Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

IZ3W/176: Rezension - Gesät, aber noch nicht geerntet


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 312 - Mai/Juni 2009

Gesät, aber noch nicht geerntet

Von Thomas Schmidinger


Der türkisch-armenische Intellektuelle Hrant Dink wurde im Januar 2007 vor der Redaktion seiner Zeitung »Agos« von einem jugendlichen Täter erschossen. Der 53-jährige Journalist war zur Hassfigur für türkische Nationalisten geworden. Sie verübelten es ihm, dass in seiner Zeitung der Genozid an den ArmenierInnen durch die Jungtürken 1915 und die Diskriminierung der überlebenden armenischen Minderheit zum Thema gemacht wurden. Die RechtsextremistInnen befanden Dink offensichtlich für so gefährlich, dass sie einen Mann der Worte nur dadurch zum Schweigen bringen konnten, indem sie ihn ermordeten.

Dem Schiler Verlag ist zu verdanken, dass eine Auswahl der wichtigsten Texte von Dink nun in deutscher Sprache zugänglich ist.

Von der Saat der Worte ist ein intelligentes, lyrisches Buch geworden. Zudem ist mit ihm weit mehr als ein Nachruf auf einen der wichtigsten fortschrittlichen Intellektuellen Istanbuls erschienen. Dinks Texte hätten hierzulande schon gelesen werden sollen, bevor er traurige Berühmtheit erlangte.

Aus Angst vor dem herrschenden türkischen Nationalismus hatten bis zur Gründung von »Agos« vor etwas mehr als zehn Jahren selbst armenische Publikationen in der Türkei den Begriff »Genozid« in Anführungszeichen gesetzt. Die von Hrant Dink gegründete Zeitung spielte eine wichtige Rolle für das Wiedererstarken des Selbstbewusstseins der armenischen Minderheit in der Türkei.

Nicht nur faschistische Gruppen, sondern auch die türkische Regierung half mit, ein geistiges Klima zu verfestigen, in dem die Thematisierung des Genozids zum »Vaterlandsverrat« wurde. Wegen »Beleidigung des Türkentums« war Dink wiederholt vor Gericht gestanden und 2005 zu einer Haftstrafe von sechs Monaten verurteilt worden. Die Verbindungen seines Mörders zum so genannten derin devlet, dem »tiefen Staat«, wurden zwar immer wieder sichtbar, bislang jedoch nicht ausreichend aufgearbeitet. Bei derin devlet handelt es sich um ein klandestines Netzwerk zwischen dem Inlandsgeheimdienst MI'T, dem Gendarmeriegeheimdienst JITEM, rechtsextremen Gruppierungen und der organisierten Kriminalität.

Doch Hrant Dink sollte nicht nur als Opfer des türkischen Rechtsextremismus in Erinnerung bleiben. Er war immer ein Armenier aus der Türkei. Er war Istanbul genauso verbunden wie seiner armenischen Kultur und Sprache. Damit eckte er nicht nur bei türkischen Nationalisten an, sondern auch bei Teilen der armenischen Diaspora, die nicht verstehen wollte, dass Dink primär den Diskurs über die ArmenierInnen und die armenisch-türkische Geschichte in der Türkei ändern wollte und dabei manche Reaktion auf die Genozidleugnung aus dem Ausland sogar für kontraproduktiv hielt. Als Linker stand er grundsätzlich jedem Nationalismus skeptisch gegenüber, setzte sich aber für die Rechte von KurdInnen in der Türkei genauso ein, wie für die anderer Minderheiten. Die kulturellen Traditionen dieses »Mosaiks von Anatolien« betrachtete er als Reichtum, den er sich nicht nehmen lassen wollte. Zu Anatolien passe, dass »wir miteinander leben, und einer die Sprache des anderen versteht«. Hrant Dink war damit kein Vertreter eines multikulturellen Nebeneinanders, sondern eines Miteinanders.

Zum zehnten Jahrestag der Gründung seiner Zeitung Agos 2006 fragte er sich: »Hat es die Zeitung vermocht, die türkische armenische Gemeinschaft und ihre Einstellungen zu verändern?« Die Frage ist bis heute offen. Sicher ist jedoch, dass Hrant Dink als einer der wichtigsten Brückenbauer und Kritiker der modernen Türkei in Erinnerung bleiben wird. Die Früchte seiner Saat werden vielleicht erst in Jahrzehnten zu erkennen sein.

Hrant Dink:
Von der Saat der Worte
Zusammengestellt, aus dem Türkischen übersetzt und herausgegeben von Günter Seufert
Verlag Hans Schiler, Berlin 2008. 24,00 Euro


*


Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 312 - Mai/Juni 2009


Treueschwüre für die Nazis - Kollaborateure in der Dritten Welt

Eine Artikelreihe von Karl Rössel (Rheinisches JournalistInenbüro Köln)

Die hiesige eurozentrische Geschichtsschreibung übersieht, dass der Zweite Weltkrieg auch in Ländern der Dritten Welt geführt wurde und dort Millionen Opfer forderte. Ebenso negiert wird die Tatsache, dass in einigen Dritte-Welt-Ländern Teile der Bevölkerung und hochrangige Politiker mit den Nazis kollaborierten: in Palästina der höchste religiöse und politische Repräsentant der AraberInnen (Hadj Amin el-Husseini), in Indien der zeitweilige Präsident des Indischen Nationalkongresses (Subhas Chandra Bose) und in Argentinien der Staatspräsident (Juan Domingo Perón). Obwohl deren Kollaboration mit den Achsenmächten bekannt und vielfach belegt ist, werden sie in den jeweiligen Ländern bis heute von vielen als "Helden" verehrt.

Die Beschäftigung mit diesem Aspekt der Geschichte ist um so dringlicher, da es eine wachsende Tendenz unter deutschen WissenschaftlerInnen und PublizistInnen gibt, die Kollaboration von Nazi-Sympathisanten aus anderen Kontinenten zu verharmlosen, zu verleugnen oder umzudeuten. Die allesamt von Karl Rössel verfassten Texte in diesem Themenschwerpunkt erinnern daher nicht nur an wenig bekannte historische Fakten, sondern fordern auch zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Geschichtsrevisionismus auf.


Schwerpunkt: Kollaborateure in der dritten Welt

Politik und Ökonomie

Heft - Editorial: Solidarität ist Selbsthilfe

Kambodscha: Im Schatten der Geschichte
Warum Transitional Justice fast 30 Jahre auf sich warten ließ
von Wolfgang Form

Sri Lanka: Why?
Selbstverbrennungen als Mittel des Protests
von Lorenz Graitl

Abtreibungspolitik I: Wie im Vatikan
Lateinamerikas linke Regierungen und ihre Abtreibungspolitik
von Eva Bahl und Judith Götz

Abtreibungspolitik II: »Frauen werden pathologisiert«
Interview mit Sarah Diehl über Abtreibungspolitik und Selbstbestimmung

Außenpolitik: Politik mit Stellvertretern
Neuere außenpolitische Konzepte setzen auf Core States und Ankerländer
von Sören Scholvin

Weltwirtschaft: Shopping in Paris
Korruption und französische Interessen in Afrika
von Bernhard Schmid


Editorial zum Themenschwerpunkt

»Die Fahne hoch...!«
Die faschistische »Internationale« von Buenos Aires bis Shanghai

Bloß nicht dämonisieren!
Deutsche WissenschaftlerInnen verharmlosen arabische Kriegsverbrecher

Auf Seiten der Waffen-SS
Wie indische Kollaborateure zu Freiheitskämpfern umgedeutet werden

Peróns deutsche Freunde
Die Fluchthilfe der argentinischen Regierung für Naziverbrecher

Notwendige Unterscheidungen
Thesen wider den Geschichtsrevisionismus in Sachen Kollaboration


Kultur und Debatte

Film I: Im Schatten der großen Filme
Das afrikanische Filmfestival FESPACO feiert Jubiläum
von Marc-André Schmachtel und Theresa Enders

Film II: Menschen in Bewegung
Das freiburger film forum präsentiert 2009: Geschichten der Migration
von Ulrike Mattern

Literatur: Keine Rückkehr in den Süden
Nachruf auf den Schriftsteller Tajjib Salich
von Thomas Schmidinger

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


*


Quelle:
iz3w Nr. 312, Mai/Juni 2009
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
Postfach 5328, Kronenstr. 16a (Hinterhaus)
79020 Freiburg i. Br.
Tel. 0761/740 03, Fax 0761/70 98 66
E-Mail: info@iz3w.org
Internet: www.iz3w.org

iz3w erscheint sechs Mal im Jahr.
Das Jahresabonnement kostet im Inland 31,80 Euro,
für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
Zivildienstleistende 25,80 Euro,
Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2009