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IZ3W/160: Rezension - "Die Türkei die Juden und der Holocaust"


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 310 - Januar/Februar 2009

Rezension zu "Die Türkei die Juden und der Holocaust"
Um einen Mythos ärmer

Von Mary Kreutzer


Die in verschiedenen Ländern Europas lebenden türkischen Jüdinnen und Juden bildeten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Gruppe. Dennoch wurde ihr Schicksal während der Shoah bis heute kaum beachtet - weder von Seiten der Türkei noch von der Holocaust-Forschung. Die Turkologin Corry Guttstadt leistet daher mit ihrem Buch Die Türkei, die Juden und der Holocaust Pionierarbeit. Sie räumt dabei vor allem mit dem Mythos auf, die Türkei habe durch ihre "judenfreundliche Politik" unzählige türkische Jüdinnen und Juden vor der Ermordung durch die Nationalsozialisten gerettet.

Genährt wurde dieser Mythos nicht nur durch Aussagen seitens der türkischen Politik, sondern auch durch zahlreiche internationale Publikationen. Darin wurde unter anderem behauptet, die Türkei sei immer schon durch ihre tolerante Haltung gegenüber ihrer jüdischen Minderheit hervorgetreten. Man leitete dies - als angeblich logische Konsequenz - aus der Tatsache ab, dass das Osmanische Reich nach 1492 Jüdinnen und Juden aufgenommen hatte, die aus Spanien vertrieben worden waren. Die Konstruktion einer unverbrüchlichen türkisch-osmanischen Toleranz gegenüber Juden hielt Guttstadts umfassenden Recherchen indes nicht stand.

Ihr einzigartiger Band basiert auf einer Unmenge an Dokumenten sowie auf über 30 Interviews mit Überlebenden und Nachfahren türkischer Jüdinnen und Juden. Die Autorin betrachtet ihre Studie "lediglich als Zwischenergebnis", da die Archive des türkischen Außenministeriums der Forschung bis heute nicht zugänglich sind. Ausgangs- und Angelpunkt der Studie ist die daher differenzierte Perspektive der türkischen Jüdinnen und Juden selbst, die bis jetzt in der Erforschung der Shoah kaum zu Wort gekommen waren. Das Buch bietet darüber hinaus einen Überblick über die Entstehungsgeschichte des türkischen Nationalstaates und der kemalistischen Politik sowie deren Ausgrenzung von ethnischen und religiösen Minderheiten: ArmenierInnen, AssyrerInnen, GriechInnen, KurdInnen - und nicht zuletzt Jüdinnen und Juden.

Die Türkei war bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges, als sie Deutschland doch noch den Krieg erklärte, neutral geblieben. "Neutral pro-deutsch", könnte man es auch nennen. So fanden sich zahlreiche offene NS-Sympathisanten im türkischen Militär und im Sicherheitsapparat. Auf ausdrücklichen Wunsch einer türkischen Delegation besichtigte diese 1943 bei ihrem Deutschland-Besuch das KZ Sachsenhausen. Obwohl in der Türkei politische Tätigkeiten außerhalb der Staatspartei CHP strengstens verboten waren, wurden die Aktivitäten der auslandsdeutschen Nationalsozialisten großzügig geduldet. Erstmals erreichten damals auch die Schriften des modernen Antisemitismus das Land: "Die Protokolle der Weisen von Zion", "Mein Kampf" und "Der internationale Jude" sowie andere antisemitische Schriften wurden ins Türkische übersetzt und teilweise in mehreren Auflagen veröffentlicht. Türkische Faschisten publizierten Hetzartikel und druckten Karikaturen aus dem "Stürmer".

Zwar gab es zu keinem Zeitpunkt in der Türkei eine explizit antijüdische Gesetzgebung, jedoch trafen die Maßnahmen gegen NichtmuslimInnen die türkischen Jüdinnen und Juden während des Weltkrieges besonders hart: Entlassungen, Berufsverbote, Abschaffung von Minderheitenrechten, Zwangsumsiedelungen, Zwangsarbeit, Sondersteuern. Die katastrophalsten Konsequenzen all jener Maßnahmen hatte jedoch der Entzug der Staatsbürgerschaft. Tausende in Europa lebende Jüdinnen und Juden türkischer Herkunft waren nun der NS-Verfolgung schutzlos ausgeliefert. Für die Ausbürgerungen bediente sich die Türkei in Deutschland der Amtshilfe der NS-Behörden. So waren die NS-Stellen als erste unterrichtet, welche Personen den Schutz des türkischen Staates verloren hatten. Allein in Deutschland waren somit zweihundert jüdisch-türkische Familien den Nazi-Schergen ausgeliefert. "Man kann davon ausgehen", so Guttstadt, "dass die türkische Regierung spätestens Mitte 1943 über die systematische Ermordung der Juden durch die Deutschen im Bilde war."

Zwischen 2.200 und 2.500 Juden und Jüdinnen türkischer Abstammung wurden in die Vernichtungslager Auschwitz und Sobibor deportiert, weitere 300 bis 400 kamen in Konzentrationslager. Andere wurden von der Gestapo zu Tode gequält oder wählten den Freitod. Zwar gab es einzelne türkische Diplomaten in Europa, die sich erfolgreich für jüdische TürkInnen einsetzten. Aber die Politik Ankaras war klar und unmissverständlich: während deutsche Kriegsschiffe bis Sommer 1944 problemlos die Meerengen passieren konnten, machte die "Festung Türkei" ihre Grenzen für Flüchtlinge dicht und torpedierte Möglichkeiten der Remigration von Jüdinnen und Juden in die Türkei. Die Rettungsaktivitäten von jüdischen Hilfsorganisationen wurden auf alle erdenklichen Arten behindert, etwa in dem man die Durchfahrt und das Anlegen von Flüchtlingsschiffen untersagte. Für die 769 jüdischen Flüchtlinge an Bord der seeuntauglichen "Struma" - darunter etliche Kinder - bedeutete diese Politik am 25. Februar 1942 einen qualvollen Tod. 70 Tage lang hat das Flüchtlingsschiff vor der türkischen Küste bei Istanbul geankert, die Passagiere wurden aber nicht an Land gelassen. Die türkische Küstenwache schleppte die "Struma" letztendlich ins offene Meer, wo sie von einem Torpedo getroffen wurde.

Guttstadt betont wiederholt, dass ihr nichts daran liegt, die türkische Politik während des Zweiten Weltkrieges mit dem Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialisten zu vergleichen oder gar gleichzusetzen. Auf keiner der 520 Seiten ihres Buches verkürzt, vereinfacht oder verharmlost sie durch solche Vergleiche. Ihre Studie beleuchtet jedoch präzise einen dunklen Aspekt der kemalistischen Türkei - ihre Verstrickung in die Shoah - und schreibt die tragische Geschichte der türkischen Jüdinnen und Juden. "Bislang nicht erforscht", schreibt die Autorin, "ist das Schicksal türkischer Roma und Sinti, die ebenfalls Opfer der nationalsozialistischen Mordpolitik wurden." Es ist zu hoffen, dass auch diese Forschungslücke durch eine ähnlich hervorragende Publikation eines Tages geschlossen wird.


Corry Guttstadt:
Die Türkei, die Juden und der Holocaust.
Assoziation A, Hamburg 2008. 520 Seiten, 26,- Euro.


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 310 - Januar/Februar 2009


Die Politik des Hungers - Ernährung in der Krise

Produktionssteigerung, Grüne Revolution, Saatgutverbesserung, Brot für die Welt, Ökolandbau in den Tropen, Ernährungssouveränität: Die Konzepte gegen den Hunger sind so widersprüchlich wie die Interessen ihrer jeweiligen AkteurInnen.

Dabei haben sie alle dazu beigetragen, dass fast doppelt so viel Nahrung produziert wird, als für die Abschaffung des Hungers nötig wäre. Trotzdem ist der Hunger in der Welt ein Leiden, das rund ein Sechstel der Weltbevölkerung betrifft. Der aktuelle Themenschwerpunkt der iz3w fragt: Wo liegt das Problem?


Heft - Editorial: Beredtes Verschweigen

Politik und Ökonomie

Kongo: Nachwachsende Warlords
Die Rebellen von der CNDP stellen sich als Opposition dar
von Alex Veit

Gender: Gegen sexualisierte Gewalt
Der Frauenrechtsgipfel in Kapstadt
von Rita Schäfer

Welthandel I: Globales Europa
"WTO plus"-Politik für europäische Konzerne
von Peter Fuchs, Manuel Melzer und Michael Reckordt
No Gender in Global Europe
von Judith Krane

Welthandel II: "Eine neue Form der Plünderung"
Interview mit Raúl Moreno über das EU-Assoziierungsabkommen mit Zentralamerika

(Post-)Kolonialismus: "Eine perfekte Brücke"
Portugal vermischt postkoloniale Identität mit Geostrategie
von Nikolai Brandes

Grenzen I: Im Grenzbereich
Eine Reise nach Costa Rica und Nicaragua führt an die Ränder des amerikanischen Kontinents
von Stefanie Kron und Pablo Hernández

Grenzen II: Umkämpfte Territorien
Die Politisierung von Grenzräumen in Nicaragua, Costa Rica und der Karibik
von Pauline Bachmann, Sophie Esch und Jan Wörlein

Grenzen III: Nica-Ticos
Geschichten aus dem transnationalen Alltag
von Claudia Jaekel, Lisanne Kindermann und Matthias Schreiber


Schwerpunkt: Politik des Hungers

Editorial zum Themenschwerpunkt

Es ist angerichtet
Vorerst behält die Hungerpolitik die Oberhand über Strategien gegen den Hunger
von Martina Backes

Aufplustern am Leid
Die Agrarindustrie festigt mit der Ernährungskrise ihre Stellung
von Rudolf Buntzel

Aus dem Elfenbeinturm
Der UN-Rahmenaktionsplan zur globalen Hungerbekämpfung
von Roman Herre

Ausdauernd und resistent
Agrarkonzerne wollen den Hunger mit Gentechnologie bekämpfen
von Christof Potthof

Europa global - Hunger egal
Warum die Agrarpolitik der EU Nahrungskrisen verschärft
von Armin Paasch

Schöne neue Warenwelt
Die Ausbreitung von Supermärkten in Tunesien und Marokko
von Annalena Edler

Gerissene Spekulanten, arglose Bauern?
Über Terminbörsen für Agrarrohstoffe zirkulieren einige Mythen
von Stefan Frank

Boom, Bust und Biosprit
Die Sorge um den Weltmarkt ist größer als die Kritik an der Agrarproduktion
von Thomas Fritz


Kultur und Debatte

(Post-)Kolonialismus I: Geschichte der Gewalt
Eine Diskussion über Genozide, Kolonialkriege und den Nationalsozialismus
von Birthe Kundrus, Jürgen Zimmerer u.v.m

(Post-)Kolonialismus II: Die Vergangenheit stets präsent
Eine Begegnung mit den Herero in Mahalapye
von Johann Müller

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 310, 310 - Januar/Februar 2009, S. 44
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2009