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KAZ/136: Kämpfen in der Krise - welche Schwierigkeiten müssen dafür überwunden werden?


KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 328, September 2009 Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt euch!

Kämpfen in der Krise - welche Schwierigkeiten müssen dafür überwunden werden?


Wenn man mit Kolleginnen und Kollegen, mit Freunden und Bekannten oder am Infostand über die aktuelle Krise spricht und darüber, ob und wie wir uns gegen die Abwälzung der Krisenlasten wehren können, dann hört man oft Meinungen wie: "Die Franzosen machen das richtig - aber die Deutschen lassen sich alles gefallen, ohne sich zu wehren". Nicht wenige meinen auch: "Es geht uns noch nicht dreckig genug - wenn sich das mal ändert, dann kommt es zum großen Knall".

Der Glaube vieler Menschen, auch mancher Linker, die kapitalistische Krise treibe die Menschen zur Gegenwehr, vielleicht auch politisch nach links, wurde in den letzten Jahrzehnten schon mehrfach enttäuscht. Viele der Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger Jahre Politisierten erlebten dies in der Krise 1974/75, und für manche damals Enttäuschte war die Konsequenz dann ihr "Abschied vom Proletariat".

In jüngster Vergangenheit zeigte die letzte Tarifrunde der IG Metall wieder einmal, wie disziplinierend eine Wirtschaftskrise auf die Belegschaften wirkt. In der Forderungsdiskussion spielte noch die Frage eine Rolle, ob der viel beschworene "Aufschwung" auch "unten angekommen" wäre. Viele Kollegen stellten fest, mit Blick auf die Entwicklung der Realeinkommen und der Lohnquote in den Jahren des "Aufschwungs": auf den Lohnabrechnungen der Metaller war dieser nicht "angekommen". So wurde im Vorfeld der Tarifrunde ein "Nachholbedarf" festgestellt, und aus manchen Belegschaften kamen relativ hohe Tarifforderungen.

Im Verlauf der Tarifrunde kam es dann zum offenen Ausbruch der Krise, von den Medien als "Finanzkrise" dargestellt. Zunächst steckte der IG Metall-Vorstand den Kopf in den Sand: "Ich sehe derzeit keine Krise", so IG Metall-Vorsitzender Berthold Huber im "Spiegel" (13.10.2008). Doch weiter hieß es dann: "Solange die Finanzkrise nicht auf die Realwirtschaft durchschlägt, sehe ich keinen Grund, weshalb wir etwas ändern sollten". So wurde im Umkehrschluss schon das Einknicken der IG Metall ("etwas ändern") vorbereitet.

Aber auch kämpferische Kollegen und Genossen berichteten, dass sie im Betrieb schon den Streik vorbereiteten, dann aber plötzlich vor massiver Kurzarbeit standen. Die Beschäftigten diskutierten dann: wollen wir jetzt wirklich streiken, oder finanzieren wir damit nur die Kurzarbeit aus unserer Streikkasse? Solche Situationen trugen dazu bei, dass vom angekündigten "heißen Herbst" nicht mehr als ein laues Lüftchen übrig blieb und der dementsprechend schlechte Abschluss ohne viel Opposition in den Tarifkommissionen abgenickt wurde (vgl. Berichte zur Metall-Tarifrunde 2008 in der UZ, Oktober/November 2008).

In der Krise nach 1929 vertraten die rechten SPD- und Gewerkschaftsführer die These, in der Krise könne man nicht kämpfen. Ziel dieses Artikels kann es natürlich nicht sein, für diese sozialdemokratische These "marxistische" Argumente zu sammeln. Die Alternative zum Kämpfen in der Krise heißt in den meisten Fällen: kampflose Kapitulation. Diese aber wirkt wie ein schleichendes Gift, das die Kraft unserer Klasse langsam lähmt und zersetzt - wer seine "starken Arme" nie benutzt, bekommt Muskelschwund ...

Vielmehr geht es uns darum, sich der Schwierigkeiten bewusst zu werden, die diesen notwendigen Kämpfen entgegenwirken, um nach Wegen zu ihrer Überwindung zu suchen. "Schwierigkeiten sind ja doch dazu da, dass man gegen sie kämpft und sie überwindet."


1. Allgemeine Hindernisse

Diese Schwierigkeiten, welche hier und heute die Erkenntnis der Arbeitenden über ihre Klassenlage und ihre Organisierung zum Kampf behindern, umfassen drei Gruppen von Faktoren:

Erstens allgemeine Hindernisse: Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus, die in allen entwickelten kapitalistischen Ländern gelten und zu allen Zeiten, zumindest seit Beginn der imperialistischen Phase des Kapitalismus,
zweitens deutsche Besonderheiten, die mit der deutschen Geschichte zusammenhängen,
drittens Faktoren, die mit der Geschichte Westdeutschlands nach 1945 zu tun haben.

Diese Faktoren sollen hier dargestellt und daraufhin überprüft werden, wie sie sich jetzt in der aktuellen Krise auswirken. Im Anschluss werden Ansätze zur Überwindung dieser Hindernisse und die Aufgaben der Kommunisten diskutiert.

Beginnen wir mit einigen allgemeinen Faktoren, die zum Teil bereits von Marx, Engels und Lenin ausführlich dargestellt wurden:


1.1. Der "täuschende Schein" der ökonomischen Erscheinungen

"Wer seine Lage erkannt hat, wie sollte der aufzuhalten sein?", fragt Bertolt Brecht im "Lob der Dialektik". Hier, beim Erkennen der eigenen Lage, beginnen schon die Probleme.

Wir wissen aus der marxistischen Kritik der Politischen Ökonomie, dass die Arbeitenden nicht ihre Arbeit verkaufen, sondern ihre Arbeitskraft, dass diese Arbeitskraft in der Lage ist, mehr Wert zu schaffen, als sie kostet und dass dieser Mehrwert die Quelle aller Formen des kapitalistischen Profits darstellt, ob industrieller Profit, Handelsprofit oder Zins. Die hier stattfindende Ausbeutung (Aneignung unbezahlter Arbeit durch den Kapitalisten) wird aber verschleiert durch die Lohnform: der Lohn wird in der Regel nach geleisteter Arbeit gezahlt und richtet sich entweder nach der geleisteten Arbeitszeit (Zeitlohn) oder nach der gefertigten Menge (Stück- oder Leistungslohn). So erscheint der Lohn nicht als Preis der Arbeitskraft, dem die Reproduktionskosten der Arbeitskraft zugrunde liegen, sondern als Bezahlung für die gesamte geleistete Arbeit - einschließlich der vom Kapitalisten angeeigneten unbezahlten.

"Dieser täuschende Schein ist das unterscheidende Merkmal der Lohnarbeit gegenüber anderen historischen Formen der Arbeit. Auf Basis des Lohnsystems erscheint auch die unbezahlte Arbeit als bezahlt" (Marx, "Lohn, Preis und Profit"(1)) "Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und gerade sein Gegenteil zeigt, beruhen alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie" (Marx, Kapital Bd. 1,)(2).

Dieser "täuschende Schein" verschleiert auch die Quelle des Profits. Der Profit erscheint so als Belohnung für den vom Kapitalisten eingesetzten "Produktionsfaktor" Kapital, als "Frucht" des Kapitals, wie die Früchte eines Obstbaumes. Hier liegt eine Wurzel für die Vorstellungen von "Sozialpartnerschaft" und "vertrauensvoller Zusammenarbeit" statt Interessengegensatz und Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit, ebenfalls für verschleiernde Begriffe wie "Arbeitgeber" und "Arbeitnehmer".

Der Zins wiederum erscheint so entweder als Ergebnis davon, dass der Kapitalist "sein Geld arbeiten lässt", welches sich wie durch Zauberhand von selbst vermehrt - oder im Gegenteil als verwerfliches "arbeits- und müheloses Einkommen" im Gegensatz zum Ertrag des "produktiven", "schaffenden" Kapitals, was wiederum einen Anknüpfungspunkt bietet für alle möglichen Varianten kleinbürgerlicher oder auch völkisch-faschistischer "Kapitalismuskritik".

Dieser "täuschende Schein" ist eine Erkenntnisschranke, die auch den Kampf erschwert, und eine der Ursachen dafür, dass sich ein sozialistisches Bewusstsein über die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft, über ihre Bewegungsgesetze und die Notwendigkeit ihrer Ablösung durch den Sozialismus nicht "spontan" aus den Alltagserfahrungen der Arbeitenden bilden kann, sondern nur "auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht", wie Lenin in "Was tun" zustimmend Karl Kautsky zitiert.(3)

Auch in der Wahrnehmung von Wirtschaftskrisen gibt es diesen "täuschenden Schein": der Verlauf der Krisenerscheinungen (offener Ausbruch zunächst in der Finanzsphäre) erschwert die Erkenntnis der Krisenursachen in der "Realwirtschaft" (Überproduktion, Überakkumulation, tendenzieller Fall der Profitrate usw.) In der Wahrnehmung und Darstellung der aktuellen Krise als "Finanzkrise" wiederholt sich ein Mechanismus, den die Herausgeber der Lehrbriefe der "Marxistischen Arbeiterschulung" 1930 mit einem Engels-Zitat beschrieben haben: "Der Geldmarktsmensch sieht die Bewegung der Industrie und des Weltmarktes eben nur in der umkehrenden Widerspiegelung des Geld- und Effektenmarktes, und da wird für ihn die Wirkung zur Ursache" (Brief an Conrad Schmidt v. 27. Oktober 1890) (4).

Dies erleichtert den Herrschenden die Präsentation von Sündenböcken und Pseudolösungen, von "falsche Feinden", "falschen Fronten" und "falschen Freunden": die "Gier" oder auch "Managementfehler" als Krisenursache, "Zocker" "Heuschrecken" und "Spekulanten" (am liebsten von der "Wallstreet" oder aus dem übrigen "Ausland" - wer denkt hier nicht an das "raffende Kapital" der Nazipropaganda?) als Verursacher, "Wirtschaftsethik" und "bessere Regulierung der Finanzmärkte" als Lösungen, "ehrbare Kaufleute" und "bodenständige Familienunternehmen" als Gegenmodell, und "Vater Staat" (der deutsche Staat!) soll's richten ...


1.2. Konkurrenz der Arbeitenden untereinander

Trotz dieser Erkenntnisschranken können Marx und Engels 1848 im "Manifest der Kommunistischen Partei" berichten, wie sich aus den Alltagserfahrungen und Tageskämpfen der Arbeitenden spontan zwar kein sozialistisches, aber zumindest ein gewerkschaftliches (Lenin: "trade-unionistisches"(5)) Bewusstsein herausbildet: "Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeoisie zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren", also erste Formen von Gewerkschaften und Streikkassen. Doch wenige Sätze später müssen Marx und Engels auch feststellen: "Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst"(6).

Diese Konkurrenz ist eine Folge der Lage der Arbeitenden im Kapitalismus als "doppelt freie Lohnarbeiter" (Marx): einerseits juristisch frei, so dass sie (anders als Leibeigene oder Sklaven) über ihre Arbeitskraft "frei" verfügen und sie deshalb verkaufen können, und andererseits frei von Produktionsmitteln, so dass sie keine andere Existenzquelle haben und ihre Arbeitskraft deshalb verkaufen müssen. Bei diesem Verkauf ihrer Arbeitskraft stehen sie in Konkurrenz zueinander.

Diese Konkurrenz wirkt nicht nur zwischen den Arbeitenden als Einzelpersonen, sondern auch zwischen ganzen Betriebsbelegschaften. So konkurrieren in den Automobilkonzernen verschiedene Standorte um die Vergabe bestimmter Produktionsaufträge. Diese "Standortkonkurrenz" war in den letzten 20 Jahren immer wieder ein wichtiger Faktor, um Solidarität zu untergraben und Zugeständnisse der Belegschaften ("Standortsicherungsvereinbarungen") zu erpressen.

Eine Fortsetzung auf sozusagen "höherer" Ebene findet diese Konkurrenz noch zwischen den Arbeiterklassen verschiedener Länder und Nationen. Dies bildet einen Anknüpfungspunkt für nationalistische Orientierungen. Die Stärkung des "Standort Deutschland" auf dem Weltmarkt wird eben nicht nur ideologisch von der Bourgeoisie propagiert, sondern diese Propaganda findet eine reale materielle Basis in der Lebenssituation der Arbeitenden, in ihrer realen Konkurrenz untereinander. Denn: "Solange der Lohnarbeiter Lohnarbeiter ist, hängt sein Los vom Kapital ab. Das ist die vielgerühmte Gemeinsamkeit des Interesses von Arbeiter und Kapitalist" (Marx, "Lohnarbeit und Kapital")(7).

Jede Krise verschärft diese Konkurrenz auf allen Ebenen. Dadurch werden Teilkämpfe, betriebliche Kämpfe oder Kämpfe auf Branchenebene, z.B. in Tarifrunden, tatsächlich sehr viel schwerer als in Zeiten eines "Aufschwungs". Auf der anderen Seite sind in der Krise viel mehr Leute in der einen oder anderen Weise von den Angriffen des Kapitals betroffen. Die Frage ist nur: wie werden die zusammengebracht, wie wird das organisiert? Gerade in der Krise ist das Problem: wie kommen wir von zersplitterten Teilkämpfen zu Kämpfen Klasse gegen Klasse?


1.3. "Hauptsache Arbeit"

Der Sozialdemokrat Wilhelm Högner, nach 1945 erster bayrischer Ministerpräsident, beschreibt in seinen Erinnerungen an das Ende der Weimarer Republik die Auswirkungen der Krise ab 1929 auf die Stimmung unter den organisierten Arbeitern: "Unter der zermürbenden Auswirkung der Weltwirtschaftskrise war ihnen der Glaube an den revolutionären Schwung des Proletariats, wie er beim Kapp-Putsch aufgeflammt war, verloren gegangen. Im täglichen Kampf gegen Lohnherabsetzungen, um Einzelheiten der Tarifverträge und des Arbeitsrechts waren sie gewöhnt, nur das Nächstliegende und jede Möglichkeit eines Ausgleichs widerstrebender Interessen zu sehen. Das erzog nicht zur Zusammenschau der politischen Vorgänge, nicht zur geistigen Erfüllung dessen, was entwicklungsgemäß kommen musste." (Wilhelm Hoegner, Die verratene Republik, Neuausgabe München 1979, S. 374, zitiert in KAZ 313, S. 36)

Zum gleichen Thema, der "Umstellung im Denken der Arbeiterschaft" als Folge der damaligen Krise, zitiert Kurt Pätzold, Faschismusforscher aus der DDR, in der "jungen Welt" vom 20.03.2009 aus dem Bericht eines sozialdemokratischen Arbeiters, geschrieben 1935 an die Leitung seiner Partei im Exil in der Tschechoslowakei: "Vor der Krise interessierte den Arbeiter am Arbeitsverhältnis in erster Linie der Lohn. Im Verlaufe der Krise aber änderte sich das allmählich. Immer weitere Schichten der Arbeitslosen und von Betriebsarbeitern wurden von der Vorstellung erfasst, dass das Wichtigste sei, überhaupt Arbeit zu haben. Das Interesse an den hohen Löhnen und guten Arbeitsbedingungen wurde von der Sorge um den Arbeitsplatz zurückgedrängt. Die Nationalsozialisten haben sich diese Umstellung im Denken der Arbeiterschaft zunutze gemacht. Sie ermöglichte ihnen, ebenso eine Arbeitsbeschaffung zu Hungerlöhnen wie die Herabdrückung der Nominal- und noch mehr der Reallöhne."

Egal ob Panzerbau oder Hungerlöhne: "Hauptsache Arbeit". Auch heute bietet die Krise verstärkte Anknüpfungspunkte für Losungen wie: "Sozial ist, was Arbeit schafft". Und auch heute kann man in manchen kriselnden Betrieben erleben, dass mit zunehmender Vertiefung einer betrieblichen Krisensituation sich der Blick der betroffenen Kollegen auf die Gesellschaft, die "Zusammenschau der politischen Vorgänge", eben nicht automatisch ausweitet, sondern sich im Gegenteil verengt, jedenfalls bei der Masse der Beschäftigten.

Anders sieht das aus bei den aktiven Kernen, den relativ kleinen Minderheiten, die Gegenwehr mit organisieren, die Verantwortung für die Organisierung von Kämpfen übernommen haben und dadurch oft auf Fragen gestoßen werden, die sie sich in ihrem bisherigen Leben nicht gestellt haben. Viele Berichte und Erfahrungen belegen, dass die Erfahrung der aktiven Beteiligung an Kämpfen den Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge erheblich ausweitet. Das gilt aber nicht für die reine Krisenerfahrung, solange die Krise nur erlitten und erduldet wird.


1.4. Soziale Differenzierung der Arbeiterklasse

"Bekanntlich gingen Marx und Engels im 'Kommunistischen Manifest' davon aus, es werde zu einer Vereinheitlichung der Arbeiterklasse kommen und dies werde ihrer Organisierung und ihrem Kampf nützlich sein. Aber diese Voraussage hat sich nicht erfüllt. Die sozialökonomische Entwicklung des Kapitalismus hat das Gegenteil bewirkt, eine ständig sich vertiefende und vergrößernde Differenzierung der Arbeiterklasse, die dann auch noch durch die Taktik des Imperialismus (Teile und herrsche) verstärkt werden konnte (Ausnutzung der Differenzierung der Arbeitslöhne, der Arbeitsbedingungen usw.)", so Robert Steigerwald über "Gründe für die Zurückdrängung von Klassenbewusstsein in der Arbeiterklasse" (8)

Ein Element davon ist die Spaltung zwischen Betriebsarbeitern und Erwerbslosen. Engels beschreibt als Folge der kapitalistischen Rationalisierung, "dass die Überarbeitung der einen die Voraussetzung wird für die Beschäftigungslosigkeit der andern [...]", sowie die "Überflüssigmachung von Menschenarbeit [...], Erzeugung einer das durchschnittliche Beschäftigungsbedürfnis des Kapitals überschreitenden Anzahl disponibler Lohnarbeiter, einer vollständigen industriellen Reservearmee" und deren Wirkung als "Bleigewicht an den Füßen der Arbeiterklasse in ihrem Existenzkampf mit dem Kapital"(9).

Neben dieser "industriellen Reservearmee" der mehr oder weniger dauerhaft Erwerbslosen und aus dem Produktionsprozess Ausgegrenzten steht (mit fließenden Übergängen) noch eine "Unterschicht" der Arbeiterklasse, welche ständig zwischen Erwerbslosigkeit und mehr oder weniger prekären Situationen von Betriebsarbeit, wie Befristung, Leiharbeit oder "Praktikum", hin und her pendelt. Dies wird nicht nur, aber auch in Deutschland seit Jahren zunehmend zur Grunderfahrung vor allem der jungen Generation der Arbeiterklasse - auch eine Situation, aus der heraus es nicht gerade leicht ist, Kämpfe zu führen ...

Ein anderes, sozusagen entgegengesetztes Element von Differenzierung "nach oben" wurde zunächst von Engels beschrieben vor allem für England, später von Lenin verallgemeinert für alle imperialistischen Länder: nämlich dass in den imperialistischen Ländern, die den Weltmarkt beherrschen, ein Extraprofit möglich wird und "dass man aus solchem gigantischen Extraprofit [...] die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiteraristokratie bestechen kann. Sie wird denn auch von den Kapitalisten der 'fortgeschrittenen' Länder bestochen - durch tausenderlei Methoden, direkte und indirekte, offene und versteckte." (Lenin, "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" (Vorwort))(10). Diese Taktik des Imperialismus, einer Oberschicht der Arbeiterklasse materielle Zugeständnisse zu machen und ihre Lebenslage so zu stellen, dass sie sich mit dem System versöhnen und zur "sozialen Hauptstütze" dieses Systems werden, und darüber hinaus die "Arbeiterbürokratie", die Führer der Arbeiterorganisationen, der Gewerkschaften und der (sozialdemokratischen/reformistischen) Arbeiterparteien, materiell in dieses System einzubinden, hat bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren - erinnert sei nur an die "Kollegen" Riester und Volkert ...

Diese soziale Differenzierung der Arbeiterklasse drückt sich in der aktuellen Krise so aus, dass bislang verschiedene Abteilungen der Klasse unterschiedlich betroffen sind von der Krise. Diese differenzierte Krisenbetroffenheit erschwert einen gemeinsamen Kampf.

Die ersten Krisenopfer waren in vielen Betrieben die Leiharbeiter, die erst aus dem Entleihbetrieb geflogen sind und in der Folge oft auch vom Verleihbetrieb entlassen wurden. Als Reaktion darauf haben ehemalige Leiharbeiter von Volkswagen in Hannover sich vor das Werkstor von VW gesetzt und einen Hungerstreik durchgeführt für die Forderung, zumindest Kurzarbeit bei VW machen zu dürfen. Man kann nicht sagen, dass das von den Beschäftigten der Stammbelegschaft, von ihrer Organisation IG Metall und ihrer Interessenvertretung Betriebsrat massiv unterstützt worden wäre.

Zu den ersten Krisenopfern gehörten in der Autoindustrie auch die Beschäftigten von Auftragsfertigern wie Karmann in Osnabrück und Rheine, die schon vor dem offenen Ausbruch der Überproduktionskrise in der Autoindustrie von massiven Auftragsrückgängen betroffen waren. Angesichts massiver Überkapazitäten in der Branche haben Autokonzerne wie Volkswagen und Daimler als bisherige Auftraggeber zunächst einmal die "eigenen" Kapazitäten ausgelastet, bevor sie Produktionsaufträge an Auftragsfertiger vergeben.

Inzwischen sind die Fahrzeugbauabteilungen der beiden Karmann-Betriebe geschlossen. Gleichzeitig werden in den VW-Standorten Überstunden gemacht, weil VW einer der Gewinner der aktuellen Krise ist. Da ist es nicht so einfach, eine gemeinsamen Front in der gesamten Branche zu bilden. So gab es in der Region Osnabrück seit Ende 2007 eine Reihe von Aktionen unter der Losung "Arbeit für Karmann". Von Vertrauensleuten, Betriebsräten und Beschäftigten aus verschiedenen VW-Standorten kamen auch Solidaritätsbekundungen bis hin zur Teilnahme an regionalen Demonstrationen in Osnabrück und Rheine. Aber es ist klar, dass eine Forderung "Arbeit für Karmann" nicht durchsetzbar ist in der Form, dass diese Arbeit aus einem anderen Automobilstandort abgezogen wird. Warum sollte ein VW-Arbeiter in Wolfsburg oder Emden oder ein Daimler-Arbeiter in Bremen oder Sindelfingen dies unterstützen? Eine Antwort darauf könnte nur in einem gemeinsamen Kampf um die Erhaltung aller Arbeitsplätze in der Autoindustrie liegen, z.B. durch Arbeitszeitverkürzung.


2. "Deutscher Sonderweg", "deutsche Misere" und deutsche Arbeiterbewegung

"Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes [...] gibt es in anderen Ländern auch und trotzdem kommt es zu Massenaktionen von großen Teilen oder der ganzen Arbeiterklasse. Dass dies in diesem Lande [...] den Arbeitern wesentlich schwerer fällt, dafür gibt es Gründe, die in der nicht gerade 'ruhmreichen' Entwicklungsgeschichte der Deutschen, des deutschen Volkes liegen", so die Arbeitsgruppe "Stellung des Arbeiters in der Gesellschaft heute" in der KAZ 313, S. 24.

Robert Steigerwald kommt in dem oben zitierten Aufsatz zu ähnlichen Schlussfolgerungen: "In der deutschen Geschichte gab es verschiedene Anläufe zur Revolution, doch hat keiner zum Erfolg geführt. Man kann dies aus verschiedenen Gründen herleiten, das Wesen wird dadurch nicht beeinflusst: Es hat sich das herausgebildet, was Marx und Engels die 'Deutsche Misere' genannt haben: die Verspießerung des Nationalcharakters, nicht nur die des deutschen Bürgertums, das, schwach, feige - man war zufrieden mit dem 'Die Gedanken (!) sind frei'! - aus Angst vor revolutionären Kräften im Volk stets bereit war, mit den Mächtigen gegen das Volk zusammen zugehen, eine Verhaltensweise, die dann nicht mehr nur durch die bourgeoisen Kräfte, sondern eben auch durch die Führung der deutschen Sozialdemokratie praktiziert wurde und wird."(11)

Die Arbeitsgruppe "Stellung des Arbeiters in der Gesellschaft heute" beschäftigte sich in der KAZ 313 und 315 intensiv mit dieser "deutschen Misere", mit ihren Auswirkungen auf die deutsche Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung und mit den daraus folgenden Unterschieden zur Arbeiterbewegung anderer kapitalistischer und imperialistischer Länder.


2.1. "Preußische Tugenden"

"Dabei geht es um u. a. Jahrhunderte lang anerzogene Denk- und Verhaltensweisen, die von den Herrschenden gerne als so genannte 'preußische Tugenden' bezeichnet, gelobt und durch entsprechende 'Menschendressur' eingeimpft wurden und werden [...] Eigenschaften des feigen deutschen und antidemokratischen Bürgertums, des Untertanengeistes des deutschen Spießbürgers [...] Offensichtlich hat eine große Masse der deutschen Arbeiter bei ihrer Entwicklung und Organisierung zur Klasse nicht verhindern können, dass solche Eigenschaften auf sie abgefärbt sind."

In KAZ 313 (S. 24/25) werden drei dieser "preußischen Tugenden" hervorgehoben - zunächst einmal eine weit verbreitete Staats- und Obrigkeitshörigkeit: "Was in der Praxis heißt, immer warten auf den Befehl von 'oben'. Ohne ihn oder dagegen geht nichts. Z.B. ohne Streikaufruf der Gewerkschaftsführung kein Streik! Ohne den Betriebsratsvorsitzenden, ohne oder gegen die Meinung des Betriebsrates kann die Belegschaft nichts machen. 'Tugenden' wie 'Gehorsam ist die erste Bürgerpflicht', 'Ordnung muss sein', 'Wohlverhalten' bis zum 'geht nicht mehr' spielen hierbei ebenso eine große Rolle. [...] Die Grenze zur Unterwürfigkeit, zum Untertanengeist bis zum stramm stehen vor der Gewerkschaftsbürokratie, den 'Hauptamtlichen' oder beim Anblick eines Polizisten, einer Uniform oder vor Beamten und Angestellten auf Ämtern, ist hierbei fließend."

Diese Staatshörigkeit erscheint zweitens als sehr ausgeprägter Legalismus, als Gesetzesgläubigkeit: "Auch beim Kampf um Lohn oder gegen Entlassungen, gegen den Existenzverlust hunderter Arbeiterinnen und Arbeiter muss die Straßenverkehrsordnung eingehalten, die Straße für den 'freien Bürger', den Autofahrer frei gehalten werden. Demonstrationen oder Kundgebungen ohne Aufforderung, das Betreten der Straße ohne behördliche Genehmigung sind nicht möglich. Dafür gibt es den 'Bürgersteig'. Bevor etwas gemacht werden kann, muss abgesichert sein, dass es auch 'legal' ist und nicht gegen die allgemein gültige 'Ordnung' verstößt."

Dazu gehört auch, dass viele Arbeitende, wenn sie von der Notwendigkeit reden, zu "kämpfen", damit nicht streiken meinen, sondern klagen: "Ich nehme mir jetzt einen Rechtsanwalt". Besonders im Zusammenhang mit Entlassungen, auch Massenentlassungen und Sozialplänen, ist das häufig zu beobachten.

Der dritte Punkt ist Versicherungsdenken, der Gedanke, gegen alle Risiken "versichert" sein zu müssen, z.B. bei Streiks als erste Frage: "Wer bezahlt mir den Lohnausfall, wenn ich dabei mit mache?" und als zweite "Bin ich denn dabei versichert, und wie?". An einer Wahrnehmung der Gewerkschaften als "Versicherung gegen alle Wechselfälle des Arbeitslebens" sind allerdings auch die deutschen Gewerkschaften selbst mit ihrer Politik und Selbstdarstellung ("Dienstleistungs-" statt Kampforganisation) nicht ganz unschuldig ...

Wohin haben unsere "deutschen" Eigenschaften die deutsche Arbeiterbewegung geführt, als sie vor ihrer bisher schwersten Bewährungsprobe stand, angesichts der Machtübertragung an Hitler und seine Faschisten am 30. Januar 1933? Dazu erhält in der KAZ 313 als "Kronzeuge" ein Sozialdemokrat das Wort: Wilhelm Högner, nach 1945 erster bayrischer Ministerpräsident. Dieser schrieb eine Analyse, die neben einer starken Überschätzung seiner eigener Partei sehr viele bittere Wahrheiten enthält: "Jetzt rächte sich an der deutschen Arbeiterschaft, dass man entgegen den Warnungen Bebels die freien Gewerkschaften der Sozialdemokratischen Partei neben- und nicht untergeordnet hatte. Im entscheidenden Augenblick stand sich der verschiedene Geist, der in ihnen herrschte, unvereinbar gegenüber. Der Geist der Gewerkschaften, der Vorsicht, Verantwortungsbewusstsein, Zähigkeit, aber auch eine begreifliche Scheu vor großen Entscheidungen erfordert, und der Geist der Politik, der im richtigen Augenblick oft kühne Entschlüsse und gefährlichen Wagemut verlangt. Am 30. Januar 1933 siegte der Geist der Gewerkschaften über den Geist der politischen Partei. Die letzte Stunde, die der deutschen Sozialdemokratie noch einmal gegeben war, entweder das Schicksal zu wenden oder ehrenvoll unterzugehen, blieb ungenutzt. Vergebens warteten die Millionen draußen im Lande auf den Angriffsbefehl. Er blieb aus; den Deutschen aber liegt es nicht, etwas ohne Befehl der Führung, aus eigenem Entschluss zu tun. So scharten sich noch Millionen stumm und treu um die rote Fahne des Proletariats. Aber die Massen hatte eine große Lähmung befallen. Wie sie immer wieder in der deutschen Geschichte von den Schlachten aus der Römerzeit bis zum Bauernkrieg und zur Sendlinger Mordweihnacht überliefert ist. Die Haufen, die früher einer Welt von Feinden getrotzt hatten, ließen sich im Zustand der Lähmung willenlos, ohne Gegenwehr niederhauen. Wiederum, wie in der Zeit des Sozialistengesetztes sollte sich zeigen, dass die Größe des einfachen Volkes in Deutschland nicht im Handeln, sondern im Leiden und Dulden liegt." (Wilhelm Hoegner, Die verratene Republik, Neuausgabe München 1979, S. 374)


2.2. "Gegen eine gewählte Regierung streiken wir nicht"

In KAZ 315 geht es um eine Besonderheit der deutschen Sozialdemokratie, um das Tabu des "Politischen Streiks": "Im Unterschied zu den in anderen Ländern ebenfalls existierenden Sozialdemokratischen Parteien gehört die Ablehnung, ja, die Bekämpfung des politischen Massen- oder auch Generalstreiks zu einer wesentlichen Besonderheit der deutschen Sozialdemokratie. Was z. B. in Ländern wie Belgien, Frankreich, Italien, Griechenland und vielen anderen als selbstverständliches Kampfmittel der Arbeiterklasse gegen Übergriffe von Kapital und Regierung eingesetzt wird, scheint trotz der in der Geschichte und der aktuellen Situation von großen Teilen der Arbeiterklasse gezeigten Kampfbereitschaft in der BRD nicht durchsetzbar zu sein. Die sich darin offenbarende Streikfeindlichkeit der Gewerkschaftsführer [...] bemüht sich nicht nur, die Kämpfe der Arbeiter auf dem Boden des Kapitalismus zu belassen. Sondern sie will diese Kämpfe selbst verhindern und das normale bürgerliche Recht der Arbeiter auf Streik preisgeben." (KAZ 315, S. 29)

Diese Haltung lässt sich zurückverfolgen bis zur "Massenstreikdebatte" in der deutschen Sozialdemokratie Anfang des 20. Jahrhunderts. Damals schon haben vor allem die Mehrheit der sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer in Deutschland "alle Versuche, durch die Propagierung des politischen Massenstreiks eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen, für verwerflich"(12) und Generalstreik schlicht zum "Generalunsinn" erklärt.

Verfestigt hat sich das dann in der Bundesrepublik in Verbindung mit der Rechtsprechung der fünfziger Jahre, welche "politische Streiks" für "verboten" erklärte. Diese Rechtsprechung, oft von Arbeitsrichtern, die vorher den Nazis dienten, prägen bis heute nicht nur die "herrschende Rechtsauffassung" bundesdeutscher Arbeitsgerichte, sondern auch die mehrheitliche Streikauffassung bundesdeutscher Gewerkschaftsführer. So erklärte 1996 Walter Riester (damals noch nicht sozialdemokratischer Arbeitsminister und Rentenklauer, sondern Stellvertretender Vorsitzender der IG Metall), dass die IGM nicht "gegen eine demokratisch vom Volk gewählte Regierung streikt".

Näheres dazu kann man ausführlich nachlesen in der KAZ 315. Es bleibt festzuhalten, dass sich in diesem Punkt Sozialdemokratie und Gewerkschaften in Deutschland eben nicht nur von kommunistischen, revolutionären oder linken Kräften, sondern auch von den gesamten Arbeiterbewegungen vieler Nachbarländer unterscheiden. Dies macht uns immer dann besonders wehrlos, wenn Angriffe auf die Arbeitenden nicht nur von den Unternehmern und ihren Verbänden, sondern durch staatliche Gesetze vorangetrieben werden.

Ein Beispiel dafür sind die Sozialabbaumaßnahmen im Rentenbereich, die erstens zu wachsender Altersarmut führen, zweitens die Lebensarbeitszeit real verlängern, drittens die sozialen Folgen von Massenentlassungen ohne die klassischen Möglichkeiten "sozialverträglichen Personalabbaus" ("Vorruhestand" usw.) erheblich brutaler ausfallen lassen und viertens jüngeren Beschäftigten den Einstieg ins Berufsleben noch schwerer machen. Anders als in anderen europäischen Ländern, wo gerade Angriffe auf die Renten immer wieder Anlass zu Generalstreiks waren, hat die große Mehrheit der deutschen Gewerkschaften all diese gesetzlichen Verschlechterung bei den Renten kampflos hingenommen, getreu dem Motto: "gegen eine gewählte Regierung streiken wir nicht!"

Diese Tradition, die Tabuisierung des politischen Massenstreiks oder Generalstreiks, macht es in Deutschland besonders schwer, von Teilkämpfen zum Kampf Klasse gegen Klasse zu kommen. Gerade das ist aber in der Krise besonders notwendig - andernfalls besteht die große Gefahr, dass eine Reihe von kampflosen Kapitulationen auf der einen Seite und von Niederlagen in mutigen, aber isoliert bleibenden Teilkämpfen auf der anderen Seite die noch vorhandene Kampfkraft der Klasse zunehmend zersetzt und die Arbeitenden demoralisiert.


2.3. Wer bestimmt in den Gewerkschaften?

Mit der "preußisch-deutschen" Obrigkeitshörigkeit auch in der Arbeiterbewegung und mit der besonderen Streikfeindlichkeit in Deutschland ist eine weitere Besonderheit der deutschen Arbeiterbewegung verbunden: der besonders hohe Grad an Verkümmerung der Arbeiterdemokratie in den Gewerkschaften, die sogenannte "Stellvertreterpolitik". Walter Ulbricht schrieb dazu 1928: "Das Bestimmungsrecht der Gewerkschaftsmitglieder wird bei der Einleitung, Durchführung und Beendigung von Arbeiterkämpfen immer mehr ausgeschaltet"(13).

Wer bestimmt, wann in einem Konflikt der offene Kampf aufgenommen wird, wer bestimmt, wie er durchgeführt wird und wer bestimmt, wann er wieder beendet wird? Diese Frage ist die zentrale Frage gewerkschaftlicher Demokratie im Alltag. Der weitgehende Ausschluss der Mitglieder aus diesen Entscheidungen hat noch mal besonderen Vorschub durch die westdeutsche Nachkriegsentwicklung bekommen (s. u.). Die Konsequenzen sind weitreichend: je mehr die Mitglieder von diesen grundlegenden Entscheidungen ausgeschlossen sind, je mehr sie vor allem als "Statisten" bei Streiks und Kundgebungen und als "Manövriermasse" eingesetzt werden, je weniger sie selbst die Verantwortung für ihre Kämpfe übernehmen können und auch müssen, desto weniger können sie in und aus diesen Kämpfen lernen, politische Erfahrungen machen und (zumindest gewerkschaftliches) Bewusstsein herausbilden.


3. Besonderheiten der westdeutschen Nachkriegsentwicklung

Diese deutschen Besonderheiten haben in der Geschichte der Bundesrepublik nach 1945 noch einmal eine spezielle Ausprägung bekommen.


3.1. "Sozialstaat" gegen Sozialismus

Vor allem war die BRD seit ihrer Grün dung "Frontstaat" im "Kalten Krieg" gegen die Staaten des realen Sozialismus. Und so wie schon Bismarck seinen Kampf gegen die revolutionäre Sozialdemokratie mit "Zuckerbrot und Peitsche" führte (einerseits Sozialistengesetze gegen die SPD, andererseits Sozialversicherungen für die Arbeitermassen), so wurde auch Westdeutschland mit diesen beiden Mitteln zum "Bollwerk gegen den Kommunismus" ausgebaut.

Dies hatte einerseits eine besonders reaktionäre Ausprägung der bürgerlichen Demokratie in dieser Bonner Republik zu Folge: Weiterverwendung alter Nazis im staatlichen Gewaltapparat (Justiz, Polizei, Militär, Geheimdienste), Antikommunismus als Staatsdoktrin, Verbot der Kommunistischen Partei (als einziger "westlicher" Staat neben den faschistischen Diktaturen Portugal und Spanien), besonders eingeschränktes Streikrecht (s.o.) usw.

Auf der anderen Seite erfüllte auch der "Sozialstaat" eine Funktion als Waffe im "Kalten Krieg", und dies in zwei Richtungen. Nach außen war dieser "Sozialstaat" BRD ein "Schaufenster" des "freien" Westens für die Menschen im "totalitären" Osten, sowohl ideologisch als Beweis, wie "sozial" der Kapitalismus ("Demokratie" und "Marktwirtschaft") funktionieren kann, als auch materiell zur ökonomischen Schädigung des Sozialismus durch die Abwerbung von Fachkräften, vor allem aus der DDR.

Nach innen ging es dabei um die politische Integration der westdeutschen Arbeiterklasse, bei gleichzeitiger Verfolgung ihrer revolutionären Minderheit durch das KPD-Verbot. Direkt nach 1945 gab es noch eine Massenstimmung unter der Bevölkerung, dass die Monopolherren als Verantwortliche für Nazi-Regime, Weltkrieg und Nachkriegsnot zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Dieser Stimmung trugen damals die Programme aller großen Parteien (außer der FDP) Rechnung - so sprach die Schumacher-SPD von "Sozialismus als Tagesaufgabe", und die CDU formulierte 1947 in ihrem "Ahlener Programm": "Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen."(14) Diese Stimmung zeigte sich auch in den Volksabstimmungen über die Enteignung der Kriegsverbrecher, z.B. stimmte in Hessen eine ebenso große Mehrheit dafür wie in Sachsen.

Vor diesem Hintergrund hat das westdeutsche Kapital relativ weitgehende soziale und materielle Zugeständnisse an die Arbeiterschaft gemacht. Die gab es zwar auch nicht einfach kampflos geschenkt - gerade in den 50er Jahren führten die Gewerkschaften einige große, wichtige Kämpfe, wie den Bayernstreik der IG Metall 1954 oder den großen, 16 Wochen langen Streik der Metaller in Schleswig-Holstein 1956/57 für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter.

Aber bei all diesen Auseinandersetzungen hat die Situation der BRD an der Nahtstelle der Systeme, ihre Funktion als "Schaufenster" gegenüber der DDR und den anderen sozialistischen Ländern eine Rolle gespielt, war ein Faktor neben anderen im Kräfteverhältnis der Klassen - im Unterschied zu England, Frankreich, Italien oder anderen westlichen Ländern. So konnten die westdeutschen Arbeiter ein vergleichsweise hohes Niveau materieller Zugeständnisse und sozialer Errungenschaften erreichen und mussten dafür im Verhältnis deutlich weniger Kampfkraft aufwenden als die Arbeiter in vielen anderen kapitalistischen Staaten. Dementsprechend haben sie seit Jahrzehnten auch deutlich weniger Kampferfahrung gesammelt als ihre Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern. Zwar gab es zwei Wellen selbständiger Streiks Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre, zwar gab es vor allem seit den 70ern auch wieder eine Reihe großer gewerkschaftlicher Streiks, z.B. 1984 für die 35-Stunden-Woche - dennoch war die BRD in ihrer gesamten Geschichte immer eins der streikärmeren Länder in Europa.


3.2. Vom "Normalarbeitsverhältnis" zur "Wiederkehr der Proletarität"

Ein Element des "Sozialstaates" ist das sogenannte "Normalarbeitsverhältnis". Sozialwissenschaftler definieren dies als eine Vollzeittätigkeit, die "außerhalb des eigenen Haushalts für einen einzigen 'Arbeitgeber' ohne zeitliche Befristung ausgeübt wird", deren Arbeitszeit sich "gleichmäßig auf die Werktage verteilt" und die mit "Anspruch auf die Vertretung durch Betriebs- oder Personalrat und auf vollen gesetzlichen Kündigungsschutz" verbunden ist Sozialversicherungsschutz, Tarifleistungen und betriebliche Vergünstigungen "werden nur Inhaber/innen von 'Normalarbeitsverhältnissen' im vollen Umfang gewährt"(15).

In solchen "Normalarbeitsverhältnissen" befanden sich jahrzehntelang relativ große Teile der Beschäftigten, vor allem der männlichen Beschäftigten, in den "Stammbelegschaften" der Groß- und Konzernbetriebe, nicht nur in Westdeutschland, auch in anderen entwickelten kapitalistischen Ländern. Deren Alltagserfahrung war lange durch eine relative Sicherheit geprägt - ein verhältnismäßig neues Phänomen für kapitalistische Gesellschaften, ist doch grundsätzlich die "Unsicherheit der Lebensstellung" (Friedrich Engels)(16) ein prägendes Merkmal der proletarischen Lebenssituation. Diese "Unsicherheit der Lebensstellung" schien über mehrere Jahrzehnte für die Kernschichten der westdeutschen Arbeiterklasse überwunden, wurde aus ihrer Alltagserfahrung verdrängt.

Dies aber ändert sich mittlerweile zunehmend, in einem zweistufigen Prozess. Zunächst einmal erleben wir seit langem eine Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse, begünstigt durch gesetzliche Maßnahmen (von Befristungen ohne "sachlichen Grund" in Blüms "Beschäftigungsförderungsgesetz" 1985 bis zur Entfesselung der Leiharbeit in Schröders "Hartz-Gesetzen"). Dieser Prozess wirkt in doppelter Hinsicht disziplinierend: "Während die prekär Beschäftigten getrieben sind, endlich den Anschluss an die 'Zone der Integration' zu finden [...], gilt ihre bloße - wenn auch nur kurzfristige - Anwesenheit in den Betrieben oder Büros den 'Integrierten' als ständige Einschüchterung [...]"(17)

In der aktuellen Krise erleben aber auch viele Beschäftigte aus "Stammbeiegschaften" für sich die Wiederkehr der "Unsicherheit der Lebensstellung". Diese neue Erfahrung, (fast) genau so unsicher und "prekär" beschäftigt zu sein, wie man es bisher nur für Befristete oder Leiharbeiter wahrgenommen hat, lässt in den Köpfen vieler bisher vermeintlich "fest beschäftigter" Arbeiter Welten zusammenbrechen. Diese neue Erfahrung verursacht Angst und erhebliche Orientierungsschwierigkeiten, so dass sich die Betroffenen zunächst einmal überhaupt nicht mehr zurechtfinden. Sie erleben dies in Form "einer permanenten Einschränkung oder zumindest Gefährdung der personalen Handlungsfähigkeit: Mit der Bedrohung, den Arbeitsplatz oder die Arbeitsplatzsicherheit zu verlieren, geht die Gefahr des Verlusts einer realistischen Kalkulationsgrundlage für die eigenen Zukunftsplanungen einher."(18)

Damit aber brechen für sie auch (vermeintliche, relative) Sicherheiten zusammen, aus denen heraus sie bisher, also vor der Krise, ihre Kämpfe geführt haben. Statt dessen wächst bei ihnen zunächst die Selbsteinschätzung, dass sie "unfähig sind, in einer sich immer rascher wandelnden Welt Einfluss auf ihre Zukunft zu nehmen."(19) Unter diesen Bedingungen muss man wohl damit rechnen, dass es eine gewisse Zeit dauern wird, bevor es aus dieser Lähmungssituation heraus wieder verstärkt zu Kämpfen und zu Gegenwehr kommen wird. Wie lange das sein wird, kann heute niemand sagen - sicher ist nur, dass den Beschäftigten gar nichts anderes übrig bleiben wird. Die Frage ist nur: in welchem Zustand werden dann, wenn es so weit ist, die Organisationen der Arbeiterbewegung sein?


3.3. "Mitbestimmung" statt betrieblicher Kämpfe

Die beiden Seiten "Zuckerbrot und Peitsche", Integration und Repression, prägen auch die Austragung betrieblicher Konflikte im Rahmen der sogenannten "Mitbestimmung" der Betriebsräte. Natürlich wollen wir nicht, dass der Unternehmer alleine bestimmt, natürlich verteidigen wir jede Einschränkung seiner Alleinherrschaft, auch durch die "Beteiligungsrechte" im Betriebsverfassungsgesetz. Aber wir sehen auch, auf welche besondere Art und Weise in Deutschland betriebliche Konflikte in den meisten Fällen ausgetragen werden.

Hier lohnt sich ein Vergleich mit anderen Ländern. Ludwig Jost zitiert in der KAZ 313 (S. 39) aus einem Seminar mit französischen Kolleginnen und Kollegen von der Gewerkschaft CFDT deren Berichte, "wie sie dort ihre Probleme und Konflikte lösen. Hierbei hieß es, einen Betriebsrat wie in der BRD gibt es nicht. Die Ziele und Forderungen werden im Betrieb von der Belegschaft diskutiert und danach wird beschlossen, wie vorzugehen ist. Dann wird eine Kommission gewählt, die dem Kapitalisten die Forderungen vorträgt und darüber verhandelt. Nach der Verhandlung kommt die Kommission zurück in den Betrieb und teilt der Belegschaft das Ergebnis mit. Die diskutiert und entscheidet, wie es weiter geht, ob ein Ergebnis akzeptiert, weiter verhandelt oder, wenn der Kapitalist auf stur schaltet, gestreikt oder möglicherweise der Betrieb besetzt wird. Zum Zeitpunkt unseres Seminars hielten die französischen Arbeiterin Frankreich über 400 Fabriken besetzt. In dem Zusammenhang wollten unsere französischen Freunde von uns wissen, wie es denn um unser 'Streikrecht' bestellt wäre."

Bei uns dagegen läuft es doch meistens so: wenn es irgend ein Problem oder einen Konflikt gibt in einer Abteilung, dann sprechen die Kolleginnen und Kollegen zunächst den Betriebsrat an, entweder am Arbeitsplatz oder bei seinem Betriebsrundgang oder sie rufen im Betriebsratsbüro an. Eher selten kommt es auch mal vor, dass sie mit der ganzen Abteilung zum BR-Büro gehen - das ist dann schon ein höheres Kampfniveau. Ein Betriebsratsmitglied geht also in die Abteilung und sieht sich das Problem an und sagt dann in der Regel etwa so: "Bleibt ruhig, wir versuchen das zu klären". Dann sind die Kollegen erst einmal beruhigt, das Thema ist zunächst mal durch, der "Betriebsfrieden" wiederhergestellt, und der Betriebsrat kann das dann klären oder auch nicht.

Bei diesem Ablauf wirken zwei Sachen zusammen. Zum Einen erscheint es für die meisten Beschäftigten so, als ob der Betriebsrat durch seine Mitbestimmungsrechte eine ganz starke Position im Betrieb hätte. Tatsächlich aber bleiben zunächst einmal im Betriebsverfassungsgesetz alle wirklich wichtigen wirtschaftlichen und personellen Unternehmerentscheidungen, wie Investitionen, Stilllegungen, Personalplanung usw., von jeglicher wirksamen "Mitbestimmung" ausgenommen, da gibt es lediglich Informations- und Beratungsrechte. Die "Mitbestimmung" beginnt dann eher bei den Auswirkungen dieser Unternehmerentscheidungen, wie z.B. "Sozialauswahl" bei Kündigungen ...

Vor allem aber enthält das Betriebsverfassungsgesetz nicht nur die Beteiligungsrechte des Betriebsrates, sondern daneben mit der Zwangsschlichtung bei Nichteinigung der Betriebsparteien ("Einigungsstelle" oder "tarifliche Schlichtungsstelle", Paragraphen 87, (2) und 76 BetrVG), dem Streikverbot und dem Gebot des "Betriebsfriedens" (Paragraph 74 BetrVG) für jeden Betriebsrat auch eine ganz starke Fessel: er darf in betrieblichen Konflikten nicht zum Arbeitskampf aufrufen. Das "Streikrecht" in Deutschland ist beschränkt auf die Gewerkschaften in Tarifrunden, es gibt kein allgemeines Streikrecht in der BRD, entgegen den Bestimmungen z.B. in der Europäischen Sozialcharta (hierzu ausführlich: KAZ 315). Und darum werden die meisten betrieblichen Konflikte kanalisiert in der oben beschriebenen Art und Weise.

Natürlich gibt es auch findige Belegschaften, Betriebsräte und Vertrauensleute, die diese Fesseln umgehen und die beschränkten Rechte im Betriebsverfassungsgesetz als Kampfmittel einsetzen. Möglichkeiten dazu bietet das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bei Überstunden, vor allem aber die kollektive Nutzung der individuellen Informations- und Beschwerderechte durch die komplette Belegschaft einer Abteilung oder des ganzen Betriebes. So etwas kann dann auch mal über mehrere Schichten gehen und damit einen "streikähnlichen Zustand" herbeiführen. Beispiele dafür aus dem Widerstand von Belegschaften gegen Abgruppierungen und Lohnsenkungen durch das "Entgeltrahmenabkommen (ERA)" in der Metallindustrie schildert die KAZ Nr. 320 (MAN München, Karmann Osnabrück, S. 7 und 9).

Das ist aber eher die Ausnahme als die Regel. Und es hat natürlich für das Bewusstsein der Beschäftigten starke Auswirkungen, ob bei solchen betrieblichen Konflikten immer wieder die Erfahrung gemacht wird, die Ergebnisse sind Machtfragen, ob also sozusagen in den "kleinen" Konflikten "ums Teewasser" (Brecht) die Klassenauseinandersetzung geübt, trainiert wird oder ob der Konflikt von den betroffenen Beschäftigten weggenommen und delegiert wird an "Stellvertreter": "Wenn sich Arbeiterinnen und Arbeiter daran gewöhnt haben, dass ihre Kastanien durch Vertreter aus dem Feuer geholt werden und sie dazu nicht aktiv werden müssen, sinkt die Kampfbereitschaft. Dann kann die Gewerkschaftsführung auf ein sogenanntes Bündnis für Arbeit eingehen, ohne die Basis zu mobilisieren. [...] Es bildete sich ein regelrechter Paternalismus heraus: Die Führung möge, sie könne es machen, und die hat es denn auch in der Zusammenarbeit mit dem Klassengegner gemacht und dazu das Wort [.1 Mitgestalten erfunden. Es ist eben kein Zufall, dass in Deutschland spontane Arbeiterkämpfe selten sind, aber unsere Klassengenossen 'gehorchen', sobald die sie entmündigenden Stellvertreter sie rufen, so wie es sich eben in einer Stellvertreter-Demokratie gehört!"(20)

Diese "Stellvertreterpolitik" hat auch zur Folge, dass die Gewerkschaftsmitglieder sich nicht so sehr als Mitglieder einer Organisation empfinden, deren Zweck die Organisierung ihrer Kämpfe ist, sondern eher als "Kunden" einer Dienstleistung, einer Versicherung. Wenn sie dann in der heutigen Krisensituation diese Organisation und auch ihre Betriebsräte als ohnmächtig erfahren, dann hat das eben nicht zur Folge, dass sie sich, innerhalb oder außerhalb oder auf welche Weise auch immer, organisieren, um ihre Gewerkschaft in den Kampf zu bringen, sondern dass sie in allzu vielen Fällen "ihren Vertrag kündigen", nicht mehr Kunden sein wollen und austreten. Wer kämpft, kann verlieren, wer kämpfen lässt, wird unzufrieden ...

In diesem Zusammenhang ist auch die verbreitete (und allzu oft berechtigte) Kritik von Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben gegenüber den Gewerkschaften zu hinterfragen: kritisieren sie als potenzielle Kämpfer, wollen sie eine Organisation, die ihren Kampf organisiert, weil sie nicht alleine kämpfen können, oder kritisieren sie als "Kunden"?

In der aktuellen Krise machen die Beschäftigten in vielen betrieblichen Konflikten die Erfahrung der "Allmacht des Managements bzw. Machtlosigkeit der Gewerkschaften und Betriebsräte": wenn es hart auf hart kommt, schützt die "Mitbestimmung" ihrer Stellvertreter sie weder vor Lohnabbau noch vor Entlassungen. Natürlich hat man auch vorher oft auf den Betriebsrat geschimpft, aber er wurde immer als Vertreter angesehen, der auch etwas erreichen kann - und wenn er nichts erreichte, dann erklärte man sich das als persönliche Schwäche, weil er nicht wollte oder zu dumm, zu faul oder zu feige war oder sonst was. Jetzt aber wird deutlich, wie beschränkt die (gesetzlichen) Möglichkeiten auch der besten, also klügsten, engagiertesten, mutigsten und ehrlichsten "Stellvertreter" sind, solange der Rahmen der "Stellvertreterpolitik" nicht überschritten wird. Es ist diese "Unfähigkeit der Gewerkschaften, den Lohnabhängigen Angebote zur Aufrechterhaltung ihrer Handlungsfähigkeit und damit zur kollektiven Durchsetzung ihrer lohnarbeitstypischen Interessen zu machen, die ihnen ein Ausweichen auf individualistische Strategien erst nahe legt."(21)

Wenn jetzt in dieser Situation die Beschäftigten nicht lernen, sich selbst zu vertreten, dann kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie als "Kunden" nach anderen politischen "Angeboten" suchen, nach anderen "Stellvertretern", die ihnen (scheinbar) die ersehnte "Sicherheit" geben. Hier liegt auch eine reale Gefahr für ein "Andocken" von Neofaschisten mit ihrer sozialen Demagogie.


4. Welche Beiträge müssen die Kommunisten zur Überwindung dieser Schwierigkeiten leisten?

Wilhelm Liebknecht formulierte als Leitprinzip der gesamten Arbeit der revolutionären Marxisten: "Studieren, Propagandieren, Organisieren". In diesem Sinne liegen unsere Aufgaben in der Bildungsarbeit, in der Öffentlichkeitsarbeit und in der Organisierung.

Unsere erste Aufgabe besteht in der Aufklärung über die wirklichen ökonomische Prozesse unter dem "täuschenden Schein" der Oberfläche. Dazu gehört zunächst die verstärkte Organisierung marxistischer Bildungsarbeit für uns selber und für unser Umfeld.

Dazu gehört aber auch, das wir das stärker in die alltägliche Auseinandersetzung einbringen. In Tarifrunden heißt das z. B., sich nicht auf die Wiedergabe der Argumente der Gewerkschaften zu beschränken, sondern zu hinterfragen, ob es denn im Kapitalismus überhaupt einen "gerechten Lohn" geben kann, oder aufzuzeigen, worin Ausbeutung besteht und warum sie nicht durch noch so hohe Löhne aufgehoben wird, oder auch zu hinterfragen, ob denn "Stärkung der Massenkaufkraft" einen Kapitalismus ohne Krisen ermöglichen könnte. Dafür gibt es übrigens ein historischen Vorbild: eine Artikelreihe von Friedrich Engels für eine Zeitung der englischen Trade-Unions über Themen wie "Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk", "Das Lohnsystem" oder "Die Trade-Unions"(22). Engels liefert dort ein Beispiel, wie man komplizierte Zusammenhänge der politischen ökonomie in Artikel für eine Zeitung einbringt, die von marxistisch ungeschulten, aber gewerkschaftlich organisierten Arbeitern gelesen wird.

Wichtiger Bestandteil dieser Aufklärung ist auch die Entlarvung der "falschen Feinde", der "falschen Fronten" und der "falschen Freunde" (s.o.).

Wir müssen systematisch alle Beispiele aufgreifen und publizieren, die in der Praxis all die Theorien über "böses" und "gutes" Kapital widerlegen.

In diesem Zusammenhang ergibt sich als zweiter Schwerpunkt unserer Aufklärungsarbeit gegen die "falschen Freunde" die Staatsfrage, die "Enthüllung des Wesens dieser bürgerlichen Demokratie als einer Machtausübung im Interesse des Großkapitals".(23) Wenn große Teile der Linken sich freuen, dass auf einmal die Verstaatlichung von Banken diskutiert wird, dann müssen wir aufzeigen, wie weit ein solcher Schritt des bürgerlichen Staates von "Vergesellschaftung" entfernt ist, welche Interessen welcher Teile des Finanzkapitals dahinter stehen usw.

"Was die mehr agitatorischen Möglichkeiten angeht, das Wesen dieser Demokratie zu enthüllen, so waren wir auf diesem Gebiet schon einmal sehr viel weiter! Damals haben wir uns angeschaut, wer alles in den Aufsichtsräten der großen Banken, Firmen und Versicherungen sitzt, und da kamen wir auf knapp dreihundert Leute. Sie bildeten das eigentliche Stammpersonal des heutigen bundesdeutschen Monopolkapitalismus. Dann haben wir geschaut, welche Vertreter solcher produktions- und marktbeherrschenden Firmen im Parlament, also a) in der Legislative, b) in den wesentlichen, die Entscheidungen vorbereitenden Parlamentsausschüssen, c) in der Regierung (einschließlich der Geheimdienste), also in der Exekutive und d) aus der Regierung bzw. dem Parlament in die juridische Gewalt wechselnd vertreten sind. Das schloss ein auch jene Sozialdemokraten zu benennen, die sich darunter befanden [...], um deutlich zu machen, dass diese Art von Oppositionspartei im Wesen nichts anderes ist als Fleisch vom Fleische des bundesdeutschen Monopolkapitals. Es wäre dies auch zu ergänzen durch Hinweise darauf, dass mehr als zweihunderttausend sozialdemokratische Parteimitglieder in verschiedener Weise materiell in dieses System eingebunden sind."(24)

Solche konkreten Enthüllungen über das Wesen dieses Staates als Instrument der herrschenden Klasse sind auch notwendig angesichts der verbreiteten Staats- und Obrigkeitshörigkeit, ebenso angesichts der Illusionen in staatliche Intervention, also auch in der Auseinandersetzung mit dem Keynesianismus.

Drittens ist es wichtig, die sozialen Kämpfe mit dem Antifaschismus zu verbinden. Es gibt vielfach die positive Erfahrung, "dass die Ressentiments zwischen 'einheimischen' und 'ausländischen' Kolleginnen und Kollegen bereits dann keine Rolle mehr spielen, wenn sie gemeinsam für die Aufrechterhaltung ihrer Handlungsfähigkeit kämpfen, z.B. um bedrohliche Maßnahmen der Unternehmensführung abzuwehren."(25) Die Erfahrung der gemeinsamen Arbeit, aber viel mehr noch des gemeinsamen Kampfes schafft Verbindendes, baut Vorurteile ab. Daran können wir anknüpfen, darüber sollten wir auch reden, um das zu untermauern und um deutlich zu machen: wer ist der Gegner?

Viertens gilt es, praktische Solidaritätserlebnisse zu organisieren, die Grenzen zwischen verschiedenen betrieblichen Kämpfen und zwischen den Branchen zu überwinden. Ein beeindruckendes, spektakuläres Beispiel dafür war die Demonstration der gesamten Belegschaft des französischen Contiwerkes aus Clairoix in Hannover vor der Aufsichtsratssitzung von Continental. Besonders für die anwesenden deutschen Kollegen war das eine ganz spannende Erfahrung(26).

Das beginnt aber auf viel niedrigerem Niveau, zum Beispiel mit Besuchen von (auch kleinen) Delegationen bei kämpfenden Belegschaften, mit gemeinsamen Kundgebungen verschiedener Einzelgewerkschaften in Tarifauseinandersetzungen oder schon mit der sichtbaren Teilnahme von Mitgliedern anderer Einzelgewerkschaften daran. Wir werden niemals vom "Häuserkampf" wegkommen zum Kampf Klasse gegen Klasse, wenn wir darauf warten, dass die heutigen Gewerkschaftsführungen das irgendwann mal organisieren. An die können wir appellieren, so lange wir wollen - das wird nicht passieren. Also müssen wir mit unseren schwachen Kräften nach Gelegenheiten suchen, wo man sichtbar und für Kolleginnen und Kollegen erfahrbar den betrieblichen "Tellerrand" überwinden kann.

Eine letzte, aber vielleicht die zentrale Aufgabe, die jedenfalls bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren hat, hat Marx schon in der Auseinandersetzung mit den Lassalleanern formuliert: "[...] in Deutschland, [...] wo der Arbeiter von Kindesbeinen an bürokratisch gemaßregelt wird und an die Autorität, an die vorgesetzte Behörde glaubt, gilt es vor allem, ihn selbständig gehen zu lehren" (K. Marx an Schweitzer, 1868(27)).


Arbeitsgruppe "Stellung des Arbeiters in der Gesellschaft heute"
Geschrieben auf Grundlage eines Referats, das Achim Bigus auf dem KAZ-Sommercamp "Anton Makarenko" 2009 gehalten hat.


Anmerkungen:

(1) Marx/Engels, Ausgewählte Werke (MEAW, in sechs Bänden), Bd. III, S. 107, Marx/Engels, Werke (MEW), Bd. 16, S. 134

(2) MEW 23, S. 562. Dieser gesamte Zusammenhang wird von Marx entwickelt im 9. Abschnitt von Lohn, Preis und Profit "Der Wert der Arbeit". MEAW Bd. III, S. 106/107, MEW Bd. 16, S.134/135, sowie noch ausführlicher im Sechsten Abschnitt von Kapital, Bd. 1, "Der Arbeitslohn", MEW 23, S. 557-590.

(3) Lenin Werke (LW), Bd. 5, S. 395

(4) Ausführlich hierzu: Hermann Duncker, Alfons Goldschmidt und K.A. Wittfogel (Hrsg.), Marxistische Arbeiterschulung, Kursus Politische Ökonomie, Wien/Berlin 1930 (Politladen-Reprint Nr. 2, 1970), S. 228-232, nachgedruckt in: Streitbarer Materialismus Nr. 29, Juni 2009, S. 13-19

(5) "... die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m.", LW, Bd. 5, S. 386

(6) MEAW Bd. 1, S. 425/426

(7) Marx Engels, Ausgewählte Schriften (in 2 Bänden) Bd. 1, S. 84

(8) Robert Steigerwald, "Gründe für die Zurückdrängung von Klassenbewusstsein in der Arbeiterklasse", in "Projekt Klassenanalyse@BRD, Band 1: Zweifel am Proletariat - Wiederkehr der Proletarität", S. 55-75, hier: S. 61

(9) Friedrich Engels, "Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", MEAW Bd. V, S. 483/404

(10) LW, Bd. 22, S. 198

(11) Robert Steigerwald, a.a.O., S. 63

(12) Protokoll der Verhandlungen des fünften Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands. Abgehalten zu Köln a. Rh. Vom 22. bis 27. Mai 1905, Berlin o.J., S. 30. Zitiert nach KAZ 315, S. 29

(13) Walter Ulbricht, "Wirtschaftsdemokratie oder Wohin steuert der ADGB?", Berlin 1928, in: Walter Ulbricht, "Über Gewerkschaften", Bd. 1, Berlin 1953, S. 195-252, hier: S. 243/244

(14) Zitiert nach: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band 6, Berlin (DDR) 1966, S. 431

(15) Nicole Mayer-Ahuja, "Wieder dienen lernen? Vom westdeutschen "Normalarbeitsverhältnis" zu prekärer Beschäftigung seit 1973", zitiert nach: Thomas Lühr, "Wie die Angst überwinden? Die Prekarisierung der Lohnarbeit und die lohnarbeitstypische Klassensubjektivität", bisher unveröffentlichtes Manuskript, 2009

(16) MEW Bd. 2, S. 344

(17) Thomas Lühr, a.a.O., S. 4

(18) Thomas Lühr, a.a.O., S. 11

(19) Robert Castel, "Die Stärkung des Sozialen". Hamburg 2005, zitiert bei Thomas Lühr, a.a.O., S. 7

(20) Robert Steigerwald, a.a.O., S. 57/58

(21) Thomas Lühr, a.a.O., S. 11

(22) MEW Bd. 19. S. 247-260, MEAW Bd. V, S. 478-485 (teilweise), Marx/Engels, "Über die Gewerkschaften", Berlin (DDR) 1971, S. 394-408

(23) Robert Steigerwald, a.a.O., S. 72

(24) Ebenda

(25) Thomas Lühr, a.a.O., S. 14

(2)6 Bericht in: UZ, 1. Mai 2009

(27) MEW Bd. 32, S. 570, Marx/Engels, "Über die Gewerkschaften", Berlin (DDR) 1971, S. 570


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Quelle:
KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 328, September 2009, S. 8-18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2009