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IZ3W/362: Editorial von Ausgabe 349 - In den ewigen Jagdgründen


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 349 - Juli/August 2015

Editorial
In den ewigen Jagdgründen

die Redaktion


Neulich, morgens am Küchentisch beim Zeitunglesen: »Was ist denn mit dir los? Du guckst so bedröppelt.«

»Winnetou ist tot!«

»Der ist doch schon lange tot. Er starb 1965 im Fernsehen, in den Armen von Old Shatterhand.

»Das zählt nicht. Er ist doch wiederauferstanden. Damals haben sich hunderttausende ZuschauerInnen beim ZDF über die Ermordung von Winnetou beschwert. Die BRAVO hat sogar eine Riesenkampagne gemacht. Und prompt gab's noch viel mehr Filme mit Winnetou. Aber jetzt ist er wirklich tot! Winnetou war Pierre Brice, und Pierre Brice war Winnetou. Irgendwie macht mich das wehmütig. Wie immer, wenn gute alte Bekannte aus Jugendzeiten auf einmal nicht mehr sind.«

»Jetzt sei doch froh, dass diese unsägliche Winnetou-Ära endgültig vorbei ist. Jahrzehntelang hat dieser reaktionäre Karl-May-Dreck die Köpfe der Leute zugemüllt! Winnetou als Prototyp des 'edlen Wilden', der nur deshalb edel ist, weil er strikt nach den germanozentrischen Moralvorstellungen von Karl May gestaltet war, diesem christlichen Esoteriker. Ist doch gut, wenn dieser rassistische Topos endlich aus den Medien verschwindet. Junge Leute wissen zum Glück oft schon gar nicht mehr, wer Winnetou war. Gnade der späten Geburt, sag ich nur!«

»Meine Liebe, du machst einen Fehler, wenn du die Wirkung von Figuren wie Winnetou überschätzt. Glaubst du ernsthaft, die Leute sind so blöd und merken nicht, dass es sich um eine Fantasiegestalt handelt? Die zudem total überzeichnet ist? Dass Karl May so eine Art moderne Märchen geschrieben hat? Es ist doch allgemein bekannt, dass der ein Betrüger war und seine Geschichten im Knast erfunden hat. Das ist doch grad das Lustige daran.«

»Sorry, aber den Fehler machst du, wenn du glaubst, dass Winnetou schon in den Sechzigern und Siebzigern unter der Kategorie Trash lief. Damals gab's noch kein Hipster-Milieu, das Filme nur unter Ironiegesichtspunkten schaut. Damals haben die Leute so was wie Winnetou verdammt ernst genommen. Das hat Weltbilder in den Köpfen geprägt! Es wird noch ganze Generationen von antirassistischen und postkolonialen Bewegungen geben müssen, die dagegen ankämpfen. Schau dir bloß mal die Webseite der Karl-May-Gesellschaft an. Die meinen es noch heute vollständig ernst, wenn sie Karl May als großen Literaten feiern.«

»Na und, das haben Carl Zuckmayer, Hermann Hesse und Ernst Bloch auch getan. Es sind doch nicht nur RassistInnen gewesen, die Karl May gelesen haben. Winnetou war ein Roter. Die militanten Linken in der BRD haben das begriffen, die haben sich nicht umsonst als 'Mescalero' oder 'Geronimo' bezeichnet. Selbst die DDR kam nicht an Indianerhelden vorbei. Winnetou war halt einfach eine Integrationsfigur beim Kampf gegen das Böse.«

»Ach so, deshalb waren Hitler und Goebbels so große Fans von Winnetou? Und deshalb ließen sie 1943 noch viele tausend Stück drucken, obwohl das Papier knapp war? Damit die Soldaten der Wehrmacht bei ihrem Kampf gegen das Böse moralische Erbauung finden?«

»Spotte du nur. Die Nazis waren doch zu blöd, um zu merken, dass gerade Winnetou ihren Vorstellungen vom Arier total zuwiderlief.«

»Nun ja. Leni Riefenstahl war auch ganz vernarrt in gut aussehende afrikanische Männer. Es ist doch bezeichnend, dass die Karl-May-Spiele in Bad Segeberg alljährlich in einem Amphitheater stattfinden, das Goebbels 1937 als 'Nordmark-Feierstätte' eingeweiht hat.«

»Da kann Winnetou doch nix dafür. Pierre Brice war als Jugendlicher sogar in der Résistance aktiv. Ich lese hier übrigens grad in der Zeitung, was er über Winnetou gesagt hat: 'Ich kämpfe in dieser Figur nicht nur für Gerechtigkeit, sondern auch gegen Intoleranz, Gewalt und Rassismus'.«

»Pierre Brice als antifaschistischer Held? Träum weiter. Laut eigener Aussage hat er als Soldat bei Frankreichs Kolonialkrieg in Indochina drei Menschen getötet. Mich wundert es nicht, dass all die Kriegsbegeisterten Fans von Winnetou sind. Darf ich mal Ursula von der Leyen aus der Zeitung zitieren? 'Winnetou. Der war großartig. Als Kind träumte ich davon, Winnetous Schwester Nscho-tschi zu sein.' Wer solche Vorbilder hat, der geschieht es ganz recht, wenn sie in der heute show als 'Flinten-Uschi' geschmäht wird.«

»Das hat doch mit dem G36-Gewehr zu tun, nicht mit ihrer Vorliebe für Winnetou. Aber wenn du mir mit von der Leyen kommst, dann kontere ich mit Claudia Roth: 'Bei mir hing als junges Mädchen zunächst Winnetou im Zimmer, dann irgendwann Che Guevara'.«

»Ok, ich geb's auf. Ruhe in Frieden, Winnetou, aber ruhe!!!«

Und so möge es kommen, wünscht sich


die redaktion

(die verspricht, nie wieder so eine abgehalfterte Redewendung zu verwenden wie die von den »ewigen Jagdgründen«. Howgh)

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 349 - Juli/August 2015

Logistik
Leidbranche der Globalisierung

Millionen LKWs, Schiffe und Flugzeuge transportieren Gigatonnen von Gütern durch die Welt. Sie verbinden Produktionsschritte untereinander, bringen Rohstoffe zur Weiterverarbeitung oder liefern Fertigwaren zur Endkonsumentin. Die Logistikbranche ist ein Spiegelbild der Globalisierung und der komplexer werdenden Produktionsketten. Sie ist heute einer der größten Wirtschaftsbereiche überhaupt, ein Arbeitssektor für Hochqualifizierte und prekär Beschäftigte. Zudem: ein relevanter Faktor beim Klimawandel. In unserem Themenschwerpunkt wollen wir nicht zuletzt die soziale Frage hinter der technisch-ökonomischen Fassade des Sektors Transport & Logistik herausarbeiten.


Inhaltsübersicht

Hefteditorial
Schwerpunkt: Logistik

Editorial zum Themenschwerpunkt

Arterien des Kapitalismus
Der Fluss von Gütern schafft Konkurrenz statt Ausgleich
von Winfried Rust

Grenzzonen im Containerhafen
Der Hafen Freetown/Sierra Leone im neuen -Logistikregime
von Julian Stenmanns

Freie Fahrt für Schiffsbetreiber
Containerschiffe sind günstig - auf Kosten anderer
von Christoph Spehr

Made in China?
Warenströme in der globalen Elektronikindustrie
von Peter Pawlicki

»Wir haben uns lautlos organisiert«
Gewerkschaftsgründungen bei DHL im post-diktatorischen Chile
von Olaf Berg und Helen Schwenken

Reibungslos bewegt
Pipelines sind das Adernsystem der fossilen Moderne
von Benjamin Steininger


POLITIK UND ÖKONOMIE

China: Überstunden für die Staatssicherheit
Ein neues Gesetz soll nun auch ausländische NGOs gängeln
von Dirk Reetlandt

Algerien: Aufruhr nur im Hinterland
Islamistische Strömungen haben einen schweren Stand
von Bernard Schmid

Erinnerungspolitik: Zeigefinger in Richtung Türkei
Deutsche und französische Vergangenheitspolitiken zum Armeniengenozid
von Anna Laiß

Mexiko: Gute grüne Geschäfte
Projekte erneuerbarer Energien führen zu sozialen Konflikten
von Rosa Lehmann

Südafrika: Mit Vollgas in die Sackgasse?
Fracking bedeutet für Südafrika viele Risiken
von Sören Scholvin, David Fig und Stefan Andreasson

Rassismus: Zeitgemäß rückwärts gewandt
PEGIDAs Rassismus ohne »Rassen«
von Martin Bodenstein


KULTUR UND DEBATTE

Musik: »Sie nennen mich La Queen«
Sexismus und Feminismus in der HipHop-Familie Dakars
von Sarah Böger

Design I: Making Africa
Eine ambitionierte Ausstellung über afrikanisches Design
von Paul Sutter und Felix Hoerz

Design II: Schaut auf diese Städte
Die Architektur der Unabhängigkeit in afrikanischen Ländern
von Katja Behrens

Comic: »Laufen, rennen, klettern«
Graphic Novels aus Ägypten, dem Libanon und dem Iran
von Vanessa Guinan-Bank

Film: Stumm werden
Der kamerunische Spielfilm Ninah's Dowry über häusliche Gewalt
von Martina Backes

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Quelle:
iz3w Nr. 349 - Juli/August 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2015

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