den heimischen Eliten unterstützt wurden: Die Ärmsten mussten die Gürtel enger schnallen, damit man das Geld den Reichsten borgen konnte.

Die tieferen Ursachen der Finanzkrise liegen aber vor allem in der völlig auf die USA zentrierten internationalen Architektur. Der Dollar als Weltgeld, die USA als "buyer of last resort", die gigantischen amerikanischen Schuldenberge, die die längste Zeit praktisch gratis angehäuft werden konnten und auch heute mit einem Federstrich entwertet werden könnten (oder durch die Druckerpresse beglichen). Die USA sind nicht mehr in der Lage, diese Funktion der Weltwirtschaft zu erfüllen. Wenn Südkorea seine Währung niedrig hält, um in die USA zu verkaufen, dann ist das eine Sache. Tun das aber alle, dann werden die Schulden einmal zu hoch sein. Dieser Zeitpunkt war der Sommer 2007. Die "Subprime-Krise" ist die Konkurserklärung des US-Konsumenten.


Geopolitik, Imperium und Krieg

Mittelfristig steht die Hegemonialposition der USA unter gewaltigem Druck. Nach dem 2. Weltkrieg war sie die Fabrik der Welt und erwirtschaftete die Hälfte des globalen BIP. In den 70er Jahren war diese Position geschwächt, aber der Umbau des weltweiten Finanzsystems ermöglichte die billige Verschuldung - bis heute. In den 90er Jahren wurde die wirtschaftliche Vormachtstellung der USA dann ins Imaginäre verschoben: man wurde zur Kapitale des New-Economy Booms, der aus ein bisschen Internet und sehr viel Halluzination bestand. Im neuen Jahrtausend bestand die wirtschaftliche Macht der USA schließlich in der Fähigkeit sich zu verschulden und Sachen zu konsumieren. Das geht jetzt auch nicht mehr. Die Hegemonialposition steht unter Druck, aber deswegen muss sie noch nicht fallen.

Mit Imperien ist das so eine Sache: Will man den Imperator stürzen, dann braucht man eine glaubhafte Alternative, einen Thronfolger oder eine Koalition selbiger. Die ist weit und breit nicht in Sicht. Der EU fehlt eine Führung, die Finanzkrise könnte sogar den Euro zum Einsturz bringen. Deutschland ist Exportweltmeister in einer Zeit, wo niemand diese Exporte kaufen will, und im Übrigen nicht in der Lage, den heimischen Privatkonsum zu entwickeln. Kurz: Deutschland ist im Arsch, der Euro in Problemen. Wer soll dann die Leitwährungsstellung des Dollars übernehmen? China? Russland? Die internationale Oligarchie soll die KP-Chinas als neue Führungsmacht akzeptieren? Oder China den globalen Kapitalismus stürzen, nachdem man sich diesem in die Arme geworfen hat?

Im Augenblick kämpfen alle potentiellen Konkurrenten der USA mit gewaltigen Problemen: China ist vom US-Markt abhängig, Russland vom Ölpreis. Selbst diejenigen, die ernsthaft das Imperium verlassen wollen, bemerken ihre fortgesetzte Abhängigkeit: Trotz aller Versuche sich von der Ölabhängigkeit zu lösen, benötigt Venezuela (mit den gegenwärtigen staatlichen Ausgaben) einen Ölpreis von 80 Dollar, um seine Zahlungsbilanz im Gleichgewicht zu halten.

Kurz: weder wird das Imperium in kurzer Zeit zerbrechen, noch der Imperator demnächst gestürzt werden, weil die Oligarchie der ganzen Welt daran gekettet ist und sich anderes nicht einmal vorstellen kann. Zu Umbauten wird es kommen müssen. Vielleicht akzeptiert die USA eine etwas abgeschwächte Vormachtstellung. Vielleicht geht sie auch zu einer extrem aggressiven Strategie über und löst eine Konfrontation mit Russland aus, um alle Satrapen auf Linie zu bringen. Mit Sicherheit kann man davon ausgehen, dass die USA die Kriegskarte auch in den kommenden Jahren spielen werden. Sie ist das letzte große Ass.


Markt und Politik

In der ganzen Welt werden im Augenblick die Vorzüge der sozialen Marktwirtschaft gepriesen. Bis Anfang Oktober wollte in der Bundesrepublik niemand das Wort "Konjunkturprogramm" in den Mund nehmen, jetzt steht die Kanzlerin massiv unter Druck, weil die staatlichen Konjunkturhilfen großzügiger zu gestalten seien. Der Marktradikalismus ist in der Defensive. Russland geht einen weiteren Schritt in Richtung des chinesischen Weges eines staatlich gelenkten Kapitalismus. Einziges Problem: So etwas funktioniert heute nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. Entweder Devisenverkehrskontrollen (und Handelsschranken in der Hinterhand), staatliche Banken und staatliche Investitionslenkung - oder frei konvertierbare Währung, private Geschäftsbanken und private Investitionsentscheidungen.

Die internationalen Kapitalflüsse sind wie ein Wildwasser: Wirft man einzelne Felsbrocken hinein, bekommt man nur zusätzliche Stromschnellen. Will man den Wahnsinn kontrollieren, dann braucht es eine Staumauer: Je moderner eine Wirtschaft, je höher der Anteil des Außenhandels, um so eher trifft das zu, umso stabiler und höher muss die Mauer sein, um nicht weggerissen zu werden. Es dürfte wenig wahrscheinlich sein, dass Europa dem chinesischen Weg folgt. Und alles andere ist wirkungslose Kosmetik, ein paar Steine in einem Gebirgsfluss.


Staatsschulden

Im Unterschied zur Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre wurde weltweit tatsächlich auf den Konjunktureinbruch reagiert. Die Staatsschulden werden massiv ausgeweitet, um die Nachfrage zu stabilisieren und die Banken zu retten. Allerdings stößt auch diese Politik an Grenzen: Die Bankenrettung kostet bereits Unsummen. Die Peripherie kann nur bedingt expansive Politik betreiben: sollten sich höhere Leistungsbilanzdefizite einstellen, geraten (gerade in der Finanzkrise) die Investoren ob des Währungskurses in Panik, verlassen das Land und lösen eine Zahlungsbilanzkrise aus. Dann muss man beim IWF vorstellig werden und der verordnet wie üblich das Gegenteil: höhere Zinsen, sinkende Staatsausgaben, Sozialabbau - siehe Ungarn. Der US-Staat kann sich gewaltig zusätzlich verschulden, seine Nachfrageimpulse verpuffen allerdings, wenn sie nicht auch vom Privatkonsum aufgenommen werden. Und die US-Haushalte haben erst letztes Jahr festgestellt, dass sie überschuldet sind (bis dahin hatten sie geglaubt, dass der Wert des Hauses die Schulden aufwiegt), es ist also zweifelhaft, ob sie auf Einkauftour gehen.

Auch Europa sind im Bereich der Schuldenausweitung Grenzen gesetzt. In vielen Ländern sind die Staatsschulden schon so hoch, dass etwa Italien und Griechenland bereits hohe Risikoprämien zahlen müssen. Und in jedem Fall regiert immer noch, vor allem in Europa, das Dogma der Geldwertstabilität. Bis jetzt wird es kaum angedacht, die höheren Staatsausgaben einfach von der EZB finanzieren zu lassen. Das käme einer schleichenden Enteignung der Halter der Schuldentitel gleich. Da ist man eher für die Enteignung der Steuerzahler, die mittelfristig für den gestiegenen Schuldenstand aufkommen müssen, durch höhere Steuern oder niedrigere Staatsausgaben.


Hauptszenario

Wir bekommen nicht unbedingt die große Weltwirtschaftskrise, aber zumindest eine ganze Periode sehr schwachen Wachstums und möglicherweise wiederkehrender Rezessionen. Die US-Hegemonie ist schwer angeschlagen, aber auf der anderen Seite hat die internationale Oligarchie letztlich keine Alternative und die USA werden zur Absicherung ihrer Position immer wieder die Kriegstrommeln rühren. Die Marktideologie ist ebenso angeschlagen, den Schritt zur staatlich gelenkten Wirtschaft will das Zentrum des Imperiums aber nicht gehen.

Der Staat unterstützt die Nachfrage, bekommt früher oder später aber Probleme mit der Überschuldung. Die Notenbanken senken die Zinsen, werden eine deflationäre Grundstimmung aber nicht verhindern können, weil sie vor den entscheidenden Schritten - Finanzierung der Staatsschulden - zurückschrecken. Die globalen Ungleichgewichte des Konsums werden abgebaut (allein deswegen, weil die USA einfach weniger konsumieren), aber nicht nachhaltig, weil sich die mexikanische, chinesische oder indonesische Oligarchie letztlich keine Abkehr vom exportgestützten Entwicklungsmodell wünscht und Deutschland wohl dazu nicht in der Lage sein wird.

Kurz: nachdem sich die Regierungen jetzt eine zeitlang als Krisenmanager profilieren können und große Reden schwingen (von sozialer Marktwirtschaft und gierigen Bankern), wird sich in einiger Zeit der Eindruck festigen, dass angesichts der Probleme nichts unternommen wird - weil sich tatsächlich nichts ändert. Während dessen werden die Illusionen in die Kraft des Marktes - und auch des Kapitalismus - zu bröckeln beginnen. In den letzten Jahren hatte sich die Mentalität des reich werden durch Spekulationsgewinne bis tief in die Mitteschicht ausgebreitet. Das wird zurückgehen, während die Opfer der Fremdwährungskredite ihre Wunden lecken. Das ist das Rezept einer Hegemoniekrise: die Oligarchie ist in Problemen, weiß aber nicht weiter. Eine vernünftige Lösung würde die Aufgabe ihrer Pfründe bedeuten: ein Ende der Globalisierung schmälert die Profite, eine Abkehr von der Geldwertstabilität ruiniert das Finanzkapital. Solange irgend möglich, wird man sich echten Lösungen verschließen.

Solange irgend möglich: kann sein, dass das irgendwann nicht mehr möglich ist, abhängig von der Tiefe der Krise. Kann sein, Globalisierung und Freihandel brechen auseinander. Die USA wäre in der Lage den gordischen Knoten mit einer Art faschistischen Staatsintervention zu zerschlagen. Sie könnte die Kontrolle über die strategischen Sektoren der Wirtschaft dem Staat übertragen, die Konvertibilität des Dollars aussetzen oder Handelsbarrieren errichten und versuchen, die Welt durch den Einsatz extremer Gewalt weiter zu beherrschen. Noch steht das aber nicht auf der Tagesordnung, der Hauptfeind bleibt daher der Liberalismus. Komme was wolle: Der Spielraum der Antikapitalisten wird in den nächsten Jahren größer werden.


Anmerkung
(1) Sterilisierungsoperationen: Um den Kurs des chinesischen Renminbi gegenüber dem Dollar niedrig zu halten, kauft die chinesische Notenbank Dollar und verkauft Renminbi. Die Dollar werden dann in den USA investiert (die Devisenreserven wachsen), aber auf der anderen Seite wächst die Menge an im Umlauf befindlichen Renminbi. Die wachsende Geldmenge wird Inflation erzeugen (das ist etwa in Russland passiert), um diese zu verhindern müssen die zusätzlichen Renminbi wieder aus dem Umlauf genommen werden (die zusätzliche Geldmenge wird "sterilisiert"). Etwa in dem die Notenbank Anleihen verkauft, sich also praktisch das Geld wieder zurückborgt - dafür sind natürlich Zinsen fällig. Wenn die Zinsen, die die Notenbank für ihre Devisenreserven erhält, nicht höher sind, dann wird sie insgesamt Geld verlieren, vor allem, wenn der Dollar noch zusätzlich abwertet, was in den letzten Jahren ja geschehen ist.

Raute

SCHWERPUNKT: KRISE

Schluss mit dem System der Diebe und Räuber

Alternativen zur aktuellen Krise des Kapitalismus

Von der Antiimperialistischen Koordination


Die Oligarchie hat die Weltwirtschaft mit vollem Karacho gegen die Wand gefahren. Innerhalb von einem Jahr müssen wir zumindest mit 10 Millionen zusätzlichen Arbeitslosen in Europa rechnen. Falls die Banken nicht völlig zusammenbrechen, in diesem Fall wird es noch schlimmer.

Dabei könnte man nicht behaupten, dass die Weltwirtschaft vor der Finanzkrise funktioniert hat. Etwa 1,4 Milliarden Beschäftigte mussten mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen. Mit Familien ist das praktisch die halbe Menschheit. Für weniger als zwei Dollar gibt es keine ausgewogene Ernährung - die halbe Menschheit kann also nicht ordentlich essen. Für die Ärmsten geht es sich gar nicht mehr aus, die verhungern. Je nachdem, wie man die Toten zählt, wie viele der an Krankheiten Erlegenen man dem Hunger zurechnet, wären das zwischen 6 und 40 Millionen Menschen im Jahr. In den USA brauchen heute über 30 Millionen Menschen Lebensmittelhilfe. Jeder Zehnte. Vor der Finanzkrise waren es weniger, aber auch nicht wenige. Jeder Zwölfte.

Mit den Worten von Deng Xiaoping: "Einige werden zuerst reich, die anderen später" hat die Oligarchie der Welt versprochen, dass die Segnungen des globalen Kapitalismus allen zugute kommen würden. Jetzt kann man umformulieren: "Die meisten waren schon immer arm, die anderen werden bald folgen." Die Oligarchie, die die Erträge des Wirtschaftswachstums der letzten Jahre allein eingesackt hat, können wir aber beruhigen: Einige werden weiterhin reich bleiben.

Gleichzeitig hat der Kapitalismus die Welt auf einen Entwicklungspfad geschickt, der mittelfristig in die totale Katastrophe führt: Treibhauseffekt, Ressourcenverbrauch, die Probleme der Nahrungsmittelproduktion... Das sind Auswirkungen eines Modells des Wachstums um jeden Preis, Wachstum, das wenigen zu gute kommt und die Lebensgrundlagen aller zerschlägt.

Wir brauchen jetzt Antworten auf die Krise. Antworten auf die Finanzkrise, die es der Welt erlauben, sich aus dem unmittelbaren Schlammassel wieder herauszuziehen. Aber das reicht nicht. Die Finanzkrise hat ein ganzes Modell des Kapitalismus zerstört, den Glauben, dass der globale und deregulierte Markt unter Führung der USA die zentralen Probleme der Menschheit lösen könne. Eine Lösung der aktuellen Krise darf nicht bedeuten, dass man zum Elend der Situation davor zurückkehrt. Die Antworten auf die Krise müssen so konkret wie möglich sein. Es gilt eine Alternative zu entwickeln, die an den aktuellen Problemen ansetzt, aber darüber hinausgeht. Sonst geht alles wieder von vorne los.


1. Staatliche Kontrolle über das Bankwesen

Das ist sogar in bester liberaler Tradition: Wer Pleite macht, hat sein Eigentum verwirkt. Der Finanzsektor kann nur mit staatlichen Hilfen überleben, in der Folge muss er der Allgemeinheit gehören. Die jetzigen Bankenhilfspakete dienen dazu, die Verluste der internationalen Finanzkonzerne auf die Steuerzahler abzuwälzen, während man sich die zuvor angehäuften Gewinne natürlich bereitwillig eingesteckt hat. Ein Bankenhilfspaket wie das österreichische, wo die extremen Risiken, die die Bankenlenker in Osteuropa eingegangen sind, damit belohnt werden, dass ihnen noch einmal Unsummen in den Hintern geschoben werden, ist zu bekämpfen. (Zum Größenvergleich: Jährliche Einnahmen durch die Studiengebühren: 250 Millionen. Umfang des Bankenpakets: 100.000 Millionen.) Der Zusammenbruch der Banken ist keine Alternative, die Verstaatlichung sehr wohl.

Hier stellt sich aber die Frage: Banken wofür? Neue Kredite, damit Hedge-Fonds mit Lebensmitteln spekulieren können? Neue Kredite, um wieder mehr Autos zu kaufen? Natürlich kann man die Beschäftigten bei Opel nicht hängen lassen, aber ist es tatsächlich sinnvoll, die Verwerfungen der vollmotorisierten Gesellschaft am Tropf staatlicher Beihilfen überleben zu lassen? Die Auto-Stadt, vor der die Menschen in das Stadtumland flüchten und erst recht an das Auto gekettet sind? Die Klimakatastrophe? Die Verschwendung des Öls? Daher:


2. Investitionslenkung nach politischen Kriterien:

Heute fließen Kapital und Ressourcen nach Profiterwägungen, aber auch nach dem Einfluss, den unterschiedliche Gruppen der Oligarchie nehmen können. Dass das keine optimalen Resultate bringt ist jetzt offensichtlich.

Investitionen (und die dafür benötigten Kredite) müssen nach politischen Prioritäten fließen, die von einer breiten Mehrheit diskutiert und festgelegt werden und die dieser Mehrheit dienen. Ansatzpunkte dafür werden heute entwickelt - in Lateinamerika etwa entstehen Modelle partizipativer Demokratie oder einer Volksmacht. Es gibt Überlegungen zur Demokratisierung der Medien, der Produktion oder der Bildung.

Einige Knotenpunkte der Wirtschaft müssen verstaatlicht, Kredite an gesellschaftliche Auflagen gebunden und Kreditzinsen nicht nur nach Kreditwürdigkeit, sondern auch nach der Bedeutung der Investition festgelegt werden. Das bedeutet nicht automatisch ein Ende des Marktes (auch wenn das der Debatte offen steht), wohl aber dessen Zügelung. "Gezügelt" ist der Markt im jetzigen System übrigens genauso, nur nicht nach den Kriterien der Mehrheit, sondern nach den politischen Interessen jener, die heute die Macht monopolisieren. Wenn etwas schief geht, stehen die großen Manager, die Apologeten der Deregulierung und die "der Staat kann nicht wirtschaften"-Theoretiker vor dem Finanzamt und halten die Hand auf. Die jetzige Marktideologie ist nur die Fassade der reinen Raffgier.


3. Die Schulden zahlen wir nicht:

Die Überwindung der jetzigen Krise wird große Teile des staatlichen Budgets verschlingen. Auch wenn die Rettungspakete nicht in den Taschen der Banken und Oligarchen verschwinden, ein solches Ergebnis ist unausweichlich. Und wer staatliche Stützmaßnahmen verweigert (wie die deutsche Bundesregierung) wird das Defizit per Steuerausfall geliefert bekommen. Mit ein paar Jahren Verspätung werden dann die Propheten der Sparsamkeit und des "Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt" wieder die Bühne betreten, es folgt neuer Sozialabbau. Es sei daher festgestellt: "Wir" leben keineswegs über unseren Verhältnissen. Der Staat bezahlt die Exzesse des Bankkapitals - und die Zinsen für die Staatsschulden stecken sich dann wiederum die Spitzen der Bourgeoisie ein, die Vermögenden, die dem Staat das Geld vorstrecken. Es ist unerhört, dass die Allgemeinheit den Crash der Reichen bezahlen muss, während deren Vermögen weiterhin geschützt wird. Diese Schulden bezahlen wir nicht.

Die sauberste Möglichkeit ist das einfache Streichen eines Teils der Staatsschuld, mit Ausgleich für die kleinen Sparer aber unter Enteignung der Superreichen, die die meisten Staatsanleihen halten. Wenn das zuviel Aufregung verursacht, kann man die Staatsschulden von der Notenbank finanzieren lassen (das Geld für die Staatsausgaben also praktisch mit der Notenpresse drucken) - eventuelle höhere Inflation muss selbstverständlich durch zusätzliche Lohn- und Rentenerhöhung ausgeglichen werden.


4. Neue Ordnung der internationalen Finanz- und Währungsmärkte:

Nach den Finanzkrisen der letzten drei Jahrzehnte (von der Verschuldungskrise Anfang der 80er über die gigantischen Verwerfungen in Lateinamerika, Asien und Russland in den 90er Jahren zum aktuellen Super-GAU) ist es offensichtlich, dass die internationalen Finanzmärkte in dieser Form nicht funktionieren. Notwendig ist zumindest ein Verbot kurzfristiger Kredite, ein Verbot von Verschuldung in Fremdwährung, ein Verbot kurzfristiger Portfolioinvestitionen wie Aktienspekulation.

IWF und Weltbank in ihrer jetzigen Form müssen als Instrumente imperialer Herrschaft geschlossen werden. Was wir benötigen ist ein internationaler Währungsfonds des Volkes, mit Stimmgewichten nach Bevölkerungszahl. Dieser soll der Stabilisierung von Wechselkursen dienen, aber auch dem Ressourcentransfer in die ärmsten Teile der Welt. Teils finanziert aus den Leistungsbilanzüberschüssen des Welthandels, soll er gleichzeitig dazu dienen die einseitige Exportorientierung vieler Länder abzubauen. Demokratische Kontrolle und politisches Eingreifen müssen auch global möglich sein.


5. Ein neues Entwicklungsmodell:

Dank der jetzigen einseitigen Orientierung auf Wachstum und Rendite, kommt die Rendite einer kleinen Minderheit zugute, ermöglicht das Wachstum keine menschliche Entwicklung mehr. Wir benötigen eine Orientierung auf Beschäftigung, sozialen Ausgleich, die Verkürzung der Arbeitszeit und die ökologische Tragfähigkeit der Erde. Eine Wiederbelebung regionaler Wirtschaftskreisläufe und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. In einigen Bereichen benötigen wir eine Deglobalisierung, denn der totale Freihandel dient in erster Linie den Interessen der Oligarchie.

Wir benötigen eine Kulturrevolution, weg von der Kultur des Konsums und der Vergottung des Geldes. Weg von der Kultur des totalen Individualismus. Nicht dass die Mehrheit in Österreich oder Deutschland "zuviel" hätte, aber die Mythen des Reichtums sind das ideologisch-religiöse Bindemittel zu den Spitzen der Bourgeoisie - die tatsächlich zuviel haben und einer vernünftigen Lösung der Krise im Wege stehen.


6. Gegen die Oligarchie:

Wir dürfen uns keinerlei Illusion machen, dass eine Lösung der aktuellen Probleme in Zusammenarbeit mit der globalisierten Oligarchie und ihrem Staat erfolgen kann. Dass die Krise den Weltenlenkern die Augen öffnet. Dass bei irgendeinem G8-Gipfel ein "sozialer Kapitalismus" geboren wird. Diese Leute sind mit tausend Ketten an das aktuelle Entwicklungsmodell gebunden. Die Chancen stehen gut, dass die Krise nicht zur Umkehr führt, sondern zur Radikalisierung, zur Verteidigung des Bestehenden mit Zähnen und Klauen, mit Flugzeugträgern und taktischen Atomwaffen.

Eine Lösung der Probleme erhalten wir nur gegen die Oligarchie. Wir benötigen eine Wirtschaft nach den Interessen der Mehrheit und einen Staat, der aktiv von dieser gestaltet wird.

Raute

SCHWERPUNKT: KRISE

Katharsis

Die Krise als Chance

Von Wilhelm Langthaler


Über Jahrzehnte erklärten uns die Prediger des Marktes, dass das Eingreifen des Staates dem Gemeinwohl abträglich sei. Nun holen sie sich von demselben Staat Milliarden - selbstverständlich abermals im Dienste der Allgemeinheit.

Tatsächlich ist es schlüssig, dass die Krise des Kapitalismus nur durch massive staatliche Unterstützung des Kapitals überwunden werden kann. Selbst die historische Linke ist daher geneigt, angesichts des zu erwartenden sozialen Niedergangs der Subalternen, den Krisenpaketen mehr oder weniger zähneknirschend zuzustimmen. Gibt es denn wirklich keine Alternative?


Ende des Casino-Kapitalismus

Die Expansion des globalen Kapitalismus nach 1989/91 war eine der längsten Aufstiegsphasen des Kapitalismus überhaupt. Seine politische Sogwirkung versetzte der darniederliegenden Arbeiterbewegung nicht nur den letzten Stoß, sondern ließ neben sich auch keinerlei ideologischen Platz für eine Alternative. Nur an der Peripherie überlebte der Widerstand, der dennoch über ein Jahrzehnt brauchte, um sich wieder als Massenbewegungen zu formieren - zudem in einer partikularistisch-kulturalistischen Form.

Im Westen blieb es im Wesentlichen ruhig, so ruhig wie kaum jemals zuvor seit Entstehung des Kapitalismus. Die "freie Marktwirtschaft" versprach in beispielloser Weise Reichtum ohne Arbeit. Vor dem Zweiten Weltkrieg war es noch die kleine Elite der verpönten Couponschneider an der Börse gewesen, die von Kapitalrenditen zu leben vermochte. Niemand hatte sie in ihrer Dekadenz besser dargestellt als der Karikaturist George Grosz. Doch die liberale Spaßgesellschaft entkleidete den Kapitalertrag und die Spekulation ihrer Anrüchigkeit. Sie wurden dem breiten Mittelstand zum festen Stand- oder zumindest Spielbein und mittels der Pensionsfonds selbst den Arbeitern verkauft. Die dominanten Mittelschichten des Westens und vor allem der USA verfielen in einen nicht enden wollenden Konsumrausch, während bedeutende Teile der kapitalistischen Peripherie ihre Hoffnung darauf setzten, die dazu notwendigen Waren produzieren zu können (Phänomen China). Der Milliarden zählende Rest durfte getrost mit dem Hinweis krepieren, dass der Freihandel sie nach einer gewissen Zeit schon mit hinauf zöge.

Die Blase ist unerwartet geplatzt. Ungläubig muss man feststellen, dass der Drogenrausch wider allen Versprechungen weder gratis noch frei von Nebenwirkungen ist. Die alte Regel, dass der Kater auf den Fuß folgt, erweist sich als stärker als der Glaube an den heilsbringenden Endsieg des Kapitalismus. Noch schwadronieren diverse Zweckoptimisten, Analysten und Propagandisten von einer vorübergehenden Anpassung und anschließenden baldigen Erholung, doch ihre Argumente wirken schal. Sie zehren vom politischen Kredit des vergangenen Booms. Selbst die Eliten vermögen ihre Skepsis nicht mehr zu verbergen und getrauen sich einen historisch tiefen Fall nicht mehr auszuschließen. Welch Katzenjammer nach nicht einmal zwanzig Jahren des Endes der Geschichte.

Es ist nicht nur so, dass die als überwunden deklarierte Zyklizität des Kapitalismus wieder einmal zuschlägt. In der zyklischen Abwärtsbewegung drückt sich auch ein altes strukturelles Problem des Kapitalismus aus, wie es die marxistische Bewegung immer wieder konstatiert hat. Der zur Aufrechterhaltung der Entwicklungsdynamik notwendige Konsum hält mit der Ausweitung der Produktivkapazitäten nicht Schritt. Oder anders gesagt, die systemimmanente Konzentration des Reichtums erdrosselt den Massenkonsum. Es bestätigt sich an der Realität, was der sozialistischen Opposition seit Einsatz des Kapitalismus über weite Strecken Gewissheit war. Der Kapitalismus schafft keine homogene Entwicklung sondern verschärft Ungleichheiten und Widersprüche, die letztlich nur in kriegerischen Katastrophen aufgelöst werden können.

Aber so weit ist das Massenbewusstsein noch nicht. Noch stehen wir am Anfang der Krise und man wartet die Wirkung der Krisenpakete ab. Greifen sie nicht - eine Annahme, für die es starke Indizien gibt -, dann könnte die jahrzehntelange politische Stabilität der kapitalistischen Zentren brüchig werden.


Rettungspakete ablehnen!

Schlägt die Krise in aller Härte zu, dann sind die Opfer die Unter- und Mittelschichten. Die Eliten werden alles daran setzen, die Krise auf dem Rücken der Mehrheit zu lösen. Das ist nicht nur Bösartigkeit, es folgt der inneren Logik des Systems. Es gibt genügend historische Präzedenzfälle, die das zu belegen vermögen.

Unsere Aufgabe besteht darin, genau diese Krisenlösung auf dem Rücken der Mehrheit zu verhindern, dagegen anzukämpfen. Dabei stößt man aber auf Schritt und Tritt gegen die Logik des Systems. Um den wirtschaftlichen Zyklus wieder in Gang zu setzen, braucht das Kapital zusätzliche Mittel, die es vom Staat fordert, der es wiederum von der Mittel- und Unterschicht nimmt, nur von dort nehmen kann. Mag das Kapital staatliche Programme zur Förderung des Konsums mittels Staatsschuld heute noch befürworten, so führen letztlich alle Maßnahmen zur Umverteilung zugunsten des Kapitals (wenn auch zeitversetzt) zur Kontraktion des Massenkonsums. Denn die Schulden müssen bedient und schließlich auch getilgt werden. So verschieden die Rezepte dafür sein mögen, alle bedeuten sie letztlich Schweiß und Tränen für die Subalternen.

Wir müssen den Mut haben, nein zu sagen. Keine Geschenke an die Eliten, die die volle Verantwortung für die Krise tragen! Die Botschaft muss sein: Wenn die Oligarchie nicht fähig ist, die Krise im Interesse der Mehrheit zu lösen, dann muss sie die Zügel abgeben. Die einzige Lösung liegt im Bruch mit der Logik des Kapitals. Rettungspakete ja, aber die Verfügungsgewalt über Finanz- und Industriekapital muss jenen übertragen werden, die dieses erhalten, nämlich die arbeitende Mehrheit.


Interessen der Mehrheit?

Zugegebenermaßen gibt es ein Problem mit dem Begriff "Interessen der Mehrheit", der bereits eine bewusste Abschlankung zu prätentiösen Kategorien wie "Arbeiterklasse" darstellt, denn es gibt eine sehr starke Strömung, die die Interessen der Mehrheit in der Verwirklichung des Konsum- und Lebensmodells der US-Mittelschicht sieht. Aber dazu sagen wir nein! Das sind nicht die Interessen, für die wir kämpfen. Die Krise muss auch dazu genutzt werden nicht nur die Unmöglichkeit dieses Modells zu zeigen, sondern auch mit der Idiotie des Konsumismus zu brechen. Denn Herz jedes gerechten Systems ist der soziale Ausgleich nicht nur innerhalb einer Nation, sondern vor allem zwischen Zentrum und Peripherie, der vom Westen jedenfalls Einschränkungen fordert.

Wir müssen die Krise als Chance nutzen, denn eines ist klar: Ohne eine alles erschütternde Krise kann das herrschende System des kapitalistischen Imperialismus nicht gestürzt werden. Da geht es nicht nur um die Erschütterung der Macht der Oligarchie, sondern vor allem auch um die Transformation der Interessen der Mehrheit. Marx fasste das in der Idee zusammen, dass die Revolution nicht nur zum Sturz der herrschenden Klasse diene, sondern auch zur Befähigung der unterdrückten Klasse, sich zur Herrschaft aufzuschwingen. Man muss die Krise als notwendige Katharsis verstehen und die in ihr liegenden politischen Chancen zur Vorbereitung einer emanzipierten Gesellschaft nutzen.


Ultima ratio Neokeynesianismus?

Wie reagieren nun die Eliten? Urplötzlich handeln sie ihrer eigenen marktradikalen Ideologie zuwider, schwadronieren von der sozialen Marktwirtschaft und genieren sich dabei nicht, hunderte wenn nicht tausende Milliarden an Geschenken vom Staat einzustreifen. Diese sogenannten Hilfspakete werden natürlich im Namen des Gemeinwohls in Anspruch genommen, während zuvor Bruchteile von Milliarden für Sozialausgaben für die Unter- und Mittelschichten als ruinös etc. wütend bekämpft wurden.

Das bestätigt ein weiteres Mal unsere Einschätzung, dass es bei der Marktreligion nicht darum ging den Staat an sich zu schwächen, sondern nur jeglicher Form des sozialen Ausgleichs einen Riegel vorzuschieben. Wenn behauptet wurde, die globalisierte Ökonomie sei zum Selbstläufer geworden, die der Staat nicht zähmen könne, so war das nur Teil der Wahrheit, vielmehr im Kern eine Lüge. Tatsächlich wurden die kleinen Staaten und vor allem jene der Peripherie vom Zentrum entmachtet, aber das Zentrum, allen voran die USA und ihr globales Bündnissystem, behielt die Zügel fest im Griff. Allein der permanente Präventivkrieg der USA nach 9/11 sollte das belegt haben.

Die Milliardenhilfen an die Oligarchie, das massive Eingreifen des Staates kann man im Sinne des Kapitalismus als durchaus vernünftig bezeichnen. Es gibt allerdings ein ideologisches Problem, nämlich die Abruptheit der Kehrtwende. Diese eröffnet die Chance, die Verlogenheit der Eliten zu zeigen. Zudem drängt sich die Frage auf: Wenn nun politisch-staatliches Eingreifen wieder möglich wird, warum darf das dann nur im Sinne des Kapitals geschehen? Der Nebelwerfer "Sachzwang Markt" verliert seine Kraft.

Indes können sich die Reste der historischen Linken - sowohl in ihrer institutionellen als auch in ihrer außerparlamentarischen Form - bestätigt fühlen. Seit Jahrzehnten predigen sie die Rückkehr zum Keynesianismus. Der einzige Unterschied zum Mainstream besteht daran, dass sie einfordern, dass nicht nur das Kapital Geschenke erhält, sondern dass auch die Massenkaufkraft gestärkt wird - was von den Eliten in der gegenwärtigen Phase nicht grundsätzlich abgelehnt wird. Es geht im Wesentlichen um Ausmaß und Gewichtung. Für beide geht es darum, den kapitalistischen Zyklus von den sich gegenseitig aufschaukelnden Momenten Angebot und Nachfrage wieder in Gang zu bringen, die einen mehr auf der einen, die anderen mehr auf der anderen Seite.


Deglobalisierung

Viel wichtiger als diese scheinbare Unterscheidung zwischen links und rechts im Rahmen des Kapitalismus ist ein Konflikt, der noch nicht an die Oberfläche gedrungen ist. Solange es um direkte Geldgeschenke oder Garantien für Banken und Unternehmen geht, können diese noch national treffsicher durchgeführt werden. (Bei Opel kündigt sich aber schon das Problem an, dass das Geld direkt zur Konzernmutter in die USA wandert.) Es ist dem wirtschaftpolitischen Mainstream aber klar, dass auch Nachfragestimuli benötigt werden. In der globalisierten Wirtschaft versickern diese jedoch, sofern es sich um nationalstaatliche Maßnahmen handelt (für andere gibt es eigentlich keinen institutionellen Rahmen) am Weltmarkt und haben sozial und letztlich damit auch politisch auf die Nation, die sie durchführt, kaum Wirkung. Früher oder später wird sich daher die Frage stellen, ob die Globalisierung in Form des Freihandelsregimes zu halten ist. Die USA zeigen es teilweise vor, dass die Liberalisierung in erster Linie einmal für die anderen gilt.

Aber hier besteht auch eine große Chance für die antisystemischen Kräfte. Der Nationalstaat bietet am ehesten den Rahmen, in dem die Souveränität des Volkes auch über die Wirtschaft eingefordert werden kann. Jedenfalls ist der Weltmarkt eine viel blindere Macht als der Nationalstaat. Die demokratische Kontrolle der Nationalstaaten sind der Ansatzpunkt, um die Wirtschaft - und damit auch die Weltwirtschaft - nach den Interessen der Mehrheit zu gestalten.


Systemalternative

Wie lautet nun unser Vorschlag einer Systemalternative? Eine Sache ist überdeutlich geworden: Der Markt als fremdes, den Menschen äußerliches Wesen, quasi als moderner Gottesersatz, hat als Regulationsprinzip versagt. (Ganz abgesehen davon, dass hinter dem Markt sich dennoch Interessen von Menschen verstecken, nämlich der kapitalistischen Eliten, die sich mittels der Marktmystik gegen den politischen Eingriff der Massen zu panzern versuchen.) Politik als bewusstes Eingreifen der Menschen zur Gestaltung der Gesellschaft einschließlich der Wirtschaft muss rehabilitiert werden. Das heißt, der Staat als politische Organisation der Gesellschaft ist aufgerufen zu handeln. Doch damit ist noch keineswegs geklärt, was soll er tun soll und in wessen Interesse?

Die Krise des Kapitalismus ist zuerst im Finanzsystem virulent geworden. Ein Eingreifen bei den Banken um die Kreditvergabe, oder allgemeiner ausgedrückt, die Ressourcenallokation, im Fluss zu halten, muss schlicht bedeuten, dass der Staat die Verfügungsgewalt über das Finanzwesen etabliert. Die Banken gehören in die Hand des Staates, sie müssen im Allgemeininteresse handeln.

Das Bankensystem sind die Blutgefäße, der Kredit das Blut des Kapitalismus. Sie müssen als Hebel zur Umgestaltung im Sinne der Interessen der Mehrheit benutzt werden. Kredite müssen so vergeben werden, dass damit für die Mehrheit sinnvolle Leistungen erbracht werden. Also beispielsweise keine Rettung der Autoindustrie, sondern Umgestaltung der Mobilitätsstruktur vom Auto auf den öffentlichen Verkehr. Nach diesem Modell soll die Wirtschaft in Richtung (globaler) sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit umgestaltet werden. Letztendlich geht es um Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung für die Mehrheit.

Die Konsequenzen eines solchen Schrittes können größer gar nicht sein, denn Finanzkapital ist Industriekapital und umgekehrt. Es sind kommunizierende Gefäße, zwei Seiten derselben Medaille. Auch die großen Industrieunternehmen müssen im Dienste der Mehrheit gelenkt werden. All das bedeutet letztendlich das geheiligte Eigentumsrecht außer Kraft zu setzen, namentlich die globale Elite zu enteignen.

Es geht nicht darum, das Privateigentum als Ganzes abzuschaffen, sondern es geht darum, die Verfügungsgewalt über die Kernbereiche des Wirtschaftsapparats, die in Jahrhunderten von der arbeitenden Menschheit geschaffen wurden, auch in deren Hände zu legen.

All das bedeutet, das treibende Prinzip der Wirtschaft zu ändern. Nicht mehr der Profit für eine winzige Elite darf das Movens sein, sondern die politisch vereinbarten Interessen der Mehrheit. Damit wird allerdings keine genaue Ausgestaltung eines Wirtschaftssystems präjudiziert, auch nicht das Wirken des Marktes grundsätzlich ausgeschlossen. (Da ist die Diskussion neu zu eröffnen; Teil davon muss die Verarbeitung des Scheiterns des Realsozialismus sein.)

Es wird lediglich die materielle Voraussetzung für die wirkliche Demokratie, die Herrschaft des Volkes - das heißt der Mehrheit - gelegt: das Zentrum des produktiven Apparates der Menschheit wird deren politischen Willen unterworfen. Die kapitalistische Demokratie war und ist eine Farce, denn die Wirtschaft bleibt von der Herrschaft des Volkes ausgenommen.


Ein anderer Staat

Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt, der Umwandlung des Staates. Die gegenwärtigen Staaten im Herzen des Kapitalismus werden allesamt von der globalen Oligarchie verwaltet oder sind deren Instrumente. Von ihnen ist keine Politik im Sinne der Mehrheit zu erwarten. Das zu erwarten wäre naiv und töricht.

Vielmehr muss das Volk, die Mehrheit, die kapitalistische Elite stürzen und enteignen und damit auch den Staat in seine Hände nehmen. Doch diese Idee bleibt abstrakt, solange es im Westen keine gesellschaftlich relevanten Kräfte gibt, die diese Forderung artikulieren würden.

Dezember 2008

Raute

ARABISCHER RAUM

Zwei Baraks sind zwei zu viel

Palästina im Zeichen der amerikanischen Wahlen

Von Mohammad Abu Rous


Ein wichtiges Merkmal beim Wahlkampf Obamas war der Eindruck, dass er diesen gegen Georg Bush selbst und nicht gegen McCain geführt hatte. Da das Übel in der Figur Georg W. Bush personifiziert wurde, ist Erlösung mit denselben trügerischen Vereinfachungen an eine Person geknüpft: Die Person von Obama, seine Herkunft und sein Hintergrund sollen ein Gegenbild zu seinem Vorgänger abgeben.


Der Erlöser

Nach acht Jahren der Präsidentschaft von Bush, die von erfolglosen Kriegen und eskalierenden Wirtschaftskrisen gekennzeichnet sind, herrschte tatsächlich bei den US-amerikanischen Wählern eine Umbruchstimmung. Die Wahl Obamas stellt aufgrund seiner Person und seiner Hautfarbe eine Neuigkeit in der US-amerikanischen Geschichte dar. Ein symbolisches Ereignis, das einen Drang nach Änderung ausdrückt.

Obama gewann jedoch diese Wahlen mit Versprechen, die nicht nur von den amerikanischen Wählern, sondern auch weltweit als konkret empfunden wurden. Unter Obama erwarten sich nicht nur die Amerikaner: eine spürbare Sanierung der amerikanischen Wirtschaft, den Abzug aus dem Irak, Frieden in Afghanistan, Ende der iranischen Atomkrise, Frieden im Nahen Osten und allgemein eine Verbesserungen der Beziehungen der USA mit dem Rest der Welt, die unter den offen imperialen Feldzüge von Bush gelitten hatten. Wie dies ohne einen totalen Bruch mit der gesamten bisherigen US-Politik, ohne die engen Verbündeten zu verärgern, und mit dem selben Staatsapparat, der für die jetzige Lage verantwortlich ist, gemacht werden soll, ist rätselhaft.


Palästina: Warten auf die Baraks

Die Palästinenser (zumindest jene, die nicht im Umfeld der Kollaborateurbehörde von Abbas stehen) machen sich (aus Erfahrung) am wenigsten Hoffnungen. Wenn es auch zwischen den beiden Kandidaten Differenzen zu den Themen Irak, Afghanistan, Iran, Wirtschaft und Umwelt gab, ist das Thema "Israel" für beide Kandidaten Konsens. Fast folkloristisch mussten im Wetteifer beide Kandidaten ihre Treue zum Zionistenstaat betonen.

Die Ergebnisse der US-Wahlen waren kaum bekannt gegeben, als die israelische Luftwaffe ihren seit dem "Waffenstillstand" im Juni 2008 ersten Angriff auf Gaza startete. Dass die Medien über die verbrecherische Blockade und die täglichen israelischen Provokationen still schweigen, um die israelischen Angriffe als "Vergeltungsaktionen" darzustellen, ist an sich nichts Neues. Dieser Angriff war jedoch ein klares Zeichen dafür, dass sich die Palästinenser, und nicht nur diese, allen Anzeichen nach durch den bloßen Abgang von Georg Bush keine qualitative Wende in der US-amerikanischen Außenpolitik erwarten können. Die USA wird nach wie vor hinter den israelischen "Sicherheitsbedürfnissen" stehen. Schon die Ernennung des Kabinetts Obamas ist viel sagend. Vom alten Kabinett blieb Robert Gates als Verteidigungsminister, während neue Falken aus dem "demokratischen" Lager zugezogen wurden.

Die Auswahl von Hillary Clinton als Außenministerin bereitet die Palästinenser auf den Geschmack des Maximums der Erwartungen. In den letzten acht Jahren unterstützte Clinton als Kongressabgeordnete aktiv und bedingungslos die israelische Politik. Während Israel palästinensische Städte und Dörfer bombardierte und überfiel, lief Clinton in Marathons, die zur politischen und finanziellen Unterstützung Israels organisiert wurden. Sie war eine Unterstützerin des Irak-Krieges und eine Befürworterin einer harten Politik gegenüber dem Iran.

Zum Stabchef im Weißen Haus wurde Emanuel Rahm ernannt, ein israelischer Staatsbürger und ehemaliger Offizier in der israelischen Armee (1991). Er ist Sohn von Benjamin Rahm, einem ehemaligen Mitglied der zionistischen Terrororganisation "Irgun", der 1948 am Massaker von Deir Yassin beteiligt war.

Währenddessen läuft in den palästinensischen Gebieten "Business as usual". Im Gazastreifen ist der sechsmonatige, eher wackelige Waffenstillstand abgelaufen. Die palästinensischen Widerstandsorganisationen knüpfen seine Verlängerung an ein Ende der mörderischen Blockade, die von Israel unter Zustimmung der offiziellen Weltgemeinschaft auferlegt wird. Israel bemüht sich hingegen, diplomatisch für einen Totalangriff auf Gaza zu werben und verschärft die Blockade. Die Luftangriffe auf Gaza wurden fortgesetzt und somit auch die Aktionen der palästinensischen Organisationen.

Am 10. Februar 2009 finden die israelischen Parlamentswahlen statt. Ein entscheidender Punkt bei diesen Wahlen ist die Härte und die Effizienz dieser Härte, mit der man mit Gaza umgeht. Die israelischen Wähler wollen die Niederlage im Libanon durch einen Sieg in Gaza tilgen. Obwohl ein totaler Einmarsch in den Gazastreifen an große Verluste und zweifelhafte Erfolgschancen geknüpft ist, wird dieser in unterschiedlichen Graden demagogisch propagiert. Findet der Angriff auf Gaza nach den israelischen Wahlen tatsächlich statt, wird er wahrscheinlich in einen großen "Vergeltungsfeldzug" (d.h. ein großes Massaker) ausarten, bevor erneut ein Waffenstillstand ausgehandelt wird. Als der Kandidat mit den größten Chancen gilt Ehud Barak: Ein General, ein Militärheld Israels, der im Westen als "moderat" gilt. Gegen ihn steht der "Hardliner" Benjamin Netanjahu. Alle Kandidaten sehen den Sturz der Regierung von Hamas in Gaza als höchste Priorität.

Die jüngsten Aussagen Toni Blairs (1), der Gesandte des Europäischen Nahost-Quartetts, können auch im selben Kontext interpretiert werden: Der Waffenstillstand soll nicht verlängert werden. Die Blockade konnte die Hamas in Gaza nicht schwächen. Härtere Maßnahmen sind nötig. Eine militärische Intervention Israels sei nicht als humane Katastrophe anzusehen. Kurz bevor Blair gegenüber der israelischen Zeitung Haaretz diese Aussagen machte, hatte er sich mit Hillary Clinton und James Jones, dem jüngst ernannten nationalen Sicherheitsberater Obamas, getroffen, die ihm "die Notwendigkeit einer Strategieänderung bezüglich des Gazastreifens" nahe legten. Eine Verringerung der ohnehin kleinen Distanz zwischen der Politik auf beiden Seiten des Atlantiks bedeutet einen stärkeren Konsens mit der israelischen Politik.


Wer soll Gaza regieren?

Eine dritte, relativ unbedeutende, ausstehende Wahl ist jene des palästinensischen Präsidenten, dessen Amtszeit ebenfalls im Jänner 2009 abläuft. Unbedeutend, weil durch die Nicht-Anerkennung der gewählten Regierung jede Wahl in den besetzten Gebieten unbedeutend wird. Es wird erwartet, dass Abbas die Wahlen trotz Ablehnung des Parlaments verschieben, während die Regierung von Hamas in Gaza ihn nicht mehr als Präsidenten anerkennen wird. Dies wird die politische Kluft zwischen dem Westjordanland und Gaza vertiefen. Die Legitimitätskrise der Regierung in Ramallah kann durch eine große israelische Militäraktion in Gaza in den Hintergrund geschoben werden. Schwieriger als eine Prognose über den Ausgang einer solchen Konfrontation ist die Frage, wer in Gaza die Regierung von Hamas ablösen kann. Die israelische Armee würde nicht länger als nötig bleiben wollen. Die Wiedereinführung einer israelischen Militärverwaltung im Gazastreifen wäre heutzutage nicht mehr denkbar. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass die militärische Besatzung des Gazastreifens für Israel ein militärisch, politisch wie wirtschaftlich höchst kostspieliges Unterfangen war.

Ein sofortiger Einmarsch der Polizisten von Abbas würde von der Bevölkerung als direkte Kollaboration mit Israel betrachtet und hätte daher keine großen Erfolgschancen. Ein anderer, heute salonfähiger Vorschlag ist ein Einmarsch von arabischen Sicherheitstruppen, welche eine allmähliche Wiederherstellung der Kollaborationsbehörde in Gaza ermöglichen. Dies wäre mindestens der Wunsch vieler israelischen Politiker (darunter Tzipi Livni), und ist in der arabischen Liga jedenfalls diskutiert worden. Abbas befürwortet ein solches Szenario.

Auch gegen Syrien, den Libanon und den Iran wird die israelische Sprache härter. Ob diese Aggressivität nur als Wahlwerbung oder als eine Herausforderung der Neokonservativen in Israel und in den USA an die neue US-Verwaltung zu verstehen ist, das wird sich in den nächsten Monaten zeigen.


Zieht er ab oder ziehen die Europäer mit?

Ob und unter welchen Bedingungen unter Obama die Truppen aus dem Irak abgezogen werden, ist noch eine offene Frage. Die Versendung von zusätzlich zwanzig bis dreißigtausend Soldaten nach Afghanistan und die Bewilligung von militärischen Operationen gegen die Piraterie an der somalischen Küste deuten im Moment auf eine Umverteilung der amerikanischen Militärpräsenz mit besserer Involvierung der NATO-Partner hin.

Für die westlichen Eliten und fern von Symbolik um seine Person bedeutet die Wahl von Obama die Bereitschaft der USA, ihre Schritte erneut mit ihren europäischen Partnern zu koordinieren. Also einen neuen Clintonismus, der, wenn keinen Frieden, eine Befriedung der Konfliktpunkten bringen soll. Der Grundstein dafür wurde bereits durch die vorherige Verwaltung gelegt. Bushs' Außenministerin Condoleeza Rice charakterisierte die aktuelle US-Außenpolitik wie folgt: "Was wir machen wollten, war, internationale Gruppen zu ordnen oder zu organisieren, die zuerst fähig sind, mit den schwierigen Problemen umzugehen, um diese multilateral lösen zu können" (2). Dies benötigt nun den Clinton'schen Hauch, um bei den Partnern sympathisch (vertretbar) zu werden.

Jedoch leben wir heute nicht mehr in den Neunzigern. Wenn damals der Zusammenbruch der Sowjetunion eine weltweite Demoralisierung der Widerstandsbewegungen herbeiführte, existieren diese heute in neuen Qualitäten, die ohne substantielle Lösungen der Konflikte nicht leicht zu unterdrücken sind. Auch die Stellung der USA als einzige Weltmacht ist nicht lange zu halten. Die Krisen der Neunziger haben sich dermaßen verschärft, dass die Clinton'sche Rezepturen kaum mehr wirken.

Es ist noch offen, wer die israelischen Wahlen gewinnt. Der Unterschied zwischen den Kandidaten ist auch kaum merkbar. Da aber in der öffentlichen Meinung die Politik heute stark an Personen geknüpft wird, wird eins klar: Mit den "sympathischen" Tzipi Livni und Hillary Clinton als Außenministerinnen und den "durchaus sympathischen" Baraks in den USA und Israel, wird 2009 ein heißes, auf keinen Fall weniger blutiges Jahr werden.

Anmerkungen
(1) Interview in Haaretz, 21. Dezember 2008
(2) Pressekonferenz in Jerusalem am 22. Dezember 2008

Raute

ARABISCHER RAUM

Boykott, Desinvestition und Sanktion gegen Israel

Unser Beitrag zum Frieden in Palästina

Von Franz Fischer

Weltweit gewinnt die Kampagne "Boykott, Desinvestition und Sanktion" (BDS) gegen Israel von Jahr zu Jahr an Tiefe und Breite. Der folgende Artikel geht auf die Entstehungsgeschichte derselben ein und postuliert, dass ihre Unterstützung eine notwendige Voraussetzung ist, um nach dem Scheitern der Antiglobalisierungsbewegung den weltweiten Widerstand gegen Herrschaft und Ausbeutung (wieder) aufzubauen.


Der 3. Weltkongress gegen Rassismus

Bei der BDS-Kampagne handelt es sich um den Aufruf, der 2005 von palästinensischen Organisationen veröffentlicht wurde. Ausserhalb Palästinas arbeiten schon lange Solidaritätsbewegungen mit Boykott- und Sanktionsforderungen. Ein Beispiel aus der neueren Zeit ist der Mazpun-Aufruf vom April 2001, der von Juden und Jüdinnen initiiert wurde und zum Boykott israelischer Produkte und des Tourismus nach Israel aufrief. Ein Beispiel aus der Schweiz ist die »Boykotterklärung« von 2003, die von 28 Organisationen unterzeichnet wurde. Von diesen seien hier BastA! (eine Basler Linkspartei), Centrale Sanitaire Suisse Romand (eine im Spanischen Bürgerkrieg entstandene Hilfsorganisation - heute "medico international"), Rifondazione Comunista in Svizzera und die Vereinigung Schweiz-Cuba genannt. Diese Erklärung bezog sich auf einen Aufruf, den die »3. Weltkonferenz gegen Rassismus« 2001 verabschiedete. In Durban (Südafrika) trafen sich parallel zur offiziell tagenden UNO-Konferenz rund 3000 Organisationen aus der ganzen Welt. Diese einigten sich auf ein Manifest, in welchem "der Rassismus und die radikale Diskriminierung im Israel-Palästina-Konflikt, einschliesslich der militärischen Besetzung und der Leugnung des Rückkehrrechtes von palästinensischen Flüchtlingen und Vertriebenen benannt" wurde und beschlossen ein Aktionsprogramm, welches den Boykott und Sanktionen gegen Israel einschloss. Aber im Vergleich zur südafrikanischen fehlte der palästinensischen Boykottkampagne noch ein wichtiges Merkmal, nämlich die Unterstützung durch die Betroffenen selbst. Doch das Signal von Durban löste die Fesseln der mangelnden Einheit auf der palästinensischen Seite. Trotz Zuspitzung des innerpalästinensischen Konfliktes bildete sich eine die parteipolitischen und religiösen Grenzen überschreitende Zusammenarbeit heraus. Bereits im August 2002 »begrüssten« 15 palästinensische Organisationen aus dem Gesundheitsbereich und der Frauenbewegung sowie einige Dachorganisationen wie der Gewerkschafts- und Gefangenenverband, "alle Initiativen zum Boykott von Israel, die in vielen Teilen der Welt lanciert wurden." Beigetragen zu diesem politischen Willen hatte eine erneute Demütigung durch die imperialistischen Staaten: Auf Grund des Gutachtens des internationalen Gerichtshofes verlangte die UNO-Vollversammlung mit 150 zu 6 Stimmen den Abbruch (nur!) jenes Teils der Mauer, der sich auf palästinensischem Gebiet befindet. Doch Israel baute und baut die Gefängnis- und Apartheidmauer weiter - ohne Konsequenzen für die "freundschaftlichen Verhältnisse" der USA, der EU-Staaten und auch der Schweiz zu Israel. Diese Resolution ist eine von Hundert, die Israel kaltschnäuzig ignorieren kann, weil es die Haltung der Regierungen der westlichen "Werte-Gemeinschaft" im voraus und aus Tradition kennt. Allein diese Tatsache wäre bereits ein hinreichender Grund, uns von unseren Regierungen zu distanzieren und von ihnen die Sistierung der militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit zu verlangen, bis Israel sich an die Gesetze des Völkerrechts hält und die UNO-Resolutionen umsetzt. Aber gerade für die Linke ergeben sich noch weitere Gründe, die neben den völkerrechtlichen Aspekten ihre eigenen emanzipatorischen, internationalistischen und antirassistischen Ansprüche betreffen.


Die Grundlagen des Friedens

Am 9. Juli 2005 war es soweit: 29 politische und gewerkschaftliche Verbände, 36 Flüchtlingsvereine und 106 Kultur-, Solidaritäts-, Gesundheits-, Jugend- und andere Organisationen wandten sich als "VertreterInnen der palästinensischen Zivilgesellschaft" mit ihrem BDS-Aufruf an "die Organisationen der internationalen Zivilgesellschaft". Dabei sind die politischen Parteien nicht einmal aufgeführt, da in ihrem Namen der "Council of National and Islamic Forces in Palestine", das Koordinationsorgan der Parteien in den besetzten Gebieten, den Aufruf unterzeichnete. Abseits von Kompromissgerangel, Geheimdiplomatie und Diktaten benennt er die Bedingungen für einen Frieden:

1. Beendigung der Besatzung und Kolonisation des gesamten arabischen Landes und Niederreissen der Mauer.

2. Anerkennung der Grundrechte der arabisch-palästinensischen Bürger Israels auf vollständige Gleichberechtigung.

3. Achtung, Wahrung und Unterstützung des Rechts der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr zu ihren Wohnstätten und ihrem Besitz, wie in der UN-Resolution 194 vereinbart.

Bis Israel diesen drei Forderungen nachkommt, soll die internationale Zivilgesellschaft Druck auf ihre jeweiligen Regierungen ausüben, "um einen umfassenden Boykott gegen Israel durchzusetzen und Initiativen [...] zu ergreifen, um Investitionen aus Israel abzuziehen." Ausdrücklich eingeladen sind "verantwortungsvolle Israelis, diesen Aufruf im Interesse der Gerechtigkeit und eines ernsthaften Friedens zu unterstützen." Matzpen (Socialist Organization) und das AIC (Alternative Information Center), zwei Organisationen mit kommunistischen Wurzeln, sind dieser Einladung gefolgt.


Der Weg zum Frieden

Der Entscheid, ob wir die BDS-Kampagne unterstützen, liegt bis jetzt in der Beantwortung der beiden Fragen: Anerkennen wir die drei Forderungen und unterstützen wir sie? Dieser Text setzt ihre Anerkennung voraus. Die zweite Frage impliziert unmittelbar noch nicht das Mittel des Boykotts. Aber was ist aus der 60-jährigen Geschichte des Palästinakonfliktes zu lernen? Fakt dieser Geschichte ist, dass sämtliche Verhandlungen und sämtliche Konzessionen palästinensischer Organisationen nicht nur kein, sondern ein für die PalästinenserInnen negatives Resultat gebracht haben. Und die Konzessionen waren keine Kleinigkeiten! Im Gegenteil, sie gingen derart (zu) weit, dass die Bevölkerung ihren eigenen Verhandlungsparteien mit dem Ausbruch der Intifada die rote Karte zeigte. Der Grund für dieses Ergebnis liegt im mangelnden Druck auf Israel. Ungestraft, ja mit Billigung unserer Regierungen, konnte Israel über all diese Zeit die ethnische Säuberung fortsetzen. Die BDS-Kampagne ist die Antwort der PalästinenserInnen auf diese Erfahrung. Sie wurden während 60 Jahren mit dem Lippenbekenntnis zur "Anerkennung" ihrer Rechte abgespeist. Die Frage des Boykotts ist also die Frage, ob es den politischen Druck auf Israel braucht und ob dieser, da er von unseren Regierungen nicht zu erwarten ist, von Unten kommen muss. Mit dem BDS-Aufruf gibt uns nun eine zivile palästinensische und das Volk repräsentierende Bewegung ein Mittel in Hand, uns politisch, praktisch und gewaltfrei am Kampf um ihre Rechte zu beteiligen. Diese Bitte auszuschlagen bedeutet in der praktischen Konsequenz nichts anderes als die Negierung ihrer Forderungen und die Entsolidarisierung mit ihrem Widerstand - mögen als Ausreden noch so viele Hilfspakete nach Palästina fliegen. Sie entpuppen sich im besten Falle als jene kleinbürgerliche Moral, die ob der Gräuel des Systems laut schreit, aber an seinen Grundlagen nicht rütteln will - im schlechteren Falle als politisch entwaffnende Köder wie die Mehlsäcke der CIA-unterwanderten Hilfsorganisation "US-Aid".


Boykott als Mittel der Solidarität

Die Solidaritätsbewegung gegen die südafrikanische Apartheid schloss sich in den 80er Jahren dem Boykottaufruf der Schwarzen an. Die Kampagne erwies sich als wirkungsvolles Mittel, den Kampf der Schwarzen zu unterstützten, das Regime weltweit zu isolieren und schliesslich in die Knie zu zwingen. Gegner der BDS-Kampagne mögen Gründe angeben, warum dieses Mittel nicht gegen die Apartheid in Palästina eingesetzt werden dürfe. Dabei werden sie aber verzichten müssen, im Namen der Schwarzen Südafrikas zu sprechen. So rief Erzbischof Desmond Tutu bereits 2003 dazu auf, Israel gleich wie Südafrika zu behandeln. 2006 erklärte er zusammen mit Ronnie Kasrils, einem ehemaligen jüdischen Militärkommandanten des ANC, die Situation der PalästinenserInnen sei schlechter als jene der Schwarzen unter der südafrikanischen Apartheid. Schliesslich fand der "3. Weltkongress gegen Rassismus" nicht zufällig in Durban statt. In der Tat findet die BDS-Kampagne in Südafrika die gleiche zustimmende Basis wie in Palästina, sie reicht von Parteien über Gewerkschaften bis hin zum südafrikanischen Kirchenbund.

Doch wie es ohne den Widerstand der Schwarzen keine weltweite Boykottkampagne gegeben hätte, so wird das zionistische Regime in Palästina nur fallen, wenn der Widerstand der PalästinenserInnen anhält und der Druck auf Israel lokal und international zunimmt. Und damit kommen wir zu einem weiteren Aspekt der BDS-Kampagne. Die Unterstützung derselben hängt nämlich zusätzlich von der Frage ab, ob wir die PalästinenserInnen nur als leidendes, aber nicht als kämpfendes Volk sehen oder ihren Kampf um Freiheit und Gleichheit auch politisch konkret unterstützen.


Boykott als Form des Widerstandes

Die InitiatorInnen der BDS-Kampagne verstehen dieselbe nämlich nicht nur als Appell an die internationale Gemeinschaft, sondern auch als ein Instrument des Widerstandes. Auf den Aufruf von 2005 an die "internationale Zivilgesellschaft" folgte am 22. November 2007 die "First Palestinian Conference for the Boycott of Israel" in Ramallah. Seine Ergebnisse widerspiegelt der Konferenzbericht: "Die BDS-Kampagne beabsichtigt, den Widerstand des Volkes zu beleben und die Würde der palästinensischen Menschen wiederherzustellen". Die Kampagne wird als strategisches Mittel gegen die Zerschlagung und Untergrabung der ökonomischen, kulturellen und gesellschaftlichen Identität und Souveränität der PalästinenserInnen verstanden. Diesen von ihnen als "Normalisierungspolitik" benannten Ziele Israels, der Westmächte, aber auch der PA (die heute unter dem Einfluss der USA und EU stehende "Palästinensische Verwaltung") soll der Aufbau der eigenen Wirtschaft, die Stärkung des Geschichtsbewusstseins und die Unterstützung "anderer Kämpfe im Süden und Kämpfe marginalisierter Gemeinschaften im Norden" entgegengestellt werden. Betont wurde auch die bewusste Wahl des Boykotts als ein Mittel des gewaltfreien Widerstandes. Damit sollen alle PalästinenserInnen, ob in den besetzten Gebieten, in Israel oder im Exil, aber auch die internationale Zivilgesellschaft eine Möglichkeit der Teilnahme am Kampf für Recht und Würde des palästinensischen Volkes erhalten. Die BDS-Kampagne verfolgt demnach zwei Strategien, die politisch untrennbar zusammengehören: Druck auf Israel und Schutz und Stärkung der Überlebensfähigkeit der palästinensischen Gesellschaft.


Die Linke stärken

Die Antiglobalisierungsbewegung ist 2003, nach dem Überfall auf Irak, auf Sand gelaufen. Damit ist aber die Notwendigkeit einer globalen Vernetzung des Widerstandes nicht hinfällig geworden. Im Gegenteil. Als eine Lehre aus ihrem Niedergang müssen wir aber festhalten, dass sie nur lebensfähig ist, wenn sie sich auf minimale konkrete Ziele einigen kann. Die Unterstützung der BDS-Kampagne drängt sich dazu in mehrfacher Hinsicht auf. Denn soll die wieder zu erweckende oder zu stärkende Antiglobalisierungsbewegung eine kittende Gemeinsamkeit haben, so hat sie auf den weltweit aufkeimenden Rassismus und auf die real stattfindenden Kämpfe der Völker für Recht und Würde eine Antwort zu geben, die einem universalen Anspruch genügt. Universal hier meint eine Antwort und Praxis, die im Unterschied zu unseren Regierungen die bürgerlichen und sozialen Menschenrechte nicht je nach Gusto verlangt oder ignoriert. Universal nun kann dieser Anspruch nicht sein, wenn einzelne Formen des Rassismus toleriert werden. Universal kann er nicht sein, wenn ein 60-jähriger Kampf eines Volkes um Recht und Würde nicht unterstützt wird. Und universal im globalen, geografischen, Sinne wird er nie sein, wenn die "nordische" Linke in der Palästinafrage einen Extrazug fährt. Bei der Auseinandersetzung um Palästina handelt es sich nämlich von Anfang an auch um einen Nord-Süd Konflikt, die UNO-Resolution von 1948 eingeschlossen1). Dies zeigt sich auf der Ebene des Verhaltens der Staaten in den jeweiligen UNO- Abstimmungen ebenso wie in der Unterstützung respektive Ablehnung des Widerstandes durch die Bevölkerungen der jeweiligen Länder. Vom Nordpol bis Kapstadt ein Bündnis zu schaffen, das geht nicht ohne Aufgabe des eurozentristischen Blickwinkels.

Die BDS-Kampagne eröffnet in Palästina und bei uns die Perspektive, den Widerstand abseits parteipolitischer, religiöser und ethnischer Grenzen zu stärken. Eine machtvolle Kampagne wird beidseits der Mauer jene Kräfte stärken, die gegen die zionistische Politik ankämpfen. Die Unterstützung derselben durch die USA und EU wird zudem genau jene Scheidelinie erzeugen, die manche insgeheim fürchten, seien es US-gekaufte El-Fatah Kader oder »Links-Zionisten«. Auch diesbezüglich ist ein Verweis auf Südafrika hilfreich: Der Boykott zwang schwankende Weiße zu einer klaren Positionierung und ermöglichte ihnen, sich bereits in der Zeit des Widerstandes als auch im Nach-Apartheid-Regime in die emanzipatorische Bewegung zu integrieren und sie zu stärken.


Israel stoppen

Von Hunger, Leid, Entwürdigung, Ermordung, Häusersprengung, Vertreibung, Masseneinkerkerung, von der Zerschlagung des Gesundheits-, Bildungs- und Verkehrswesens, von Raub des Trinkwassers, der Abholzung von Olivenhainen, von 400 eingeebneten Dörfern, von Checkpoints, der Mauer, ... Ja, ich gestehe, von all dem schrieb ich nichts - ich setzte es voraus. Aber ich möchte nun darauf zurückkommen und zitiere einen Satz aus einem offenen Brief von Tariq Ali, Russell Banks, John Berger, Noam Chomsky, Richard Falk, Eduardo Galeano, Charles Glass, Naomi Klein, W.J.T. Mitchell, Harold Pinter, Arundhati Roy, Jose Saramago, Giuliana Sgrena, Gore Vidal, Howard Zinn: "Über jede Provokation und Gegenprovokation wird gestritten und gepredigt. Aber alle darauf folgenden Argumente, Beschuldigungen und Schwüre dienen nur dazu, die Aufmerksamkeit der Welt von einer lange währenden militärischen, ökonomischen und geografischen Praxis abzulenken, deren politisches Ziel in nicht weniger als der Auflösung der palästinensischen Nation besteht."


Anmerkung
1) Gegen die Annahme der Resolution stimmten ausschliesslich Länder der Dritten Welt. Mehrere Dritt-Welt-Länder wurden von den USA zu einem Ja erpresst. Die Pressionen waren so offen, dass es selbst im amerikanischen Kongress zu Protesten kam.

So rief Erzbischof Desmond Tutu bereits 2003 dazu auf, Israel gleich wie Südafrika zu behandeln. 2006 erklärte er zusammen mit Ronnie Kasrils, einem ehemaligen jüdischen Militärkommandanten des ANC, die Situation der PalästinenserInnen sei schlechter als jene der Schwarzen unter der südafrikanischen Apartheid.


Geschrieben wurde der Beitrag ursprünglich für die Schweizer Zeitschriften »Vorwärts« und »Palästina-Solidarität Basel« (PaSo).

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INFO

Antirassismus und israelische Apartheid

Die Durban-Folgekonferenz in Genf

Vom 20. bis 24. April 2009 wird in Genf die Folgeveranstaltung zur Antirassismuskonferenz (Durban Review Conference) stattfinden. Ziel der Konferenz ist es, die Umsetzung der Durban-Erklärung von 2001 und des Aktionsprogramms zu überprüfen und weitere Schritte im weltweiten Kampf gegen Rassismus und rassistische Diskriminierung zu beschließen. Für die Solidaritätsbewegung mit Palästina bietet sie eine Gelegenheit, den öffentlichen Diskurs auf die israelische Apartheid und somit auf die Ursachen des Nahost-Konfliktes zu lenken.

Durban 2001 brachte die lokalen Kräfte der Zivilgesellschaft auf einer internationalen Basis zusammen und einte sie in ihrem Kampf gegen Diskriminierung und Unterdrückung. Bis heute ist nicht entschieden, ob es in Genf wieder ein paralleles NGO-Forum geben wird. Die UNO hat sich unter massivem Druck der pro-israelischen Lobby wohl entschieden, den Menschenrechtsorganisationen den Zugang zu erschweren und den Stimmen der Zivilgesellschaft keine Plattform mehr zu bieten. Israelfreundliche Organisationen versuchen, mit Boykottaufrufen in Europa und Amerika möglichst viele Staaten von der Teilnahme an der Konferenz abzuhalten. Sie sehen in der Durban-Erklärung eine "antikolonialistische Revanche" und in der Israelkritik Antisemitismus. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International unterstellen sie Judenfeindlichkeit.

Aus: "Palästina-Info", Herbst 2008, Stephanie Selg

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ARABISCHER RAUM

"Siedlungsstopp vollkommen unglaubwürdig"

Interview mit Ilan Pappe


Frage: Was waren die Reaktionen auf Ihr Buch "Die ethnische Säuberung Palästinas" in Israel? Das offizielle Israel hatte immer jede Verantwortung für die "Nakba" - die Vertreibung von rund 750,000 Palästinensern - abgelehnt. Wie kann Israel im Licht der Quellen aus Staatsarchiven, Protokollen oder Berichten, auf die sich Ihr Buch stützt, die Verantwortung weiterhin ablehnen? Schließlich sind diese Quellen doch für jedermann zugänglich.

Ilan Pappe: Das Buch selbst wurde in Israel eher ignoriert. Es gab eine große Debatte, in der israelische Historiker nach ihrer Meinung über das Buch gefragt wurden. Sie sagten, dass zwar die Fakten richtig wären, jedoch die moralische Interpretation falsch sei. Die akademische Reaktion besagt: "Ja, Palästinenser wurden vertrieben, doch dies geschah in Selbstverteidigung". Und was der Historiker und Autor Benn Morris sagte - und weiterhin sagen würde - ist, dass Israel, falls es notwendig wäre, das Selbe wieder tun müsste, um sein Überleben zu sichern. Die akademische Reaktion sagt im Wesentlichen, dass es nicht ausreicht über die Fakten der Vertreibungen zu schreiben, sondern dass eine ideologische Position eingenommen werden muss und meine Position wäre eben die falsche, bzw. mehr als das, sie wäre eine schlechte Position, im Grunde Verrat. In den 1990er Jahren hatte die akademische Welt die Vertreibung geleugnet.

Die Medien im eigentlichen Sinn entschieden sich dafür, mein Buch zu ignorieren. Doch das ändert sich möglicherweise in der Zukunft, da ich gerade dabei bin, das Buch auf Hebräisch zu übersetzen. Da wird es dann vielleicht mehr Reaktionen geben.

Frage: Was waren Ihre Gründe, die Universität Haifa zu verlassen? Wurden Sie von der Fakultät geächtet? Von allen Kollegen ? Gab es welche, die für Sie eintraten? Wie verhielten sich die Studenten?

Ilan Pappe: Ich hatte vor allem Probleme mit dem Management der Universität. Das Management erklärte offen, dass es sein Ziel war, mich loszuwerden - was nicht leicht war, da ich seit zehn Jahren an der Universität Haifa beschäftigt war und daher eine fixe Anstellung hatte. Es gelang ihnen mich zu boykottieren, zu verhindern, dass ich an offiziellen Seminaren oder Symposien teilnahm und sie froren meine Beförderung ein. Die meisten meiner Kollegen grenzten mich aus. Einige waren anderer Ansicht, aber nur die wenigsten hatten den Mut, mich öffentlich zu verteidigen und zu sagen, dass die Universität im Unrecht war. Die akademische Atmosphäre stagnierte total und es hatte keinen Sinn weiterzumachen.

Die Studenten reagierten ganz anders. In den letzten drei Jahren war ich zum beliebtesten Universitätslehrenden in Haifa gewählt worden. Die Studenten bedauerten meinen Abschied. Auch jene, die meine politischen Ansichten nicht teilten, hatten doch einen sehr viel offeneren Zugang zu der Sache als das Universitätsmanagement und meine Kollegen. Doch wie Sie wissen, haben Studenten keinen Einfluss auf diese Entscheidungen.

Frage: Was denken Sie über die gegenwärtigen Verhandlungen über eine Zwei-Staaten-Lösung? Hat Israel eigentlich den politischen Willen, dass ein lebensfähiger palästinensischer Staat entsteht?

Ilan Pappe: Ich glaube nicht, dass es auf israelischer Seite tatsächlich einen politischen Willen dazu gibt. Die derzeitigen Verhandlungen sind nichts anderes als eine weitere diplomatische Übung, so wie es schon viele zuvor gegeben hat. Das Ziel ist in erster Linie, das negative Erbe der Bush-Administration ein bisschen abzuschwächen, das aufgrund von Korruptionsvorwürfen angeschlagene Image von Ehud Olmert aufzubessern, ebenso wie den Geruch der Illegitimität, den Abu Mazen in den Augen vieler Palästinenser hat, abzuschwächen. In diese Verhandlungen sind drei Leute involviert, die alle drei mit persönlichen Problemen zu kämpfen haben, und das beeinflusst den Charakter dieser Verhandlungen möglicherweise viel mehr als der Wille, die politischen Probleme tatsächlich zu lösen. Die Sache erinnert mich an Annapolis. In dem Jahr nach der Annapolis-Konferenz bauten die Israelis vier Mal mehr Siedlungen im Westjordanland als in den vier Jahren davor. Und damals wurden auch mehr Palästinenser, unter ihnen zahlreiche Kinder, umgebracht als in den Jahren zuvor. Ich fürchte, dass während der derzeitigen Verhandlungen genau das Gleiche passieren wird. Ich fürchte, dass derartige Verhandlungen von den Israelis immer als Vorwand genommen werden, um die Situation eskalieren zu lassen.

Frage: Tzipi Livni sagte neulich, dass keine weiteren Siedlungen mehr gebaut noch bestehende erweitert würden. Ist das glaubwürdig?

Ilan Pappe: Vollkommen unglaubwürdig. Sie glaubt selbst nicht daran. Sie lügt und das wissen natürlich alle. Das ist eine Form der Doppelmoral, wie sie in Israel seit 1967 angewendet wird. 1967 sandte die israelische Regierung eine klare Botschaft, die besagte, dass Israel, trotz der damaligen unklaren Lage über die Zukunft des Westjordanlandes und des Gazastreifens, in den besetzten Gebieten nichts verändern würde. Einige Monate später begann der Bau von Siedlungen in Jerusalem, in Gush Etzion, dann in Hebron, einige Monate danach begannen Siedlungstätigkeiten im Gazastreifen. Ich denke daher, dass Aussagen von Israelis in Bezug auf Siedlungsstopp und ähnliches keinerlei Bedeutung haben. Möglicherweise spielen die Israelis mit einem Konzept, das sie das "natürliche Wachstum" der Siedlungen nennen. Damit ist gemeint, dass eher bestehende Siedlungen ausgebaut als neue errichtet werden. Doch diese Erweiterungen sind im Grunde nichts anderes als neue Siedlungen.

Frage: Können die Verhandlungen ewig weitergehen?

Ilan Pappe: Ewig nicht, doch leider sehr lange, denn es sind zu viele mächtige Akteure involviert, die ein Interesse an diesem, wie Noam Chomsky sagen würde "Friedensprozess, der nirgends hinführt", haben. Letztlich ist dieser Friedensprozess ein gutes Business für viele. Ich denke, dass diese Verhandlungen so lange weitergehen können, weil die internationale Gemeinschaft dahinter steht. Sie könnten aufhören, wenn die internationale Gemeinschaft sagen würde, diese Verhandlungen sind nutzlos und unproduktiv. Was die israelische Elite betrifft, so möchte diese, dass die Verhandlungen ewig weitergehen, denn es ist viel besser für sie einen Prozess laufen zu haben als keinen, und es ist besser einen Prozess laufen zu haben, der nirgendwo hinführt, als einen, der zu einem Ergebnis führt, das nicht genehm wäre.

Frage: Abu Mazens Präsidentschaft endet im Januar 2009 und es ist unwahrscheinlich, dass sie verlängert wird. Stimmt das?

Ilan Pappe: Wer weiß. Es gibt genaue Szenarien, in denen seine Position mit Gewalt durchgesetzt werden könnte. Wir sind natürlich keine Propheten, doch wir kennen diese Geschichte aus Russland. Es ist sehr einfach, jemanden aus dem Amt scheiden zu lassen, aber durch jemanden anderen zu ersetzen, der ihm sehr ähnlich ist. Was die Politik betrifft, gibt es dann kaum Unterschiede. Was die Palästinenser jetzt brauchen ist eine Regierung der nationalen Einheit, nicht die gegenwärtige Zersplitterung in Fraktionen.

Frage: Es scheint, dass die Diskussion um einen binationalen Staat zunehmen wird, v.a. von Seiten der Palästinenser. Es gibt nichts, was die Israelis mehr fürchten als einen binationalen Staat. Was ist Ihre Meinung?

Ilan Pappe: Lassen Sie mich es folgenderweise ausdrücken: Es gibt keine Möglichkeit für eine Zwei-Staaten-Lösung, aber auch keine für eine Ein-Staat-Lösung. Das hängt vor allem mit der israelischen Position zusammen. Israel möchte keinen palästinensischen Staat zum Nachbarn haben, und genauso wenig möchte es, wie Sie richtig sagen, einen binationalen Staat oder die Ein-Staat-Lösung. Menschen, die sich ehrlich für Frieden einsetzen, können nicht das Spiel spielen, aus diesem Vorschlag eine Bedrohung für Israel zu machen. Wenn Menschen wie Abu Ala sagen würden: "Wenn ihr uns keinen unabhängigen Staat zugesteht, werden wir uns für die Ein-Staat-Lösung einsetzen", dann würde das niemandem in Israel Angst einjagen. Was die Israelis seit 1967 gelernt haben ist, dass es auf das Kräfteverhältnis ankommt, nicht auf die jeweilige palästinensische Position, die sowieso kein Gewicht hat. Wenn wir also über Zukunftsvisionen sprechen, so beziehen wir uns damit nicht auf die Eliten auf beiden Seiten. Wir sprechen über die Gesellschaften, die aktiven Teile der Gesellschaften, die alternative Ideen entwickeln wollen. Es ist wichtig, Ideen zu entwickeln und Gesellschaftsvisionen, in denen Menschen zusammenleben. Die sind natürlich besser als jene von zwei getrennten Nationalstaaten, die wenige Erfolgschancen haben. Doch die große Frage ist, wie kommen wir von den Ideen zur Umsetzung? Wie kommen wir von den Ideen eines binationalen oder säkularen oder demokratischen Staates, die von Teilen der Gesellschaften unterstützt werden, zur Politik der Eliten? Darauf habe ich keine Antwort. Doch derzeit kümmert mich diese fehlende Antwort nicht besonders, weil ich denke, dass wir noch sehr viel Arbeit in der Zivilgesellschaft zu leisten haben.

Wir müssen ein klares Konzept, konkrete Vorstellungen davon entwickeln, wie ein gemeinsamer Staat aussehen würde und dann sollten wir daran arbeiten, diese Vision bekannt zu machen, für sie Unterstützung zu suchen. Dann erst können wir uns überlegen, wie diese Vision zu einer gangbaren politischen Option gemacht werden kann. Derzeit ist nichts gangbar. Die einzigen gangbaren Optionen sind die der USA und Israels, und die wollen keine Zwei-Staaten-Lösung. Was sie wollen, ist die totale Kontrolle über das Leben der Palästinenser, wo immer sie auch sind. Derzeit suchen sie nach einer palästinensischen Führung, die diese Option akzeptiert. Bisher haben sie noch keine gefunden.

An diesem Punkt stehen wir derzeit und natürlich schafft das großen Unmut auf der palästinensischen Seite. Es entstehen Phänomene wie die Hamas, also Formationen, welche die israelische Politik mit weitaus größerer Kraft ablehnen als die etablierten Kräfte. Ich denke, wir müssen diesen Kreislauf durchbrechen, indem wir anders denken. Doch es muss uns klar sein, dass diejenigen von uns, die einen binationalen Staat befürworten, noch nicht Teil des politischen Spiels sind. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, aber das Projekt ist sehr wichtig.

Das Interview führten Peter Melvyn und Margarethe Berger
6. Dezember 2008

Dr. Ilan Pappe ist Professor für Geschichte an der britischen Universität Exeter. Er ist Autor mehrerer Bücher, "A History of Modern Palestine", "The Modern Middle East", "The Israel/Palestine Question" und zuletzt "The Ethnic Cleansing of Palestine" (Oneworld Publication, Oxford, 2006, als Paperback 2007). Kürzlich erschien auch eine deutsche Ausgabe dieses Buches.

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ARABISCHER RAUM

Die Lüge von der israelischen Selbstverteidigung

Strategische Ziele der israelischen Aggression

Von Wilhelm Langthaler


Zu aller erst führt Israel einen gezielten Medienkrieg. Die Quintessenz ihrer Position lautet, dass sie sich gegen die Angriffe der Hamas verteidigen würden. Die westliche Medienmaschine transportiert die Substanz dieser Nachricht, auch wenn das palästinensische Leid in pseudoobjektiver Weise durchaus ebenfalls vorgeführt wird.

Die Schuld bleibt dennoch letztlich immer bei den Palästinensern. Diese Darstellung wird von den westlichen Staatskanzleien sekundiert und zwar nicht nur in Washington, sondern auch in Europa.

Tatsächlich gelingt Israel hier die Verkehrung der Realität. Über viele Monate hat die von der Mehrheit der Palästinenser gewählte Hamas den Waffenstillstand eingehalten, während Israel das Embargo und die Morde aus der Luft fortsetzte. Irgendwann musste diese Einseitigkeit ein Ende haben, zumal den Palästinensern Schritt für Schritt die Existenzgrundlage entzogen wird und der Widerstand elementare Selbstbehauptung darstellt. Zudem hat israelischen Medienberichte zufolge der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak bereits vor einem Jahr die Vorbereitung des Angriffs in Auftrag gegeben, und damit die präsentierte Kausalkette Lügen gestraft. Israel wartete lediglich auf einen politisch günstig scheinenden Augenblick.

Eigentlich führt Israel gar keinen Krieg im strengen Sinn, denn dieser setzt zwei Seiten voraus. Es handelt sich im Grunde um staatlichen Terror aus der Luft, gegen den die Angegriffenen über keinerlei Handhabe verfügen. Wir sind mit der feigsten Form der Kriegsführung konfrontiert, die deutlich von der Luftkrieg-Doktrin der USA inspiriert ist.

Im westlichen Medienapparat geht diese völlige Unverhältnismäßigkeit unter. Beiden Raketen der Hamas handelt es sich um nichts mehr als Symbole des Widerstands, denn militärisch sind sie bedeutungslos. Das sieht man an den sehr geringen Opferzahlen und minimalen materiellen Schäden. Man kann an der politischen Zweckmäßigkeit solcher symbolischer Handlungen zweifeln - wir tun das, denn sie helfen Israel international das Verhältnis von Angreifer und Angegriffenen in absurdester Weise zu verkehren.

Aber man muss gleichzeitig verstehen, dass solche Symbole in einer Situation der totalen Asymmetrie und Waffenungleichheit für die Unterdrückten und Entrechteten eine moralische Bedeutung gewinnen. Jede eingeschlagene Rakete durchbricht das Gefühl der völligen Ohnmacht gegenüber den zionistischen Kolonialherren, die den Palästinensern jedes Menschenrecht verweigern, ja für die sie gar keine Menschen sind, und denen es noch dazu gelingt sich als Opfer darzustellen.


Wohlerprobtes Muster

Die israelische Argumentation ist nicht neu. Im Gegenteil, es handelt sich um eine der ungezählten Wiederholungen des zionistischen Narrativs, denn die von Ben Gurion selbst ausgesprochene Wahrheit ist im Zeitalter der Political Correctness nicht mehr gut verkäuflich: "Warum sollten die Araber Frieden schließen? Wäre ich ein arabischer Führer, würde ich niemals mit Israel verhandeln. Das ist ganz natürlich: Wir haben deren Land genommen. Sicher, Gott hat es uns versprochen, aber was geht die das an? Unser Gott ist nicht deren Gott. Wir stammen aus Israel, aber das ist 2000 Jahre her, und was interessiert die das? Es gab Antisemitismus, die Nazis, Hitler, Auschwitz, aber war das deren Schuld? Das Einzige, was die sehen ist: Wir kamen her und stahlen ihr Land. Warum sollten die das akzeptieren?" (1)

So stellt man den palästinensischen Widerstand gegen den kolonialen Freiheits- und Landraub systematisch als Terror und zudem auf infame Weise in Kontinuität der europäischen Judenverfolgung dar. Und schon schlüpft der Aggressor in die Opferrolle. Jeder weitere Schritt in der Vernichtung der Palästinenser als Nation, in ihrer Erdrosselung, wird zur Selbstverteidigung der jüdischen Existenz stilisiert und legitimiert härteres koloniales Zuschlagen.

So kommt es, dass es heute niemanden mehr erstaunt, wenn 1,5 Millionen Häftlingen, die aus ihren Land vertrieben wurden und im größten Freiluftgefängnis der Welt eingepfercht vegetieren müssen, Essen, Wasser und Brennstoffe verweigert werden, und ein solches Verbrechen gegen die Menschlichkeit dennoch als ~Ausübung des israelischen Rechts auf Selbstverteidigung" gilt. Diejenigen, die es wagen Protest anzumelden, werden als notorische Antisemiten abgestempelt.


Vernichtung des Widerstands als Ziel

Israel posaunte in den Welt hinaus, es wolle der Hamas den Kopf abschlagen. Washington pflichtete stereotyp dem politischen Völkermord bei: "Die Terroristen müssen eliminiert werden".

Was bedeutet das im Grunde? Die Hamas repräsentiert die Kontinuität des antikolonialen Widerstands der Palästinenser, der eine jahrzehntelange Tradition aufweist. Die Hamas vernichten zu wollen, bedeutet die Palästinenser als Teil der arabischen Nation auszulöschen. Zweifellos ist das das historische Ziel des Zionismus und der gegenwärtige Angriff ein Versuch es zu erreichen.

Doch warum sollte das gerade jetzt gelingen? Der tiefste Punkt des Widerstands ist schon lange überwunden und die Schutzmacht Amerika hat in ihrem globalen Krieg einige Dämpfer einstecken müssen. Und wurde Israel selbst bei der proklamierten Vernichtung der Hisbollah im Libanon nicht eine unvergessene Lektion erteilt?

Sicher, mit einer Eskalation in Richtung Massenvernichtung wäre einiges zu erreichen. Israel und die USA arbeiten unentwegt daran, solche Schritte politisch durchsetzbar zu machen, insbesondere einen atomaren Schlag gegen den Iran, bei dem man en passant die Palästinenser gleich mitnehmen könnte. Doch (noch) scheint die westliche Öffentlichkeit dafür nicht reif.


Bodenoffensive

Israel rasselt mit den Säbeln, stellte den Einmarsch mit Bodentruppen als Rute ins Fenster und begann schließlich mit dessen Durchführung. Doch darf man nicht erwarten, dass die israelische Armee einen systematischen Kampf Haus um Haus oder sogar eine neuerliche Besetzung des Gaza-Streifens plant. So absurd das klingen mag, für den palästinensischen Widerstand wäre das eine Chance, tatsächlich zu kämpfen. Es verhieße die Möglichkeit auf einen Guerillakampf, der bereits im Libanon und im Irak mit Erfolg geführt werden konnte. So hoch der palästinensische Blutzoll auch sein würde, wer hätte mehr Grund sein vom Zionistenstaat auf die bloße Existenz reduziertes Leben zu opfern als jene, die nur mit dem Märtyrertod ihre Menschenwürde zurückgewinnen können?

Die israelische Armee mag einige Teile des Gaza-Streifens dem Erdboden gleich machen, Menschen vertreiben, Abschnitte besetzen etc. je nach militärischen Erfolgen. Doch sie wird möglichst vermeiden, dem Widerstand die Möglichkeit des Guerillakrieges zu bieten. Es ist anzunehmen, dass sie sich darauf konzentrieren werden mit kombiniertem Luftangriffen und Kommandoaktionen die Führung der Hamas möglichst auszuschalten und so politische Erfolge zu erzielen.

Ein Planszenario könnte darin bestehen, die Hamas-Regierung so zu zerrütten und eine humanitäre Katastrophe zu schaffen, sodass nach einem Einmarsch international legitimierter Truppen die Möglichkeit eröffnet wird, wieder eine Kollaborateursverwaltung der Fatah an die Macht zu hieven.


Ausstiegsszenarien

Seine Maximalziele wird Israel nur sehr schwer erreichen, wie der kurze Waffengang gegen den Libanon vor zwei Jahren nahe legt. (Wobei die Bedingungen für den palästinensischen Widerstand viel ungünstiger sind.) So sehr sie von ihrer militärischen Überlegenheit geblendet sein mögen, dämmert es zumindest einigen führenden Zionisten, dass sie im Falle von signifikantem militärischen Widerstand die Ziele zurückstecken müssen, um nicht schon wieder eine politische Niederlage einzustecken. Nicht umsonst lies sich das offizielle Israel eine Hintertür offen und platzierte ein propagandistisch leichter vertretbares Kriegsziel, nämlich den Raketenbeschuss zu unterbinden. Das würde eine Form des Waffenstillstands bedeuten.

In jedem Fall dient der Angriff einmal dazu Macht, Härte und militärische Überlegenheit zu demonstrieren. Dabei befolgt man scheinbar die Lehre aus dem Libanon, sich vor allem auf Terror aus der Luft zu konzentrieren. Israel verliert nichts dabei und die Bombardements zeigen dennoch politisch-symbolische Wirkung. Die Zustimmung der Mehrheit der israelischen Bevölkerung geniest die Armee jedenfalls solange, solange sich keine Niederlagen einstellen. Die gegenwärtige zionistische Führungsgruppe der Kadima-Partei rechnet sich mit der Militäraktion sogar bessere Wahlchancen gegen Netanjahu aus. Scheinbar gilt: je näher am Likud, desto besser - auf jeden Fall solange man am Schlachtfeld nicht gedemütigt wird.

Noch mehr geht es um die internationale öffentliche Meinung und die völlige Gleichschaltung des Westens hinter Israel, so wie es Washington seit Jahren vorexerziert. Selbst wenn das gegenwärtige Massaker nicht zum finalen Schlag wird, so dient es dennoch dazu, propagandistisch den Boden weiter für Steigerungen der Brutalitäten und Gräueltaten aufzubereiten, denn ohne diese sind Israels Ziele nicht zu erreichen.

Der Zeitpunkt des Angriffs steht offensichtlich im Zusammenhang mit dem Übergang des US-Präsidentenamtes an Obama, dem man in Tel Aviv trotz seiner rituell bekundeten Treue zu Israel nicht über den Weg traut. Obama soll gezwungen werden, die neokonservative Nahostpolitik fortzusetzen.


Vorbereitungen für neue Aggressionen in der Region

Die Niederlage im Libanon 2006 stellt für Israel eine tiefere Zäsur dar, als es aufgrund der Begrenztheit des Waffenganges erscheinen mag. Der von der Hisbollah geführte Widerstand bestätigte eindrucksvoll, dass auch unter den gegenwärtigen Bedingungen israelische Aggressionen abgewehrt, ja dass dem Zionistenstaat sogar Niederlagen beigebracht werden können. Es ist einsichtig, dass Israel seine angestammte Position als überlegene und unantastbare Großmacht in der Region wiederherzustellen bestrebt ist.

Dazu bedarf es allerdings des weiteren Einklangs mit den USA. Diese sind mit ihrem permanenten Präventivkrieg und ihrer militärischen Neugestaltung der Region unter dem Namen "Greater Middle East" am Schlachtfeld stecken geblieben. Zwar versuchen Israel und die Neokonservativen das Projekt des American Empire fortzusetzen, doch es bildeten sich erhebliche Gegenkräfte. An Obama wird nun von allen Richtungen gezogen und gezerrt. Dabei will Israel die Nase vorne haben.

Israel, die USA und seine Verbündeten haben im Nahen Osten einige manifeste Feinde, wobei Staaten und Volksbewegungen oft ineinander übergehen oder verfließen. Da ist auf der einen Seite die Regionalmacht Iran, die auf den Irak, Syrien und den Libanon erheblichen Einfluss ausübt. Da sind auf der anderen Seite die Widerstandsbewegungen Hamas und Hisbollah, sowie die vielgestaltige und fragmentierte irakische Guerilla. Beide Seiten hängen zusammen, wenn auch linear.

Wo versucht Israel nun die Brechstange anzusetzen? Nachdem der Weg nach Teheran derzeit einmal versperrt ist und ein Angriff auf den Libanon eine neuerliche blutige Nase bringen kann, bietet sich als unmittelbares Opfer die Hamas an. Dem palästinensischen Widerstand eine entscheidende Niederlage beizufügen, könnte Bewegung in die anderen Fronten bringen und den Weg zu dem von Israel gewünschten Kriegen ebnen.


Einer Entscheidung näher

Die israelische Aggressionsstrategie führt auch dazu, dass die Entscheidung über die Struktur des Weltsystems beschleunigt wird. Entweder das US-amerikanische Reich kann sich fest etablieren und die über den Globus verstreuten Widerstandsnester ausräuchern, also seinen "Krieg gegen den Terror" gewinnen. Oder die Überdehnung seines Machtanspruchs führt zu Niederlagen, die letztlich den Weg zu einer multipolaren Welt freigeben. Israel wäre dadurch gezwungen sich etwas zurückzunehmen.

Wir sind davon überzeugt, dass es gute Chancen gibt, dem Zentrum des imperialistisch-kapitalistischen Weltsystems, einen Schlag zu versetzen und das American Empire zu Fall zu bringen. (Das bedeutet noch nicht, die Vorherrschaft der USA zu brechen. Dennoch müsste diese anderen Mächten mehr Platz einräumen.) Damit erhielten Widerstandbewegungen mehr Spielraum und der Kampf um die Emanzipation vom Kapitalismus und Imperialismus käme wieder auf das Tapet.

Nicht nur deswegen stehen wir fest auf der Seite des palästinensischen Widerstands und der Hamas. Die Solidarität mit den Unterdrückten für das Recht auf Selbstbestimmung und gegen den Kolonialismus ist auch ein elementares demokratisches Prinzip.

Anmerkung
(1) Das jüdische Paradox - Zionismus und Judentum nach Hitler, S. 99, 1978, Eva, Hamburg

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INTERNATIONAL

Kontrapunkt Russland?

NATO vor den Bug geschossen - Oligarchen-Kapitalismus selbst in schwerer Bedrängnis

Von Wilhelm Langthaler

Russlands militärisches Eingreifen gegen die NATO-Bestrebungen Georgiens zeitigt Wirkung. Auf dem letzten Treffen der NATO im Dezember 2008 wurde die Osterweiterung praktisch ausgesetzt. Doch gerade im Augenblick dieses Erfolges schlägt die globale kapitalistische Krise zu und trifft besonders Russland hart.


Der Waffengang zwischen Moskau und Tiflis im August 2008 zeigte bedeutende Verschiebungen der internationalen Kräfteverhältnisse an. Russland demonstrierte Muskeln und sendete mit der Intention eine unmissverständliche Warnung an Washington: Gegen den weiteren Vormarsch der NATO nach Osten, insbesondere in der Ukraine, werde man zu reagieren wissen, notfalls auch militärisch.

Die USA ist in den letzten Jahren zu einer sehr aggressiven Haltung gegenüber Russland zurückgekehrt, die in der Rhetorik an die Zeit des Kalten Krieges erinnert. Sie reagiert damit auf Putins Versuch, die Unterwerfung zu durchbrechen und in die historische Rolle einer Großmacht oder zumindest einer Regionalmacht mit unantastbarer Einflusssphäre zurückzukehren.

Die Konfliktpunkte sind vielfältig. Neben der Energieversorgung (vorwiegend ein europäisches Problem) und der Haltung gegenüber dem Iran, passt Washington auch die vom Kreml verlangten Prärogative den dominanten Kapitalgruppen gegenüber nicht. Der Versuch die militärische Kontrolle über den russischen Hinterhof und das Kernland selbst auszubauen, vollzieht sich sowohl multilateral über die NATO, aber auch unilateral über den Raketenschild, den die USA Russland vor die Haustür setzen. Dieser dient entgegen anders lautender Behauptungen vor allem der amerikanischen Machtprojektion gegen Moskau.


EU in der Zwickmühle

Während das offizielle Osteuropa und Großbritannien die aggressive Haltung der USA begeistert mittragen, zeigen sich insbesondere Deutschland und Frankreich vorsichtiger. Sie wollen weder einen Kalten Krieg und schon gar nicht einen heißen Krieg mit Russland - allein des amerikanischen exklusiven Machtanspruchs wegen. Dabei geht es nicht nur um die vordergründige Energiesicherheit, sondern es stehen durchaus verständliche strategische Abwägungen dahinter. Russland und seine Umgebung werden als wichtiger Raum zur Expansion gesehen. Im Gegensatz zur Vergangenheit herrscht nun in Moskau ein Regime, das zur Kooperation in der Substanz bereit ist. Dass es dafür seiner Bedeutung entsprechend Gegenleistungen erwartet, wird als verständlich erachtet, zumal es kapitalistisch bis auf die Knochen ist.

Hier liegt übrigens der Unterschied zum Iran. Obwohl auch dieser kapitalistisch geblieben ist, bleibt doch ein unberechenbares Element des Antiimperialismus. Mehrfach hat die Islamische Republik demonstriert, dass sie die Massen zu mobilisieren vermag. Was Russland betrifft, wird eine solche Gefahr nicht angenommen.


NATO-Rückzieher und ukrainische Frage

Im Dezember 2008 bestätigte die NATO zwar den Bukarester Beschluss vom vergangenen Frühjahr zur Aufnahme Georgiens und der Ukraine, doch de facto wurden die konkreten Schritte zu dieser auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben. Hinter dieser sybillinischen Formel, die den USA erlaubt das Gesicht zu wahren, versteckt sich die unleugbare Tatsache, dass die US-Ambitionen einen Dämpfer erhielten. Washington sieht sich unter den gegebenen Umständen nicht in der Lage, den extrem aggressiven Kurs fortzusetzen. Hier kommen mehrere Faktoren zusammen. Da ist vor allem die glaubhaft zu erwartende militärische Reaktion Moskaus, die die Vereinigten Staaten auf dem falschen Fuß erwischen könnte. Unter anderem hängt damit die ablehnende Haltung der europäischen Verbündeten zusammen, die man gerade ins Boot zurück zu holen versucht. Nicht zu unterschätzen sind natürlich auch die inneramerikanischen politischen Verhältnisse aufgrund der gegenwärtigen massiven wirtschaftlichen Probleme.

Hinzu kommt die angespannte Lage in der Ukraine selbst, die sich dreigeteilt zeigt. Auf der einen Seite das prorussische Lager, das ein gutes Drittel der Bevölkerung repräsentiert und den Osten des Landes fest in der Hand hat. Auf der anderen Seite das prowestliche Lager, das sich im äußersten Westen des Landes auf einen tief verwurzelten antirussischen ukrainischen Nationalismus stützen kann und sonst die neoliberalen Eliten und die zugehörigen Mittelschichten vertritt. Zwischen beiden steht Timoschenko, die eine Schaukelpolitik versucht.

Es kann davon ausgegangen werden, dass der Zusammenbruch der Wirtschaft, der die Regierung unter Kuratel des IWF zu bringen droht, die politische Krise noch weiter verschärfen wird. Die politisch-kulturelle Anziehung des Westens wird damit mit Sicherheit an Kraft verlieren, was die Opposition gegen die NATO im Land anfachen wird. Der Ausgang eines auch bewaffnet ausgetragenen Konfliktes erscheint damit ungewiss.

Zumal es Russland bei der Ukraine um sehr viel geht. Es betrachtet sie nicht nur als "nahes Ausland", als historisches Einflussgebiet, sondern als integralen Bestandteil der eigenen Nation. Immerhin liegen die Anfänge der russischen Staatlichkeit in Kiew. Ohne die Ukraine scheint eine Großmachtrolle Russlands unmöglich. Es ist daher kaum vorstellbar, dass der Kreml die Ukraine kampflos der NATO serviert, zumal einige Teile wie die Krim sogar russisch besiedelt sind. Der Marinestützpunkt Sewastopol auf der Schwarzmeerhalbinsel gilt zudem als Symbol nationaler Größe und militärischer Macht. Auch ökonomisch spielt die Ukraine für Russland eine potentiell wichtige Rolle. Sie gilt mit ihren hervorragenden Böden als Kornkammer und die Schwerindustrie war integraler Bestandteil der sowjetischen Wirtschaft.

Den amerikanischen Bestrebungen wurde mit den NATO-Beschluss im Dezember vorerst einmal Einhalt geboten. Es bleibt abzuwarten, ob der neue US-Präsident andere Akzente setzen wird. Aber nicht nur seine eigenen Aussagen deuten nicht darauf hin, auch die Beibehaltung von Verteidigungsminister Robert Gates und die Nominierung von Hillary Clinton zur Außenministerin, die sich beide sehr antirussisch geben, legen Kontinuität nahe. Zur Aufrechtherhaltung des American Empire bleibt die Eindämmung Russlands jedenfalls absolut notwendig.


Russischer Kapitalismus selbst Opfer

Die Demütigung Saakaschwilis durch die russische Armee lies die Russophilen aufjubeln. Und auch wir wollen unsere Sympathien nicht verhehlen. Nach langer Zeit unsäglicher Schwäche und nationaler Schmach demonstrierte Russland gegenüber dem Westen wieder Eigenständigkeit und Stärke.

Doch es stellt sich die Frage, wie nachhaltig diese Entwicklung ist. Viele der ehemaligen Prosowjetischen, die ihre Fahne nicht nach dem Wind gedreht haben, unterschieben Russland eine grundlegend antiwestliche Tendenz. Sie sind damit in illustrer Gesellschaft.

Die These von der russischen Andersartigkeit hatten vor einem Jahrhundert die Volkstümler gegen die Modernisierer aus Bourgeoisie und Arbeiterbewegung vertreten. Die heutigen russischen Kommunisten kann man im Gegensatz zu ihren Gründervätern als Fortsetzung dieser Tendenz ansehen. Während der Zeit des jugoslawischen Widerstands gegen die NATO hatten viele Serben in panslawistischer Anwandlung vergeblich den Entsatz aus Russland erwartet. Und letztlich vertrat der Kulturkrieger Samuel Huntington dieselbe These - wenn er auch Gut und Böse invertierte.

Russland als Nation und Kultur sei eine Konstante unabhängig vom sozialen System, sprich von Kapitalismus oder Sozialismus, was unseres Dafürhaltens überzogen ist. Sicher ist auch die positivistische Gegenthese, laut der der Kapitalismus alle kulturellen Eigenheiten einebnete und schließlich zum Verschwinden brächte, unhaltbar. Die Geschichte zeigt vielmehr, dass Russlands nationale Selbstbehauptung zwar ein ständiger historischer Faktor ist, aber durchaus von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen abhing und abhängt.

Putins Erfolg und Popularität liegt daran, dass er den nationalen Zerfall gestoppt, der rücksichtlosen Ausplünderung durch eine schrankenlose Öffnung gegenüber dem vom Westen dominierten globalen Markt einen Riegel vorgeschoben und den Staat rehabilitiert hat.

Er hat die kapitalistischen Oligarchen unter die Botmäßigkeit des Kremls gezwungen. Was er indes nicht tat, war die Oligarchie zu entmachten. Im Gegenteil, er schuf einen Staat der Oligarchen im Sinne der Panzerung eines Casino-Kapitalismus fast lateinamerikanischen Typs.

Im Gegensatz zur sowjetischen Zeit, basiert die gegenwärtige russische Ökonomie wesentlich auf dem Rohstoffexport. Anders als die chinesische Führung hat man sich nie ernsthaft bemüht, eine selbständige und ausgewogene industrielle Entwicklung zu fördern. So lange der kapitalistische Boom anhielt, schien alles gut zu gehen. Die Staatkassen waren voll, die Neureichen konsumierten wie die Irren und der Rest konnte zumindest sein Leben fristen.

Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise fallen nun die Rohstoffpreise dramatisch und mit ihnen die Renditen der dominanten Kapitalgruppen. Die Kreditblase platzt und der Rubel verliert an Wert. Damit werden Kredite in westlichen Währungen nicht nur teurer, sondern ebenso schwer rückzahlbar. Die Mittel für staatliche Interventionen werden schnell verbraucht sein und es ist nicht einmal auszuschließen, dass man demütig beim IWF vorstellig werden muss.

Die erste Reaktion des offiziellen Russland war es, die Schwierigkeiten und Schuld auf das amerikanische Modell abzuschieben - was in erster Lesung nicht so falsch ist. Doch wer hat dieses aufrecht erhalten? Früher oder später wird sich die Putin-Gruppe der politischen Verantwortung nicht entziehen können.

Es mag paradox erscheinen, dass die Schwäche Amerikas mit jener Russlands einhergeht. Just in dem Augenblick, in dem die Momente gegen das American Empire ihre Wirkung zu entfalten beginnen, und die Krise das Herz des Kapitalismus trifft, droht Russland selbst abzustürzen.

Nur soziales Gegenmodell kann Russland stark machen.

Es ist kein Zufall, dass Russland als realsozialistischer Staat die bei weitem größte Machtentfaltung verzeichnete. Auf der Basis der vollständigen Eingliederung in den globalen Kapitalismus als Rohstofflieferant kann selbst mittels eines starken Staates keine nationale Selbständigkeit erwartet werden. Das heißt jedoch nicht, dass Russland nun wieder in die Jelzin-Zeit zurückzufallen droht.

Wir meinen lediglich, dass im Rahmen des gegenwärtigen Kapitalismus und Russlands spezifischer Funktion in diesem, der Kreml in Verfolgung seiner Interessen immer wieder Washington dazwischen zu funken versuchen wird, aber keine ausreichende Kraft aufbringen wird können, einen tatsächlicher Gegenpol aufzurichten.

Das wäre nur denkbar durch ein anderes gesellschaftliches Modell als den gegenwärtigen Zwitter aus liberalistischem Kapitalismus und staatlicher Lenkung. Die Volksmassen müssen demokratisch eingebunden und ihren sozialen Interessen berücksichtigt werden, was im Rahmen des Putinschen Autoritarismus unmöglich ist. Wir hoffen jedenfalls auf das Wiedererwachen der sozialen und politischen Opposition, die es vermutlich leichter haben wird, wenn der vermeintliche nationale Retter zum Bittsteller bei den Institutionen des westlichen Finanzkapitalismus degradiert wird.

Wilhelm Langthaler
Dezember 2008


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INTERNATIONAL

"Keine Möglichkeit eines Kompromisses"

Interview mit Vladimir Acosta, Historiker und Intellektueller, Venezuela, Juli 2008

Vladimir Acosta ist einer der führenden Intellektuellen und Historiker Venezuelas. Er war lange Zeit als Professor für Soziologie an der Universidad Central de Venezuela tätig. Heute hat er ein wöchentliches Radio- und Fernsehprogramm, in dem er sich kritisch mit brennenden Fragen der venezolanischen Gesellschaft auseinandersetzt. Das folgende Interview wurde im Juli 2008 in Caracas aufgenommen. Aktuelle Themen wie die Regionalwahlen vom November 2008 oder die Bedeutung der weltweiten Finanzkrise und der stark gesunkenen Rohölpreise werden daher nicht angesprochen. Die Analyse des bolivarianischen Prozesses ist dennoch von großem Interesse und behält in der gegenwärtigen Situation Gültigkeit.


Frage: Wie sehen Sie die aktuelle Situation in Venezuela, insbesondere vor dem Hintergrund der Niederlage beim Referendum im Dezember 2007 (1)?

Vladimir Acosta: Das Referendum war ein Schlag gegen die bolivarianische Bewegung und gegen Präsident Chavez. Dieser Ausgang war nicht erwartet worden. Technisch gesehen war die Differenz minimal, doch der Punkt ist, dass Vorschläge, wie sie in diesem Referendum gemacht wurden, nicht mittels einer Abstimmung durchgesetzt werden können. Die Zustimmung dazu muss breit und mehrheitlich sein, sonst wird das Land gespalten und die Vorschläge werden unumsetzbar. Es war klug, die Entscheidung der Mehrheit anzuerkennen, wie das Präsident Chavez gemacht hat, auch wenn es nur um wenige Stimmen gegangen ist.

Mit diesem Referendum ist eine Reihe von Problemen sichtbar geworden. Es wurden viele Fehler bei der Ausarbeitung dieses Projektes gemacht. Auch die Gewissheit, mit der ein Wahlsieg angenommen wurde, war überzeichnet und gründete sich auf der Sicherheit, bisher alle Wahlen gewonnen zu haben. Und viele andere Dinge komplizierten den Wahlkampf und erschwerten es, dass die Bevölkerung die Inhalte des Referendums begreifen konnte. Viele Dinge wurden vermischt. Es war zum Beispiel nicht hilfreich, die Möglichkeit zur Wiederwahl des Präsidenten mit anderen Maßnahmen, wie der Änderung der territorialen Verwaltungsordnung, eine sehr wichtige Maßnahme, die direkt mit der Machtverteilung in diesem Land zu tun hat, zu vermischen. Die Möglichkeit zur Wiederwahl des Präsidenten ist eine ganz normale Maßnahme, wie sie in vielen anderen Ländern besteht: Zustimmung oder Ablehnung gegenüber einer zur Wahl antretenden Person auszudrücken. In Europa gibt es in vielen Ländern diese Möglichkeit, auch der Präsident Kolumbiens, Uribe Velez, möchte sie einführen, nur in Venezuela hat die Opposition daraus eine Kampagne wegen angeblichem Machtmissbrauch gemacht.

Diese Vermischung der Vorschläge machte die ganze Sache sehr konfus und erschwerte es, das gesamte Paket der Reformvorschläge zu verteidigen. Die Opposition, die an sich in diesem Land nicht besonders intelligent ist, hat diese Tatsache intelligent ausgenützt. Sie hat sich in ihrer Kampagne auf drei fundamentale Punkte gestützt und damit Stimmung für die Ablehnung des gesamten Paketes gemacht: Erstens, dass Chavez sich praktisch zum König krönen, dass Chavez das Recht auf Eigentum abschaffen und dass er den Eltern das Sorgerecht über ihre Kinder entziehen wolle, um sie in Kinderheimen zu Kommunisten zu erziehen. Alle drei Dinge sind vollkommen falsch, aber mit Hilfe der Medien wurden sie so stark verbreitet, dass sie dennoch ihre Wirkung erzielen konnten.

Zu dieser Vermischung der Themen und einer unglücklichen Präsentation der Reformvorschläge durch die Regierung, der Schmutzkampagne der Opposition kam auch noch die Tatsache hinzu, dass Präsident Chavez sich zu dieser Zeit sehr um den Gefangenenaustausch in Kolumbien bemühte und dadurch die Kampagne für das Referendum vernachlässigte, wie er selbst zugestand.

Jedenfalls verlor die Regierung das Referendum um einige wenigen Stimmen und seit dem ist ein Prozess im Gange, in dem einigen Entwicklungen Fragen oder auch Besorgnis hervorrufen. Es gibt heute eine Diskussion darüber, ob es sich bei einigen Maßnahmen der Regierung um Zugeständnisse und Kompromisse handelt, die ein Abflauen des bolivarianischen Prozesses bedeuten, oder ob dies taktische Manöver sind, um die im November bevorstehenden Regionalwahlen zu gewinnen. Die Dynamik des politischen Alltagsgeschäfts verhindert es leider, dass diese Diskussion so tiefgehend und offen geführt wird, wie es sein müsste.

In der letzten Zeit haben wir Zugeständnisse an das Kapital, die Unternehmer und Banker und auch an die Opposition gesehen. Ihnen wurde ein Amnestiegesetz angeboten, das gleich nach der Niederlage beim Referendum angenommen wurde. Das hat natürlich Kritik ausgelöst, überhaupt, weil es nach einer Niederlage und nicht in einem Moment der Stärke durchgeführt wurde.

Frage: Was sind die Ziele der Opposition?

Vladimir Acosta: Im Grunde kann man davon ausgehen, dass es zwei Projekte gibt, dieses Land zu entwickeln, zwei politische Visionen. Das eine ist eine grundlegende soziale Vision, d.h. die Reichtümer des Landes in den Dienst der Bevölkerung zu stellen, eine Vision der politischen Souveränität, der lateinamerikanischen Einheit und Solidarität. Auf der anderen Seite steht die Vision der Opposition im Einklang mit den USA, die zu dem Projekt zurückkehren will, das wir früher hatten: Eine vollkommen dem Willen der USA unterworfene Gesellschaft, mit einem neoliberalen Wirtschaftsmodell, mit sozialer Ungleichheit, Unterdrückung, Hunger etc.

In dieser Auseinandersetzung gibt es keine Möglichkeit eines Kompromisses. Wenn dieser Veränderungsprozess weitergehen soll, dann ist es klar, dass er auch eine Form von Konfliktivität beinhalten wird. Es gibt keine Möglichkeit, dem aus dem Weg zu gehen. Wenn es darum geht, die Machtverhältnisse und die Produktionsweisen zu ändern, die der Oligarchie nützen, d.h. ihre Interessen anzugreifen, dann kommt man um einen Konflikt nicht herum.

Frage: Welche Formen wird dieser Konflikt annehmen?

Vladimir Acosta: Der Vorteil ist, dass dank der massiven Unterstützung der Bevölkerung für die Regierung Chavez und der breiten Zustimmung, die er, wenn auch nicht in der gesamten, so doch in der Mehrheit der Armee genießt, Chavez die Möglichkeit hat, diesen Konflikt zu kontrollieren. Damit kann der Konflikt friedlich gehalten werden, denn derzeit hat die Opposition aufgrund der massiven Unterstützung für Chavez keine Chance, die Oberhand zu gewinnen. In diesem Sinne sagen auch Kommentatoren aus den USA, dass die einzige Möglichkeit, Chavez zu stürzen, derzeit die ist, unter der Bevölkerung Missstimmung und Unzufriedenheit zu schüren, durch die Schaffung von wirtschaftlichen Schwierigkeiten, Inflation etc.

Was allerdings klar ist und was auch in manchen Teilen der bolivarianischen Bewegung nicht verstanden wird, ist, dass es nicht möglich ist, diesem Konflikt aus dem Weg zu gehen, außer man macht der Opposition Zugeständnisse und gibt das eigene Projekt auf.

Man muss auch sehen, dass der bolivarianische Prozess dieses Land stark verändert hat, auch die Bevölkerung. Heute kennen die venezolanischen Massen ihre Rechte, sie erkennen die Manipulierungsversuche der Medien. In welchem anderen Land haben einfache Menschen den Verfassungstext in ihren Hosentaschen und kennen ihn auswendig, wissen genau, welche Rechte er ihnen zugesteht. Dieses Volk hat gelernt, dass es eine Akteursrolle in diesem Prozess spielt und die wird es sich nicht nehmen lassen. Dazu bräuchte es tatsächliche Massaker, wie in Chile 1972 oder in Indonesien in den 1950er Jahren. Das ist aber aufgrund der derzeitigen Kräfteverhältnisse unwahrscheinlich.

Die Opposition der Eliten ist absolut. Es gibt keinen Aspekt des bolivarianischen Prozesses, den sie nicht angreifen und ablehnen. Darum kann man auch keine bestimmten Bereiche angeben, in denen sich der Konflikt im besonderen Maße abzeichnen wird. Denn die Opposition ist einzig und allein davon besessen, Chavez loszuwerden, das ist fast wie eine Obsession.

Frage: Was braucht der bolivarianische Prozess, um den qualitativen Schritt hin zu einer sozialistischen Gesellschaft zu machen?

V.A.: Nun ich bin der Überzeugung, dass der Sozialismus nur im weltweiten Kontext möglich ist. Das würde eine globale Krise des Kapitalismus voraussetzen, die eine Antwort der Völker, der fortschrittlichen Parteien etc. hervorruft. Solange eine solche Krise und die Reaktion darauf nicht in Sicht ist, ist es schwierig von Sozialismus zu sprechen.

Dem Kapitalismus ist es gelungen, ein System zu schaffen, an dem alle in der einen oder anderen Weise teilhaben. Die gegenwärtige Krise in den USA hat Auswirkungen auf Europa, auf China auf andere Länder. Ich weiß nicht, ob sich diese Krise vertiefen wird, denn es gibt viele Mechanismen, um sie zu kontrollieren, aber wenn sie sich vertieft, könnte sie Explosionen des Volkszorns in vielen Teilen der Welt auslösen. Eine Voraussetzung wäre natürlich, dass sich diese Volkserhebungen vereinen, etwas, was gerade in letzter Zeit nicht mehr sehr häufig stattgefunden hat.

Wenn wir von Sozialismus sprechen, so muss klar sein, dass es sich um einen langen und langfristigen, komplexen Prozess handelt, an dem die Massen teilhaben, und dass er nur in einem Kontext der internationalen Krise des Kapitalismus und der internationalen Solidarität Früchte tragen kann.

Was heute in Venezuela stattfindet, ist ein interessanter Prozess, in dem es um Demokratie, um Partizipation der Bevölkerung geht, und der versucht sich dem Konzept des Sozialismus des 21. Jahrhunderts anzunähern, ein Konzept, das bis heute noch nicht sehr klar definiert ist. Auf diesem Weg passieren natürlich Fehler und es gibt auch Rückschläge, dennoch ist es ein Prozess in die richtige Richtung.

Frage: Wie sehen Sie die Zukunft des bolivarianischen Prozesses in Venezuela? Da der entscheidende Schritt zum Sozialismus offensichtlich noch nicht gemacht wurde, ist Ihrer Ansicht nach mit einer militärischen Auseinandersetzung zu rechnen oder wird es eher zu einem Stillstand des Prozesses kommen?

V.A.: Ich lese nicht gerne die Zukunft, denn das ist die beste Möglichkeit, sich zu irren. Dennoch: Der bolivarianische Prozess hat einen Vorteil, der gleichzeitig ein Nachteil ist, wenn wir hier auf die Dialektik verweisen wollen. Der Vorteil ist, dass es der Regierung gelungen ist, für das Land und für die Gesellschaft Ressourcen zu lukrieren, die bis dato nur den Reichen gedient haben. Die Regierung hat die Erdölgesellschaft verstaatlicht, denn wenn sie davor auf dem Papier verstaatlicht war, so war sie es dennoch de facto nicht. Das ist extrem wichtig, denn das Erdöl ist nach wie vor die Haupteinnahmequelle Venezuelas. Diese Abhängigkeit ist auch eines der großen Probleme, sie bedeutet eine große Schwäche und hohe Abhängigkeit von Importen. Daneben hat die Regierung der Kapitalflucht zumindest zu einem gewissen Grad Einhalt geboten und eine Kontrolle über die Steuern eingeführt. In diesem Land hatten bislang hauptsächlich die Angestellten Steuern bezahlt. Diese Mittel wurden über die Missionen (Sozialprogramme) der Bevölkerung zur Verfügung gestellt. Die Umverteilung mittels der Missionen und die dadurch erreichten Verbesserungen für die Bevölkerung haben es auch möglich gemacht, dass der Veränderungsprozess bislang friedlich verlaufen ist. Die Opposition versucht bei jeder Gelegenheit Konflikte zu provozieren, aber sie scheitert damit. Die Regierung verfügt, wie schon gesagt, über breite Unterstützung unter der Bevölkerung, dank der Umverteilungsmaßnahmen.

Eine weitere Errungenschaft ist darin zu sehen, dass die Bevölkerung heute dem Begriff Sozialismus gegenüber positiv eingestellt ist - und das in einem Land, wo vor zehn Jahren allein das Aussprechen dieses Wortes einen kollektiven Herzinfarkt, auch unter den armen Bevölkerungsschichten, provoziert hätte.

Bis hier war nun dieser Prozess relativ leicht: Es handelte sich um eine Umverteilung der Ressourcen im Interesse der Armen. Das allein ist noch nicht Sozialismus. Natürlich hat das mit dem Ressourcenreichtum Venezuelas zu tun. Ein solcher Umverteilungsprozess hätte etwa in Paraguay oder in Nicaragua zu einem Bürgerkrieg geführt, wie dies ja auch vor dreißig Jahren der Fall war.

Doch die Leichtigkeit dieses Prozesses in Venezuela hat auch eine Kehrseite: Sie hat dazu geführt, dass die große Mehrheit den Eindruck gewonnen hat, dass Revolutionen mit großer Leichtigkeit und vor allem ohne die Produktionsverhältnisse anzutasten durchgeführt werden können. Und das ist falsch. Keine Revolution kann ohne eine Veränderung der Produktionsverhältnisse und damit der Machtverhältnisse stattfinden.

Die Eliten, die Oligarchie haben nach wie vor große Macht in Venezuela, sie kontrollieren die Wirtschaft, die Medien, die Bildung. Die Regierung ist eigentlich mehr Regierung als Machtinstanz. Sie verfügt über die ausführende Gewalt, sie hat politische Macht, aber die wirtschaftliche, die soziale, die ideologische, die Medienmacht ist in der Hand der Eliten.

Auf der einen Seite steht der Glaube an die Leichtigkeit der Revolution - die Revolution habe schon stattgefunden, weil es Überfluss gibt. Doch dieser Überfluss bewirkt auch Konsumismus und Egoismus, letztendlich Kapitalismus und kapitalistisches Bewusstsein. Das kann natürlich nicht mit einer solidarischen und kreativen Gesellschaft, wie wir uns den Sozialismus vorstellen, verglichen werden.

Auf der anderen Seite sehen wir, dass die Errungenschaften nicht ausreichend abgesichert sind. Das hat wiederum damit zu tun, dass die größten Nutznießer dieses Prozesses bislang die Banken waren. Die transnationalen Konzerne, die großen Banken, die alle Gegner des Prozesses sind, halten nach wie vor die Macht in ihren Händen, und bevor daran nichts geändert wird, wird es keine Garantie dafür geben, dass die Veränderungen von langer Dauer sein werden.

Ein weiteres Problem, das diese Widersprüche aufzeigt, ist die Korruption, die es hier en masse gibt. Die Korruption ist in gewisser Hinsicht eine Komponente der staatlichen Politik, doch hier zeigt sich ein tiefer Widerspruch einerseits zwischen dem Diskurs und dem Druck von Seiten des Präsidenten in Richtung Solidarität und andererseits der Praxis, in der es um persönliche Bereicherung genau jener Personen geht, die dem Präsidenten bei seinen Reden zujubeln.

Im Grunde gibt es in Venezuela zwei Staaten und kein Land kann überleben, wenn es zwei Staatsapparate, zwei parallele Verwaltungssysteme umfasst. In Venezuela ist das der Fall. Der alte Staatsapparat, der nicht der Bevölkerung dient, sondern der Bürokratie, existiert weiterhin. Aus genau diesem Grund hat sich die Regierung dazu gezwungen gesehen, die Missionen (2) ins Leben zu rufen. So ist eine Parallelstruktur zur alten Verwaltung entstanden. Letztere, die zwar den alten Eliten gehorcht, korrupt und bürokratisch ist, verfügt aber dennoch über gewisse Kontrollmechanismen. In den Missionen, die neu sind und wo notwendigerweise viel improvisiert werden muss, gibt es kaum Kontrollmechanismen. Einige dieser Missionen haben sehr gut funktioniert, anderen nicht so gut und viele, die zunächst gut funktionierten, haben sich eben aufgrund fehlender Kontrollmechanismen verschlechtert.

Frage: Es gibt also eine Bürokratisierungstendenz im bolivarianischen Prozess?

V.A.: Ja, und das sehe ich als Besorgnis erregendes Element. Zu Beginn des bolivarianischen Prozesses hat er sich durch eine spontane und enthusiastische Partizipation der Massen ausgezeichnet, die weit über die Unterstützung der Regierung durch unterschiedliche Parteien hinausgegangen ist. Höhepunkt dieser spontanen Massenbeteiligung war wahrscheinlich der Putschversuch gegen den Präsidenten 2002, als die Solidarität und die Bereitschaft, das eigene Leben für diesen Veränderungsprozess zu riskieren, deutlich sichtbar waren.

Natürlich muss sich jeder Prozess im Laufe der Zeit Strukturen geben, doch dabei ist es zu einem teilweisen Verlust der Partizipation der Massen gekommen und eine Bürokratie konnte entstehen. Ich möchte hier keinesfalls einem anarchistischen Konzept das Wort reden, das sich auf den Spontaneismus der Massen stützt. Es geht vielmehr um die grundlegende Tatsache, dass ein revolutionärer Veränderungsprozess letztlich von den Massen auf der Straße gemacht wird. Heute werden die Massen vor allem von Chavez oder auf Regierungsinitiative zu öffentlichen Kundgebungen eingeladen - und das ist natürlich auch zu begrüßen. Aber was es braucht, ist eine politische Dynamik unter den Massen und die ist doch deutlich gebremst, wenn auch nicht vollkommen verloren gegangen.

Genau das muss heute geschehen: Diese politische Massendynamik, die breite Beteiligung und die Kreativität der Massen müssen wiederhergestellt werden. Gleichzeitig muss auch die kritische und selbstkritische Auseinandersetzung wieder gefördert werden, die ebenfalls mit der Bürokratisierung zurückgedrängt wurde. Das ist auch ein fast natürlicher Prozess: Je mehr die neue Partei (3) sich strukturiert, ihre Linie, ihre Führung und ihre Positionen definiert, werden die Räume für inhaltliche Diskussion kleiner, die Aufmerksamkeit gegenüber den Massen geht zurück. Ein bisschen in der Tradition der sowjetischen Partei, in der das Zentralkomitee die Linie vorgibt und die Strukturen in den Massen diese umsetzen sollen.

Hingegen sollte dieser Prozess ein dialektischer Sein: von den Massen zur Parteiführung und umgekehrt. Das ist m.E. die Lehre, die aus dem realen Sozialismus zu ziehen ist: Wie kann es gelingen, Parteien und straffe politische Strukturen aufzubauen - und die sind zweifellos notwendig - die jedoch organischer Ausdruck der politischen Kreativität und des Aktivismus der Massen sind und größtmögliche Partizipation zulassen. Diese Frage ist hier in Venezuela noch nicht gelöst.

Der Kampf gegen die Bürokratisierung, gegen den Autoritarismus und Sektarismus, gegen die Delegitimierung von Kritik und gleichzeitig der Aufbau einer Staatsverwaltung, die Partizipation garantiert - das sind die größten internen Probleme dieses Prozesses.

Frage: Und auf internationaler Ebene?

V.A.: Diese gehört m.E. zu den positivsten Aspekten des bolivarianischen Prozesses. Auf lateinamerikanischer Ebene hat der Prozess in Hinblick auf die Integration und Solidarität tatsächlich Außergewöhnliches geleistet. Und das wäre vor ein paar Jahren unmöglich gewesen. Ich erinnere mich gut an die 1990er Jahre hier, an meiner Universität und Fakultät (4). Der Einfluss des Neoliberalismus war auf allen Ebenen erdrückend: Überall wurde nur die unausweichliche Notwendigkeit von Privatisierungen gelehrt, der Unsinn der Globalisierungsthese vom Ende der Geschichte usw. Und demgegenüber hat der bolivarianische Prozess die Dynamik in Lateinamerika in den letzten zehn Jahren um 180 Grad gedreht.

Chavez war die zentrale Achse dieses Prozesses. Chavez selbst ist in diesem Prozess politisch über sich hinausgewachsen. Er verfügte nicht - und das ist ein großes Glück - über die klassische Ausbildung für Politiker, denn diese bedeutet in diesem Land v.a. die Mechanismen der Korruption und des Bürokratismus zu beherrschen. Chavez ist ein Mensch mit einem großen Sinn für Menschlichkeit, für Demokratie und Solidarität - und genau das spüren die Massen. Die Bevölkerung hat großes Vertrauen in Chavez und er selbst hat sich politisch sehr stark weiterentwickelt. Das ist an seinen Positionen deutlich nachvollziehbar.

Der venezolanische Prozess hat sich andererseits durch die Veränderungen in anderen lateinamerikanischen Ländern genährt, die er selbst beeinflusst hat. Nicht so sehr durch finanzielle Unterstützung, wie die Opposition so oft behauptet. Vielmehr geht es um die Strahlkraft des bolivarianischen Prozesses, die z.B. in Bolivien oder in Ecuador Kämpfe unterstützt hat, die ihrerseits oft viel älter sind, als der Prozess hier in Venezuela. Die Kräfteverhältnisse in Lateinamerika haben sich gewandelt. Lula in Brasilien zum Beispiel, der zweifellos kein Revolutionär ist, muss auf die eine oder andere Weise auch zu den neuen Prozessen und veränderten Rahmenbedingungen beitragen.

Der bolivarianische Prozess war Motor für viele Initiativen der lateinamerikanischen Integration, wie z.B. Petrocaribe (5), eine wirkliche Struktur der Solidarität. Vor kurzem wurde eine Raffinerie in Ecuador gebaut, die zu großen Teilen über die staatliche venezolanische Erdölindustrie PDVSA finanziert wurde. Ecuador verfügt über Erdölquellen, war auch Mitglied der OPEC, doch es hatte bis heute keine Raffinerie, sondern musste das Rohöl exportieren und dann von den transnationalen Konzernen zurückkaufen. Oder die Solidarität mit Nicaragua, in der Venezuela zur Energieversorgung beiträgt. Oder Argentinien. Venezuela hat dort einen großen Beitrag zur Überwindung der tiefen Krise von 2001/2002 geleistet, indem es argentinische Staatsanleihen gekauft hat.

Aber diese Solidarität bleibt nicht auf dem lateinamerikanischen Kontinent stehen. Chavez hat zum Beispiel den Irak besucht, noch zu Zeiten Saddam Husseins. Er hat der OPEC wieder auf die Beine geholfen, hat Handelsbeziehungen zu Russland und China geknüpft. Er hat Beziehungen zu afrikanischen Ländern aufgenommen, während früher kaum bekannt war, wo Afrika überhaupt liegt.

Was man hier beobachten kann, ist die Bemühung die lateinamerikanische Einheit - das was Chavez zu Recht die Erfüllung des Traums von Simon Bolivar nennt - herzustellen, die antiimperialistischen Kämpfe in aller Welt zu unterstützen, die Konzepte der Souveränität und der Solidarität wieder mit Leben zu füllen.

Kurz - meiner Ansicht nach hat der bolivarianische Prozess seine größten Errungenschaften auf internationaler Ebene erreicht. Um diese und die Veränderungen auf der nationalen Ebene sichern zu können, ist es notwendig die Massenbeteiligung und den politischen Aktivismus der Massen wieder anzufachen und sicherzustellen, dass der Prozess nicht auf halbem Wege der reformerischen Verbesserungen stehen bleibt, sondern weiter in Richtung Sozialismus geht. Da steht natürlich eine Schicht im Weg, machen nennen sie Boliburguesia, die mit dem bisher Erreichten zufrieden ist und nun bremst. Daher ist die Beteiligung der Massen ein unumgängliches Element dieses Prozesses.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Margarethe Berger.

Caracas, Juli 2008


Anmerkungen

(1) Im Dezember 2007 fand in Venezuela ein Referendum über die von der Regierung vorgeschlagenen Verfassungsänderungen statt, das die Regierung knapp verlor.

(2) Die Regierung hat seit einigen Jahren breit angelegte Sozialprogramme, genannt misiones (Missionen) ins Leben gerufen, die den bislang von Sozialleistungen, wie Gesundheitsversorgung und Bildung, ausgeschlossenen Bevölkerungsschichten Zugang zu diesen garantieren soll.

(3) Acosta spricht von der PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas).

(4) Das Interview fand an der Fakultät für Soziologie der Universidad Central de Venezuela statt, an der Vladimir Acosta eine Professur innehatte.

(5) Petrocaribe ist ein Abkommen für Erdöllieferungen zum Vorzugspreis von Venezuela an einige Karibikstaaten, das im Juni 2005 abgeschlossen wurde.

Raute

EUROPA

Rebellion in Griechenland - Anarchismus versus Klassenkampf?

Von Dimitri Tsalos


Die Aufstände in Griechenland sind nicht einzig auf die Ermordung von Alexis Grigoropoulos zurückzuführen. Was viele Kommentatoren nicht verstehen bzw. nicht eingestehen, ist, dass sich die massiven Proteste gegen das griechische System des Neoliberalismus an sich richten.

Zweieinhalb Millionen der Lohnabhängigen (das entspricht einer Quote von über 50 %) müssen mit dem Mindestlohn von 704 Euro im Monat zurechtkommen. Die Verschuldung der privaten Haushalte hat sich in den letzten sieben Jahren von 17 auf 93 Milliarden Euro mehr als verfünffacht. Extrem hoch ist die Arbeitslosenquote der unter 25-Jährigen (23 Prozent) und der Frauen (12 Prozent).

Im März 2008 hat die Regierung mehrere Generalstreiks ignoriert und eine antisoziale Rentenreform beschlossen, die eine Erhöhung des Eintrittsalters bei gleichzeitiger Verringerung der Bezüge zur Folge hat. Frauen werden in bestimmten Fällen fünf Jahre länger arbeiten müssen, bis sie das Renteneintrittsalter erreichen(1). Neben ihrer Umverteilungspolitik strebt die Athener Regierung großangelegte Privatisierungsmaßnahmen an. So ist geplant, den halbstaatlichen Energiekonzern DIE, der 90 % des in Griechenland verbrauchten Stroms erzeugt, an den deutschen Energieriesen RWE zu verscherbeln. Die Häfen Piräus und Thessaloniki, noch zu 75 % in Staatsbesitz, sollen ebenfalls an ausländische Kartelle verkauft werden.


Auslese statt Ausbildung

Das griechische Oberschulsystem ist auf ein einziges Ziel ausgerichtet: Die elitären Eingangsprüfungen für die Uni, die "Panhellenischen Examina". Dort müssen die Schüler das ihnen zuvor eingetrichterte Wissen möglichst wörtlich reproduzieren. Das "Frontistireo", die private und kostenintensive Nachhilfeschule, hat sich zu einem riesigen Markt entwickelt.

Das System der Auslese setzt sich in den Hochschulen und auf dem Arbeitsmarkt fort. Absolventen aus einfachen Verhältnissen sind mit frischausgebildeten Akademikern konfrontiert, die oftmals viel kürzer studiert, aber dafür eine Menge bezahlt haben. Korruption und Vetternwirtschaft bei der Arbeitsplatzvergabe erledigen den Rest. Im europäischen Vergleich ist die Arbeitslosenquote der unter 25-jährigen die höchste innerhalb der EU.(2)

Auch die weltweite Finanzkrise ist nicht spurlos an Griechenland vorbeigegangen. Die Banken haben alle neuen Darlehen und Dispokredite eingefroren und eine drastische Zinserhöhung durchgeführt, die den Menschen die Luft abschneidet. Die Regierung schaut dabei tatenlos zu. Ihre jüngst beschlossene Finanzspritze (Volumen 28 Milliarden Euro) ist mit keinen ernsthaften Auflagen für die Banken verbunden.


Kontinuität der Ausbeutung

Zwar richtet sich die Aufstandswelle in Griechenland gegen die amtierende konservative Regierung, doch zugleich hat sie auch einen antisystemischen Kern. Fast niemand gibt sich noch irgendwelchen Illusionen hin, dass eine sozialdemokratische Regierung eine wirkliche Alternative wäre. Die Menschen haben nicht vergessen, dass die bis 2004 regierende sozialdemokratische PASOK die Teil- und Komplett-Privatisierung staatlicher Unternehmen eingeleitet hat. Um die Staatsbetriebe zu "flexibilisieren", übernahm die PASOK die jeweils liberalsten Konzepte, die sie weltweit finden konnte: Aus Holland wurden die Teilzeitarbeit, aus den USA das Modell individueller statt kollektiver Arbeitsverträge und aus Großbritannien der "flexible Acht-Stunden-Tag" übernommen, aus dem man in Griechenland aber gleich einen Neun-Stunden-Tag machte. Die wöchentliche Arbeitszeit kann seitdem bis zu 48 Stunden betragen.

Auch außenpolitisch gibt es eine parteiübergreifende Kontinuität, die sich in einem klaren Bekenntnis zu EU und NATO äußert, entgegen des teils massiven Widerstands der Bevölkerung. 1999 stimmte die PASOK-Regierung - trotz verbalen Jammerns - dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu, 2001 votierte sie für die EU-Terrorliste.


Regierung Karamanlis: Widerspruch gegen US-Hegemonie?

Es ist zwar zutreffend, dass die amtierende Regierung der rechtsliberalen Nea Dimokratia im Januar 2008 einen Affront in der NATO-Gemeinschaft provoziert hat. Damals wurde in Sofia der Bau der Burgas-Alexandroupolis-Ölpipeline besiegelt, die russisches Erdöl auf dem Boden des Schwarzen Meeres über Bulgarien bis in die griechische Ägäis transportieren soll. Mit diesem Projekt - neben vielen anderen - erhofft sich Russland weitere Kontrolle über die zentralasiatischen Erdgas- und Ölreserven.

Aber Washington und Brüssel denken nicht daran, diese rohstoffreiche Region Russland (und China) zu überlassen. Westliche Diplomaten sind Dauergäste bei Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres. US-Militärs halten sich in Aserbaidschan und beim usbekischen Regime in Taschkent auf, Brüssel entsendet Emissäre nach Kasachstan. Konsens ist, mittels wirtschaftlicher und militärischer Allianzen Russlands Einfluss zu verringern. Die Hegemonialkräfte der EU sind transatlantisch ausgerichtet und kleine Mitgliedsländer werden im Zweifelsfall dezent gewarnt: Im November 2008 hat die EU erstmals in ihrer Geschichte Finanzhilfen für ein Mitgliedsland gestrichen - es trifft das oben genannte Bulgarien(3).

Die These innerimperialistischer Widersprüche (4) ist stark übertrieben. Fakt ist, dass Athen 2008 mehrfach und überzeugend einen proamerikanischen Standpunkt eingenommen hat: Beim NATO-Gipfel im April 2008 wurde der Aufbau eines südosteuropäischen Systems zur Abwehr von Kurzstreckenwaffen "aus Ländern des Nahen Ostens" beschlossen, das auch Griechenland umfasst. Im Juni 2008 fand ein israelisch-griechisches Luftmanöver statt, an dem mehr als hundert Kampfflugzeuge der US-amerikanischen Typen F-15 und F-16 beteiligt waren - ein Szenario, das die Eröffnung eines Luftkrieges gegen den Iran simulierte(5).


1941 bis 2008: Eine Widerstandsgeschichte

Das geografische Zentrum der Revolte ist der Athener Stadtteil Exarcheia, der heute von Organisationen wie der AK (Antiexousiastiki Kinisi - Antiautoritäre Bewegung) dominiert wird. Exarcheia ist ein historisches Symbol des Widerstands. Von dort aus wurde im November 1973 die Militärdiktatur mit massiven Protesten herausgefordert und die Niederlage der Obristen eingeleitet - was unter den Studenten einen hohen Blutzoll einforderte.

Bereits im zweiten Weltkrieg war Exarcheia ein Zentrum des Widerstands, damals gegen die Nazi-Besatzung (1941-1944). Auf dem zwischen Exarchia und Gyzi, einem angrenzenden Viertel, gelegenen Boulevard Alexandras liefen die deutschen Militärlastwagen ständig Gefahr, in Hinterhalte der Guerilla zu geraten. Nach der Befreiung Griechenlands folgte der Bürgerkrieg (1944-1949). Exarcheia war eines der Lagezentren der Volksbefreiungsarmee (ELAS). Es gilt als sicher, dass ohne die massiven Interventionen von Briten und Amerikanern die Kommunisten den griechischen Bürgerkrieg gewonnen hätten.

Die heutige KKE knüpft jedoch nicht mehr an die kämpferischen Traditionen der Vergangenheit an. Aleka Papariga, seit 17 Jahren Generalsekretärin, hat sich am 8. Dezember 2008 von Militanten distanziert und "Selbstjustiz" und "blinde Gewalt" verurteilt (6). Angeblich gebe es eine Minderheit, die für die Randale verantwortlich ist, und eine Mehrheit, der diese Militanz übergestülpt wird. Man fragt sich, welcher Teufel die KKE reitet, ausgerechnet in diesem Augenblick lautstark die Klasse definieren zu müssen und eine Trennlinie zwischen landesweiter Revolte und der antisystemischen Grundstimmung in der Bevölkerung aufzubauen. Diese Keileintreibung wird vornehmlich von den Systemparteien begrüßt.

Die griechische Rebellion ist imponierend und zweifelsohne von internationaler Bedeutung. Weltweit wird wahrgenommen, dass sich auch in den kapitalistischen Zentren Widerstand gegen die herrschende Weltordnung regen kann. Dabei handelt es sich um keinen punktuellen Widerstand à la Seattle, Genua oder Heiligendamm. Die griechische Jugend ist landesweit aufgestanden und genießt die Sympathie erheblicher Teile der Bevölkerung. Die Eliten sind ratlos und verunsichert wie seit Jahrzehnten nicht mehr.


Anarchismus versus Klassenkampf?

Bürgerliche Medien aber auch Teile der Linken verbreiten die These, die Rebellion sei unmoralisch bis reaktionär, da sie sich auch gegen Besitzer kleiner Läden etc. richte. Schnell ist von staatlich gelenkten Provokateuren die Rede. Als ob es dem Staat möglich wäre, in über 60 Städten auf dem Festland und auf den Inseln konzertiert Agent Provocateur einzusetzen. Die DKP bringt es sogar fertig, im Kontext mit den Aufständen von neofaschistischen Tendenzen zu sprechen (7). Man darf gespannt sein, wie lange es noch dauert, bis das Abfackeln einer Bank als antisemitisch diffamiert wird.

Obwohl vor allem in den urbanen Zentren antiautoritäre Gruppen ausschlaggebend scheinen, wäre es stark verkürzt, die Revolte als anarchistisch zu bezeichnen. Alleine der Umstand, dass 60 Prozent der Griechen die Proteste als "soziale Erhebung" bezeichnen (8), spricht gegen solche plumpe Klassifizierungen. Auf der anderen Seite ist festzustellen, dass die kommunistische Linke völlig überrascht wurde. Die Ratlosigkeit versucht man mit Aufrufen gegen Gewalt zu kompensieren, gepaart mit der Forderung nach Klassenorganisierung - eine Organisierung, die dann freilich von der eigenen Partei kontrolliert werden soll. Selbst Strömungen wie KOE oder KKE-ML, die sich offen mit den Protesten solidarisieren, können in Wahrheit nicht viel mehr tun, als die Ereignisse wohlwollend zu kommentieren. Von Hegemonie kann keine Rede sein.


Kampf dem oligarchischen Konsens

Was in Griechenland geschieht, ist kein bewusster Klassenkampf. Dennoch befinden wir uns in einem historischen Moment. Die liberale Oligarchie herrscht im Inneren nicht durch offene Unterdrückung (einmal von den Sicherheitsgesetzen abgesehen), sondern durch einen klassenübergreifenden Konsens, der sich aus einem "alternativlosen" Parlamentarismus sowie aus Individualismus, Konsumismus und Abstiegsangst zusammensetzt. Am 6. Dezember 2008 hat die Jugend Griechenlands damit begonnen, mit diesem Konsens, der teilweise von der Linken mitgetragen wird, aufzuräumen. Die Rebellion mag zwar keinen Applaus von der KKE und anderen ernten, sie stößt jedoch auf offenen Zuspruch in den verschiedensten Gesellschaftsschichten, was viel entscheidender ist.

Das Konsensmodell der internationalen Oligarchie wurde herausgefordert wie noch nie seit Fukuyamas "Ende der Geschichte". Sollte versucht werden, dieser Herausforderung mit mehr Autoritarismus zu begegnen, werden sich die Widersprüche weiter verschärfen. Ernsthafte Konzessionen an die Massen, die über symbolische Geschenke hinausgehen, sind innerhalb des Systems indes nicht möglich. Die Entwicklung mag offen sein, aber die durch die hellenische Revolte gesetzten Ausgangsbedingungen sind vielversprechend.


Anmerkungen

1 http://www.jungewelt.de/2008/02-14/018.php?sstr=griechenland

2 http://www.ba-auslandsvermittlung.de/lang_de/nn_6888/DE/LaenderEU/ Griechenland/Arbeiten/arbeiten-knoten.html__nnn=true#doc6892bodyText1

3 Die offizielle Begründung lautet "Korruptionsbekämpfung".

4 siehe etwa die KKE-ML, welche eine "strong opposition of the US ... to choices of the Karamanlis government in regards with the gas pipes and the buying of military material" betont. Weiter heißt es: "Here are the basic reasons why we don't accept that the movement should set forth as the prime goal the fall of the government (...) We refuse the involvement of the movement in an already developing reactionary inter-bourgeois, inter-imperialist game."
http://cpgml-news.blogspot.com/2008/12/ system-murders-lets-turn-our-rage-into.html

5 http://www.jungewelt.de/2008/06-30/061.php?sstr=griechenland

6 http://www.kke.gr/arcti.php?myid=854

7 http://www.dkp-online.de/uz/4050/s0101.htm

8 http://www.neues-deutschland.de/artikel/140933.
keine-ruhe-nach-dem-sturm.html

Raute

EUROPA

Erosionserscheinungen

Verfall der politischen Lager in Österreich

Von Sebastian Baryli


Der Verfall politischer Lager in Österreich ist keinesfalls eine neuartige Erscheinung. Schon seit langer Zeit kann dieser Erosionsprozess nicht nur in den Wahlbewegungen beobachtet werden. Dennoch war der Aufschrei nach den Nationalratswahlen groß. Ein Aufschrei, der vor allem die Qualität des "dritten Lagers" falsch einschätzt.

Eine Überraschung war das Ergebnis nicht. Dennoch gewann man in den Kolumnen und Kommentaren der österreichischen Presselandschaft den Eindruck von einer Schockwelle, die nun das Land erfasst hätte. Die Nationalratswahl in Österreich vom 28. September stellt jedoch keineswegs eine Trendwende dar. Vielmehr deutet sich in ihrem Ergebnis eine längerfristige Tendenz an. Wer sich von der konjunkturellen Schockwirkung, die von der fast erreichten 30-Prozent-Marke für das dritte Lager ausgeht, beeindrucken lässt, übersieht leicht die eigentlichen Schlussfolgerungen, die aus diesem Ergebnis zu ziehen wären. Schon ein flüchtiger Blick auf die Zeitreihe der Wahlergebnisse verdeutlicht, dass hier ein langanhaltender Prozess zum Ausdruck kommt.

Seit Beginn der achtziger Jahre hat sich die politische Kultur in Österreich und in Westeuropa grundlegend verändert. Diesbezüglich wurde schon viel diskutiert und die bloße Feststellung dieses Prozesses würde keinesfalls eine weitere Auseinandersetzung rechtfertigen. Dennoch sprechen einige Argumente dafür, sich diesem Phänomen unter einem neuen Blickwinkel zu näheren.

Die Erosion der politischen Lager wurde schon oftmals konstatiert. Was mit dem Begriff "politisches Lager" genau angesprochen wird, ist jedoch bisweilen wenig klar. Adam Wandruszka, der diese Konzeption in den fünfziger Jahren entwickelte, spricht in diesem Zusammenhang von einer "...natur- oder gottgewollten Dreiteilung Österreichs...". (1) Dass diese Dreiteilung weniger gottgewollt war, zeigte sich drei Jahrzehnte später. Zu diesem Zeitpunkt brachen die beiden Großparteien SPÖ und ÖVP in ihrer klassischen Wählerklientel rapide ein und eine enorme Masse an volatiler Wechselwähler wurde frei gesetzt. Die lange Kontinuität der politischen Lager, die sich ausgehend von der Monarchie über die Erste Republik bis in die Zweite Republik erstreckte hatte ein jähes Ende gefunden.

Das Phänomen steigender Wechselwähler bildet jedoch nur die sichtbare Oberfläche dieser Transformation. Darunter verborgen haben sich die grundlegenden Konstellationen der politischen Kultur unseres Landes verschoben. Diesen Prozess genauer zu analysieren, bleibt ein offenes Desiderat politischer Überlegungen. Denn über die Begrifflichkeit und über die Ansätze, mit denen dieser Prozess begriffen werden kann, gibt es naturgemäß unterschiedliche Auffassungen. Außerdem erscheint eine weiterführende Auseinandersetzung sinnvoll, da dieser Prozess noch zu keinem Ende gefunden hat. Die Großparteien sind zu Mittelparteien geschrumpft, doch deren freier Fall hat noch keinen Endpunkt erreicht.

Das erstaunlichste Ergebnis der Nationalratswahl war weniger, dass FPÖ und BZÖ Zugewinne erreichen konnten, sondern vielmehr die Tatsache, dass eine veraltete Begrifflichkeit einem Atavismus gleich seine Auferstehung feierte: das dritte Lager. Es stellt sich somit die Frage, ob der Deutschnationalismus als einziges Lager die Erosion der politischen Lager überlebt hat.

[Insgesamt muss überlegt werden, wie sich politische Subjekte heute konstituieren. Die politische Kultur bildet jenes Fundament, auf das politische Tätigkeit aufbauen muss und dessen Beschaffenheit genau berücksichtigt werden sollte. Diese Problemstellung kann konkret diskutiert werden, da bei diesen Wahlen ein Projekt angetreten ist, dass sich als linke Alternative zur Sozialdemokratie präsentieren wollte.]


1. Erosion der Lager

Die Nationalratswahlen 2008 brachten sowohl für die ÖVP als auch für die SPÖ eine herbe Niederlage. Zur Erinnerung: Mit 29,3 Prozent für die Roten und 26,0 Prozent für die Schwarzen wurde diejenige Partei zum Sieger erklärt, die ihre Verluste noch am geringsten halten konnte. Der fahle Nachgeschmack bei der Siegesfeier in der Löwelstraße war allgegenwärtig. Nur Faymanns Kampflächeln vermochte darüber ein wenig hinwegtäuschen. FPÖ und BZÖ hingegen konnten ohne Beigeschmack feiern. Die einen im Bierzelt, die anderen beim Aperol-Spritzer. Mit 17,5 Prozent für die FPÖ und 10,7 Prozent für das BZÖ, oder vielmehr für den verstorbenen Landeshauptmann, kratzte das sogenannte "Dritte Lager" fast an der 30-Prozent-Marke.

Dieses Wahlergebnis reiht sich ein in eine Serie fortgesetzter Wahlniederlagen der Großparteien. Den Wendepunkt in dieser Wahlbewegung bildet das Jahr 1983. Zuvor, im Jahr 1979, hatte die SPÖ mit 51,0 Prozent einen historischen Höchststand erreicht. In diesem Jahr konnte die ÖVP mit 43,2 Prozent ein solides Ergebnis erzielen, ein letztes Mal, wie sich herausstellen sollte. Denn von nun an ging es steil bergab. Eine Ausnahme bildet das Wahljahr 2002, das aber spezielle Züge aufweist. Gleichzeitig erlebt die FPÖ seit 1983 einen rasanten Aufstieg, der bei fünf Prozent beginnt und nun bei 17,5 Prozent angekommen ist.

Vordergründig lässt sich aus diesen Ergebnissen eine veränderte Struktur der Wählerschaft erkennen. Doch damit deutet sich eine viel tiefergehende Entwicklung an: "Im Jahr 1983 gelangte der im Verlaufe der 70er Jahre lange nicht sichtbare Prozeß der Erosion von Parteibindung und der Auflösung politischer Lagerstrukturen eruptiv an die Oberfläche des politischen Systems." (2) Die Stammwählerschaft hatte sich von den politischen Lagern verabschiedet. Die in Österreich traditionell starke Integration zwischen sozialer Basis und politischer Partei wurde an diesem Wendepunkt ausgehebelt. Das Vertrauen in das politische Parteiensystem wurde damit stark erschüttert.

Dieses Phänomen ist aber keinesfalls auf eine Wahlbewegung zu reduzieren. Wie schon mehrfach angedeutet handelt es sich dabei um einen fundamentalen Wandel in der politischen Kultur Österreichs. In der Periodisierung von Peter Ulram etwa wird dies als "Auszug aus dem Parteienstaat" bezeichnet. (3) Er argumentiert dabei, dass durch den sozialen Wandel ein politischer Säkularisierungsprozess eingesetzt habe. Die gestiegene soziale Mobilität führe zu einer Entideologisierung der Politik. Das Argument des sozialen Wandels wird in diesem Zusammenhang immer wieder ins Feld geführt. So meint auch etwa Ernst Bruckmüller, dass die soziale und räumliche Mobilität die Wirksamkeit traditioneller Sozialisierungsinstanzen unterwandert habe und damit die Lagerbindung zerstört habe. (4) Diese Argumentationskette wird bis zu einer geschichtsphilosophischen Dimension fortgesetzt, in der behauptet wird, dass das "postmaterielle Zeitalter" nun angebrochen sei. "Postmaterialistische Wertestrukturen folgen auf materialistische." (5) Nur Max Haller versucht diese Befunde etwas zu relativieren. Mit Bedacht formuliert er: "Auch wenn eine zunehmende Wählermobilität festzustellen ist, muss die These von der sozialstrukturellen Bedingtheit des Wahlverhaltens nicht unbedingt fallengelassen werden." (6) Er sieht vor allem in der politischen Ausrichtung der Parteien die Ursache für die Diffusion der Lager.

Bis auf wenige Ausnahmen wird also von einem fundamentalen Wandel der politischen Kultur gesprochen. Problematisch ist an den Analysen oftmals, dass diese dazu tendieren soziale Problemstellungen als politische Konfliktlinie zu leugnen. Der soziale Wandel wird als Argument verwendet, um gerade seine politische Bedeutung zu verleugnen. Individualisierung und Pluralisierung der Lebenswelten führe dazu, dass die soziale Bedingtheit keine Relevanz für die politische Kultur mehr habe.


2. Postfordismus

Ein fruchtbarerer Ansatz wäre hingegen, wenn man die Dialektik zwischen politischer Kultur und sozialer Bedingtheit weiter verfolgt. Individualisierung als gesellschaftliches Phänomen blendet im bewussten Prozess der Politisierung keinesfalls die soziale Bedingtheit aus. Einen interessanten Ansatz in diese Richtung verfolgt die Postfordismus-These. Dabei geht es darum, die kulturellen Veränderungen durch die Entwicklung des Akkumulationsregimes zu erklären. Die Veränderung des Produktionsprozesses, von der industriellen Massenproduktion hin zu einer mikroelektronischen High-Tech-Produktion, bringe spezielle Muster der gesellschaftlichen Regulation hervor. Die Regulationstheorie bietet für diesen Ansatz den theoretischen Hintergrund.

Die Regulationstheorie geht grundlegend davon aus, dass der kapitalistische Akkumulationsprozess durch eine spezielle Form der gesellschaftlichen Regulation aufrecht erhalten werden muss. "Der Akkumulationsprozess weist dann eine relative Stabilität und Dauerhaftigkeit auf, wenn er in ein Netz gesellschaftlicher Institutionen und Normen eingebettet ist, die dafür sorgen, dass sich die Menschen in Übereinstimmung mit den jeweiligen Bedingungen der Akkumulation verhalten, also entsprechende Arbeits-, Lebens- und Konsumweisen sowie bestimmte Formen der Interessenswahrnehmung praktizieren. Er muss mit einem System der gesellschaftlichen Regulation verbunden sein." (7)

Vor diesem Hintergrund kann die Erosion der Lager in einer neuen Art interpretiert werden. Der politische Prozess wird nicht mehr losgelöst von den sozialen Bedingungen betrachtet, sondern die politischen Institutionen sind Teil der Regulation kapitalistischer Kapitalakkumulation. Somit verändern sich die politischen Institutionen im Kontext der historischen Veränderung der Regulationsweise. Konkret könnte man die sinkende Bedeutung der politischen Parteien und die veränderte Form der politischen Auseinandersetzung auf die Herausbildung eines postfordistischen Akkumulationsregimes zurückführen.

Dieser Ansatz hat auch Eingang in den politikwissenschaftlichen Mainstream gefunden. So führt Hanisch im Standardwerk zum österreichischen politischen System diesen Ansatz für eine historische Periodisierung ins Feld. Auf einem niedrigeren Niveau der theoretischen Durchdringung unterscheidet sich dies jedoch kaum mehr vom Ansatz des sozialen Wandel. (8)

Der Ansatzpunkt der Regulationstheorie weist jedoch auch in seiner ursprünglichen Elaboration gewisse Probleme auf. Denn die gesellschaftlichen Institutionen und damit der gesamte politische Prozess werden in erster Linie als Regulationsweise der Kapitalakkumulation begriffen. Die Erosion der Lager würde damit einer Notwendigkeit des Akkumulationsregimes folgen. Dieser Ansatz, der sich ursprünglich gegen den Ökonomismus der marxistischen Orthodoxie wandte, läuft damit Gefahr wieder in einer ökonomistischen Sackgasse zu landen.

Das Element der gesellschaftlichen Hegemonie sollte somit nicht unter dem Blickwinkel einer Regulationsweise begriffen werden. Die historische Veränderung hegemonialer Verhältnisse und die Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse bieten den Schlüssel für die Erklärung, warum sich in Österreich die politische Lagerstruktur aufgelöst hat. Diese Verschiebungen und Brüche haben einen grundlegenden Wandel der politischen Kultur hervorgebracht, der sich zu einem neuen System verfestigt hat.

Ausgehend von dieser Feststellung können die Elemente einer Analyse in ein neues Verhältnis zueinander gesetzt werden. Die technologische Veränderung des Produktionsprozesses hatte eine nachhaltige Wirkung auf die sozio-ökonomische Konstituierung der Arbeiterbewegung. Die klassische Form des Industrieproletariats wurde abgelöst durch eine fragmentierte Form der Arbeiter- und Angestelltenschaft. Diese Fragmentierungstendenzen können jedoch keinesfalls als Zerfallsprozess interpretiert werden. Parallel zur sozioökonomischen Ebene wurde die politische Hegemonie der Arbeiterbewegung zunehmend untergraben. Die großen, revolutionären Herausforderungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden zu einem großen Teil absolviert, ohne einen radikalen Bruch mit der Gesellschaftsordnung zu vollziehen: Der Acht-Stunden-Tag, das Wahlrecht, Zerstörung der Monarchie, Sozialgesetzgebung usw.

Eine revolutionäre Kraft von bedeutendem Ausmaß hatte sich in Österreich außerhalb der Sozialdemokratie nie bilden können. Die österreichische Sozialdemokratie hatte sich ideologisch, im Gegensatz etwa zu Deutschland, weitaus progressiver und marxistischer positioniert, was revolutionären Alternativen den Wind aus den Segeln nahm. Darin liegt im Kern die historische Ursache, warum es keine ausgeprägte Traditionslinie in diesem Bereich gibt.


3. Drittes Lager und Rechtspopulismus

Wenn wir von einer Auflösung der Lagerstruktur sprechen, so ist diese Feststellung nicht nur für die Sozialdemokratie und die Volkspartei zutreffend, sondern in gleicher Weise auch für das ehemals deutschnationale Lager. Obwohl dieses bedingt durch die soziale Struktur niemals in gleicher Weise funktioniert hat wie die anderen Lager, so können wir dennoch deutliche Veränderungen auf sozialer und ideologischer Ebene feststellen.

Innerhalb der Partei gab es lange Zeit einen Richtungskampf zwischen dem liberalen und dem klassisch deutschnationalem Flügel. Interessanter Weise wurde dieser ideologische Richtungskampf in einer Weise entschieden, der das Ende beider Lager herbeiführen sollte. Jörg Haiders Wahl zum Parteivorsitzenden am Innsbrucker Parteitag 1986 wurde zwar als Triumph der Deutschnationalen gefeiert, doch letztendlich besiegelte dies auch ihr Ende, zumindest in ihrer historischen Reinkultur.

Die Phase des populistischen Protests brachte für die FPÖ einen ungemeinen Aufschwung. Dieser Aufschwung ist jedoch vielmehr als eine Konsequenz der veränderten politischen Kultur in Österreich zu interpretieren als ein Erfolg der Rechten. Der entscheidende Hebel, mit dem die FPÖ ansetzte, war der Angriff auf das Verbändesystem und die Sozialpartnerschaft.

Dieser Angriff wurde historisch gesehen genau zum richtigen Zeitpunkt gesetzt. Denn die Krise des Sozialstaates wurde in Österreich damals immer offensichtlicher. Die klassischen Instrumente des Austrokeynesianismus gerieten ins Stocken und wurden krisenanfällig. Die Konzertierung der Verbände artete zu einem undurchsichtigen Geflecht aus, in dem es nur mehr um die Erhaltung von Machtpositionen ging.

Die Kritik an der Sozialpartnerschaft wurde jedoch auch von ganz anderer Seite und mit anderer Nuancierung formuliert. Die KPÖ hatte sich ebenfalls immer wieder gegen dieses Modell ausgesprochen. Zentraler Kritikpunkt war jedoch, dass jenes Instrument zur Mitbestimmung der Arbeiterklasse zu einem Instrument der Herrschaft über sie verkommen war. Interessanter Weise fiel die Kritik von dieser Seite aus nie auf besonders fruchtbaren Boden.

Der Erfolg der FPÖ ist durch die historische Gleichzeitigkeit ihres populistischen Schwenks und der Krise der Sozialpartnerschaft zu erklären. Die Kritik am Verbändestaat setzte zu einem Zeitpunkt ein, als dessen Krisenerscheinungen nur mehr schwer zu rechtfertigen waren. Gleichzeitig begab sich die FPÖ damit aber in einen unauflösbaren Widerspruch: Auf der einen Seite bleibt sie ihrer liberalen, individualistischen bis hin zum Sozialdarwinismus tendierenden Tradition treu. Andererseits will sie den sozialen Protest der ärmsten Schichten aufnehmen, die ja gerade von diesen liberalen Grundprinzipien als Verlierer abgekanzelt werden. In diesem ideologischen Zwiespalt befindet sich die Partei bis jetzt. Diese beiden Elemente stehen recht unvermittelt im Auftreten der Partei nebeneinander.

In der historischen Entwicklung der FPÖ zeigt sich, dass der Protest die eigentliche Synthese der beiden Flügel innerhalb der Partei darstellt. (9) Denn in diesem Protest gegen die Sozialpartnerschaft konnten sowohl der liberale Flügel als auch der deutschnationale integriert werden.

Entscheidend ist jedoch, dass sich das politische Umfeld seit 1986 deutlich verändert hat: Die Sozialpartnerschaft ist weitgehend tot auch wenn noch einige Reminiszenzen ihre Auferstehung feiern. Der Neoliberalismus hat tiefe Wurzeln auch in der Sozialdemokratie geschlagen und den Keynesianismus als Paradigma abgelöst. Außerdem hat die Veränderung der politischen Kultur eine volatile Masse freigesetzt, um die bei den Wahlen tatsächlich gekämpft werden muss. Diese neuen Konstellationen haben die historische Paradoxie der FPÖ auf die Spitze getrieben. Der soziale Protest gegen den Neoliberalismus wird in eine Partei kanalisiert, die in ihrer Grundstruktur liberalistische Konzepte eingeschrieben hat.

Die FPÖ bildet somit kein feststehendes, neues Lager des Protestes. Gerade ihre Entideologisierung, ihre Distanzierung vom traditionellen Deutschnationalismus, ist das Erfolgsrezept der neuen FPÖ. Wer von den heutigen Wählern dieser Partei hat nur den geringsten Schimmer von den ursprünglichen Forderungen des Deutschnationalismus? Weder ideologisch noch bezüglich ihrer Wählerschaft kann eine kohärente Integration der Partei festgestellt werden. Vielmehr treiben die einzelnen Elemente in unterschiedliche Richtungen und können immer wieder neue Krisen, wie etwa jene der FP-Regierungsbeteiligung herauf befördern.


Literatur

(1) Wandruszka, Adam: Österreichs politische Struktur. Die Entwicklung der Parteien und politischen Bewegungen, in: Benedikt, Heinrich: Geschichte der Republik Österreich, Wien 1954, S. 291.

(2) Haerpfer, Christian W.: Wahlverhalten, in: Dachs, Herbert; Gerlich, Peter; Gottweis, Herbert u. a. (Hrsg.): Handbuch des politischen Systems Österreichs. Die Zweite Republik. 3. erw. u. neubear. Aufl., Wien 1997, S. 535.

(3) Ulram, Peter A.: Politische Kultur der Bevölkerung, in: Dachs, Herbert; Gerlich, Peter; Gottweis, Herbert u. a. (Hrsg.): Handbuch des politischen Systems Österreichs. Die Zweite Republik. 3. erw. u. neubear. Aufl., Wien 1997, S. 517.

(4) Bruckmüller, Ernst: Sozialgeschichte Österreichs. 2. Aufl., Wien 2001, S. 434.

(5) Pelinka, Anton; Rosenberger, Sieglinde: Österreichische Politik. Grundlagen - Strukturen - Trends, Wien 2000, S. 37.

(6) Haller, Max: Die österreichische Gesellschaft. Sozialstruktur und sozialer Wandel, Frankfurt am Main, New York 2008, S. 412.

(7) Hirsch, Joachim: Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen, Hamburg 2002, S. 54f.

(8) Hansich, Ernst: Periodisierungsversuche des 20. Jahrhunderts, in: Dachs, Herbert; Gerlich, Peter; Gottweis, Herbert u. a. (Hrsg.): Handbuch des politischen Systems Österreichs. Die Zweite Republik. 3. erw. u. neubear. Aufl., Wien 1997, S. 18ff.

(9) Luther, Kurt Richard: Die Freiheitlichen (F), in: Dachs, Herbert; Gerlich, Peter; Gottweis, Herbert u. a. (Hrsg.): Handbuch des politischen Systems Österreichs. Die Zweite Republik. 3. erw. u. neubear. Aufl., Wien 1997, S.298f.

Raute

EUROPA

Kein Platz unter der Sonne?

Überlegungen über Chancen und Wegen zu einem linken Projekt in Österreich

Von Gernot Bodner


Anhand des Wahlergebnisses der Linken (KPÖ, Die Linke) bei den Nationalratswahlen vom Herbst 2008 wäre die Frage der Chancen linker Kräfte in Österreich schnell beantwortet: 0,81 % sprechen eine klare Sprache - keine Möglichkeit vorhanden. Mit insgesamt nur 6,1 % der Wählerstimmen blieb für die Gesamtheit der außerparlamentarischen Kräfte der Sprung in die institutionelle Politik unerreichbar, trotz prominenter Figuren wie Heide Schmidt und Fritz Dinkhauser.

Alternative notwendig aber unerwünscht

Vor diesem Ergebnis, wo selbst medial bekanntere und durchaus ins Establishment passende Listen scheiterten, muss sich umso mehr eine revolutionäre Option die Frage stellen, ob sie im gegenwärtigen gesellschaftlichen Panorama Österreichs Platz hat. Machen wir zu diesem Zweck eine Momentaufnahme der Situation: Die internationale Lage ist mit zahlreichen ungelösten Konflikten in der "Dritten Welt" (Irak, Afghanistan, Palästina, Libanon, Sudan, Bolivien, Venezuela, um nur die wichtigsten zu nennen) sowie dem verstärkten Ost-West Dissens (Russland vs. USA/NATO in Georgien und der Ukraine) angespannt. Das Ende des Sozialstaats bedeutete die Rückkehr zu einem "normalen" Kapitalismus, in dem Mensch und Natur uneingeschränkt ausgebeutet werden. Die Globalisierung des westlichen Produktions- und Konsummodells bringt apokalyptische Krisenszenarien wie Klimawandel, Wasserknappheit oder endende Energiereserven mit sich, ohne dass das System zur notwendigen radikalen Umkehr in der Lage wäre. Statt rationaler Nutzung drängt das Profitsystem zum beschleunigten privaten Raubbau. Die durch die Finanzkrise ausgelöste weltweite Rezession wird nicht zu einer tiefgreifende Korrektur des Entwicklungsmodells, sondern vielmehr zu einem Verelendungsschub auch in den westlichen Zentren führen. Und die demokratischen Gestaltungsspielräume fallen den wirtschaftlichen Sachzwängen und der antiterroristischen Panzerung gegen die "Dritte Welt" zum Opfer.

All das würde nahe legen, dass die Gesellschaft sich nach einer Alternative zu den kapitalistischen Verhältnissen umsehe. Denn ohne Perspektive der sozialen Prosperität und demokratischen Mitbestimmung würde man erwarten, dass das System seine Hegemonie rasch einbüße. Was sich jedoch aus der objektiven Situation aufdrängen würde, findet subjektiv nicht statt. Die westliche Gesellschaft bleibt weitgehend passiv und damit ist die Basis für eine linke Neuformierung beschränkt.


Objektive und subjektive Krise

Es scheint, dass immer noch jene doppelte Krise, die der italienische Philosoph Costanzo Preve als "Krise des Subjekts und Krise der Perspektive" definierte, die Entwicklung einer politischen Alternative blockiert. "Krise des Subjekts" wird in Hinkunft zwar immer weniger jene sozialstaatliche Integration der Arbeiterklasse in die Gemeinschaft gleicher Konsumenten bedeuten. Doch die neuen Unterschichten sind trotz abhanden gekommener sozialer Aufstiegschancen antikollektivistisch, konsumorientiert und inaktiv. Eben ein Produkt des Kapitalismus amerikanischer Prägung und nicht seine Verweigerung. "Krise der Perspektive" meint das ganz offensichtliche Fehlen eines attraktiven gesellschaftlichen Alternativmodells der sozialen und demokratischen Emanzipation, wie es der Sozialismus war. Der erhoffte Ausweg eines machbaren, menschlichen Paradieses auf Erden, den der Marxismus weisen sollte, hat nicht nur massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt, er ist auch tatsächlich an seiner Umsetzung gescheitert. Zwischen diesen beiden Polen, dem Fehlen des spontanen Protestes der Unterklassen und der nicht vorhandenen langfristigen Perspektive, für die es zu kämpfen lohnt, könnte man als Verbindungsglied noch eine Krise der revolutionären Tagespolitik einfügen. Denn tiefere Ideen über Formen revolutionären Handelns in Zeiten der Nicht-Aktualität der Revolution jenseits des einfachen Gegensatzpaars Reform-Revolution hat der westliche Marxismus interessanterweise nie entwickelt. Und das, obwohl zumindest seit 1950 der stabile westliche Kapitalismus das Paradigma "Revolution = Vorbereitung und Durchführung des Sturms auf das Winterpalais" als Kompass für antagonistische Politik wenig nützlich machte. Die Untergrabung von Betrieb und Gewerkschaft als soziales Rückzugsgebiet der Linken durch die neoliberale Deregulierung führte unweigerlich in die gesellschaftliche Marginalisierung. Zwischen Minderheitendemonstration und Träumereien einer gewerkschaftlichen Erneuerung hat die Linke keinerlei Antwort auf diese Krise ihres tagespolitischen Handelns.


Überleben - wie lange noch?

Was für eine Schlussfolgerung ergibt sich aus diesem Drama objektiver Notwendigkeit eines radikalen Neubeginns und seiner subjektiven Unerreichbarkeit? Resignation, Rückzug auf die Theorie, Kleingruppenwesen, Hoffen auf die breite Front mit Teilen des ÖGB, Grünen und SPÖ und einem österreichischen Lafontaine in der Person von Ernest Kaltenegger? All das sind Tendenzen, die sich in der Linken finden. Sie verdienen daher eine kurze Prüfung.

Kommt es zu einer raschen Stabilisierung des Kapitalismus nach der Finanzkrise und einer ausreichenden Kurskorrektur, um den herrschenden Block aus wirtschaftlicher und politischer Elite, Mittelschicht bis hin zu den einigermaßen abgesicherten Werktätigen beisammen zu halten, wird die Resignation innerhalb der Linken der vorherrschende Trend sein. Dank fortbestehender Aus- und Aufstiegsperspektiven aus der Jugendmilitanz der Mittelschicht ins Establishment würde die radikale Opposition weiter erodieren. Als seelisch verkraftbare Ausstiegsszenarien bieten sich die abstrakte Theoriebildung, die die Illusion der Radikalität bewahrt, da Papier geduldig ist, oder das Wechseln in den Markt der NGO-Engagierten, der dem sozialen Gewissen gut tut. Die Unbelehrbaren können im Kleingruppenwesen ein trauriges Dasein als sektengleiches Kuriosum am Rande der Gesellschaft bis zum jüngsten Tag führen. Eine Erneuerung der sozialen Stabilität und das weitere Funktionieren der geopolitischen Architektur (des geeinten westlichen Imperialismus unter US-Dominanz) wären für die westliche Linke kaum zu überleben. Zwei Jahrzehnte, in denen beinahe ausschließlich der antiimperialistische Widerstand des Südens der Sauerstoff zum Überleben einer Systemopposition im Westen war, haben bereits schwer an den lebendigen Kräften in den imperialistischen Zentren gezehrt. Weitere Jahre der totalen "Subjektkrise" im Westen würden die kleinen bestehenden Organisationsansätze weitgehend auflösen. Das wäre gleichzeitig der Durchbruch eines weitgehend kulturalistischen, anti-universalistischen Kampfes des armen Südens gegen den westlichen Block als vorherrschende Tendenz der nächsten Periode.

Nun baut unsere Hoffnung jedoch auf eine durch den Finanzcrash und die globalen Bruchlinien eintretende Übergangskrise des kapitalistischen Systems bei seiner Suche nach einer Nachfolgeordnung der neoliberalen Globalisierung unter US-Dominanz. Krise deshalb, da die Eliten selbst weder wissen, wohin noch wie diese Veränderung möglichst reibungslos zu bewerkstelligen wäre. Da sie den eisernen Griff um die "Dritte Welt" nicht lösen wollen und eine Krisenbewältigung vor allem als breit angelegten sozialen Angriff auf die unteren Schichten auch im Westen sehen, werden sie den Konsens mit dem herrschenden Block erodieren ohne eine glaubwürdige Perspektive entwerfen zu können.

Dieses Krisenszenario ist jedoch keine "Katharsis" des Systemzusammenbruches, wo eskalierende Kämpfe Schritt für Schritt zur revolutionären Machtablöse der alten Eliten führen. Keine Systemkrise wie jene nach den Völkerschlachten des Ersten und Zweiten Weltkrieges, wo eine rasche revolutionäre Erneuerung als Massenperspektive sich schon allein aus dem hinterlassenen Trümmerhaufen der Kriege aufdrängte. Unsere Annahme ist, dass sich aus dem Konsensverlust der liberalen Eliten zwei politische Räume zulasten des neoliberalen Zentrums auftun werden: jener des rechten Populismus und jener eines neuen Reformismus.


Rechtspopulismus und Neoreformismus

Die sozialpopulistische nationale Rechte hat angesichts der Krise von Globalisierung und Liberalismus ein leichtes Spiel. Hat sie nicht immer schon die Nation hochgehalten, den Schutz des Klein- und Mittelkapitals eingefordert und für staatliche soziale Absicherung für das nationale Kollektiv plädiert? Die internationale imperialistische Arbeitsteilung wird die sozialen Unterschiede zwischen Zentren und Peripherie bestehen lassen. Auch bei zunehmender Verarmung im Westen wird daher der Sozialchauvinismus in den Unterschichten als Nährboden für eine rechtsnationale Antwort auf die Krise fortbestehen.

Eine zweite "organische" Antwort auf die Krise wird der Neoreformismus sein. Das deutsche Phänomen der Linkspartei ist ein Indikator für einen solchen Bruch von links mit der Sozialdemokratie, die sich als Zentrumspartei ganz dem Liberalismus und der Globalisierung verschrieben hat. Mit der Krise brauchen Sozialstaat, Massenkaufkraft, soziale und politische Partizipationschancen der Unterschichten einen Anwalt, den die etablierten politischen Kräfte nicht bieten können. Die zugunsten des Kapitals verschobenen Kräfteverhältnisse erfordern dafür auch ein bestimmtes Maß an Konfrontationsbereitschaft. Die Definition als Neoreformismus scheint insofern griffig, als im Mittelpunkt einer gesellschaftlich gewünschten Linkspolitik die Umverteilung zur Sicherung der Lebens- und Konsumperspektiven der Menschen steht, die Wiederherstellung einer Perspektive für die Unterschichten in einem sozialstaatlich reformierten System, nicht jedoch der Bruch mit dem System.

Der Einwand gegen eine solche negativ besetzte Definition als Reformismus liegt nahe: Die Globalisierungsverlierer wollen keine revolutionären Heilsversprechungen, sondern eine konkrete Politik mit Aussicht auf soziale Verbesserung. Alles andere würde nur die Isolation der Linken verstärken. Tatsächlich scheinen die Chancen politischer Verankerung über radikale Heilsversprechung im Westen marginal - ganz im Gegensatz etwa zur eindrucksvollen Verbreiterung der islamischen Heilsidee unter einer Millionenanhängerschaft von Perspektivlosen in zahlreichen Ländern des Südens.


Kein Platz für die revolutionäre Opposition?

Nun werden die Leser unseres Kommentars berechtigt fragen: Und wo bleibt der Raum für die revolutionäre Opposition? Die revolutionäre Perspektive kann in absehbarer Zukunft nicht auf eine "organische" Entstehung aus den gesellschaftlichen Verhältnissen rechnen, wie es für die rechtspopulistische und neosozialdemokratische Option zutrifft, die mit dem Sozialchauvinismus und der Konsumsicherung auf angelegte Strömungen im Massenbewusstsein setzen können, die sich durch die soziale Krise verstärken werden. Die Option des revolutionären Neubeginns kann zwar einigermaßen rational aus Krisenszenarien entwickelt werden, die innerhalb der kapitalistischen Profitlogik schwer zu bewältigen sind, und sie kann sich auch als sozial und demokratisch bestmöglichen Ausweg präsentieren. Ihr haftet aber unausweichlich und immer das "Prinzip Hoffnung" an, ein Rest eines nicht vollständig rational begründbaren Wunsches wie er jeder systemtranszendierenden Idee innewohnt. Damit sind die politischen Möglichkeiten revolutionärer Strömungen - außer in den kurzen Momenten totaler Systemkrisen - wesentlich mehr von den subjektiven Fähigkeiten ihrer Träger und der Überzeugungskraft ihrer Vorschläge abhängig.

Uns erscheinen zwei Milieus als künftige Arbeitsgebiete der revolutionären Opposition. Ein erstes Milieu sind die Versuche linker Neuformierung jenseits der Sozialdemokratien. Es ist zwar zu erwarten, dass hier die "gewerkschaftliche Linie" des Neoreformismus dominieren wird, die trotz akzentuierter "Klassenrhetorik" am stärksten an das konsumistische Systembewusstsein der westlichen Arbeitermittelschicht gebunden ist. Doch zwingt die politische Realität zu einer Auseinandersetzung, die über das eng Sozialstaatliche hinausgeht und Bereiche anspricht, die umfassende Alternativen benötigen: Auswirkungen der internationalen Politik, Folgen des umweltvernichtenden Produktivismus, Bedeutung der Souveränität, Möglichkeiten der Deglobalisierung. Dies sind nur einige Beispiele aktueller gesellschaftsrelevanter Problemstellungen, die mehr als soziale Umverteilung erfordern und vor deren Hintergrund sich eine antikapitalistische Systemkritik und umfassende Alternativen nachvollziehbar formulieren lassen.


Koexistenzprobleme mit den Neoreformisten

Neben der weitgehend fehlenden Kreativität der revolutionären Linken, zu solchen gesamtgesellschaftliche Themen Perspektiven und Vorschläge im Sinne der Systemüberwindung zu entwickeln, sind auf zwei Ebenen Koexistenzprobleme innerhalb der linken Neuformierung zu befürchten: 1) die Haltung zum antiimperialistischen Widerstand und 2) die Politik angesichts der nationalistischen Antiglobalisierungsrechten. Der antiimperialistische Widerstand nimmt das extremistische Moment des Klassenkampfes der "Verdammten der Erde" vorweg, wo es nur totalen Sieg oder totale Niederlage gibt. Jenseits aller anlassbezogenen Formen politischer Kampagnen zur internationalen Politik, in denen sich immer Fragen der politischen Vermittlung für das westliche Milieu stellen, bleibt dahinter eine Grundhaltung von Identifikation oder Nichtidentifikation mit diesen kompromisslosen Kämpfen der Ärmsten der Armen. Wenn auch vorerst jenseits der österreichischen Landesgrenzen, die französischen Banlieues und die griechischen Straßenschlachten haben einen Hauch sozialer Rebellion auch nach Europa gebracht - und mit ihr die politischen Schwierigkeiten von "Angemessenheit", Vermittlung und organisierter Kontinuität des Kampfes radikaler Minderheiten. Lösbare Probleme? Möglicherweise, jedoch vorausgesetzt eine spontane Identifikation mit dem Feind des Feindes - einerlei ob nun afghanischer Taliban-Kämpfer oder Vorstadtjugendlicher.

Die zweite Schwierigkeit, die wir für eine revolutionäre Dynamik innerhalb der linken Neuformierungen befürchten, geht von einem falsch verstandenen Antifaschismus gegenüber dem rechtsnationalistischen politisch-soziale Milieu aus. Nicht, dass wir Möglichkeiten und auch Sinn in Bündnissen mit rechtspopulistischen Kräften sehen, mit denen wir um die Verankerung in den Schichten der Globalisierungsverlierer konkurrieren. Auch gehen wir nicht von einer einfachen Überwindung des tief sitzenden Rassismus und Chauvinismus in den westlichen Unterschichten aus, wohl wissend dass unser Verständnis der Migrant/innen als Teil des nationalen Proletariats uns von wichtigen Sektoren der heimischen Unterschicht entfernt. Die Befürchtung begründet sich vielmehr darin, dass auch eine linke Neuformierung jenseits der Sozialdemokratie angesichts einer in der Krise erstarkenden Rechten ihr Heil in einem "Bündnis der Demokraten" sieht und so ins gemeinsame Boot des Establishments zurückkehrt. Es wäre nichts Neues und Verwunderliches. Auch in der internationalen Politik (Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Iran, Palästina, Sudan, Libanon) reichte die liberale Querfront der "Menschenrechts- und Demokratieimperialisten" von US-Neokonservativen bis hin zu linken Pseudo-Antifaschisten. Eine Allianz der Linken mit den "demokratischen" Kräften der Globalisierung, den Repräsentanten jener neoliberalen Ordnung, die mit der Finanzkrise gerade dabei ist ihr Gesicht zu verlieren, gegen die populistische Rechte wäre fatal. Sie wäre der sichere Verlust jeglicher oppositioneller Glaubwürdigkeit und damit die Niederlage im Kampf mit dem Rechtspopulismus um die "Herzen und Hirne" der Unterschichten.

Trotz dieser Gefahren sind die linken Neuformierungsbewegungen ein Kampfplatz um revolutionäre Ideen innerhalb der noch vorhandenen politisch interessierten und engagierten Zivilgesellschaft, eine Arena, wo sich ein erneuerter Marxismus politisch bewähren muss und kann, wenn er in der Lage ist, Perspektiven und Alternativen zu entwickeln.


Strategisch wichtig: ein Weg zu den Unterprivilegierten

Der zweite, möglicherweise noch schwierigere und im zeitlichen Horizont entfernter liegende Arbeitsbereich ist die direkte soziale Verankerung in der neuen Armut. Griechenland und die französischen Banlieues waren erste Zeichen dafür, dass die Rebellion der Armen sozial - nicht jedoch politisch - ebenfalls als organisches Produkt eines Kapitalismus entsteht, der den sozialstaatlichen Klassenkompromiss aufgekündigt hat. In der Rebellion liegt die Herausforderung nicht nur in der fehlenden inhaltlich-politischen Perspektive ihrer Träger, sondern zusätzlich in den organisatorischen Formen, um ihr Kontinuität zu geben. Welche Strukturen sind an ein Subjekt angepasst, das aus einer deregulierten, atomisierten und amerikanisierten Gesellschaft entsteht? Die alte Arbeiterbewegung verdankte ihre politische Stabilität auch einem politisierten Alltagsleben in Gemeindebau, Arbeiterviertel oder Fabrik. Diese Orte sozialer Basis sind im sozialstaatlichen Individualismus zerronnen. Formen neuer sozialer Räume, die gegenkulturelle Präsenz einer politischen Opposition erlauben, sind noch schwer vorherzusehen. Wir denken, dass der lateinamerikanische Begriff des "Poder Popular" im Sinne von Gegenmacht ein sinnvoller Rahmen für Überlegungen zu neuen sozialen Räumen ist. Territoriale Kontrolle, politische, soziale und kulturelle Abkoppelung - nicht aus der Mittelschichtsperspektive der Selbstbefreiung im System, sondern der Kräfteakkumulation. Doch auch die "Kräfteakkumulation" darf nicht von einem raschen Zusteuern auf eine entscheidende Konfrontation ausgehen, sondern muss mit einer langen Periode der sozialen Krise und Polarisierung ohne revolutionäre Möglichkeiten rechnen.


Gesucht: Revolutionäre Politik für schlechte, aber nicht-revolutionäre Zeiten

Also, was tun, wenn die Vorbereitung der Revolution keine tagespolitische Aufgabe ist? Abwarten, theoretisieren, Karatetraining oder doch Gewerkschaftspolitik? Wir möchten die Frage so stellen: Ist die Real- und Reformpolitik einer revolutionären Opposition innerhalb des Kapitalismus durch eine unüberwindliche Mauer von ihren sozialistisch-antikapitalistischen Inhalten und Vorschlägen für die goldenen Zeiten nach der ersehnten Übernahme der Staatsmacht getrennt? Gibt es vor der Revolution keine politische Möglichkeit zwischen den Extremen pragmatischer gewerkschaftlicher Umverteilungspolitik und dogmatischem linksradikalem Glaubensbekenntnis?

Wir denken, dass eine mögliche Antwort in jenem Konzept liegt, das Antonio Gramsci für die westlichen Kommunisten nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt hat. Gramsci meinte, dass mit der Stabilisierung des Kapitalismus in den 1920er Jahren des letzten Jahrhunderts die russische Revolution der letzte "Ansturm auf die Macht", der letzte Bewegungskrieg, war. Es sollte eine Zeit der "Stellungskriege" folgen, in der dem Antireformisten und Kommunisten Gramsci als strategisches Konzept der Aufbau von Gegenhegemonie vorschwebte. Er hatte sich im Bezug auf die nachhaltige Stabilität des Systems in seiner Zeit getäuscht, die schon auf das nächste Schlachten im Zweiten Weltkrieg hinsteuerte. Die Nachkriegsphase war im Westen dann weder Bewegungs- noch Stellungskrieg, sondern schlicht und einfach Friedensschluss der Klassen. Nach der einseitigen Aufkündigung des Friedens durch den Neoliberalismus und einer langsamen sozialen Neuformierung einer unterprivilegierten Klasse im Westen bekommen Gramscis Konzepte des Stellungskriegs und der Gegenhegemonie vielleicht erstmals politische Aktualität. Was notwendig wäre, sind Antworten für deren Konkretisierung. Um sie in einem revolutionären Sinne zu entwickeln, braucht es zumindest zweierlei: Identifikation mit all jenen, deren Lage sie in oft blindem Hass zum Kampf gegen das System treibt und ausreichend kritisches und kreatives Denken, um zu begreifen, dass wir es mit einer neuen Periode zu tun haben, die neue revolutionäre Paradigmen und Vorschläge erfordert. Unter diesen Voraussetzungen sind wir optimistisch, dass die verstreuten Revolutionär/innen im Westen die Herausforderungen dieser Periode intellektuell und praktisch meistern werden. Oder liegt für Österreich gerade hier der Grund für einen berechtigten Pessimismus?

Raute

EUROPA

Übersetzungsarbeit als "Terrorismus"

Interview mit Mona S.


Mohamed M. und Mona S. wurden im September 2007 in Wien verhaftet und in Österreichs erstem Prozess gegen den "islamischen Terrorismus" ohne Schuldbeweise zu vier Jahren bzw. 22 Monaten unbedingter Haft verurteilt, Im Interview berichtet sie über ihre Zeit im Gefängnis und die Vorgänge rund um ihren Ausschluss aus dem Prozess, aber auch über ihre Auffassung des Islam und ihre Sicht der Konflikte in den Krisenregionen.

intifada: Wie ist deine Verhaftung im September 2007 abgelaufen?

Mona S.: Ungefähr 20 Kobra-Beamten haben die Tür gesprengt und die Wohnung gestürmt, sind in mein Zimmer gestürmt und haben mit ihren Waffen auf mich gezielt. Ich war ziemlich geschockt, und jedes Mal, wenn ich gefragt habe, was los ist, sind sie mit den Waffen noch näher gekommen und haben mich damit fast schon auf den Kopf geschlagen. 4 oder 5 haben mit der Waffe auf mich gezielt, die restlichen haben mein Zimmer durchsucht. Ein Mann vom BVT (Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, Anm. d. Red) hat mir einen Zettel in die Hand gedrückt, ich wurde abgeführt. Meine Rechte habe ich erst später erfahren, und den Zettel konnte ich gar nicht mehr lesen. Man hat mich dann ins Gefängnis gebracht, und später zum Verhör durch das BVT. Am Anfang waren sie noch freundlich. Als ich aber dann nicht die Dinge gesagt habe, die sie hören wollten, also Aussagen gegen meinen Mann, haben sie mir gedroht, dass sie dafür sorgen werden, dass ich überhaupt nicht mehr herauskomme.

intifada: Welche Fragen haben die Beamten bzw. später der Untersuchungsrichter gestellt?

Mona S.: Ich wurde nach allen möglichen Personen gefragt, ob ich den oder den kenne. Mir wurden Fotos von irgendwelchen mir unbekannten Leuten gezeigt und ich wurde gefragt, ob ich weiß, wer das ist. Wegen dem, was ich selbst gemacht hatte, wurde ich kaum befragt. Ich habe auch von Anfang an gesagt, dass ich Nachrichten und Texte von Ansprachen übersetzt habe, weil ich daran nichts Illegales gefunden habe. Sie wollten, dass ich meinen Mann belaste und ihn als Anführer der GIMF (Globale Islamische Medienfront, Anm. d. Red.) hinstelle und behaupte, er hätte ein Drohvideo gemacht. Das habe ich nicht getan. Dann haben sie begonnen, mich anzuschreien. Sie haben auch versucht, mich zu erpressen. Man hat mir Fotos gezeigt, auf denen ich mit einem Mann zu sehen war. Dann haben sie gesagt, sie würden meinem Mann einreden, ich hätte ihn mit diesem Mann betrogen. Ich habe gesagt, dass sie das ruhig tun können, da er ihnen sowieso nicht glauben wird. In der ersten Woche sind sie 2 oder 3 Mal gekommen. Nach einiger Zeit haben sie bemerkt, dass sie aus mir nichts anderes herausbekommen als das, was ich tatsächlich getan habe, nämlich Texte übersetzt, und dann haben sie es irgendwann aufgegeben. Man hat mir gesagt, dass es für mich schlecht ausgehen wird, wenn ich nicht mehr als das Bisherige aussage. Ich habe aber keinen Grund gesehen, Dinge zu sagen, die nicht stimmen und die ich nicht getan habe. Ich hatte den Beamten und dem Untersuchungsrichter längst alles ausgesagt, was ich getan hatte. Die Übersetzungen habe ich nie geleugnet und auch immer darauf hingewiesen, dass das keine Straftat ist, sondern dass so etwas jede journalistische Agentur macht.

intifada: Wie wurdest du im Gefängnis von der Justizwache behandelt?

Mona S.: 2-3 Wochen war ich in Einzelhaft, in einer Zelle, in der es nicht einmal eine Uhr gab. Einmal wurde 2-3 Tage nicht ein einziges Mal die Tür aufgemacht, auch kein Essen gebracht. Die Stockchefin war sehr rassistisch und negativ mir gegenüber eingestellt. Sie haben auch mit Schlafentzug gearbeitet. Es wurde oft gegen die Tür geschlagen, und wenn ich da nicht sofort aufgestanden bin, haben sie geschrieen. Im Nachtdienst waren das immer ausschließlich Männer, vor denen ich dann ohne Schleier dastehen musste. Das Kopftuch habe ich aber aufbehalten, und wenn ich es nicht heruntergenommen habe, haben die Beamten mich bedroht. Ich habe aber darauf hingewiesen, dass ich vom Richter Erlaubnis hatte, das Kopftuch zu tragen, woraufhin sie mich angeschrieen haben, wenn ich mich nicht anpassen könne, sollte ich "dorthin verschwinden, wo ich hingehöre" und nicht in Österreich bleiben. Untertags waren Frauen im Dienst, die mich zwar auch nicht gut behandelt haben, aber die Drohungen sind fast immer von den Nachtdiensten, also von Männern, ausgegangen. Nachdem ich in einer Einzelzelle war, hatte ich auch keine Zeugen für die Dinge, die da vorgefallen sind. Ich habe versucht, das alles dem Wachkommandanten zu melden und ihm auch gesagt, dass die Vorfalle mittels Aufzeichnung der Videoüberwachung beweisbar sind. Der Kommandant hat gesagt, er hätte sich die Videos angeschaut und es wäre nichts darauf zu sehen. Daraufhin wollte ich, dass die Videos meinem Anwalt übergeben werden. Der Kommandant hat gesagt, das wäre nicht möglich.

intifada: Was ist nach diesen 2 oder 3 Wochen Einzelhaft passiert?

Mona S.: Eine andere Frau ist bei mir in der Zelle untergebracht worden, nachdem ich einige Male darum gebeten hatte und gesagt habe, dass ich sonst einen Hungerstreik beginne. Die Frau war Rumänin. Sie hat nicht deutsch gesprochen, aber haben uns trotzdem gut verständigen können. Wenn ich zum Besuch abgeführt oder zum Anwalt gebracht wurde, waren immer mindestens 2 Beamte dabei, die oft beleidigende und rassistische Kommentare von sich gegeben und mich manchmal auch gestoßen und mir mit erhobener Hand gedroht haben. Ich habe monatelang versucht, von dieser Abteilung wegzukommen, was mir schlussendlich auch gelungen ist. In der anderen Abteilung war es dann besser, ich war dann mit mehreren anderen in einer Zelle. Dort habe ich mich sicherer gefühlt, da es ja im Fall von Übergriffen mehrere Zeuginnen gegeben hätte, und zumindest tagsüber wurde ich auch von den Beamten besser behandelt als in der anderen Abteilung. Ich durfte aber weiterhin viele Dinge nicht tun, die den anderen erlaubt waren. Zum Beispiel durfte ich keinen Kontakt zu anderen Insassinnen außerhalb meiner Zelle haben. Auch beim so genannten Spaziergang durfte ich nur Kontakt zu den Frauen aus meiner Zelle haben, und zu keinen anderen. An Gruppenaktivitäten durfte ich mich ebenfalls nicht beteiligen. Ich konnte während der ganzen Haft auch nie dem Anwalt etwas Schriftliches übergeben, selbst wenn es den Prozess betraf. Ich durfte keine Schriftstücke zu meiner Verteidigung verfassen, das wurde mir alles verboten. Wenn ich in der Zelle irgendetwas geschrieben habe, wurde es mir weggenommen (meistens während ich spazieren war), auch private Dinge, private Briefe. Diese Dinge habe ich bis heute nicht zurückbekommen, ohne Begründung.

intifada: An Vorwürfen gegen dich ist bis zum Prozess eigentlich nur die Sache mit den Übersetzungen übrig geblieben, aber auch davon wurde ja in der Anklageschrift kein einziger konkreter Text erwähnt. Hast du jemals in irgendeiner Weise erfahren, welche Texte dir genau zur Last gelegt werden?

Mona S.: Ich wurde nur gefragt, ob ich Ansprachen der Al Kaida-Führung übersetzt hätte. Ich habe gesagt, insgesamt 3 oder 4 Stück davon, aber ohne es jemals zu kommentieren oder gutzuheißen, sondern nur um den Leuten zu zeigen, was die zu sagen haben, und damit sich die Menschen ein Bild machen können. Jeder Mensch hat Verstand und sollte selbst unterscheiden können, was richtig oder falsch ist. Wie gesagt, es wird im ganzen Akt kein einziger Satz aus diesen Ansprachen erwähnt. Mir ist auch nie eine genaue Stelle gesagt worden, auf die sich die Anklage stützt. Es ist zwar dauernd von "terroristischer Vereinigung" und "Propagandatätigkeit", gesprochen worden, aber nie von irgendetwas Konkretem.

intifada: Kommen wir zu deinem Ausschluss aus der Verhandlung im März. Gab es da vorher Gespräche mit dem Vorsitzenden, Richter Gerstberger, bezüglich des Gesichtsschleiers?

Mona S.: Es gab zwei Gespräche. Beim ersten Gespräch habe ich ihn gefragt, wie das mit dem Schleier gehandhabt werden würde. Er hat gesagt, dass er mich zu nichts zwingen wird und es meine freie Entscheidung ist, ob ich den Schleier tragen möchte oder nicht, es sei aber auch meine Verantwortung, wie die Geschworenen darauf reagieren würden. Er hat zwar gesagt, er müsse sich selbst noch genauer informieren, aber er hat mir und meinem Mann versprochen, dass ich den Schleier tragen darf. Darauf habe ich ihn dann beim Prozess auch hingewiesen und gesagt, es sei nicht fair, dass er mir jetzt plötzlich einen Ausschluss androht. Er hat dann behauptet, er hätte das nie versprochen.

intifada: Es wurde auch ins Treffen geführt, dass durch die Gesichtsverschleierung die Feststellung deiner Identität nicht möglich sei.

Mona S.: Meine Identität ist vorher von den Beamten genau festgestellt worden und ich habe mich dort auch noch einmal bereit erklärt, mit einer Beamtin in ein Nebenzimmer zu gehen, sodass sie meine Identität feststellen kann. Daraufhin hat der Richter damit argumentiert, meine Mimik müsste für die Geschworenen erkennbar sein. Dabei haben ja Angeklagte das Recht, zu schweigen. Der Schleier war meine Art, mit der Mimik zu schweigen. Ausgesagt hätte ich ja.

Ich wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass mein Verhalten mir schaden würde. Tatsache ist aber, dass mich keine Bestimmung zum Abnehmen des Schleiers zwingt und ich daher das Recht habe, mich trotz des Schleiers zu verteidigen. Es gibt ja in Österreich offiziell Religionsfreiheit. In erster Linie geht es mir dabei gar nicht um mich selbst. Ich will einfach, dass gläubige Menschen nicht an der Ausübung ihres Glaubens gehindert werden. Daher gebe ich in dieser Sache nicht nach.

intifada: Wann hast du dich entschlossen, den Gesichtsschleier zu tragen, und was war dafür ausschlaggebend?

Mona S.: Den Schleier trage ich seit ungefähr 4 Jahren, also schon länger, als ich meinen Mann Mohamed überhaupt kenne. Mein Vater war anfangs überhaupt dagegen, dass ich den Schleier trage, es war aber meine Entscheidung. Nach dem 11. September 2001 sind viele Diskussionen über den Islam aufgekommen. Da habe ich begonnen, mich intensiver mit meiner Religion zu beschäftigen, aber auch mit dem Christentum und dem Judentum. Nach meiner Auffassung ist es im Islam Pflicht, den gesamten Körper zu bedecken. Ich toleriere es natürlich auch, wenn eine muslimische Frau keinen Gesichtsschleier trägt, weil ihr das zu gefährlich ist. Man sollte aber auch die Meinung tolerieren, dass die Gesichtsverschleierung im Islam Pflicht ist.

intifada: In islamischen Staaten ist das Tragen der Ganzkörperbedeckung, zumindest der Ganzkörperbedeckung mit Ausnahme des Gesichts, Pflicht, obwohl es dort sicher auch viele Frauen gibt, die das nicht wollen.

Mona S.: Zunächst: Es gibt heutzutage keinen einzigen islamischen Staat. Es ist weit verbreitet, z.B. Saudi-Arabien oder den Iran als islamische Staaten zu bezeichnen. In Wirklichkeit herrscht in diesen Staaten genauso Unterdrückung und Korruption wie im Westen, oder sogar noch schlimmer. In einem wirklich islamischen Staat dürfte es das alles nicht geben, keine Korruption, keine Unterdrückung. All das gibt es aber in den so genannten islamischen Staaten. Daher werden diese nicht nach Gottes Gesetzen regiert und sind in Wahrheit keine islamischen Staaten.

Eine Frau darf nicht gezwungen werden, die Ganzkörperbedeckung zu tragen, wenn es nicht ihre Überzeugung ist. Jüdinnen, Christinnen und andere Frauen sollten in einem islamischen Staat nicht zum Tragen des Schleiers gezwungen werden, weil es eben nicht ihre Überzeugung ist.

intifada: War die Motivation, den Gesichtsschleier zu tragen, rein religiös, oder siehst du ihn auch als Zeichen der Ablehnung der Konsum- und Vermarktungskultur, in der wir im Westen leben, also ein Stück weit auch als rebellisches Symbol?

Mona S.: Den Schleier selbst trage ich aus islamischen Gründen, weil ich einfach als Frau meine Reize bedecken und nicht vor den Männern zur Schau stellen möchte. Ich bin aber auch der Meinung, dass das System, in dem wir leben, korrupt und ungerecht ist und möchte meine Abneigung auch zeigen, aber nicht durch den Schleier. Es ist mir aber schon auch wichtig, dass ich für das Recht kämpfe, den Schleier tragen zu dürfen, da kämpfe ich ja nicht nur für mich, sondern auch für andere islamische Frauen.

intifada: Dein Mann hat im Prozess ein paar Mal gesagt, dass die Demokratie nicht die Gesellschaftsform ist, die seinen Vorstellungen entspricht. Gleichzeitig fordert ihr aber demokratische Rechte, wie das Recht auf freie Religionsausübung, ein. Siehst du da einen Widerspruch?

Mona S.: Die Ablehnung richtet sich gegen das, was falscher Weise als Demokratie bezeichnet wird. Es wird von Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gesprochen, aber das gibt es hier in Wirklichkeit gar nicht. Unser Prozess ist der beste Beweis dafür. Wir dürfen nicht mit unserer Übersetzungsarbeit zur freien Verbreitung von Meinungen beitragen, und man hindert uns an der Ausübung unserer Religion. Das sind also nur leere Slogans, in Wirklichkeit werden uns diese Rechte nicht zugestanden. Deshalb kann man hier nur von einer so genannten Demokratie sprechen, nicht von wirklicher Demokratie.

intifada: Glaubst du, dass ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben von Moslems und Leuten, die sich der westlichen Kultur zugehörig fühlen, möglich ist?

Mona S.: Grundsätzlich ist das sehr wohl möglich. Die Geschichte hat das oft genug gezeigt. Unter den momentanen Voraussetzungen ist es aber schwierig, da es nicht wirklich Gleichberechtigung gibt.

intifada: Welche Elemente der westlichen Kultur sind es, die du ablehnst?

Mona S.: Zuerst möchte ich sagen, dass ich selbst Österreicherin bin, bin hier geboren und fühle mich als Wienerin. Mich stört am meisten, dass die Leute einfach nicht aufgeschlossen sind für anderes, und dass man die eigene Kultur für die beste und überlegene hält und man keinen Austausch sucht. Man sollte doch möglichst alle Kulturen kennen lernen und das Gute davon nehmen, das Schlechte weglassen. Man sollte neugierig, aufgeschlossen und vorurteilsfrei sein und erst über etwas urteilen, wenn man sich mit den Dingen wirklich auseinandergesetzt hat. Vorher kann man sich ja keine eigene Meinung bilden. So ist es hier aber leider oft. Die Leute kennen etwas nicht und sind automatisch dagegen.

intifada: Welche Art von Widerstand gegen Besatzung ist deiner Ansicht nach legitim, was fällt unter legitimen Widerstand und was nicht?

Mona S.: Ich finde, dass jedes Volk, wenn sein Land angegriffen und besetzt wird, das Recht hat, Widerstand zu leisten und sich zu verteidigen. Ich bin gegen Terrorismus, aber sehr wohl für Widerstand. Die Amerikaner haben gesagt, dass sie wegen Saddam Hussein den Irak angreifen, aber der ist schon lang weg, und sie sind immer noch dort und bringen Menschen um. Das einfache Volk leidet am meisten unter der Besatzung und unter den Kriegen und hat das Recht, sich zu wehren und nach seinen eigenen Vorstellungen zu leben, ohne dass ihnen die USA oder andere Seiten etwas vorschreiben.

intifada.: Die Darstellung der westlichen Medien, dass bei Widerstandsaktionen permanent nur unschuldige Zivilisten getötet werden, dürfte mit der Wahrheit zwar nicht viel zu tun haben, aber natürlich passiert es auch immer wieder, dass Unschuldige dabei umkommen. Was ist deine Meinung dazu?

Mona S.: Ich bin absolut gegen das Töten von Unschuldigen, so etwas ist auch gegen die Gesetze des Islam. Es gibt im Islam Vorschriften, dass im Krieg keine Unschuldigen, vor allem nicht Frauen und Kinder, getötet werden dürfen. Es wird sogar gesagt, dass auch keine Pflanzen beschädigt werden dürfen, wenn es nicht absolut unvermeidbar ist.

Die Darstellung der Kämpfe in den westlichen Medien ist meistens einseitige Propaganda. Mit unseren Übersetzungen, bei denen wir ja auch Texte der westlichen Seite übersetzt haben, wollten wir dazu beitragen, dass die Menschen sich alles anschauen und selbst ein Bild machen können.

intifada: Im Prozess im März hat dein Anwalt eine schriftliche Stellungnahme von dir vorgelegt, in der du unter anderem sagst, dass der Terrorismus dann aufhören wird, wenn man seine Ursachen beseitigt. Was verstehst du unter diesen Ursachen bzw. was muss passieren, damit der Terrorismus ein Ende findet?

Mona S.: Krieg und Besatzung müssen beendet werden, dann wird es auch keinen Terrorismus mehr geben. Das ist doch ganz klar, und deshalb wäre es, wenn man ein Ende des Terrorismus will, doch das logischste, die Besatzung zu beenden. Wenn man dem Terrorismus mit weiterem Krieg begegnet, wird das auch nur zu weiterem Terrorismus führen. Ich würde nicht zu den Mitteln greifen, mit denen Osama Bin Laden seine Ziele durchzusetzen versucht, aber die Ziele selbst, nämlich dass die islamischen Menschen in ihren Ländern nach ihren eigenen Vorstellungen leben können und nicht von außen angegriffen und besetzt werden, sind auch meine Ziele.

intifada: Wie reagieren die Leute im Alltag seit deiner Entlassung auf dich und welche Reaktionen haben deine Angehörigen in der ganzen Zeit seit eurer Verhaftung erfahren?

Mona S.: Ich selbst bekomme davon relativ wenig mit, weil ich die meiste Zeit in der Wohnung bin. Ich sehe mehr die Reaktionen in diversen Diskussionen im Internet, die zum Teil sehr schlimm sind. Es wird häufig gefordert, dass wir lebenslänglich bekommen oder des Landes verwiesen werden. Fast alle Kommentare sind feindselig.

In manchen Interviews, die ich gegeben habe, wurden Dinge weg gelassen und einige Zitate in einem falschen Kontext gebracht, und das sehr geschickt. So als hätte ich z.B. Bin Laden als "Widerstandskämpfer" bezeichnet, obwohl ich nur allgemein über den Widerstand sprach. Oder es wird von der Arbeit gesprochen, die ich laut Bericht für die GIMF gemacht habe, und das wird dann in Zusammenhang mit Videos von Geisel-Ermordungen gebracht, die angeblich auch auf der Seite der GIMF veröffentlicht wurden, was aber überhaupt nicht der Fall ist. Von diesen verfälschten Interviews distanziere ich mich.

Sehr schade war, dass, während einige wenige Kritik geübt haben, die muslimische Gemeinde, also Herr Anas Schakfeh und diese Leute, uns vollständig im Stich gelassen haben. Die haben ja gleich am Tag der Verhaftungen applaudiert und ihre Freude darüber zum Ausdruck gebracht, dass Österreich jetzt ein paar "Terroristen" geschnappt hat. Das war in meinen Augen eine Frechheit.

intifada: Gab es aus der Linken, abgesehen von der AIK, Interesse an eurer Sicht der Angelegenheit bzw. hast du da seit deiner Entlassung noch von anderswo kritische Stimmen gegenüber dem Prozess und seinen politischen Hintergründen wahrgenommen?

Mona S.: Von keiner Organisation, nur von Einzelpersonen. Da haben sich immerhin ein paar verschiedene Leute für den Fall interessiert, was ich gut fand. Ich bin gerne bereit, mit Leuten zu sprechen, die Interesse haben und sich informieren wollen. Ich habe auch erfahren, dass mir verschiedene Leute solidarische Briefe ins Gefängnis geschrieben haben, aber diese Briefe wurden mir nie gegeben.

intifada: Im Mai wurden 10 TierschützerInnen für über 3 Monate in Haft genommen, denen eine Anklage nach § 278a ("Kriminelle Organisation") des StGB droht, der ja auch bei dir und deinem Mann einen Teil der Anklage ausgemacht hat. Darunter war auch eine Frau, die im Gefängnis in der Nähe deiner Zelle eingesperrt war. Hast du das im Gefängnis mitbekommen?

Mona S.: Ich konnte sie leider nur ab und zu kurz sehen, wenn bei mir die Tür aufgegangen ist. Es waren ja bei allen anderen die Türen aufgesperrt, nur bei mir nicht (auch wenn man versucht hat, das zu vertuschen), da ich auch nach § 278b ("Terroristische Vereinigung") angeklagt bin. Ich habe aber über die anderen in meiner Zelle mitbekommen, wer sie ist.

intifada: Ist man von Seiten der TierschützerInnen an dich herangetreten, um Zusammenarbeit zu suchen und gemeinsamen Widerstand gegen diesen Paragraphen, der offensichtlich zur Kriminalisierung von politischem Aktivismus dient, aufzubauen?

Mona S.: Ich habe mitbekommen, dass einige dieser Leute an unserem Fall interessiert sind und den jetzigen Prozess solidarisch mitverfolgen. Konkret auf eine mögliche Zusammenarbeit wurde ich aber bis jetzt nicht angesprochen.

intifada: Du bist jetzt durch den Prozess und vor allem durch die Sache mit dem Gesichtsschleier ziemlich bekannt. Wie stehst du dazu, und wie siehst du deine Zukunft, sowohl in politischer, als auch in persönlicher und beruflicher Hinsicht?

Mona S.: Meine Bekanntheit sehe ich sowohl positiv als auch negativ. Negativ deshalb, weil ich nicht durch so etwas bekannt werden wollte, positiv deshalb, weil man durch diese Bekanntheit etwas tun kann. Wenn man bekannt ist, kann man leichter auf etwas aufmerksam machen. Ich möchte weiterhin journalistisch tätig sein und weiterhin versuchen, den Menschen die Augen dafür zu öffnen, wie die Lage in den Krisengebieten wirklich ist. Es wird sehr schwer für uns werden, Arbeit zu finden, aber wir werden es versuchen müssen. Das wichtigste wird aber die politische Arbeit bleiben.

Das Interview führte Gunnar Bernhard.

Raute

THEORIE

Kopfgeburten der Kriegstreiber: Feindbild Islam

Von Klaus von Raussendorff


Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 dreht sich die Terror-Obsession des Westens um den "Großen Mittleren Osten". Dort ist die Mehrheit der Bevölkerung muslimisch oder von der islamischen Kultur geprägt. Hier entdeckte George W. Bush die "Achse des Bösen".

In seiner zweiten Rede zur Lage der Nation im Januar 2002 erklärte er, diese strebe danach, sich zu "bewaffnen, um den Frieden der Welt zu bedrohen". Das Wort "Achse" sollte Assoziationen wecken. War der Krieg gegen die faschistischen "Achsen-Mächte" nicht ein legitimer Kampf gewesen? Die von Bush namentlich genannten Länder Irak, Iran und Nordkorea, waren also - na, was wohl? Richtig: - faschismusähnlich. So konnte die Propaganda für den "globalen Krieg gegen den Terror" auch als "Weltkrieg gegen den Islamofaschismus" bei Rassisten Furore machen.


Israel und Iran

Die derzeit gefährlichste Erscheinungsform der Islam-Feindlichkeit ist die Stimmungsmache für einen Krieg gegen den Iran. Nach den Kriegslügen von der Mitverantwortung Afghanistans für "9/11" und den irakischen "Massenvernichtungswaffen" und "Al-Qaeda-Verbindungen" soll nun eine hypothetische "Bombe" des Iran den Vorwand für den nächsten Krieg liefern.

Israel und Iran rivalisieren in der Region um hegemonialen Einfluss. Juden und Perser sind seit biblischen Zeiten meist gut miteinander ausgekommen. Noch unter dem Schah war der Iran aus Sicht Israels ein strategischer Partner gegen die Araber. Selbst nach der islamischen Revolution 1979 riss der Kontakt Tel Avivs zu Teheran nicht ganz ab. Israel vermittelte in den 80er Jahren bei dem Dreiecksgeschäft über Rüstungslieferung für die iranische Armee und US-Hilfe für nicaraguanische Konterrevolutionäre. Erst Anfang der 90er Jahre, als der Irak als regionaler Konkurrent Israels ausgeschalten war, begannen israelische Politiker, den Iran als Hauptfeind zu definieren. Die israelische Regierung beschwor als erste die globale Bedrohung durch den "islamischen Fundamentalismus". Paradoxerweise war es dann die Politik der USA und Israels, den Iran durch den Sturz der Taliban-Regierung in Afghanistan und der Baath-Regierung im Irak von konkurrierenden Kräften in seinen Nachbarländern zu befreien.

Der Iran fungiert für den Widerstand in der Region als rückwärtiger Raum, in politischer, diplomatischer, ideologischer wie militärischer Beziehung. Teheran steht in einer strategischen Allianz mit dem säkularen Syrien, verfügt über ein - derzeit nicht ausgeschöpftes - Störpotenzial gegen die USA im Irak, unterstützt den Befreiungskampf von Hezbollah und Hamas und ist um Einverständnis unter den Schiiten sowie aller Muslime in der Region und weltweit bemüht.

Keine Woche vergeht, in der nicht israelische Militärs oder Politiker die Möglichkeit eines Militärschlages gegen den Iran ausmalen. In den USA veröffentlichten im Oktober 2008 Politiker beider Parteien eine Studie zur Iran-Politik unter dem nächsten US-Präsidenten, sie empfehlen eine rasante Verschärfung: Erst eine Seeblockade, dann ein wochenlanger Bombenkrieg gegen Produktionsanlagen und Infrastruktur, der den Iran so verwüsten und zurückwerfen soll, dass er nicht bloß auf Jahre, sondern vielleicht Jahrzehnte von ausländischer, insbesondere US-Hilfe abhängig ist. (siehe Knut Mellenthin:
http://www.hintergrund.de/content/view/289/63/).


Querfront der Islam-Hasser, Kriegstreiber und falschen Freunde der Juden

Am 28. Oktober 2008 stellte sich in Berlin eine Kampagne STOP THE BOMB mit einer Pressekonferenz vor. Sie wirbt dafür, den Iran "politisch und diplomatisch zu isolieren". Das Argumentationsmuster überrascht nicht: "Für Israel wäre die iranische Bombe eine existenzielle Gefahr". Der iranische Präsident Mahmoud Ahmadinejad habe "zur Vernichtung des jüdischen Staates aufgerufen", wird in Fälschung seiner Zitate behauptet. Gefordert wird, dem Beispiel der Länder des angelsächsischen Kapitals (USA, Kanada, Großbritannien) zu folgen, die sich angemaßt haben, Hezbollah zu "verbieten". Mit der Arroganz westlichen Herrenmenschentums wird ignoriert, dass der erfolgreiche Widerstand von Hezbollah gegen die israelische Aggression von der großen Mehrheit im Libanon anerkannt wird, was auch in ihrer Regierungsbeteiligung zum Ausdruck kommt.

Aber in der Pressemitteilung zur Kampagne kommt es noch dicker: "Schon zu Weihnachten könnte die Islamische Republik Iran eine Atomwaffe haben, stellte Mohammed ElBaradei, der Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde in der letzten Woche fest." Diese unglaubliche Verdrehung eines Interviews von ElBaradei entstammt dem Artikel in der Süddeutschen Zeitung "Eine Bombe zu Weihnachten". Der Autor Hans Rühle war 1982-88 Leiter des Planungsstabes im Bundesverteidigungsministerium, danach für die "Bundesakademie für Sicherheitspolitik" und die NATO aktiv.

"Rühles Artikel ist, kurz zusammengefasst, ein Hohn auf journalistische Gepflogenheiten und Standards, indem er Fakten munter mit Mutmaßungen und (Fehl-) Interpretationen vermengt", analysiert Knut Mellenthin (http://www.hintergrund.de/content/view/292/63/). Der ungeheuerliche Vorgang zeigt, wie antiislamische Kriegspropaganda gemacht wird: Unglaubwürdige Behauptungen werden von einem 'Spindoktor' (politischen Kampagnen-Verkäufer) aus dem Sicherheitsapparat trickreich über eine als seriös geltende Zeitung in die Welt gesetzt und münden in eine strategisch organisierte Kampagne.

Zu den Unterzeichnern des Aufrufs STOP THE BOMB gehören neben den prozionistischen Organisatoren der Kampagne die Bundestagsabgeordnete Petra Pau (Partei DIE LINKE, PDL), der Bundesarbeitskreis Schalom in der PDL-Parteijugend und ein Arbeitskreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Auch ein prominenter Vertreter des Christlichen Zionismus ist dabei: Malcom Hedding, seines Zeichens Geschäftsführender Direktor der "International Christian Embassy Jerusalem" in Jerusalem.


Christen gegen "Christlichen Zionismus"

Dieser südafrikanische Pastor Hedding hatte anlässlich der Auflösung jüdischer Siedlungen in Gaza 2005 öffentlich lamentiert: "Wie kann Gott dies zulassen?" Denn nach christlich-zionistischem Aberglauben müssen die Juden ganz Palästina besetzen, damit der Heiland wiederkehren kann. Allerdings müssen die Juden dann entweder christlich werden oder in der Schlacht von "Armageddon" umkommen. Die bigotte Spinnerei von der Endzeit hat einen durchaus judenfeindlichen Inhalt.

Einige der deutschen Unterstützer der Kampagne kommen aus Kreisen des christlich-jüdischen Dialogs, andere berufen sich politisch auf christliche Werte. Praktisch aber stehen sie in einer antiislamischen Querfront mit dem christlichen Zionismus, von dem sich die Christen der USA jüngst deutlich distanziert haben.

Als im US-Präsidentenwahlkampf der Film "Obsession: Der Krieg des radikalen Islam gegen den Westen" als DVD in 28 Millionen Kopien verbreitet wurde, wollten US-amerikanische Christen dazu nicht schweigen. Die interkonfessionelle Kommission des National Council of Churches, Dachorganisation von 35 Kirchen mit 45 Millionen Mitgliedern in 100.000 Gemeinden kritisierte am 30. Oktober 2008: Der Film suggeriere nur zwei Möglichkeiten, auf den "radikalen Islam" zu reagieren, Krieg oder Appeasement. "Eine solche falsche Wahl dient nur dazu, Angst vor dem Islam und Aggression gegen Muslime zu schüren", so die christlichen Kirchen. Sie wollen nicht nur den christlich-muslimischen Dialog vertiefen. Sie unternehmen auch Anstrengungen, den Einfluss des christlichen Zionismus in den USA zurückzudrängen. Bis Jahresende wollen sie 45 Millionen Exemplaren der Broschüre "Warum wir über den christlichen Zionismus besorgt sein sollten" verteilen, in der deutlich gemacht wird: Christlicher Zionismus "fördert Hass auf Muslime und eine negative Haltung zu Frieden."


Köln: Islamfeindliche Provinzposse

Von islamfeindlicher Stimmungsmache hoffte schließlich, wen wundert's, auch die ultrarechte "Bürgerbewegung pro Köln" mit einem eigenen "Anti-Islamisierungskongress" am 19./20. September 2008 zu profitieren, gedacht als Auftakt für ihren Kommunalkampf im nächsten Jahr. Dagegen formierte sich ein breites Bündnis vom NRW-Ministerpräsidenten über den Kölner Oberbürgermeister, Antifa-Gruppen, linken und halblinken Organisationen bis hin zu Künstlern, Taxifahrern und Wirten. Die Bilanz des Antifa-Netzwerkes Münster: "Der geplante Kongress der Rassisten konnte nicht stattfinden, weil die Polizei deren Sicherheit nicht gewährleisten konnte."

Bei aller Genugtuung der Blockierer, dass "das Blockadekonzept voll und ganz erfolgreich gewesen" sei, bleibt ein peinlicher Nachgeschmack, weil auch sie der grassierenden Islamophobie ideologisch nicht standhielten. Ganz politisch korrekt rapportieren sie: "Die antifaschistische Bewegung sollte dafür Sorge tragen, dass islamistische Gruppierungen nicht als Bündnispartner gegen Rechts akzeptiert, sondern als politische Gegner bekämpft werden." Die Absage an antiimperialistische, antirassistische Solidarität auch mit Organisationen gläubiger Muslime mag ein Zugeständnis an pro-zionistische "Antideutsche" in den eigenen Reihen sein, ersparte den Antifa-Blockierern allerdings nicht die Häme von Seiten derer, die "den" Islam schlechthin zum Feindbild erklären wollen.

Gemeint ist eine Gruppierung, die meinte, bei den Protesten als "dritte Kraft" auftreten zu können. Dabei hatte sie selbst knapp vier Monate zuvor in der Kölner Uni eine "Kritische Islamkonferenz" besonderer Art veranstaltet. Der Schriftsteller Ralph Giordano, der monatelang gegen den Bau einer Moschee zu Felde gezogen und zum Liebling der Neofaschisten geworden war, hatte die Eröffnungsrede gehalten. Sein Motto lautete: "Nicht die Migration, der Islam ist das Problem". Mit von der Partie waren Mina Ahadi, Führungskader der Arbeiterkommunistischen Partei des Iran und zugleich Protagonistin des "Zentralrats der Ex-Muslime" sowie ihr Unterstützer Michael Schmidt-Salomon von der Giordano-Bruno-Stiftung und ein gewisser Hartmut Krauss. Die ausgewiesenen Islam-Bescheidwisser riefen zum Widerstand "gegen die einheimischen und zugewanderten Rechtskräfte" auf. Sie wollten es nicht gewesen sein, die geholfen hatten, das Klima zu schaffen, von dem die Rechten und Ultrarechten profitierten. Und auch jetzt noch leisteten sie dem rechten Rand der antiislamischen Querfront Schützenhilfe, indem sie die Blockierer der Rassisten als "vermeintlich antirassistische Islamversteher" zu denunzieren versuchten, die gegen Islamisten auf Tauchstation gingen.
(http://www.kritische-islamkonferenz.de/index08.htm)


Raute

THEORIE

Islamophobie und Nationalismus

Eine Analyse

Von Bruno Bullock


Seit dem Ende des Kalten Krieges scheint sich ein neues Feindbild in Europa durchzusetzen. Der Islam und die MuslimInnen sind in ganz Europa heftiger Kritik ausgesetzt. Diese Kritik findet auf mehreren Ebenen statt und variiert von Staat zu Staat. Rechtsnationale Parteien in vielen europäischen Staaten nehmen sich mit zunehmender Intensität dieses Themas an und polarisieren. Dabei sind sie durchaus erfolgreich, wie z.B. das letzte Wahlergebnis in Österreich gezeigt hat. Die Reaktionen anderer politischer Akteure sind spärlich bis nicht existent. Entweder wissen sie nicht, wie sie damit umgehen sollen, oder dieser Konflikt spielt ihnen in die Hände.

Religionskritik muss in einem demokratischen Rechtsstaat erlaubt sein. Doch stellt sich die Frage, wann noch von Religionskritik gesprochen werden kann und wann es sich bereits um Verhetzung handelt. Wenn Susanne Winter den islamischen Propheten Muhammed als "Kinderschänder" bezeichnet, kann wohl kaum mehr von Religionskritik gesprochen werden. Viel eher werden religiöse Werte herabgewürdigt und polemische Hetze betrieben. Man kann hier ganz klar von Islamfeindlichkeit bzw. Islamophobie sprechen.

Islamophobie ist ein komplexes und vielschichtiges Phänomen, welches auf mehreren Ebenen betrachtet werden muss, die hier nicht alle berücksichtigt werden können. Wie bei Rassismus, Antisemitismus etc. wird ein "Anderes" konstruiert, homogenisiert, negativ besetzt und in Opposition zum "Selbst" gesetzt. Es handelt sich auch nicht um ein genuin neues Phänomen unserer Zeit, sondern ist in einem größeren historischen Kontext zu verstehen. Im Anschluss werde ich versuchen diesen weiten historischen Kontext zu beleuchten. Dabei werde ich anfangs die durch die Französische Revolution hervorgerufenen Veränderungen im Gesellschaftsgefüge skizzieren, um mich des weiteren bis in die Gegenwart vorzuarbeiten, und die komplexen Verstrickungen veranschaulichen, die Verständnis für die gegenwärtige Problematik ermöglichen.

Die Französische Revolution veränderte umfassend die politische Landschaft Europas und somit der ganzen Welt. Das Konzept des Nationalstaates wurde geboren. Die Bourgeoisie gewann an Einfluss und der Kapitalismus in verschiedenen Ausformungen setzte sich durch. Der Kapitalismus ist nicht als Folge des Nationalstaates zu sehen, viel eher ist der Nationalstaat zentrales Element der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise. Der Nationalstaat ist eine "imagined community", eine gedachte Gemeinschaft, und diente der kapitalistischen Elite, die eigenen Interessen dem Proletariat gegenüber als gemeinsame zu verkaufen. Um dieser Gemeinschaft eine Identität zu geben, benötigte es Mittel zur Ein- und Ausgrenzung. Identität braucht immer das "Andere", von welchem sich das "Selbst" abgrenzen kann. Das politische Projekt des Nationalismus wurde hegemonial. Neben vielen emanzipatorischen Elementen des Nationalismus wurden Rassismus und Antisemitismus zu wesentlichen Instrumenten des selben, um ein nach innen kohärentes Gefüge zu schaffen und nach außen imperialistischen Großmachtambitionen nachzugehen. Das 19. Jahrhundert war auch die Blütezeit der Rassentheorien und der tradierte Antijudaismus nahm über obskure Verschwörungstheorien die Form eines rassentheoretischen Antisemitismus an, welcher in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen traurigen Höhepunkt fand. In Krisenzeiten bot das nationalstaatliche Konzept den Nährboden für rassistische und kolonialistische Denk- und Handlungsmuster. Die Menschheit wurde in mehrere Rassen mit unterschiedlichen Merkmalen und Eigenschaften eingeteilt, welche auf einer Skala der Über- und Unterlegenheit bewertet wurden. Nicht nur die Legitimation des Kolonialismus, sondern auch die Abgrenzung zu anderen Nationen spielte dabei eine herausragende Rolle.

Auch der Begriff Orient wurde durch die koloniale Geschichtsschreibung als Legitimation des Kolonialismus und als Mittel zur Abgrenzung missbraucht, wie es der US-amerikanische Literaturwissenschafter palästinensischer Herkunft Edward Said in seinem bahnbrechenden Werk "Orientalism" beschrieb. Im kolonialistischen Großbritannien z. B. fand diese Abgrenzung aber sicher anders statt als im K&K Reich, wo die "Türkenkriege" eine wesentliche Rolle spielten. Der Wiener Kulturanthropologe Andre Gingrich weist auf diese unterschiedlichen historischen Kontexte hin und verdeutlicht auch ihre Bedeutung im kollektiven (Unter)Bewusstsein einer Gesellschaft. Rechtsnationale Parteien in Österreich greifen deshalb viel öfter auf Bedrohungsszenarien durch den Islam zurück, als das etwa in Ländern mit außereuropäischer kolonialer Vergangenheit der Fall ist. Im Internet wimmelt es von islamophoben Seiten, die auf alte Symbole zurückgreifen, wie etwa "Gates of Vienna", wo Prinz Eugen immer wieder anzutreffen ist.

Wie vorhin erwähnt, war in Europa eine starke Interaktion zwischen Rassismus und Nationalismus als Mittel zur In- und Exklusion allgegenwärtig. Diese Strategie erreichte im Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt, als sie von der NSDAP in den rassistischen Vernichtungsexzessen in die Tat umgesetzt wurde.

Die geschichtliche Tradition dieser Strategie kann jedoch nicht auf Nazi-Deutschland reduziert werden. Die Protokolle der Weisen von Zion stießen in ganz Europa und den USA auf großen Anklang und die antisemitische Schrift des Automobilmagnaten Henry Ford "Der internationale Jude" wurde zu einer wichtigen Inspirationsquelle deutscher Nazis.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Zeitalter der Globalisierung, durchlebte das nationalstaatliche Modell eine Reihe von Transformationsprozessen. Durch die zunehmende Macht transnationaler Unternehmen und den steigenden Einfluss supranationaler Institutionen und Strukturen verlor das Konzept des Nationalstaates an Gewicht. Die Beziehungen zwischen dem Kapitalismus und dem Nationalstaat wurden immer widersprüchlicher. Diese Entwicklungen bedeuteten jedoch keineswegs das Verschwinden des Phänomens des Nationalismus. Während im 19. Jahrhundert die Kreation einer "imagined community" im Vordergrund stand, rückte die Reproduktion eben dieser in einer sich schnell verändernden politischen und ökonomischen Welt in den Mittelpunkt des nationalistischen Projektes. Die Interaktion zwischen der politischen Ideologie des Nationalismus und dem Phänomen des Rassismus ist deshalb historisch spezifisch, entsprechend den ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen, einzuordnen.

Das nationalistische Projekt lebt also weiter. Bedingt durch moderne Informations- und Transportwege, wurde die internationale Migration zu einem wesentlichen Faktor in der globalisierten Welt. Nach dem Kalten Krieg scheint das große Feindbild Kommunismus in den politischen Debatten obsolet zu sein. Dadurch ergaben sich, neben dem Nationalstaat an sich, neue Bezugspunkte für ein nationalistisches Projekt. Ein solcher sind die MigrantInnen, welche als neue Fremde in die Staaten Europas strömen. Sie werden zum Teil anderen "Zivilisationen" zugerechnet, womit auch der zweite Bezugspunkt gegeben wäre. Diese Zivilisationen, welche sich nach Samuel Huntingtons These des "Clash of Civilizations" in naher Zukunft bekämpfen sollen, werden an gewissen kulturellen Grenzlinien festgemacht und homogenisiert. Im Falle des Nahen Ostens und Nordafrikas ist die Religion wesentliches Unterscheidungsmerkmal. Huntingtons These wird zur "self fullfilling prophecy".

Dabei findet eine Ethnisierung von Religion statt. Ein Amalgam aus Nationalität, Religion und Politik wird dauerhaft produziert. Der Islam wird als homogen, unterlegen und als "das Andere" schlechthin in Opposition zur westlichen "Zivilisation" gesetzt. Dies äußert sich in ausgrenzenden Handlungen und Diskursen sowie in offener Feindschaft. Die Wurzeln liegen in den Stereotypen und Vorurteilen über den Islam und den Assoziationen, die sich daraus ergeben.

Islamophobie ist deshalb als eine Konsequenz der Beziehungen zwischen Rassismus, Nationalismus, Nationalstaat und Globalisierung in der Zeit nach dem Kalten Krieg zu sehen. Seit dem Mauerfall befindet sich Europa in einem stark propagierten Einigungsprozess. Die Struktur der EU lässt darauf schließen, dass es sich nicht nur um ein reines Wirtschaftsbündnis handelt. Um eine europäische Identität herzustellen, benötigt es Instrumente der In- und Exklusion. Die nationalistischen Parteien der Mitgliedstaaten greifen immer häufiger auf das Bild des christlich-jüdisch geprägten Abendlandes zurück und stellen es in Opposition zum barbarischen Orient. Plötzlich werden Frauenrechte zum Thema rechter Parteien und der Antisemitismus ist zumindest aus deren Parteiprogrammen verschwunden. So erklärt sich auch der Wechsel des FPÖ-Parteiprogramms unter Jörg Haider vom Deutschnationalismus zum Österreichpatriotismus. Auch die Mitte- und Linksparteien tragen diesen Konflikt mit, indem sie Islamophobie nicht thematisieren und sich zum Thema ausschweigen. Die Rhetorik der Rechtsparteien wird zwar als abstoßend wahrgenommen, selbst möchte man aber keine Position beziehen. Ich würde sogar behaupten, dass den EU-Politikern diese auf unterstem Niveau geführten Debatten auf dem Weg zur europäischen Einigung in die Hände spielen. Auf Kosten der islamischen Welt, in- und außerhalb Europas, werden machtpolitische und ökonomische Interessen mittels Feindbildkonstruktion durchgesetzt.

Raute

THEORIE

Hitler-Bärtchen, Antifaschismus und der starke Staat

Vom Wandel und Funktion einer Ideologie

Von Albert F. Reiterer


Die politische Elite ist antifaschistisch geworden. Das lässt aufhorchen. Erstaunt fragen wir nach den Gründen. Denn hatte nicht Dimitrow 1935 erklärt, der Faschismus sei die offene, brutale Diktatur der Bourgeoisie? Das war äußerst verkürzt, lückenhaft und verstümmelt formuliert: Doch so unrecht hatte Dimitrow nicht.

Diese Funktion hatte der Faschismus jedenfalls gegenüber dem Bürgertum damals, das sich mit dem Parlamentarismus und seinen Machtverschiebungen nicht abfinden wollte. Sehen wir heute nach Thailand, auf die Philippinen oder ins postmaoistische China (1), so trifft dies wieder zu, wenn auch unter geänderten Umständen und in einem anderen Umfeld. Denn das sind schlecht entwickelte oder Schwellenländer.

Was bedeutet dieser Eliten-Antifaschismus in einem hoch entwickelten parlamentarisierten Land? Wer stellt sich heute noch in eine nazistische Tradition? Da gibt es ein Gemisch von kleinsten Grüppchen und auch Einzelpersonen. Die einen sind eher die Nostalgiker des Jul-Fests und von Wotan. Die anderen sind zwar durchaus gewaltbereit, aber selbst sie, die lieber mit echten Patronen als mit Paintball-Kugeln schießen würden, wagen dies schließlich nicht, werden "respektabel" und am Ende vielleicht sogar Abgeordnete. Die Briefbomben, jedenfalls in Österreich, hat ein Franz Fuchs geschickt - ein Einzelgänger, der es nicht einmal in den Hauptstrom der nazistischen Gruppen schaffte, und der von den Bajuwaren schwärmte. Allen, selbst dem seligen Franz Fuchs, ist gemeinsam: Sie sind politisch nicht ernst zu nehmen.

Warum also diese Fixierung auf einen Faschismus, den es nicht mehr gibt? Warum diese Betonung eines Antifaschismus, der folglich, dem Anschein nach, keine demokratische Funktion mehr hat? Die Linke spielt hier mit Eifer mit. In ihrem löblichen Bemühen übersieht sie dabei nicht selten jene Trends, die tatsächlich eine echte Bedrohung für die bisher mühsam erreichten demokratischen Ansprüche sind.

- Die Spitzelgesetze geben der Polizei Befugnisse, die sie sich zwar heimlich und gegen das Recht auch bisher schon angemaßt hat - doch jetzt sind sie legalisiert. Wir wissen zwar, dass die bekannte polizeiliche Unfähigkeit, auch die mangelnden Mittel und nicht zuletzt die schiere Unmöglichkeit, die Datenmassen zu bewältigen, eine flächendeckende Überwachung unmöglich machen. Aber das ist ein schwacher Trost für die Betroffenen. Trotzdem: Es geht hauptsächlich um Einschüchterung.

- Wer heute sagt, dass die gänzlich überflüssige symbolische österreichische Teilnahme am Kolonialkrieg in Afghanistan und im Tschad das Land hier möglicherweise gefährdet, weil es uns als Ziel wahrnehmbar macht, riskiert, vor den Richter zu kommen. Ein echtes Risiko ist es heute auch, zu sagen, dass die Angriffe auf das Welthandelszentrum in New York 2001 eine Folge der US-Politik waren. Die Rede-, die Meinungs- und wenn möglich auch die Denkfreiheit sollen eingeschränkt werden. Auch hier geht es vor allem um Schikanen.

- Der Parlamentarismus wird zur puren Fassade. 100 Milliarden Euro werden von einem nicht mehr legitimierten Parlament durchgewunken. Das ist wesentlich mehr als ein Jahresetat, der über viele Wochen hinweg debattiert wird - in der Geschichte der Demokratie das Kernstück des Parlaments. 15 Milliarden davon fließen schon. Banken, die eben noch für ihre hohen Gewinne in Osteuropa gefeiert wurden, werden auf den Knien gebeten, das Geld auch zu nehmen. Doch um 224 Millionen für die Krankenkassen wird ein enormes Drama gemacht: "Wir haben das Geld nicht!"

- Über viele Jahre hinweg spielte der verblichene Herr Haider ein Spiel mit dem Verfassungsgerichtshof - besonders abstoßend, weil die Destruktion des Rechtsstaates mit solcher Lust betrieben wurde. Aber Achtung, vergessen wir nicht: Ein anderer, lebender, Landesfürst spielt ganz unbeachtet dasselbe Spiel: Seit zwei Jahrzehnten missachtet Landeshauptmann Pröll in Niederösterreich aufeinander folgende Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofs zum Semmering-Tunnel.

Die Liste ließe sich fortsetzen.

Demokratie ist heute gefährdet und wird systematisch abgebaut. Aber die Gefahr geht nicht von der Folklore-Truppe des Herrn Graf, mittlerweile Zweiter Nationalratspräsident, aus. Der Starke Staat schickt sich an, dort stärker zu werden, wo es um die Kontrolle sozialer Opposition geht. Plebejische Opposition wählt schon einmal die Parteien der politischen Rechten - und der neue Antifaschismus schreit auf.

Der Starke Staat strebt die Kontrolle über die sozial Schwachen an. Die "liberale" Baronin Thatcher war konsistent und hat mehrfach für das organisierte staatliche Töten gestimmt, für die sogenannte "Todesstrafe". Der neue Wundermann Barack Obama ist übrigens auch dafür. Wir wissen, dass dieses staatliche Töten notorisch ineffizient ist, wenn es Kriminalität eindämmen soll. Aber es ist ein starkes Signal: Es bedeutet dem Proletarier, was er wert ist, wenn es darauf ankommt.

Der Starke Staat ist stark nach innen gegen die eigene Bevölkerung. Er ist aber durchaus bereit, nach außen Macht abzugeben, an seinesgleichen versteht sich; an übernationale Organisationen - nach Brüssel, in die Wetstraat [Sitz der EU-Kommission, Anm. d. Red.]; oder an den Boulevard Leopold III [NATO-Hauptquartier, Anm. d. Red.] und nach Mons [Sitz des europäischen NATO-Hauptquartiers, Anm. d. Red.]. Dort gibt es nicht einmal im Ansatz demokratische Kontrolle, nur Kollegen, Peers, die Büros der Lobbyisten, die Offiziere, das Europäische Parlament - nur die Vertreter der Starken.

Der Starke Staat ist den wirtschaftlich Starken gegenüber aber keineswegs stark, und er will es auch nicht sein. Hier heißt das Zauberwort: Deregulierung. Hier werden Kontrollen über die Unternehmen möglichst abgebaut. Und abgebaut werden soll auch der Sozialstaat. Die EU kennt keine Verteilungspolitik. Wohl aber kennt sie eine Politik der "Armutsgefährdung".

Aber es gibt doch diese Gesellschaft der Straches und der Haider-Diadochen? Haben sie im September nicht 30% der Stimmen bekommen? - Politischen Unmut kann man verschiedentlich ausdrücken. Vor allem dürfen wir nicht glauben, dass Menschen in der Regel für etwas wählen. Das tun nur mehr die ganz Unentwegten, die "Stammwähler". Und deren Gruppe wird bekanntlich immer kleiner. Die große Mehrzahl wählt inzwischen dagegen. Was aber schmerzt Politiker der SP und der VP seit längerem am meisten? "Grün" tut diesen Parteien sicher nicht weh, im Gegenteil. Die KPÖ tut ihnen auch nicht weh: ½ % ist dazu gar zu wenig, und auch 1 % reicht dafür nicht aus. Aber weh tut ein Drittel der Stimmen für Strache und früher für Haider. Das ist also gar nicht so unlogisch. Eine Gefahr? Was passiert denn, wenn eine solche Partei regiert? Wir haben es gesehen: Sie war zuerst peinlich und brach dann einfach zusammen. Allerdings bekam Schüssel damit acht Jahre Zeit, sein Programm durchzuziehen.

Der "Antifaschismus" der Mächtigen und ihrer vielen intellektuellen Handlanger wurde mittlerweile zu einem gigantischen Ablenkungsmanöver. Auf nationaler Ebene, in Österreich etwa, hat er wirkliche Vorteile gegenüber roheren Vorgangsweisen. Rebellische Skinheads und proletarische Rowdies sind ein dankbares Ziel. Diese Typen sind ja nicht gerade sympathisch; ich möchte ihnen jedenfalls nicht über den Weg geraten. Und sie sind nur die Spitze des Eisbergs. Der Großteil der sogenannten "Modernisierungsverlierer" ist apathisch. Sie schimpfen vielleicht, und alle vier, nein, das hat man ja geändert, nun alle fünf Jahre können sie wohl auch ein Kreuzerl bei Strache machen. Aber die Stiefelträger schreien ihren Frust nicht nur heraus, sie prügeln auch. Doch es sind so wenige. Dieses Problem kann man als Politiker und Journalist wirklich der Polizei überlassen. Das ist billig, und man hat allgemeine Zustimmung, wenn sie wieder einmal jemanden niedertreten und erschlagen. Alle widert dies an, die Liberalen genauso wie die Reaktionäre; den Herrn Bronner genauso wie den Herrn Dichand.

International ist der "Antifaschismus" der Mächtigen erst recht sehr bequem. Ahmedi-Nejad wird zum neuen Hitler erklärt; wer sich gegen die brutale und schmutzige Politik Israels und der USA stellt, wird als Antisemit punziert. Neuestens ist übrigens auch schon ein Antisemit, wer Rudolf Hilferdings "Finanzkapital" liest; und bald wird ohne Zweifel auch der ein Antisemit sein, der die Schriften des antisemitischen Karl Marx studiert. Das ist praktisch; da kann man dann mit gutem Gewissen Antifaschist sein. Manche, die vor vier Jahrzehnten noch "USA - SA - SS" riefen, rufen heute, unter dem Slogan "Stop the Bomb!", nach Bomben auf Teheran.

Mit dem alten Antifaschismus kommen wir heute nirgends mehr hin. Der neue "Antifaschismus" ist aber schon besetzt von Bush, Olmert, Neugebauer und Bailer-Galanda. Überlassen wir ihn diesen Leuten! Unverbesserlicher Optimist, der ich bin, halte ich den Einsatz gegen den schwarzen, grünen und roten Autoritarismus nicht nur für sinnvoller, sondern auch für erfolgsträchtig. Der Einsatz für die eigenen Interessen und die eigenen Bedürfnisse hat stets mehr gebracht, vor allem mehr Demokratie, als der Einsatz für irgendwelche Abstraktionen. Sie sind im besten Fall überholt, sobald sie erscheinen.


Anmerkung
1. Interview in der "Presse" vom 5. Dezember 2008: Frage - Erwarten Sie eine Demokratisierung in China? - Sandschneider: "In China existiert heute eine Mittelschicht von bis zu 140 Millionen Menschen. Aber: Ist es im Interesse dieser 140 Millionen, ihr politisches Schicksal bei Wahlen in die Hand von 800 Millionen Bauern mit ganz anderen Interessen zu legen?" - Eine solche Klassenanalyse in einem Satz hat nicht einmal Mao 1923 zusammen gebracht.

Raute

THEORIE

Antiimperialismus und gesellschaftliche Befreiung

Herausforderungen und Grenzen eines politischen Programms

Von Sebastian Baryli


Der Antiimperialismus ist eine wesentliche, politische Triebkraft, seit die Vereinigten Staaten zu einer neuen globalen Offensive übergegangen sind. Aufgrund dieser historischen Konjunktur knüpfen viele hohe Erwartungen an dieses politische Programm. Können diese Erwartungen eingelöst werden? Kann der Antiimperialismus tatsächlich zu einem universellen Moment der gesellschaftlichen Befreiung werden?

Die politische Notwendigkeit eines antiimperialistischen Projektes ist unbestritten. Die alles durchdringende Vorherrschaft der USA stellt die Konfliktlinien, die diese Vorherrschaft produziert, ins Zentrum des politischen Interesses. Die Besetzung von Afghanistan, die völkerrechtswidrige Aggression gegen den Irak und die ständigen Interventionen in den Konfliktherden der Welt - wie etwa jüngst im Kaukasus - zeigen deutlich, dass die Frage des Antiimperialismus kaum überschätzt werden kann. Das Streben nach Unabhängigkeit, der Kampf um nationale Souveränität gegen das unterdrückende Zentrum der Macht bildet die politische Generallinie, um die alles gruppiert werden muss.

Doch welche Erwartungen können wir an diese Kämpfe aus einer geschichtsphilosophischen Perspektive stellen? Erwächst aus einem politischen Projekt des Antiimperialismus unmittelbar ein Projekt der gesellschaftlichen Befreiung? Bilden die antiimperialistischen Bewegungen das neue Subjekt der Befreiung, an das wir - nach dem Scheitern der historischen Mission der Arbeiterklasse - unsere Hoffnungen knüpfen können? Diese Fragestellungen sind abstrakter Natur, dies zu leugnen wäre sinnlos. Doch obwohl sie möglicherweise keine unmittelbare Auswirkung auf das konkrete politische Handeln mit sich bringen, ist die Beantwortung dieser Fragen nicht zwecklos. Politische Praxis braucht Begründung. Ohne diese Begründung verflüchtigt sich Praxis in Belanglosigkeit. Die Frage nach dem Warum stellt die Praxis in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Erst die Begründung der individuellen Praxis zieht eine Verbindung zu einer gesellschaftlichen Totalität. Damit wird die Begründung zu einer allgemeinen Bedingung von zielgerichteter Praxis, denn erst wenn wir Praxis begründen können, können wir auch gezielt handeln.


Metaphysik und Geschichte

Die historische Mission der Arbeiterklasse ist gescheitert, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen ist sie als reale, historische Bewegung gescheitert; keine jener Strömungen, die sich innerhalb der Arbeiterbewegung formiert hatten, konnte dauerhaft jene gesellschaftlichen Verhältnisse herstellen, die es rechtfertigen würden, von einer neuen historischen Epoche zu sprechen. Zum zweiten scheiterte damit die gesamte geschichtsphilosophische Idee, dass die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt die emanzipierte Gesellschaft herstellen könne.

Mit dem großen Scheitern wurde jedoch nicht die Hoffnung begraben. Die gesellschaftliche Aufgabe, eine neue Gesellschaftsform zu erkämpfen, eine Gesellschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung, bleibt weiterhin ein sowohl philosophisches als auch politisches Projekt. Entscheidend ist nun die Frage, worauf man seine Hoffnungen gründet. Bietet die Praxis des Antiimperialismus eine Basis für diese Hoffnung? Kann aus der Praxis der antiimperialistischen Kämpfe ein neuer Universalismus der Befreiung abgeleitet werden?

Um dieser Frage nachgehen zu können, ist es sinnvoll sich anzusehen, wie Marx die Mission der Arbeiterklasse argumentiert und warum er sich auf diese Argumente berufen hat. Dies ist deswegen von Nutzen, da diese Argumente über ein Jahrhundert als Orientierungspunkt der Arbeiterbewegung in der einen oder anderen Form dienten. Es ist daher notwendig zu prüfen, wo diese Argumente Schwachstellen aufweisen.

Historisch hat sich die Argumentation, warum das Proletariat die Befreiung der Gesellschaft vollziehen könne, bei Marx stark gewandelt. Der Begriff Proletariat entspringt zunächst philosophischen Überlegungen, die Marx in der Rezeption von Hegel und insbesondere von Feuerbach anstellt.(1) Dabei fließen vor allem Hegels Begriff der "universellen Klasse" und Feuerbachs Entfremdungstheorie zusammen. Ausgangspunkt für Marx' Theorie des Proletariats und somit auch seiner Theorie der Mission der Arbeiterklasse bildeten philosophisch-metaphysische Überlegungen. Diese Feststellung ist für unsere Belange sehr wichtig: Die Theorie des revolutionären Subjekts in einer Gesellschaft nimmt ihren Ausgangspunkt in jener Form der Philosophierens, die man durchaus als spekulativ bezeichnen kann.

Inhaltlich argumentiert Marx, dass die Arbeiterklasse neue gesellschaftliche Verhältnisse schaffen könne, da sie kein besonderes Unrecht erleide, sondern das Unrecht schlechthin. Der universelle Charakter der Klasse wird durch die Universalität ihres Leidens begründet. Aufgrund dieses Leidens trage das Proletariat die Möglichkeit der Emanzipation in sich.(2) Der universelle Charakter der Ausbeutungsverhältnisse begründet damit den revolutionären Charakter des Proletariats.

An diesem Punkt begegnet uns die erste Schwierigkeit. Der universelle Charakter der Produktionsverhältnisse bezieht sich darauf, dass keine "besonderen Stände" mehr existieren und dass sich das Lohnverhältnis in der gesamten Gesellschaft durchgesetzt hat. Aus heutiger Perspektive hat die Lohnarbeit tatsächlich universellen Charakter. Trotz dieser Universalität gibt es zahlreiche Differenzierungen, die diese Universalität in der Realität ständig unterlaufen.

Vereinfacht dargestellt bildet die Universalität der Lohnarbeit die Grundlage dafür, dass das Proletariat keine besonderen Interessen, sondern das Allgemeininteresse erkämpft. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen der Möglichkeit, das Allgemeininteresse zu vertreten, und dem universellen Charakter des Leidens jener Klasse. Marx verwendet den Begriff "Allgemeininteresse" jedoch keineswegs in dieser unkritischen Form. Vielmehr geht es ihm darum aufzudecken, wie gesellschaftliche Klassen ihre Sonderinteressen als Allgemeininteressen darstellen können. (3)

Die ursprüngliche Begründung der geschichtlichen Aufgabe des Proletariats liegt also in einem philosophisch-spekulativen Projekt. Erst später, insbesondere in den Ausführungen der Deutschen Ideologie, wird die philosophische Dimension durch eine realgeschichtliche ersetzt. Die spekulative Bestimmung des Proletariats wird mit einer historischen und sozialen Bestimmung unterfüttert. Dies verbindet sich mit einer radikalen Kritik der philosophischen Metaphysik in der Deutschen Ideologie. (4) Diese Verschiebung der Argumentation mündet dann in der geläufigen Darstellung des Kommunistischen Manifests.

Dennoch scheint es, dass diese historische Entwicklung der Argumentation keine zufällige Erscheinung ist, sondern in gewisser Weise einem notwendigen Stufenablauf folgte. Denn die Idee einer universellen Emanzipation wurde keineswegs unmittelbar aus der Praxis der Arbeiterbewegung geboren, sondern das philosophisch-metaphysische Projekt verband sich mit einer realhistorischen Bewegung.

Diese Erkenntnis ist nun für unsere Fragestellung von entscheidender Bedeutung. Nach dem welthistorischen Scheitern der Arbeiterklasse sehen wir uns in der Begründung eines neuen emanzipatorischen Projektes weit zurückgeworfen. Die reale Bewegung, welche dieses Projekt tatsächlich umsetzen sollte, existiert nur in Ansätzen. Daher ist es nicht nur legitim, sondern auch notwendig, auf einer spekulativen Ebene Versuche für ein neues, philosophisches Projekt eines Befreiungsuniversalismus zu liefern. Letztlich kann sogar die politische Praxis allein die philosophische Begründung nicht liefern.


Antiimperialismus und Universalismus

In Bezug auf diese Fragestellung gibt es die These, dass aus der Praxis des Antiimperialismus unmittelbar das neue, philosophische Projekt der Emanzipation erwächst. So meint etwa Wilhelm Langthaler: "Hauptaufgabe heute ist es, aus den zersplitterten antiimperialistischen Bewegungen einen neuen, wirklichen Universalismus der Befreiung zu bilden. Dieser wird mit Sicherheit weniger prätentiös als jener marxistische sein. [...] Die Emanzipation ist nicht die (Wieder)Herstellung eines gegebenen menschlichen Wesens, dem sich die Menschen entfremdet haben, sondern es ist die historische Formierung einer kontingenten Möglichkeit, einer der vielen, die auf der Basis der anthropologischen Konstanten denkbar ist."(5)

Nun haben wir schon eingewandt, dass es eine Differenz zwischen gesellschaftlicher Praxis und philosophischer Theorie gibt, die nicht in einem unmittelbaren Verhältnis aufgehoben werden kann. Ein viel entscheidenderes Argument betrifft jedoch nicht nur die Möglichkeit, eine solche Theorie zu formulieren, sondern eben die inhaltliche Ausgestaltung der Argumentation. Langthaler spricht zunächst von der politischen Hauptaufgabe, die antiimperialistischen Kämpfe zu einer gemeinsamen Front zu formieren. Dies ist - wie einleitend festgestellt - sicher eine politische Notwendigkeit. Er spricht damit aber von einem politischen Projekt. Dieses setzt er in Folge mit einem philosophischen Projekt gleich, wie es der Marxismus ist, und nennt es "Universalismus der Befreiung".

Hier sehen wir jedoch einen Knackpunkt: Das Projekt der politischen Befreiung ist nicht gleichzusetzen mit einem Projekt der allgemein-menschlichen Emanzipation. Marx kritisiert schon in der Schrift Zur Judenfrage: "Es genügt keineswegs zu untersuchen: Wer soll emanzipieren? Wer soll emanzipiert werden? Die Kritik hatte ein Drittes zu tun. Sie musste fragen: Von welcher Art der Emanzipation handelt es sich?" Und weiter: "Die politische Revolution löst das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen. Sie verhält sich zur bürgerlichen Gesellschaft, zur Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Privatinteressen, des Privatrechts, als zur Grundlage ihres Bestehens, als zu einer nicht weiter begründeten Voraussetzung, daher als zu ihrer Naturbasis."(6)

Auf unsere Fragestellung umgemünzt bedeutet das, dass die politischen Erfolge der antiimperialistischen Bewegung keineswegs jene Sphären der Gesellschaft berühren, die eine allgemein-menschliche Emanzipation begründen könnten. Der Prozess der politischen Emanzipation ist ein Prozess, der immer weiter voran schreiten muss, um in jene Sphäre der materiellen Produktion eingreifen zu können. Erst damit können gesellschaftliche Verhältnisse grundlegend verändert werden. Der Antiimperialismus an sich bildet dafür aber keine Anhaltspunkte. Er ist zwar ein möglicher Ausgangspunkt für eine solche historische Bewegung, doch bildet er noch nicht jenen Universalismus, der eine neue Gesellschaftsordnung vorwegnehmen kann.

"Das politische Programm des Antiimperialismus ist zwar ein Programm, das Antworten auf die aktuellen, politischen Herausforderungen liefert, doch bietet es keine Lösungsvorschläge für das Projekt der universellen Befreiung."

Das politische Programm des Antiimperialismus liefert zwar Antworten auf die aktuellen, politischen Herausforderungen, doch es bietet es keine Lösungsvorschläge für das Projekt der universellen Befreiung. Kern des Programms ist die politische Emanzipation eines Kollektivs von Fremdherrschaft. Sowohl die Begründung des Kollektivs als auch die Begründung des Freiheitsgedankens können sehr unterschiedlich ausgestaltet sein. Historisch begegnen uns sehr unterschiedliche Modelle, von marxistischen Befreiungsbewegungen bis hin zu islamistischen Jihad-Kampfzellen. Dieses Phänomen der ideologischen Vielfältigkeit verweist schon darauf, dass der Antiimperialismus an sich noch keine ausreichende Grundlage für eine politische Positionsbestimmung ist. Er fügt sich immer in unterschiedliche Kontexte ein.

Aufgrund der Beschränkung auf seine politische Aufgabenstellung benötigt der Antiimperialismus ein Programm, das letztendlich die Frage nach der allgemein-menschlichen Emanzipation befriedigend beantwortet. Dieses Programm lässt sich aber nicht aus dem Antiimperialismus selbst ableiten. Er liefert keine hinreichende Begründung dafür. Daher rührt auch die große historische Varianz, in der er sich historisch geäußert hat. Es ist also irreführend, beim Antiimperialismus von einem "Universalismus" zu sprechen.

Diese Argumentation bedeutet natürlich nicht, dass der Aufbau einer antiimperialistischen Front nicht die wesentliche politische Aufgabe ist. Der politische Zusammenschluss auf der programmatischen Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der unterdrückten Völker ist ein wichtiger Schritt in der Umwälzung der globalen gesellschaftlichen Verhältnisse. Doch gerade dieser Zusammenschluss zeigt, wie unterschiedlich die ideologischen Grundlagen sind, auf denen der Antiimperialismus konkret aufbaut.

Es treten verschiedene ideologische Programme an, die sich jeweils selbst als Universalismus begreifen. Die gesellschaftliche Vision einer "islamischen Republik", wie sie Ahmadinejad repräsentiert, unterscheidet sich fundamental von jener des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", für die Chávez eintritt. Dennoch können sie auf internationaler Ebene etwa die Bewegung der blockfreien Staaten als programmatische Grundlage akzeptieren, in der sie sich gegen das imperialistische Zentrum - in Gestalt der USA - formieren. Damit nivellieren sich die Unterschiede der Universalismen aber nicht zu einem Antiimperialismus, sondern diese Universalismen treten an, um in diesem historischen Projekt um Hegemonie zu ringen. Aus dem Antiimperialismus erwächst also kein neuer Universalismus, der etwa die grundlegende Konzepte des Kommunistischen Manifests aushebeln könnte, sondern er bildet die politische Form der jetzigen Etappe, in der die unterschiedlichen emanzipatorischen Strömungen einander begegnen. Diese bringen aber ihre jeweils eigenen Begründungen für das Projekt der menschlichen Emanzipation ein.


Scheitern und Wiedergeburt

Die verschiedenen Bewegungen haben jeweils unterschiedliche Begründungen für den Antiimperialismus geliefert. Die kommunistische Bewegung etwa hat - ausgehend von den Überlegungen Lenins zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und der konkreten Grundlegung in der III. Internationale - ein solides Fundament für den Antiimperialismus geliefert und gleichzeitig das Projekt der menschlichen Emanzipation nicht nur formuliert, sondern auch in historische Realität verwandelt. Ausgehend von dieser Feststellung lässt sich die Frage diskutieren, ob die kommunistische Programmatik heute noch die nötigen Anforderungen erfüllt, um in einem antiimperialistischen Projekt hegemoniefähig zu werden.

Hier kann man an mehreren Punkten kritisch ansetzen: Das größte Problem bleibt zweifellos das realgeschichtliche Scheitern der Arbeiterbewegung. Dieses Scheitern verweist schmerzhaft auf die Leerstelle, welche die theoretisierte Hoffnung auf dieses revolutionäre Subjekt hinterlassen hat. Selbst wenn man an dieser Hoffnung weiter festhält, muss man befriedigende Antworten auf den epochalen Einsturz geben können, die über Floskeln wie "Bürokratie" oder "Revisionismus" hinausgehen.

Natürlich gibt es viele weitere Argumente, die mit dem Scheitern des Marxismus in Zusammenhang gebracht werden. Zu erwähnen wäre hier etwa das Konzept der Gesetzmäßigkeit in der Geschichte, der strenge Begriff des geschichtlichen Fortschritts sowie die Definition von Allgemeininteresse. Hier ist leider nicht der Raum, die Probleme in ihrer gebotenen Form zu behandeln. Daher werden wir uns auf eine Problemstellung konzentrieren: Das Fehlen des revolutionären Subjekts.

"Die historische Tradition der kommunistischen Bewegung kann nicht einfach aufgrund der aktuellen Konjunktur in den antiimperialistischen Kämpfen über Bord geworfen werden."

Obwohl das Scheitern der Arbeiterbewegung und das Fehlen eines realen Subjekts der Emanzipation in der jetzigen historischen Etappe evident ist, darf nicht in einem Kurzschluss das gesamte philosophische Projekt des Marxismus über Bord geworfen werden. Wilhelm Langthaler etwa stellt in seinen Ausführungen fest: "Der Islam löste damit den Kommunismus als Herausforderer des imperialistischen Kapitalismus ab." Dem schickt er voraus: "Natürlich handelt es sich dabei auch um einen sozioökonomischen Konflikt Arm gegen Reich, aber es ist eine empirische Tatsache, dass sich die Subjekte dieser Auseinandersetzung nicht als Klassen konstituieren, sondern als politisch-kulturelle, zivilisatorische Projekte." (7)

Tatsächlich wurde auf einer politischen Ebene die Arbeiterklasse als Subjekt verdrängt. Weder die Sozialdemokratie noch die Kommunistischen Parteien entsprechen den hoffnungsvollen Erwartungen, die ursprünglich an sie gerichtet wurden. Neue politische Subjekte haben sich etabliert, die sich sowohl aufgrund ihres sozioökonomischen Hintergrunds als auch aufgrund ihrer politischen Beschaffenheit von der klassischen Arbeiterbewegung abgrenzen, wie etwa die Antiglobalisierungsbewegung oder die Bewegungen des politischen Islam. Im arabischen Raum hat sich dies in aller Deutlichkeit gezeigt: Ideologien, die sich an einem sozialistischen Modell in irgendeiner Form orientierten, haben an Bedeutung verloren, wohingegen der politische Islam eine Vormachtstellung einnehmen konnte, etwa in Palästina.

Wie schon argumentiert, bildet der Antiimperialismus keinen Befreiungsuniversalismus an sich, sondern er ist jene politische Plattform, auf der unterschiedliche ideologische Strömungen aufeinander treffen. Es gibt also kein einheitliches, monolithisches Subjekt, das in der historischen Entwicklung abgelöst wurde. Es gibt eine Vielfalt von emanzipatorischen Subjekten, die miteinander in bestimmter Beziehung stehen und die letztendlich um Vorherrschaft in diesem Befreiungskampfringen. Der politische Islam ist darin genauso ein Faktor wie bewaffnete Organisationen aus den achtziger Jahren oder das bolivarische Projekt. Das eine Subjekt wurde daher nicht von einem anderen abgelöst, sondern in der internationalen Konstellation der Befreiungskämpfe konnte sich eine Strömung als hegemonial durchsetzen.

Das Projekt des Sozialismus und die politische Strömung des Kommunismus sind somit nicht einfach von der historischen Bildfläche verschwunden. Auch wenn der politische Islam die dominierende Kraft ist, löst sich die Plattform des Antiimperialismus nicht zur Gänze darin auf. Aus kommunistischer Perspektive geht es darum, das eigene politische Programm in diesem Projekt stark zu machen, nicht darum, es zu verleugnen und sich als Sprachrohr der allgemeinen Grundlage zu betätigen.

Die Differenzierung zwischen Klasse und politisch-kultureller Konstituierung überzeugt ebenso wenig. Die sozio-ökonomische Grundlage der Subjekt-Konstituierung geht notwendiger Weise mit kulturellen und politischen Prozessen einher. Eine Dichotomie lässt sich daher nicht aufrechterhalten und erklärt auch nicht die spezielle Differenz zwischen kommunistischer Bewegung und politischem Islam.

Der Antiimperialismus bildet somit in der jetzigen historischen Etappe die politische Form, in der sich Subjekte der Befreiung konstituieren können. Man muss das Scheitern der marxistischen Konzeption von der historischen Mission der Arbeiterklasse zur Kenntnis nehmen. Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig die Aufgabe der gesamten sozialistischen Programmatik. Die historische Tradition der kommunistischen Bewegung kann nicht einfach aufgrund der aktuellen Konjunktur in den antiimperialistischen Kämpfen über Bord geworfen werden. Die Zukunft dieser Kämpfe ist ungewiss und die politische Aufgabe besteht darin, in diesen Kämpfen die eigenen Positionen zu stärken.

Das kommunistische Projekt und seine Suche nach einem revolutionären Subjekt war in seinen Ursprüngen eine spekulative Angelegenheit. Wir sind in gewisser Weise - auf einem neuen historischen Niveau - in diese Phase zurückgeworfen. Wir müssen neuerlich darüber nachdenken, wie das Subjekt einer gesellschaftlichen Veränderung begründet ist und wie es sich konstituieren kann. Für den Prozess der Konstituierung dient der Antiimperialismus teilweise als Katalysator. Inhaltlich kann er dieses Subjekt jedoch nicht hinreichend begründen.


Literatur

(1) Labica, Georges: Proletariat, in: Labica, Georges; Bensussan, Gérard; Haug, Wolfgang Fritz (Hrsg.): Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 6: Pariser Kommune bis Romantik, Berlin 1987, S. 1075.

(2) Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1988, S. 390.

(3) Marx, Karl; Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: MEW 3, Berlin 1990, S. 34.

(4) Ebenda, S. 27.

(5) Langthaler, Wilhelm: Antiimperialismus, Sozialismus und Islam. Überlegungen zu einem neuen Universalismus, in: Bruchlinien, 2007, Nr. 21, S. 39.

(6) Marx, Karl: Zur Judenfrage, in: MEW 1, Berlin 1988, S. 350, 369.

(7) Langehaler, Wilhelm: Antiimperialismus, Sozialismus und Islam. Überlegungen zu einem neuen Universalismus, in: Bruchlinien, 2007, Nr. 21, 5. 35-36.


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REZENSIONEN

Shlomo Sand: "Comment le peuple juif fut inventé"

(Wie das jüdische Volk erfunden wurde) (Fayard, Paris, 2008).
Zurzeit liegt das Buch in der hebräischen Originalsprache und in französischer Übersetzung vor, englische und arabische Ausgaben sind in Vorbereitung.


In diesem grundlegenden Werk - ein Bestseller in Israel und Frankreich - mistet der israelische Historiker und Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv, Shlomo Sand, den Augiasstall sowohl der traditionellen jüdischen wie auch der zionistischen Geschichtsschreibung aus. Das Buch ist eine Herausforderung Israels heiligster Tabus.

Im Gegensatz zu den gängigen israelischen und jüdischen Auffassungen entstand die jüdische Diaspora Sand zufolge nicht aus der Vertreibung der antiken Judäer aus dem damaligen Palästina, sondern aus Konversionen zum Judentum von zahlreichen Römern, Griechen, Puniern and Angehörigen anderer Völker des Nahen und Mittleren Ostens. Sands Beweisführung erschüttert die Grundfesten des Zionismus. Bis vor einem Jahrhundert nahmen die Juden ihre Identität vor allem in ihrer Religion wahr. Da dies dem aufkommenden Zionismus als nationale Bewegung nicht genügte, propagierten zionistische Ideologen die Idee, dass die Juden nicht nur eine Religionsgemeinschaft, sondern ein "ethnos", eine Nation, seien und überzeugt werden müssten, aus dem "Exil", in das sie vertrieben worden waren, als Antwort auf den Antisemitismus in ihr Ursprungsland zurückzukehren.

Sand entlarvt den Begriff einer einheitlichen jüdischen Nation - ein Hauptargument in der Rechtfertigung für die Schaffung eines jüdischen Staates - als Mythos, der mit dem Zionismus geboren wurde. Der Historiker stützt sich dabei auf äußerst umfangreiches Quellenmaterial von der Antike bis zur Gegenwart sowie auf die jüngste archäologische Forschung. Er weist nach, dass die antiken Judäer nach ihren erfolglosen Aufständen gegen die römische Herrschaft (70 und 135 n. Chr.) nicht ins Exil getrieben wurden, sondern dass ihnen nur der Zugang zu Jerusalem einige Zeit verwehrt blieb. Wie aus der römischen Geschichte hervorgeht, hatten die Römer nie ein ganzes Volk exiliert. Außer einer kleinen Zahl von Kriegsgefangenen und Zivilisten, die versklavt wurden, blieb die große Mehrheit der Judäer in ihrem Land. Es gibt nach Sand keinerlei historische Quellen, die eine Vertreibung ins Exil nachweisen. Das Exil ist ein von den frühen Christen verbreiteter Mythos - eine Strafe Gottes für die Kreuzigung Christi, die die Juden zu ewiger Wanderschaft verurteilt. Dieser Mythos verankerte sich tief im Bewusstsein der Völker und selbst der Juden. Wie bei Josephus Flavius (dem ersten jüdischen Historiographen und Zeitzeugen) nachzulesen ist, waren die im Land gebliebenen Judäer mehrheitlich Bauern. Händler, Söldner, kulturelle Eliten bildeten eine Minderheit. Ein Teil der Bewohner Palästinas bekehrte sich im 4.Jh. zum byzantinischen Christentum, der Großteil aber nach der arabischen Eroberung im 7. Jh. zum Islam. Die These, dass viele der heutigen Palästinenser die Nachfahren der damals zum Islam bekehrten Juden sind, wurde bereits 1918 von David Ben Gurion und dem späteren Präsidenten Ben Zwi in einem Buch veröffentlicht. Nach der palästinensischen Revolte von 1929, die Ben Gurion zutiefst entsetzte, geriet diese These in Vergessenheit.

Wenn es nun aber keine Vertreibung und kein Exil gab, woher kamen die zahlreichen Juden, die in den Städten rund ums Mittelmeer und Vorderasiens lebten und Gemeinden gründeten?

Laut Sand war das Judentum seit dem 2. Jh eine stark proselytierende Religion. Unter der judeo-hellenischen Herrscherdynastie der Hasmonäer in Judäa, während eines Jahrhunderts der Unabhängigkeit (140 - 40 n. Chr.), wurden Nachbarstämme (Idumäer, Ituräer) mit mehr oder weniger Gewalt zum Judentum konvertiert. Konversionen waren im ganzen Nahen Osten und im Mittelmeerraum häufig. Zahlreiche Hinweise auf das jüdischen Prolelytentum finden sich bei Josephus Flavius und bei lateinischen Autoren wie Strabon, Horaz, Seneca, Juvenal, Tacitus - nicht immer freundlich - und selbst in der jüdischen religiösen Literatur, d.h. im Talmud und der Mischna.

Der Sieg des Christentums setzte dem jüdischen Proselytismus aus Konkurrenzgründen zwar im Mittelmeerraum ein Ende, nicht aber in Randgebieten. So entstand im 5. Jh. ein jüdisches Königreich - Himyar - im heutigen Jemen. In arabischen Chroniken des 7. Jh. wird über judaisierte nordafrikanische Berberstämme berichtet, die zwar zuerst dem Islam Widerstand leisteten, aber im 8. Jh. eine führende Rolle in der Eroberung der spanischen Halbinsel innehatten und mit den Juden, die bereits seit Jahrhunderten dort lebten, die Grundlage für die jüdisch-arabische Kultur in Andalusien schufen.

Die bedeutendste, auch dokumentierte, Konversion war im 8. Jh. die der Khasaren, ein Turkvolk, dessen Königreich sich in Südrussland vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meer erstreckte. Es ist nicht klar, ob es sich bei der Konversion um das ganze Volk oder nur einen Teil handelte, bestimmt aber um den König, den Kagan, und die Elite. Jedenfalls wurden die Khasaren durch den Mongoleneinfall im 13.Jh. in die Ukraine gedrängt, wo sie sich mit den Juden aus den südslawischen Gebieten und den aus Deutschland nach Osteuropa eingewanderten Juden vermengten und im Laufe der Zeit deren Sprache, das Yiddische - eine aus hebräischen, slawischen und deutschen Dialekten bestehende Sprache - annahmen. Das jüdische Viertel hieß z.B. im alten Kiew (ein Name türkischen Ursprungs) auch das der "kuzar", "der Khasaren". All diese pluralistischen Ursprünge der Juden - übrigens reichlich dokumentiert in unübersetzten amerikanischen historischen aber auch in israelischen hebräischen Abhandlungen und Monographien - finden keine Erwähnung in der offiziellen israelischen zionistischen Historiographie, die grosso modo am traditionellen Geschichtsbild der Juden als "ethnos" einheitlichen Ursprungs von der Antike über das "Exil" bis zu "Rückkehr" ins Gelobte Land festhält.

Interessanterweise stießen Shlomo Sands Thesen in Israel kaum auf Widerspruch. Tom Segev, einer der bekanntesten Journalisten und Historiker, fand das Buch "faszinierend und herausfordernd". Sand führt die Zurückhaltung seiner Historikerkollegen auf eine stillschweigende Zustimmung vieler zurück, für die das Unterrichtsfach "Jüdische Geschichte" ein Kartenhaus ist. In Israel ist die offizielle jüdische Geschichtslehre neuen Erkenntnissen aus der Forschung in Archäologie und Geschichte unzugänglich.

Peter Melvyn


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Shehadeh, Raja: Streifzüge durch Palästina. Notizen zu einer verschwindenden Landschaft,
Wien: Promedia Verlag, 2008 (164 S., br., 17,90 Euro, ISBN 978-3-85371-287-0)


Von 1978 bis 2006 durchwandert ein palästinensische Schriftsteller und Menschenrechtsanwalt seine Heimat Palästina. Allein oder mit Freunden begibt er sich auf die "sarha", eine Wanderung, die ursprünglich weder durch Zeit noch Ort eingeschränkt war und deren Sinn es ist, sich zu regenerieren und Ruhe zu finden. In sechs Kapiteln können wir als Lesende Raja Shehadeh durch die Gegend rund um Ramallah und Jerusalem sowie durch die Schluchten und Wüsten zum Toten Meer und nach Jericho begleiten. Jede Wanderung steht für eine andere Etappe der palästinensischen Geschichte. Ende der 1970er Jahre geht es ohne Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die Olivenhaine und ein ausgedehntes wildes Naturreservat um Ramallah, während der letzte Streifzug an der Apartheid-Mauer endet, die das Westjordanland zerschneidet und zusammen mit der Siedlungspolitik Menschen und Natur zerstört hat. Symbolisch für die Zerstörung steht die Hügellandschaft westlich von Ramallah, deren wunderschöne Wanderwege zur Küstenebene am Mittelmeer unwiederbringlich verloren sind.

In den Schilderungen der sechs Wanderungen wird die Geschichte in persönlichen Erinnerungen an den juristischen Kampf des Autors um das Land, in Gesprächen mit arabischen Bauern, jüdischen Siedlern oder mit begleitenden Freunden wie Mustafa Barghouti lebendig.

Als Jurist sah der Autor seinen Beitrag im Kampf um Palästina darin, das Recht der palästinensischen Bevölkerung auf ihr Land einzufordern: Nach israelischem Recht darf Land in den besetzten Gebieten, das nicht ständig bewohnt ist, dem "israelischen Staat zur ausschließlichen Nutzung durch israelische Juden einverleibt" werden. (S. 25) Der Raumordnungsplan für das Siedlungsprogramm sah allein bis zum Jahr 1986 Tonnen von Beton auf den Hügeln für "Siedlungsblöcke" und für das dazugehörige Straßennetz für 80 000 israelische Juden vor. (vgl. S. 60)

Zitiert wird u.a. Ariel Sharon, der damalige Verteidigungsminister Israels: "Wir werden eine völlig veränderte Landkarte des Landes hinterlassen, die unmöglich ignoriert werden kann." (S. 61)

Nach Jahren musste Raja Shehadeh erkennen, "dass die rechtlichen Aspekte nur eine kleine und letztendlich unbedeutende Komponente sind. Der Bau der Siedlungen in den besetzten Gebieten ist ein Regierungsprojekt, das nicht durch juristische Schritte behindert werden soll." (S. 79) Die sehr persönlichen Schilderungen der Konsequenzen der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik für die palästinensische Bevölkerung, denen im wahrsten Sinne des Wortes der Boden unter den Füßen weggezogen wird, und für die Hügel, die für die Siedlungen "massakriert worden sind" (S. 104), führen deutlich vor Augen, wie die israelische Besatzungspolitik das Menschen- und Völkerrecht mit Füßen tritt.

Raja Shehadeh schreibt auch über seine Enttäuschung über das Abkommen von Oslo, das er als "Dokument der Kapitulation" (S. 111) der damaligen palästinensischen Führung sieht. Ein Drittel des Westjordanlandes wurde darin der "Zone C" zugerechnet und blieb somit in der Zuständigkeit Israels, was verstärkter Siedlungspolitik Tür und Tor öffnete. Für den Kämpfer für das Land bedeutet das Abkommen von Oslo "den Tod für meine Wahrheiten" (S. 116), für den Erwanderer seines Landes bedeutet es, sich in den Naturschutzgebieten und anderen noch unberührten Flecken illegal aufzuhalten.

Enttäuschung, Zorn oder Töne von Resignation des Autors angesichts von Ungerechtigkeit, Menschenverachtung und Rückschlägen sind genauso spürbar und nachvollziehbar wie die Liebe zum Land und seinen Menschen sowie der Kampf um Palästina. Die Streifzüge durch das Land und die Geschichte Palästinas der letzten dreißig Jahre werden durch Details und Einfühisamkeit lebendig. Ein lesenswertes Buch, dessen englischsprachige Ausgabe den George Orwell-Preis im Jahr 2008 zu Recht erhalten hat.

Elisabeth Lindner-Riegler

Raute

Autoren der Intifada Nr. 27

Mohammed Abu-Rous - geboren 1976 in Palästina. Lebt derzeit in Österreich. Studierte technische Chemie an der TU-Wien und dissertierte an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Aktivist des Arabischen Palästina-Clubs (APC) und des Österreichisch-Arabischen Kulturzentrums (OKAZ) in Wien.

Sebastian Baryli - geboren 1979 in Wien, studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien, Aktivist der Antiimperialistischen Koordination.

Margarethe Berger - geboren 1968 in Wien, studierte Slawistik an der Universität Wien, wiederholte Reisen in den arabischen Raum und Südamerika.

Gunnar Bernhard - geboren 1973 in Wien, arbeitet als Behindertenbetreuer. Aktivist der Antiimperialistischen Koordination.

Gernot Bodner - geboren 1974 in Bruck an der Mur, studierte an der Universität für Bodenkultur in Wien, große Reisetätigkeit vor allem nach Südamerika. Aktivist der Antiimperialistischen Koordination.

Bruno Bullock - studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

Franz Fischer - Antiimperialistischer Aktivist in Basel, Mitglied der Neuen Partei der Arbeit.

Stefan Hirsch - geboren 1976 in Wien, studierte Geschichte und Geografie an der Universität Wien, arbeitet im Bildungsbereich.

Wilhelm Langthaler - geboren 1969, arbeitet als technischer Angestellter in Wien, Aktivist der Antiimperialistischen Koordination. Zahlreiche Reisen zu den Zentren des Widerstands, insbesondere am Balkan, in den Nahen Osten und auf dem indischen Subkontinent, Koautor des Buches Ami go home, erschienen im Verlag Pro-Media.

Elisabeth Lindner-Riegler - geboren 1952 in Kärnten, arbeitet als Professorin an einem Gymnasium in Wien.

Peter Melvyn - Studien der Sozialwissenschaften und Geschichte in Paris, New York, Toronto und Montreal. Lektor für Sozialgeschichte and der Université de Montréal. Hauptkarriere als höherer Beamter in der Internationalen Arbeitsorganisation, Genf. Mitte der 80er Jahre Übersiedlung nach Wien, als Konsulent für internationale Organisationen tätig. Aktivist der Jüdischen Stimmen für einen gerechten Frieden in Nahost.

Klaus von Raussendorff - geboren 1936 in Deutschland. Wirkte für den Auslandsnachrichtendienst des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In dieser Funktion arbeitete er verdeckt als westdeutscher Diplomat. Nach seiner Enttarnung wurde er zu sechs Jahren Haft verurteilt. Ist nun journalistisch tätig und leitet die Antiimperialistische Korrespondenz.

Albert F. Reiterer - geboren 1948 in in Schiefling-Schönberg in Kärnten, arbeitet als freiberuflicher Sozialwissenschafter. Habilitation für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Verschiedene Lehraufträge an den Universitäten Wien und Innsbruck.

Dimitri Tsalos - geboren 1972, Ausbildung zum Buchhändler in Stuttgart, derzeit kaufmännischer Angestellter in Köln. Ehemals Mitglied und Mandatsträger der PDS, heute aktiv in der Bewegung gegen Neoliberalismus und Krieg. Mitherausgeber von Naher und Mittlerer Osten - Krieg, Besatzung, Widerstand, Pahl Rugenstein Verlag, 2007.

Raute

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Medieninhaber, Herausgeber und Verleger:
Antiimperialistische Koordination (AIK), Postfach 23, 1040 Wien, Österreich;
Verlags- und Herstellungsort: Wien; Druck: Printfactory, Wien
Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz der Republik Österreich:
Antiimperialistische Koordination (AIK), Postfach 23, 1040 Wien
Grundlegende Richtung: Für einen gerechten Frieden im Nahen Osten.

Redaktion
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Quelle:
Intifada Nummer 27 - Winter 2008
Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand
Internet: www.antiimperalista.org/intifada.htm


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2009