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IZ3W/240: Editorial von Ausgabe 323 - Wir haben einen Traum


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr 323 - März/April 2011

Editorial
Wir haben einen Traum


Teheran, im Februar 2012. Die Wahrheitskommission tritt zur konstituierenden Sitzung zusammen. Die VertreterInnen der demokratischen Parteien kommen überein: Es geht nicht um Rache an den Mullahs und ihren Handlangern. Aber der Gerechtigkeit für die Opfer der islamistischen Gewaltherrschaft willen soll bis ins Detail untersucht werden, wer von 1979 bis 2011 welche Verbrechen begangen hat. Präsidentin Shirin Ebadi sichert den unbedingten Willen zur Aufklärung zu: »Wir haben sehr wohl verstanden, welchen Auftrag uns die Millionen Demonstrierenden im Sommer 2011 gegeben haben.«

Nach dem Sturz des islamistischen Regimes im Juli 2011 hatte es eine Weile gedauert, bis die neuen demokratischen Strukturen im Iran gefestigt waren. Die Schergen des Ancien Régime im Iran, die Pasdaran und Bassidschi, hatten noch versucht, blutige Bürgerkriegswirren zu entfachen. Doch der Freiheitswillen der IranerInnen hatte sich nicht mehr unterdrücken lassen, zuletzt waren selbst viele Bassidschi übergelaufen. Bevor sie sich auflösten, sorgten die Milizen noch selbst dafür, dass fast alle wichtigen Protagonisten des Regimes verhaftet werden konnten.

Nach dem Vorbild fast aller anderen Länder im Nahen und Mittleren Osten war eine der ersten Amtshandlungen von Präsidentin Ebadi gewesen, den 14. Januar zum »Tag der Freiheit« auszurufen. Am 14.1.2011 war es den Protestierenden in Tunesien gelungen, Präsident Ben Ali aus dem Amt zu jagen. Der unerwartete Erfolg der tunesischen Demokratiebewegung hatte eine Welle von Freiheitsbestrebungen im gesamten Nahen und Mittleren Osten ausgelöst, die im Laufe des Frühjahrs 2011 zum Sturz aller autoritären Regime führte. Iran war das letzte Land gewesen, in dem sich ein Ancien Régime noch an der Macht halten konnte. Doch nachdem die wichtigsten Verbündeten in Syrien, im Libanon und im Gaza-Streifen abhanden gekommen waren, hatte auch der 'islamischen Revolution' die letzte Stunde geschlagen.

Im Februar 2011 hatte es zunächst nicht nach einem Sieg der Freiheitsbewegungen ausgesehen. In Ägypten war es dem Regime der Freien Offiziere gelungen, die Proteste vorübergehend niederzuschlagen. Doch der Freiheitswille der ÄgypterInnen war ungebrochen, und nach einer kurzen Phase der Organisierung fand die Opposition zu neuer Stärke. Motivierende Wirkung hatten die Massendemonstrationen in westlichen Ländern: Millionen Menschen hatten in Washington, Tel Aviv, Paris und Berlin gegen die mangelnde Unterstützung westlicher Regierungen für die Freiheitsbewegungen im Nahen Osten protestiert.

Die westlichen Regierungen hatten ihre Zurückhaltung damit gerechtfertigt, dass man die Machtübernahme der Islamisten in Ägypten habe verhindern wollen. Doch sie hatten die Demonstrierenden in Kairo falsch eingeschätzt. Deren große Mehrheit hatte die Muslimbruderschaft als Teil des Demokratieproblems, nicht als Lösung angesehen. Die Muslimbrüder spalteten sich Ende Februar 2011 in einen radikalen und einen gemäßigten Flügel. Ersterer war von Beginn an in der ganzen Region isoliert. Letzterer trat bei den Wahlen im Mai 2011 an und erzielte nur elf Prozent der Stimmen. Der zu seiner eigenen Überraschung gewählte säkulare Präsident Hamed Abdel-Samad versprach im September 2011 beim ersten Gipfel der Union demokratischer arabischer Staaten im jordanischen Amman: »Wir werden die Religionsfreiheit selbstverständlich respektieren. Doch in der Politik hat der Islam nichts verloren, so wie alle andere Religionen auch.«

Der Gipfel in Amman war begleitet von einem großen regionalen Sozialforum. Dessen Leitfrage hieß: Wie kann die soziale Misere in den arabischen Ländern beendet werden? Die versammelten GewerkschaftlerInnen, Frauenrechtlerinnen und BasisaktivistInnen waren sich mit den Regierungen einig, dass es riesiger Anstrengungen bedarf, um die sozialen Verwüstungen der vergangenen Jahrzehnte zu beheben. Die junge tunesische Sozialministerin Lina Ben Mhenni sagte: »Wir werden Jahre brauchen, bis wir uns alle endlich auf Augenhöhe begegnen können. Doch die Aufbruchstimmung beflügelt uns. Ja, wir schaffen das!« Innenminister Hamma Hammami, der als Kommunist zehn Jahre im Gefängnis gesessen hatte, pflichtete ihr bei: »Die tunesische Revolution ist zwar großteils bürgerlich. Aber sie weist in die richtige Richtung.«

Für Aufsehen sorgte die Teilnahme Israels am arabischen Gipfel. Die neue Mehrparteienregierung unter Ministerpräsident Tom Segev wollte damit ein Zeichen setzen: »Wir sind unendlich erleichtert darüber, dass in unseren Nachbarländern nun demokratische Verhältnisse herrschen.« Die Umstürze in den arabischen Ländern und im Iran hatten auch in Israel enormen Reformdruck erzeugt. Als die Hamas in die Defensive geraten und das Regime im Iran gestürzt war, demonstrierten hunderttausende Israelis wochenlang für die Demilitarisierung der israelischen Politik. Kurz entschlossen trat der Historiker Segev bei den Neuwahlen an. Seine Begründung: »Dies ist eine einmalige historische Chance zum Friedensschluss, und sie muss ergriffen werden!« Mit dieser Forderung konnte er eine klare Mehrheit erringen. Bereits am Tag der Amtseinführung legte er mit der palästinensischen Präsidentin Sumaya Farhat-Naser die Grundlagen für einen palästinensisch-israelischen Freundschaftsvertrag.

Pjöngjang, März 2012: In der nordkoreanischen Hauptstadt versammeln sich tausende DemonstrantInnen. Sie skandieren: »Kim Jong-il, mach's wie Ben Ali!« In der birmesischen Hauptstadt Rangoon gehen ebenfalls...

Fortsetzung folgt.

die redaktion


PS:
Dieser Traum ist viel zu schön, um wahr zu sein.
Aber wir haben ihn ein paar Tage lang gern geträumt.


*


Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 323 - März/April 2011


Die Islamdebatte

Ganz unten angekommen

Spätestens seit 9/11 wird weltweit eine erbitterte 'Islamdebatte' geführt. In den Medien tobt seither ein in seiner Rigorosität oft unerträglicher Schlagabtausch zwischen "IslamkritikerInnen" und "IslamversteherInnen". Auf beiden Seiten wird munter essentialisiert: Den einen gilt der Islam als per se friedliche Religion; der Islamismus wird als mehr oder minder randständige Abweichung vom wahren Geist der islamischen Religionslehre verharmlost. Reflexhaft wehren sie jede Religionskritik am Islam ab und verfangen sich in den Angeln des Kulturrelativismus oder des Orientalismus. Die anderen geißeln den Islam und den Koran als durchweg gewaltorientiert; er habe keine Aufklärung nach westlichem Vorbild durchlaufen und sei daher rückständig.

Unser Themenschwerpunkt soll nicht eruieren, was "der Islam" wirklich ist oder welche Facetten er aufweist. Gegenstand ist vielmehr die Debatte über den Islam. Anders gesagt: Es geht um die kritische Analyse der Diskurse über den Islam - im Wissen, dass legitime Religions- und Ideologiekritik umschlagen kann in antimuslimisches Ressentiment.


INHALTSÜBERSICHT


Hefteditorial: Wir haben einen Traum


POLITIK UND ÖKONOMIE

Nordafrika: Die Angst wechselt das Lager
Im Nahen Osten und in Nordafrika beginnt eine neue Epoche
von Frederic Schmachtel

Sudan: Stabiler Frieden in weiter Ferne
Der Südsudan auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft
von Thomas Schmidinger

Westsahara: Eine endlose Geschichte
In Marokkos Kolonie eskaliert der Konflikt erneut
von Axel Goldau

Ägypten: Wenn Schlepperbanden zu Geiselnehmern werden
Skrupellose Geschäfte mit afrikanischen Flüchtlingen
von Philipp Eckstein

Somalia: Gar nicht romantisch
Die militärische Pirateriebekämpfung
von Miriam Edding

Cote d'Ivoire: Déjà Vu
Das Wahldesaster von 2000 droht sich zu wiederholen
von Bettina Engels

Entwicklungspolitik: Ohne Risikodeckung
Können Mikroversicherungen Gesundheit für alle gewährleisten
von Andreas Wulf


SCHWERPUNKT: ISLAMDEBATTE

Editorial zum Themenschwerpunkt

Die Regression der Islamdebatte
von Jörn Schulz

Kritik ja! Aber woran?
Eine Debatte über Rassismus, Ressentiment und Islamkritik
von Birgit Rommelspacher, Lothar Galow-Bergemann, Markus Mersault und Ismail Küpeli

Licht und Dunkel
Die Islamdebatte und der Rechtspopulismus
von Winfried Rust

Alles Machos?
Der Topos »islamische Jugendliche« wird niemandem gerecht
von Ahmet Toprak

Unter Kontrolle des Staates
In der Türkei wird eine ganz eigene Islamdebatte geführt
von Sabine Küper-Busch

Nachhaltig angekratzt
Die Islamdebatte wird in arabischen Medien als Kampf der Religionen empfunden
von Hannah Wettig

What's right with America
In den USA etabliert die Tea Party eine anti-islamische Stimmung
von Michael Hahn

Land der kurzen Lunten
Die niederländische Islamdebatte ist notorisch leicht entflammbar
von Tobias Müller

Grenzen der Nation Die Islamdebatte in Frankreich zwischen Universalismus und Rassismus.
Eine Diskussion zwischen Lotte Arndt, Kolja Lindner und Bernhard Schmid


KULTUR UND DEBATTE

Glosse: Ein Job für Lebensmüde
In der Zeitschrift welt-sichten sucht die Bundeswehr Kanonenfutter für Afghanistan
von Christian Neven-du Mont

Postkolonialismus: Ich helfe, du hilfst, ... ihnen wird geholfen
Der Freiwilligendienst weltwärts reproduziert altbekannte Strukturen
von Kristina Kontzi

Literatur: Trilogie des Terrors
Drei Romane von Yasmina Khadra zeigen die Gesichter hinter der islamistischen Gewalt
von Winfried Rust

Debatte: Lieberman in Freiburg?
Eine Replik zur Rezension von Moshe Zuckermanns Buch »Antisemit!«
von Gerhard Hanloser


Rezension, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 323 - März/April 2011, S. 3
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2011