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IZ3W/346: "Ich will einfach nur Mensch sein!" - Interview mit dem pakistanischen Aktivisten Shafiq ur Rehman


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 345 - November/Dezember 2014

»Ich will einfach nur Mensch sein!«
Interview mit dem pakistanischen Aktivisten Shafiq ur Rehman

von Katrin Dietrich



In Pakistan haben über zehn Prozent der Bevölkerung eine Behinderung. Die politische Organisation Milestone setzt sich seit 20 Jahren für die Verwirklichung ihrer Rechte ein.


IZ3W: Was macht Ihre Organisation und wann wurde sie gegründet?

SHAFIQ UR REHMAN: Milestone ist einzigartig in Pakistan. Die Organisation wurde von uns Kindern mit Behinderung gegründet, als wir 13, 14 Jahre alt waren. Wir gingen damals auf eine spezielle Schule für Kinder mit Behinderung und haben dort viel Diskriminierung erfahren. Wir wurden wie Schaustücke ausgestellt und für die Einwerbung von Spenden missbraucht. Das hat uns gar nicht gefallen. 1993 beschlossen wir, eine eigene Gruppe zu gründen. Wir hatten keine Mittel zur Verfügung und trafen uns viele Jahre lang in einem öffentlichen Park. Später haben wir dann an verschiedenen Universitäten studiert. Milestone entstand als echte Graswurzel-Bewegung.

Heute, nach 20 Jahren, zählen wir zu den bekanntesten Organisationen in Pakistan, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzen. Wir haben 15 feste MitarbeiterInnen. Elf von ihnen haben Behinderungen ganz unterschiedlicher Art und alle kommen aus Mittelschichtsfamilien. Milestone ist die Stimme der Menschen mit Behinderung und setzt sich unter anderem dafür ein, dass Pakistan den Disability Act umsetzt. Und wir sind in der Katastrophenhilfe aktiv: Als es 2005 das große Erdbeben gab, haben wir Rettungsaktionen für Menschen mit Behinderung organisiert. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass Menschen mit Behinderung denjenigen halfen, die von der Gesellschaft im Stich gelassen werden. Denn bei jeder Katastrophe oder in Kriegen sind Menschen mit Behinderung die letzten, um die man sich kümmert.

Auf internationaler Ebene arbeiten wir auch mit großen Organisationen zusammen wie der Weltbank, der UNESCO, mit NGOs aus Deutschland oder Japan. Da es in Pakistan zudem viele Probleme mit Extremisten wie den Taliban gibt, die oft Menschen mit Behinderung als Schutzschilde missbrauchen, veranstalten wir auch Fortbildungen für die Armee und die Regierung. Wir gehören jedoch keiner Religion an; wir kommen in die Moscheen, Kirchen und Tempel gar nicht rein - die sind ja nicht barrierefrei! Milestone möchte die Welt friedlich verändern.

IZ3W: Wie ist die ökonomische Situation von Menschen mit Behinderung in Pakistan?

SHAFIQ UR REHMAN: In Pakistan mit seinen 170 Millionen EinwohnerInnen haben wir ein starkes Familiensystem. Doch leider sehen es die Familien nicht gern, wenn Angehörige mit Behinderung arbeiten. Sie halten es für eine Beleidigung der Familienehre. Man glaubt, dass sich die Familie um die Person kümmern müsse. Das ist sehr diskriminierend. Zum Beispiel gehen Angehörige mit einer Behinderung beim Erbe und bei Besitztümern leer aus. Laut Gesetz haben wir zwar ein Recht darauf, aber es wird nicht angewandt. Aus ökonomischer Sicht sind wir die ärmsten Menschen in Pakistan. Jeder ist bereit, voller Mitleid für uns zu spenden, aber man betrachtet uns nicht als gleichberechtigt. Manche glauben gar, indem man uns hilft, komme man ins Paradies.

IZ3W: Was unternimmt die Politik für Menschen mit Behinderung?

SHAFIQ UR REHMAN: Die Regierung in Pakistan geht immer noch davon aus, dass man uns heilen kann und wir uns verändern und der Norm anpassen müssen. Wir klären darüber auf, dass wir unseren eigenen Weg gehen. Vor der UN-Behindertenrechtskonvention ist jeder Mensch perfekt. Doch die Regierung richtet immer noch Sonderschulen und getrennte Wohnräume ein. Sie behandeln uns wie Kranke und nicht wie Menschen.

IZ3W: Was beinhaltet der pakistanische Disability Act?

SHAFIQ UR REHMAN: Der Disability Act ist noch nicht umgesetzt, aber wir organisieren Demonstrationen, damit das geschieht. Er enthält die grundlegenden Menschenrechte für Menschen mit Behinderung, wie sie auch die UN-Konvention von 2006 vorschreibt, die Pakistan 2011 ratifiziert hat. Auch dafür haben wir und andere Organisationen damals vor dem Parlament demonstriert. Ein Problem ist aber, dass Menschen mit Behinderung oft keine gute Ausbildung haben und ihre Rechte nicht kennen. Daher sind wir gerade dabei, ein Netzwerk aufzubauen, in dem neben internationalen und lokalen NGOs auch RechtsanwältInnen mitwirken. Gemeinsam wollen wir Druck auf die Politik ausüben. Mit der Umsetzung des Disability Acts hoffen wir auf gleiche Behandlung und Inklusion.

Wir wollen gleichberechtigt sein und Verantwortung übernehmen. Die Leute glauben immer, dass Menschen mit Behinderung die Guten oder von Gott auserwählt seien - wir wollen uns aber auch schlecht verhalten können. Ich bin kein guter Mensch, nur weil ich eine Behinderung habe. Ich will einfach nur Mensch sein. Diese religiösen, kulturellen oder ideologischen Vorstellungen verhindern, dass Menschen mit Behinderung ein glückliches Leben führen können.

IZ3W: Wie verläuft die Zusammenarbeit mit den internationalen Organisationen?

SHAFIQ UR REHMAN: Ein Problem ist, dass die internationalen NGOs Ergebnisse in ihrem politischen Interesse sehen wollen. Manchmal ignorieren sie dabei die pakistanische Kultur und das System, dann können wir keine guten Ergebnisse liefern. Und wenn das Projekt beendet ist, gibt es kein Geld mehr und die Aktivitäten müssen wieder eingestellt werden.

Bei Milestone haben wir die Philosophie, dass wir Geld zum Arbeiten brauchen, aber nicht für Geld arbeiten. Die internationalen NGOs bezahlen gerne Meetings oder Fortbildungen, aber viele unserer Aktionen haben wir mit sehr wenigen Mitteln selbst durchgeführt. Denn die NGOs können die Behindertenbewegung nicht direkt unterstützen. Soweit ich weiß, gibt es auf der Welt keine Organisation, die politische Demonstrationen finanziert. Aber ohne diese wichtige politische Arbeit würde es keine Veränderung geben.

IZ3W: Auch bei der großen Überschwemmung im Jahr 2010 haben Sie Katastrophenhilfe für Menschen mit Behinderung organisiert.

SHAFIQ UR REHMAN: Es war eine schlimme Situation. Manche Familien ließen ihr behindertes Kind zurück und nahmen stattdessen ihr Vieh mit. Menschen mit Behinderung bringen keinen Nutzen, Tiere dagegen schon. Wir haben ein Boot gemietet, mit dem wir in die überschwemmten und gefährlichen Gebiete fuhren. Wir konnten viele Menschen mit Behinderung retten, aber nicht alle, manche waren auch schon tot. Dann haben wir mit Unterstützung internationaler Organisationen ein barrierefreies Camp in einer Schule aufgebaut und Selbsthilfekurse angeboten, damit die Menschen das nächste Mal sich und andere retten können.

Wir müssen die Gesellschaft und die Familien darüber aufklären, dass Menschen mit Behinderung auch einen Wert haben. Meine Eltern zum Beispiel haben keine Ahnung, wie man einen Rollstuhl richtig bedient. Sie haben zwar meinen Körper geschaffen, aber sie kennen sich mit meiner Art zu leben nicht aus.

IZ3W: Ein weiterer Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist, Frauen und Mädchen mit Behinderung zu unterstützen. Wie gestaltet sich das Verhältnis von Behinderung und Geschlecht in Pakistan?

SHAFIQ UR REHMAN: Leider herrscht in dieser Welt eine Catwalk-Kultur. Die Menschen glauben an den perfekten Körper und an die perfekte Schönheit wie die einer Miss Universe. Dieser Wettbewerb um Schönheit ist eine stille Form der Diskriminierung gegen Menschen und insbesondere Frauen mit Behinderung. Sie erfahren dreifache Diskriminierung: Sie sind Frauen, sie haben eine Behinderung und sie sind von jeglicher Entwicklung ausgeschlossen. Zum Beispiel sehe ich als Mann nicht gerade umwerfend aus, ich sitze zudem im Rollstuhl und trotzdem fällt es mir leicht, eine Freundin finden. Wäre ich eine Frau, wäre es sehr viel schwieriger für mich in der gleichen Situation, einen Freund zu finden. Das ist sehr diskriminierend. Frauen mit Behinderung haben es am schwersten. Wir glauben, wenn die Frauen mit Behinderung ihre Stimme erheben und ihre Rechte einfordern, wird es für alle Menschen mit Behinderung besser werden.

»Zum Schluss des Interviews würde ich gerne noch was zu meinen Fans auf der Welt sagen: Es gab das große Missverständnis, dass es behinderte Menschen gibt, aber niemand ist behindert. Jeder Mensch ist perfekt, aber wir sind verschieden.«


Shafiq ur Rehman arbeitet bei Milestone in Islamabad.
www.facebook.com/Mielstone.pk

Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Katrin Dietrich / iz3w

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 345 - November/Dezember 2014

von Barrieren und Behinderungen
Diskriminierung inklusive

Die Zahl der Menschen mit Behinderung liegt weltweit bei über einer Milliarde und ist damit deutlich höher als bisher angenommen. Rund 80 Prozent von ihnen leben im Globalen Süden. Hier sind Betroffene besonders benachteiligt, da Behinderung Armut schafft oder verfestigt. Umgekehrt sind schlechte Lebensbedingungen wie mangelhafte Ernährung und Gesundheitsfürsorge ebenso wie Kriege häufig die Ursache von Behinderungen.

Hinzu kommt überall Diskriminierung - im Süden wie im Norden. Deshalb beschäftigen wir uns in der aktuellen Ausgabe der iz3w auch mit grundlegenden Fragen: Ist oder wird ein Mensch behindert? Was ist mit "Inklusion" und "Disability Studies" gemeint? Mit welchen Diskriminierungen sehen sich Betroffene konfrontiert? Und welche Gegenstrategien und Selbstorganisationen gibt es, um Barrieren entgegen zu treten?

Der südnordfunk - die monatliche Radio-Magazinsendung des iz3w - ergänzt das Dossier mit Podcasts rund um das Thema Behinderung. Nachzuhören auf iz3w.org.


Inhaltsübersicht aus dem Themenschwerpunkt:

Dossier: von Barrieren und Behinderungen

Editorial

Kein Defekt, sondern Benachteiligung
Von einer inklusiven Gesellschaft sind Nord und Süd weit entfernt
von Jana Offergeld

Zurück zur sozialen Wirklichkeit
Was ist Behinderung? Kontroversen und ihr Hintergrund
von Michael Zander

Weder gottgefällig noch leistungskonform
Behindertenfeindlichkeit hat verschiedene Hintergründe
von Volker van der Locht

Unantastbar und unerreicht
Würde und Behinderung sind k/ein Gegensatz
von Nati Radtke und Udo Sierck

Konstruiert
Disability Studies: Wie wird Behinderung hergestellt?
von Swantje Köbsell

Mehr Ausgaben, weniger Einnahmen
Die ökonomische Situation von Menschen mit Behinderung ist schwierig
von Gabriele Weigt

Asexuelle Neutren
Wie Geschlecht und Behinderung zusammenhängen
von Nina Ewers zum Rode

Inklusion durch Radio
Ein mexikanisches Programm von und für Menschen mit Behinderung
von Mareike Lohr

Doppelt diskriminiert?
Bei Migration und Behinderung überschneiden sich Benachteiligungen
von Nausikaa Schirilla

»Ich will einfach nur Mensch sein!«
Interview mit dem pakistanischen Aktivisten Shafiq ur Rehman

»Man darf nicht romantisieren«
Interview mit Francis Müller über das Fotoprojekt »Minenopfer in Angola«


POLITIK UND ÖKONOMIE

Hefteditorial

Dschihadismus I: Ein Kalifat in Borno
Die Dschihadisten von Boko Haram erobern Teile Nigerias
von Norbert Rusch

Dschihadismus II: Erfolg macht erfolgreich
Der Islamische Staat errichtet in Irak und Syrien ein Terrorregime
von Thomas Schmidinger

Tschad I: »Die Prioritäten haben sich verschoben«
Interview mit dem tschadischen Abgeordneten Béral Mkaikoubou über die Rolle des Tschad in der Sahel-Region

Tschad II: Vom Outlaw zum Verbündeten
von Helga Dickow

Fidschi: Das Ende der CoupCulture?
Fidschis ethnischer Konflikt und die Demokratie
von Eberhard Weber

Australien: »An einem absoluten Tiefpunkt angelangt«
Interview über die australische Politik der Flüchtlingsabwehr

Senegal: Zwischen den Fronten
Frauen setzen sich für Frieden in der Casamance ein
von Martina Backes


KULTUR UND DEBATTE

Vietnam »Noch ein langer Weg«
Geschlechterdiskriminierung im sozialistischen Vietnam
von Christopher Wimmer

Literatur: Afrika verkomplizieren
Mit »Afropolitan« ist eine neue Literaturgattung entstanden
von Rosaly Magg

Film: Postkoloniale Ikone
»Concerning Violence« trivialisiert das Werk von Frantz Fanon
von Udo Wolter

Rezensionen

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Quelle:
iz3w Nr. 345 - November/Dezember 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2014