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IZ3W/218: Tumult in Thailand - Die doppelte Tragödie der oppositionellen Rothemden


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 319 - Juli/August 2010

Tumult in Thailand
Die doppelte Tragödie der oppositionellen Rothemden

Von Oliver Pye


Der 19. Mai 2010 wird als schwarzer Tag in die Geschichte Thailands eingehen. Bei der Räumung der »Roten Zone« in Bangkok hat die thailändische Armee über fünfzig Menschen getötet. Die meisten Menschen wurden von Scharfschützen kaltblütig erschossen. Nicht mal im vermeintlichen Schutz des Wat Pathum Wanaram-Tempel waren die Menschen sicher.

Die Gewalt der Militärs wurde von einer beispiellosen Hetzkampagne der Regierung und der Medien begleitet, und die Rothemden und der im Exil befindliche ehemalige Premierminister Thaksin Shinawatra als »Terroristen« bezeichnet. Für die ganz und gar undemokratische Haltung des Establishments stehen Massenverhaftungen, das Schließen lokaler Radiostationen und des People's TV sowie von über hundert kritischen Internetseiten. Die »Good Governance«-Rhetorik des smarten Oxford-Absolventen und Premierminister Abhisit und seine Verbindungen zu westlichen Parteien (wie der FDP) können das hässliche Gesicht der herrschenden Klasse in Thailand nicht länger übertünchen. Dabei muss man mit einem verbreiteten Missverständnis aufräumen. Im Ausland fragen sich viele, warum der König denn nicht eingreift. In Thailand weiß man: das königliche Netzwerk greift ein, und zwar permanent und systematisch. Sowohl der Putsch 2006 gegen Thaksin als auch zwei Gerichtsentscheidungen, die die beiden nachfolgenden Thaksin-nahen Premiers Samak und Somchai absetzten, sind auf den Einfluss dieses Netzwerkes zurückzuführen. Sowohl Abhisit als auch die Armeeführung hätten ohne grünes Licht aus diesen Kreisen niemals die Proteste der Rothemden mit Militärgewalt auflösen können.

Die Härte und auch die Taktik der Räumungen mitten in Bangkok sind vor allem als Reaktion auf die Niederlage der Armee am 10. April zu verstehen. An diesem Tag schlugen die Rothemden die Soldaten in die Flucht, einige konnten sie auf ihre Seite ziehen. Das Bild von stehen gelassenen Panzern um das Demokratie-Denkmal an der Ratchadamnoen Allee sprach Bände.

Die Stärke der United Front for Democracy against Dictatorship (UDD), dem organisatorischen Zentrum der Rothemden, gründet auf zwei Säulen: auf eine Basis von Thaksin-AnhängerInnen und einem Netzwerk von Pro-Demokratie-AktivistInnen, die sich gegen den Putsch vom 19. September 2006 organisiert haben. Beide radikalisierten sich nach jeder anti-demokratischen Intervention aus dem königlichen Lager weiter. Die Erfahrung, dass ihr gewählter Premier weggeputscht wird, und dass der Wahlsieg der Nachfolgeparteien People's Power Party (PPP) und Puea Thai nicht anerkannt wurde, machte aus eher passiven Thaksin-AnhängerInnen aktive StreiterInnen für Demokratie. Die Verbindung mit vielen Neupolitisierten aus der Bauernschaft und der ArbeiterInnenklasse erdeten andererseits die Demokratie-Aktiven, so dass die Rothemden zunehmend sowohl eine Bewegung für Demokratie als auch eine Klassenpolarisierung zwischen »wir hier unten und die da oben« verkörperten.

Damit emanzipierten sich die Rothemden auch ein Stück weit von Thaksin. Sie sind längst nicht mehr Ausführungsorgane einer von oben organisierten und von einem Milliardär finanzierten Partei. Auffällig ist die Selbstorganisation, die sich in einer Vielzahl von lokalen Gruppen, Radiosendern, und in einer Reihe von Untergruppierungen und Strömungen äußert. Hierzu gehören auch das diffus linke »Rotes Siam« und die vom Professor Sutachai Yimprasert gegründete kleine sozialistische Partei.

Sie sind auch nicht nur »arme Bauern und Bäuerinnen« aus dem Norden und Nordosten, wie oft behauptet wird. Zirka 70 Prozent der TeilnehmerInnen der wochenlangen Proteste stammten aus Bangkok oder den umliegenden Gegenden. Statt eines Gegensatzes zwischen Stadt und Land muss man eher die vielfachen Verbindungen zwischen beiden betonen. Mit dem Wirtschaftsboom der 1980-90er Jahre wurden Bauern marginalisiert, während ihre Kinder in die schlecht bezahlten Sektoren der Exportwirtschaft migrierten. In ihrer Basis vereinigen die Rothemden daher sowohl Bauern und Bäuerinnen als auch ArbeiterInnen - und damit die VerliererInnen und die MehrwerterzeugerInnen der Industrialisierung - eine ungeheuer wichtige Entwicklung für Thailand. Die Verbindung zwischen »Demokratiefrage« und »Klassenfrage« erzeugte bei den Rothemden eine republikanische Dynamik. Dies äußerte sich in der Kritik der »Aristokratie«, jenem königlichen Netzwerk, das seit dem kalten Krieg hinter den Kulissen die Fäden zieht. Diese Kritik kommt inzwischen bei sehr vielen Thais an. Der Erfolg vom 10. April ist der Unterstützung durch viele einfache Soldaten geschuldet, auf die die Rothemden zählen und damit eine Spaltung zwischen oben und unten auch in der Armee erzeugen konnten. Und obwohl niemand in der UDD-Führung offen für eine Republik argumentiert, wird an der Basis die Rolle des Königs hinter vorgehaltener Hand kritisiert. Die Stärke der Rothemden ist gleichzeitig ihre größte Schwäche. Denn die entstehende Einheit zwischen Landbevölkerung und Arbeiterklasse beruht nicht auf Koalitionen selbständiger Organisationen, etwa zwischen dem Forum der Armen und Gewerkschaften. Vielmehr ist es eine »Volksfront« mit einem kapitalkräftigen Flügel um den sich populistisch gebenden Thaksin. Die unter Thaksin lancierten Sozialprogramme sind nicht selbst erkämpft worden, sondern waren Beigabe seines Programms kapitalistischer Modernisierung, das mit sozialen Maßnahmen flankiert wurde. Dementsprechend beschränkte sich die Führungsriege der UDD (allesamt Männer) auf das Einfordern einer parlamentarischen Demokratie - um der Kapitalfraktion rund um Thaksin wieder zur Macht zu verhelfen. Die politischen Strategien kreisten um die Rückkehr Thaksins - etwa durch die Ausrufung einer Exilregierung im Falle der Niederschlagung der Bewegung. Dies erklärt auch, warum die Führung die weitere Zuspitzung wollte und sie ihre Basis letztlich ans Messer lieferte. Nach dem teuer erkauften Erfolg vom 10. April und den Zugeständnissen Abhisits, beispielsweise Neuwahlen im November auszurufen, hätte man eher einen taktischen Rückzug antreten müssen. Prozesse der lokalen Organisierung und politischen Reifung hätten gestärkt werden sollen, um dann mit sozialen Forderungen in den Wahlkampf zu gehen. Mit der gewaltsamen Repression, der Verhaftung von über hundert UDD-Führern und der Medienzensur wird dies nun ungemein schwieriger.

Trotzdem: die rückkehrenden RothemdaktivistInnen werden die Politisierung der Subalternen in Stadt und Land weiter vorantreiben. Die Gewalt des königlichen Netzwerkes ist Ausdruck seiner Schwäche. Seine Tage sind gezählt.


Oliver Pye ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn.


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 319 - Juli/August 2010


Themenschwerpunkt:
Independence Cha Cha - 50 Jahre postkolonoiales Afrika

2010 ist in Afrika nicht nur wegen der Fußball-WM ein ganz besonderes Jahr: 17 afrikanische Staaten feiern den 50. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit und ziehen aus diesem Anlass eine vorläufige Bilanz der postkolonialen Ära. Doch wer glaubt, 50 Jahre Unabhängigkeit von den europäischen Kolonialisten würden in den jeweiligen Ländern durchweg euphorisch gefeiert, irrt. Zwar gibt es durchaus Versuche seitens der Regierungen, an den jeweiligen Independence Days groß angelegte Jubelfeiern zu lancieren. Doch sie schlagen fehl, da große Teile der Bevölkerung keineswegs zufrieden sind mit der Bilanz von 50 Jahren formaler Unabhängigkeit. Die postkoloniale Ära ist bis zum heutigen Tag außerordentlich bewegt. Afrika gilt als der Kontinent der failed states, der Genozide, der Warlords, der Armut und des Hungers - nicht immer zu Recht, aber auch nicht zu Unrecht.

Mit unserem Themenschwerpunkt wollen wir einige Schlaglichter auf die unvollkommen gebliebene postkoloniale Unabhängigkeit werfen - in der Hoffnung, dass die nächsten 50 Jahre zu einer Ära der Freiheit in Afrika werden.


Themen des Schwerpunkts:
Was ist neu am Neokolonialismus - Formelle und informelle Herrschaft im unabhängigen Afrika + Eine sanfte Plünderung - Gibt es einen "New Scramble for Africa"? + Mit den Füßen im Schlamm - Frankreich und seine subalternen Zöglinge + Im weißen Jeep durch Tansania - Was Entwicklungshelferinnen von der deutschen "Schutztruppe" unterscheidet + Feuer in seiner Spur - Ist die Krise in der DR Kongo eine Folge des (Neo-)Kolonialismus?+ Eine vitale Fehlkonstruktion - Nigerias Umgang mit kolonialem Erbe + Schlechte Aussichten für Autokraten - In Kenia soll eine neue Verfassung postkoloniale Strukturen überwinden + Radikalisierte Identitäten - Der Genozid in Ruanda und seine (post- )koloniale Vorgeschichte + "Not make us plenty trouble!"- Warum hängt der Tangué aus Kamerun im Münchner Völkerkundemuseum?


INHALTSÜBERSICHT

Hefteditorial: Party feiern oder Zeche zahlen?


Politik und Ökonomie

Chile: Stolz fühlen
Die Unabhängigkeitsfeiern schüren den Nationalismus
von Sebastian Sternthal

Namibia: Namibia at 20
Eindrücke von den Unabhängigkeitsfeiern
von Godwin Kornes

Iran: Eritrea: Gebrochene Versprechen
In Eritrea wurde die Hoffnung auf Freiheit enttäuscht
von Eva-Maria Bruchhaus und Gaim Kibreab

Thailand: Tumult in Thailand
Die doppelte Tragödie der oppositionellen Rothemden
von Oliver Pye

Zentralasien: Tal der Grenzen
Im Ferghana-Tal bestimmen Grenzziehungen das Alltagsleben
von Wladimir Sgibnev

Türkei: Licht im Herzen
Wie sich der türkische Staat unter Premier Erdogan seine Diaspora denkt
von Jan Keetman


DOSSIER: AFRIKA POSTKOLONIAL

Editorial: Afrika Postkolonial

Was ist neu am Neokolonialismus?
Formelle und informelle Herrschaft im unabhängigen Afrika von Reinhart Kößler

Eine sanftere Plünderung
Gibt es einen postkolonialen »New Scramble for Africa«?
von Henning Melber

Mit den Füßen im Schlamm
Frankreich und seine subalternen Zöglinge in Afrika
von Bernhard Schmid

Im weißen Jeep durch Tansania
Was EntwicklungshelferInnen von der deutschen »Schutztruppe« unterscheidet
von Wolf Kantelhardt

Feuer in seiner Spur
Ist die Krise in der DR Kongo eine Folge des (Neo-)Kolonialismus?
von Alex Veit

Eine vitale Fehlkonstruktion
Nigerias selbstbewusster Umgang mit seinem schwierigen kolonialen Erbe
von Axel Harneit-Sievers

Schlechte Aussichten für Autokraten
In Kenia soll eine neue Verfassung die verhärteten postkolonialen Strukturen überwinden
von Martina Backes

Radikalisierte Identitäten
Der Genozid in Ruanda und seine (post-)koloniale Vorgeschichte
von Kolja Lindner

»Not make us plenty trouble!«
Warum hängt der Tangué aus Kamerun im Münchner Völkerkundemuseum?
von der Gruppe »Transnationale Genealogien«


KULTUR UND DEBATTE

Postkolonialismus: Spurensuche light
ZDF-Historiker Guido Knopp scheitert an der deutschen Kolonialgeschichte
von Joachim Zeller

Film: Balkan Queer Pride
Das Frauenfilmfestival Dortmund/Köln 2010 hatte den Schwerpunkt Südosteuropa
von Ulrike Mattern

Dissidenz: Nicht immer ganz einfach
Ein »Nachruf« auf den chinesischen Aids-Aktivisten Wan Yanhai
von Dirk Reetlandt

Debatte: Der dritte Zauberkasten
Mit »Common Wealth« geben Negri/Hardt der Linken neues Futter
von Gerhard Hanloser

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 319 - Juli/August 2010, S. 9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2010