iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 336 - Mai/Juni 2013
Kommt die Eine Wohlfahrtswelt?
Rezension von Friedemann Köngeter
Der Sammelband »Sozialpolitik in globaler Perspektive« untersucht, wo westliche Methoden bei der Analyse von Sozialpolitiken außerhalb der OECD-Staaten nützlich sind, und »wo andere Zugänge weiterführend erscheinen«. Im Einleitungsbeitrag stellen die HerausgeberInnen zunächst gängige westliche Theorien zur Entstehung von Sozialpolitik vor. Für den Süden fällt solch eine Klärung weniger leicht, da soziale Fragen dort eher unter dem Feld der Entwicklungspolitik oder Armutsbekämpfung beschrieben wurden. Soziale Sicherungssysteme im westlichen Sinne stehen im Süden oft nur für eine Minderheit im formellen Beschäftigungssektor zur Verfügung. Entsprechend bleibt auch der Ansatz einer Global Social Policy in den Anfängen stecken: Eine international koordinierte Sozialpolitik existiert nicht und globale soziale Rechte sind nicht einklagbar.
Ein häufig verwendeter Ansatz ist die Frage nach einem Welfare-Mix von Markt, Staat und Familie in Anlehnung an den Politikwissenschaftler und Soziologen Gøsta Esping-Andersen. Indem der Staat als nur einer von drei möglichen »Wohlfahrtsproduzenten« beschrieben wird, zwingen die Defizite staatlicher Fürsorge nicht zur Beendung der Forschung mangels Gegenstand.
Der empirische Teil umfasst unter anderem Arbeiten über Transferleistungen in Südafrika, zur russischen Steuerpolitik, und einige Beispiele aus Südamerika. Immer wieder bemühen sich die AutorInnen um eine nicht rein eurozentristische Perspektive, indem sie die Frage nach Sozialpolitik mit angrenzenden Bereichen verknüpfen. So untersucht Nicole Mayer-Ajuha die Arbeitsorganisation in Softwareunternehmen im indischen Bangalore. Zentrales Problem sei die geringe Bereitschaft der Beschäftigten, sich zu spezialisieren und sich an ein Unternehmen für längere Zeit zu binden. Dies liege zum einen an der Bildungspolitik, die in Indien als Teil der Sozialpolitik definiert sei und die kaum Raum für Spezialisierung lasse. Zum anderen liege das an den schwachen sozialen Sicherungssystemen, die es für junge Professionelle attraktiver machen, öfter eine jeweils besser bezahlte Stelle anzunehmen, als kontinuierlich Beiträge in (private) Sozialkassen einzuzahlen. Dabei gewinne die Familie als Teil der sozialen Sicherung wieder an Bedeutung.
Mit seinem historischen Blickwinkel überzeugt der Beitrag zu Bolivien. Dort hat sich eine Alterssicherung entwickelt, die nicht beitragsfinanziert ist. Der »Bonosol« entstand eigentlich unter einer neoliberalen Regierung und wurde aus der Privatisierung öffentlicher Unternehmen gespeist. Erst unter der Morales-Regierung erhielt die nun aus Rohstoffeinnahmen finanzierte »Renta Dignidad« Verfassungsrang und stellt ein relativ zukunftssicheres Instrument zur Linderung von Altersarmut dar.
Eine Abkehr vom eurozentristischen Blick wird zwar in allen Beiträgen mehr oder weniger gefordert, die Umsetzung des Perspektivenwechsels scheint jedoch schwierig zu sein. Westliche Methoden bei der Analyse von Sozialpolitiken kommen reichlich zum Einsatz, die »anderen« also aus dem Süden kommenden Zugänge sucht man vergeblich.
Hans-Jürgen Burchardt / Anne Tittor / Nico Weinmann (Hg.):
Sozialpolitik in globaler Perspektive.
Campus Verlag, Frankfurt/M., 2012, 288 Seiten, 24,90 Euro
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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 336 - Mai/Juni 2013
In weiter Ferne -
das Ende der Armut
Die Formen, Vermessungen und Darstellungen der Armut ändern sich, aber die Armut bleibt. Rund drei Milliarden Menschen gelten als arm, rund eine Milliarde als extrem arm. Armut ist nicht nur ein Problem des globalen Südens - die Ursachen sind vielfältig. Sie findet sich in der Stadt wie auf dem Land, trotz Rohstoffreichtum und Bildung, trotz oder gerade wegen bestimmter Formen von Lohnarbeit. Doch anstatt der Armut werden oftmals die Armen bekämpft und ihr Armsein gerechtfertigt.
Der Analyse der Armut in ihren verschiedenen Dimensionen widmet sich dieser Themenschwerpunkt. Wie ergeht es den Menschen in ehemals sozialistischen Staaten? Ist Armut dem siegreichen kapitalistischen Vergesellschaftungsmodell immanent? Ist Arbeit im informellen Sektor Teil des Problems oder Teil der Lösung? Gibt es globale Antworten auf diese transnationale Herausforderung?
BEITRÄGE ZUM DOSSIER
Editorial - In weiter Ferne
Abolish Poverty
Die Erzählweisen über Armut ändern sich, die Armut bleibt
von Winfried Rust
Wer Armut definiert, hat Macht
Die Vermessung der Armut dient auch der Kontrolle
von Reinhart Kößler
»Lasst einige zuerst reich werden«
Von der sozialistischen zur kapitalistischen Armut in China
von Uwe Hoering
Kommt die Eine Wohlfahrtswelt?
Rezension von Friedemann Köngeter
Nichts Neues aus Afrika
Der Zusammenhang von Rohstoffreichtum und Armut
von Henning Melber
Misere und Millionenstädte
Wird die Armut städtisch?
von Christoph Parnreiter
Wirtschaftswunder der Armut
Der informelle Sektor wächst weltweit
von Martina Backes
Harte Wende
Mongolei: Aus dem Sozialismus in die Armut?
von Friederike Enssle
Universal sozial
Transnationale Armut und »globale Sozialpolitik«
von Wolfgang Hein
'Warum Allah Arme und Reiche schuf...'
Islamische Wohlfahrt und soziale Fürsorge in der Türkei
von Anne Steckner
Keine Wunderwaffe
Bildung im Kampf gegen Armut
von Christoph Butterwegge
Bildung als Baldrian
von Martina Backes
AUSSERDEM IM HEFT:
Hefteditorial - Ein Auslaufmodell
POLITIK UND ÖKONOMIE
Mali I: Ein Ende mit Schrecken
Die malische Version der Demokratie ist vorerst gescheitert
von Ruben Eberlein
Mali II: Aufs falsche Kamel gesetzt
Die Konflikte um Tuareg und Islamisten haben eine lange Vorgeschichte
von Claus-Dieter König
Kenia: Wer mit der Macht spielt
Nach den Wahlen
von Isabel Rodde
Postkolonialismus: »Verräter« oder »Opfer«?
Die Diskussion über algerische Hilfssoldaten an der Seite des kolonialen Frankreich
von Anna Laiß
Tourismus I: Begegnungen auf der Deponie
Tourismus, Müll und Armutsbekämpfung in Mexiko
von Eveline Dürr
Tourismus II: Nah am Geschehen
Das Slumming ist eine umstrittene Form des Tourismus
von Till Schmidt
KULTUR UND DEBATTE
Digitales I: Die »Nigeria Connection«
Vorschussbetrug per Email greift oft auf westliche Stereotype über Afrika zurück
von Sebastian Prothmann
Digitales II: Am virtuellen Pranger
Scambaiting als rassistische Form der Kriminalitätsbekämpfung im Internet
von Matthias Krings
Film: Immun gegen Reue
»The Act of Killing« zeigt die indonesischen Massenmörder der 1960er Jahre
von Isabel Rodde
Debatte: Wie aus dem Lehrbuch
Eine rassismuskritische Broschüre tendiert zum Schwarz-Weiß-Denken
von Christian Stock
Rezensionen
Szene/Tagungen
Impressum
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Quelle:
iz3w Nr. 336 - Mai/Juni 2013, Dossier S. 11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2013