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KAZ/265: "Moderne Zeiten" - Mit der Arbeitszeit zurück ins 19. Jahrhundert


KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 359, Juni 2017
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt euch!

"Moderne Zeiten" - Mit der Arbeitszeit zurück ins 19. Jahrhundert

von Ludwig Jost


Das ist die Konsequenz aus den massiven Angriffen des Kapitals auf die Arbeitszeitgesetzgebung. Ermuntert durch das Weißbuch "Arbeiten 4.0" aus dem Arbeitsministerium von Andrea Nahles (SPD) und die verzagte Politik der IG-Metall-Führung hat Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger nachgelegt, da die Forderung nach Streichung des Acht-Stunden-Tages und weiterer Arbeitszeitflexibilisierung wohl noch nicht genug war (siehe KAZ 354 -
www.kaz-online.de/artikel/neue-arbeitszeitpolitik-abhaengig-von-gesamtmetall und KAZ 358 -
www.kaz-online.de/artikel/mit-weissbuch-arbeiten-4-0-gegen-arbeitsrecht-und-arbeitszeit) Bei einer Pressekonferenz am 27. März 2017 in Berlin hat er mit der Präsentation von Gesamtmetall veranlasster Umfragen die Streichung der täglichen Höchstarbeitszeitgrenze von 10 Stunden aus dem Arbeitszeitgesetz verlangt. Dabei hat er vorher die Maloche in den Betrieben, die Lohnarbeit fürs Kapital wie folgt charakterisiert: "Die Arbeitnehmer erleben in ihrem Arbeitsalltag ein ausgewogenes Geben und Nehmen." Offensichtlich gehen die Kapitalisten davon aus, dass sie - wenn sie den Lohnabhängigen den 10-Stunden-Tag beim Auswiegen nehmen - über die Streichung des Acht-Stunden-Tages aus dem "Arbeitsalltag" (bzw., was die Kohl-Regierung 1994 - siehe Kasten - davon noch übrig gelassen hat) nicht mehr reden müssen. Kapitalistenpräsident Dulger wird dabei als der Spezialist zur Durchsetzung von Kapitalforderungen gegenüber den Gewerkschaften auf Arbeiterrechte losgelassen. Von ihm stammt die Aufforderung an die Kapitalverbände und Einzelkapitalisten, "Tarifverträge umzunutzen" und sie gegen die Gewerkschaften in Stellung zu bringen. Nur zur Erinnerung: Auf dieses "Umnutzungskonto" geht das vom Kapital 2004 gefeierte sogenannte "Pforzheim-Abkommen" sowie die zwischen 50 und 70 Prozent liegenden Abgruppierungen, die das Kapital bei der Einführung des berüchtigten IGM-"ERA" ("Entgelt-Rahmenabkommen") in den Betrieben durchgesetzt hat.

Mit 16 in Gesamtmetall organisierten Verbänden des Metall- und Elektro-Kapitals im Rücken - wie es aussieht bewusst als Speerspitze gedacht - ist Präsident Dulger wieder beim "Umnutzen". Dafür müssen jetzt die Ergebnisse der o. a. Umfragen herhalten, um die "Metaller" gegen ihre Interessen ins Schlepptau zu nehmen. Unter Berufung auf Dulger berichtete die Süddeutsche Zeitung (SZ) am 28.03.2017 unter der Überschrift "Zufriedene Metaller": "Die allermeisten Beschäftigten in der deutschen Metall- und Elektroindustrie sind mit ihrer Arbeitszeit zufrieden." Nach aktuellem Bericht der IGM-Führung wären das die "Allermeisten" von bundesweit 3,8 Millionen in der Metall- und Elektroindustrie Beschäftigten, denen die "Zufriedenheit" untergejubelt wird. Um das herauszufinden, haben die Meinungsforscher vom Institut "Emnid" 1055 "Arbeitnehmer", Metallerinnen und Metaller, im Januar 2017 befragt. Nach den der Presse gegenüber gemachten Aussagen von Gesamtmetall, haben dabei 93 Prozent ihre "Zufriedenheit" mit der Feststellung ausgedrückt: "Sie könnten ihre tägliche Arbeitszeit kurzfristig an persönliche Bedürfnisse anpassen." 70 Prozent der Befragten gaben an, dass sie auch außerhalb der Arbeitszeit erreichbar sind und 62 Prozent könnten sich vorstellen, länger als 10 Stunden am Tag zu arbeiten - "wenn es ihre eigene Entscheidung ist."

Lt. Präsident Dulger ging es dem Kapitalistenverband bei der Meinungsumfrage darum, nachzuweisen, "wie zufrieden und wie flexibel die Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie sind" und um zu zeigen "wie wichtig eine solche Flexibilität für die Unternehmen ist."

Bei einer entsprechenden Befragung von 1.153 Unternehmen (Institut der deutschen Wirtschaft, Dez. 2016/Jan. 2017) haben 44,7 Prozent den Finger für mehr Flexibilität gehoben. Sie haben "einen generellen Bedarf", nach Streichung der "gesetzlichen Zehn-Stunden-Grenze pro Arbeitstag" angemeldet. Dabei wollen 30,7 Prozent, dass die gesetzliche Ruhezeit von 11 Stunden zwischen Arbeitsende und Arbeitsbeginn gekürzt wird.

Das "moderne" Arbeitszeitrecht

Egal mit welchen Fragen, die o. g. und gewünschten Antworten provoziert wurden, bei diesem Manöver ist klar: Die Gesamtmetall-Kapitalisten wollten und wollen damit testen, was beim "Geben und Nehmen" in der Frage der Arbeitszeit zumut- und durchsetzbar ist. In diesem Sinne hat Dulger bei der o. g. Pressekonferenz verbunden mit der Feststellung, "Gestaltung und Umfang der Arbeitszeit" müsse "den Bedürfnissen der Kunden angepasst" werden, ein "modernes" Arbeitszeitrecht gefordert.

Was wir hierbei gemessen an den Kapitalforderungen unter "modern" zu verstehen haben, ist das Arbeitszeitgesetz ohne Acht- oder Zehn-Stunden-Tag, wobei das Ende des Arbeitstages dann nach "Arbeiten 4.0" kapital- oder "selbstbestimmt" offen bleibt. Damit würde - abgesehen vom 1918 in der Novemberrevolution erkämpften gesetzlichen Acht-Stunden-Tag - ein bisher nach dem geltenden Arbeitsrecht einklagbarer Rechtsanspruch beseitigt. Nämlich das trotz allem als kleine Bremse wirkende Recht der Lohnabhängigen, zum Schutz vor vorzeitiger Ruinierung ihrer Arbeitskraft, nicht mehr als 8, höchstens 10 Stunden am Tage von den Kapitalisten ausgebeutet zu werden. Davon wären in erster Linie die Millionen Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellte betroffen, die in nichttarifgebundenen (diese Zahl wird immer größer) und betriebsratslosen Betrieben arbeiten. In den Letzteren gilt auch bei der Arbeitszeit uneingeschränkt von irgendwelchen Mitbestimmungsrechten das Direktions- oder Weisungsrecht der Kapitalisten. Aber das ist nicht alles. Das von Dulger geforderte "moderne" Arbeitszeitrecht ließe sich durch die fristlose Kündigung aller vereinbarten Arbeitszeitregelungen - tägliche Arbeitszeit u.a. - zu ihrer Anpassung ans "Moderne" gegen die Tarifverträge ins Feld führen. Das wäre hierbei die realistische Möglichkeit, die sich den Kapitalisten damit auftut. Und die haben schließlich längst die Erfahrung gemacht, dass es sich in aller Regel für sie lohnt, wenn sie den Gewerkschaften oder auch den Betriebsräten Verträge fristlos gekündigt vor die Füße schmeißen. Darum ist höchste Zeit in den Betrieben, in der IGM und den übrigen DGB-Gewerkschaften zu begreifen: Die Dimension, wohin das Kapital zurück will, ist das 19. Jahrhundert. Damals, 1873, erkämpften sich die Buchdrucker per Tarifvertrag den ersten 10-Stunden-Tag, für dessen Durchsetzung in ganz Deutschland bis 1914 gekämpft werden musste. Das "moderne" Arbeitsrecht, von dem die Kapitalisten träumen, ist eine Kampfansage an alle Lohnabhängigen und an die Gewerkschaften. Sie heißt im Klartext: Wir fordern von unserem geschäftsführenden Ausschuss, der Regierung, ein gegen euch gerichtetes Zwangsgesetz, das festlegt, dass es unser Recht ist, euch, eure Arbeitskraft über täglich 10 Stunden hinaus, ausbeuten zu können.

Was das Kapital hierbei von seinen Plänen durchsetzen kann, wird hauptsächlich mit davon abhängen, was sich in den Metall- und Elektro-Betrieben tut. Die Kapitalisten von Gesamtmetall haben ihre Versuchsballone nicht rein zufällig in diesem Bereich aufsteigen lassen. Das war der Test darauf, mit welchem Widerstand sie gegebenenfalls rechnen müssen: Ob sich die "zufriedenen Metaller" damit zufrieden geben, dass die IG-Metall-Führung zu den Angriffen auf den Arbeitstag abgetaucht ist und sich tot stellt, sich hinter "Sozialwahlen" und dem "Kampf" gegen die Managergehälter versteckt und nutzlose Unterschriftenlisten präsentiert. Oder ob die "zufriedenen Metaller" doch nicht so zufrieden sind und sich wieder auf ihre Kampfkraft besinnen. Was bedeuten würde, über mehr als nur Warnstreiks, sondern - im Fall der Arbeitszeitgesetzgebung - über politischen Streik nicht nur nachzudenken, sondern ihn zu organisieren und die Belegschaften und Gewerkschaftsmitglieder über die IGM hinaus dafür zu mobilisieren.

Alles andere heißt, unsere Arbeitskraft noch weiter zerrütten zu lassen, uns dem Kapital vollkommen auszuliefern und unsere Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern im Stich zu lassen.

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Schon die CDU-Kohl-Regierung verschlimmerte das Arbeitszeitgesetz

1994 hat die damalige Kohl-Regierung mit dem "Metaller" Blüm als Arbeitsminister das Arbeitszeitgesetz geändert und hierbei fürs Kapital bei der Abschaffung des Acht-Stunden-Tages Schrittmacherdienste geleistet.

In der Funktionärszeitschrift "Der Gewerkschafter" 3/94 schrieb die IGM dazu: "Der ebenfalls historisch erkämpfte Achtstundentag steht nur noch als Rechengröße im Gesetz, denn über Monate hinweg sind 10 Stunden als regelmäßige tägliche Arbeitszeit zulässig. Für diese langen Arbeitszeiten ist zwar ein Ausgleich vorgesehen, aber die Ausgleichszeit wurde auf 6 Monate ausgeweitet. Und zusätzlich darf an 60 Tagen im Jahr die Arbeitszeit auf bis zu 10 Stunden täglich ohne Ausgleich verlängert werden..."

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Was das Kapital sich einfallen lässt, um Arbeitszeitgrenzen aus dem Weg zu räumen - ein geschichtliches Beispiel

In Band I seines berühmten Werks "Das Kapital" - herausgegeben 1867 - schrieb Karl Marx unter der Überschrift "Der Arbeitstag" u. a.: "Die Geschichte der Regelung des Arbeitstages in einigen Produktionsweisen, in anderen der noch fortdauernde Kampf um diese Regelung, beweisen handgreiflich, dass der vereinzelte Arbeiter, der Arbeiter als 'freier' Verkäufer seiner Arbeitskraft, auf gewisser Reifestufe der kapitalistischen Produktion, widerstandslos unterliegt. Die Schöpfung eines Normalarbeitstages ist daher das Produkt eines langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse."

In diesem Bürgerkrieg waren es die englischen Arbeiter, die sich als die Ersten einen Normalarbeitstag gegen den Widerstand der Kapitalisten erkämpften. Er wurde 1850 durch das Fabrikgesetz - aus der Geschichte auch als Fabrikakt oder 10-Stundenbill bekannt - gesetzlich festgelegt. Für die Arbeiter hieß das, 12 Stunden im Betrieb, durch Pausen auf täglich 10 Stunden Arbeit reduziert.

Die 10-Stundenbill hat hierbei eine Vorgeschichte, die mit einem gesetzlichen Fabrikakt am 1. Juli 1847 begann. Er sah die stufenweise Reduzierung der Arbeitszeit auf täglich 10 Stunden ab dem 1. Mai 1848 vor. Karl Marx schildert, wie folgt, was die Kapitalisten dagegen gemacht haben: "Das Kapital unternahm einen vorläufigen Feldzug, um die volle Ausführung des Akts am 1. Mai 1848 zu verhindern. Und zwar sollten die Arbeiter selbst, angeblich durch die Erfahrung gewitzigt, ihr eigenes Werk wieder zerstören helfen. Der Augenblick war geschickt gewählt."

Gemeint ist hiermit eine fürchterliche Krise in den Jahren 1846/7, wozu Marx weiter erklärt: "Die Herrn Fabrikanten suchten die natürliche Wirkung dieser Umstände zu steigern durch eine allgemeine Lohnherabsetzung von 10%. Dies geschah sozusagen zur Einweihungsfeier der neuen Freihandelsära. Dann folgte weitere Herabsetzung um 8,3%, sobald der Arbeitstag auf 11, und um das Doppelte, sobald er definitiv auf 10 Stunden verkürzt wurde. Wo es daher irgendwie die Verhältnisse zuließen, fand eine Lohnherabsetzung von wenigstens 25% statt. Unter so günstig vorbereiteten Chancen begann man die Agitation unter den Arbeitern für Widerruf des Akts von 1847. Kein Mittel des Betrugs, der Verführung und der Drohung wurde dabei verschmäht, aber alles umsonst. Mit Bezug auf das halbe Dutzend Petitionen, worin die Arbeiter klagen mussten über 'ihre Unterdrückung durch den Akt', erklärten die Bittsteller selbst, bei mündlichem Verhör, ihre Unterschriften seien abgenötigt worden. 'Sie seien unterdrückt, aber von jemand anders als dem Fabrikant.'" (MEW Bd. 23 S. 301/302)

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Mehrwert und Mehrarbeit - was ist das?

Mehrwert und Mehrarbeit sind wissenschaftliche Begriffe in der Terminologie der Arbeiterbewegung. In der verhunzten Sprache der Bourgeoisie haben sie eine ganz andere Bedeutung - wie z. B. der dumme Ausdruck "Mehrwertsteuer" zeigt. Hinzu kommt die Unsitte, die sich in den Gewerkschaften breit gemacht hat, Überstunden in den Tarifverträgen und sonstigen Publikationen aber auch in der Diskussion als Mehrarbeit zu bezeichnen. Das aktuelle Beispiel dafür liefert die IGM-Führung in der Mai-metallzeitung 2017. Dort wird den Mitgliedern auf Seite 24 zu Überstunden und Mehrarbeit der folgende Unsinn erklärt: "Formal sind es zwei Paar Schuhe. Von Überstunden sprechen Juristen, wenn ein einzelner Arbeitnehmer seine vertragliche Arbeitszeit überschreitet. Wenn die individuell vereinbarte Arbeitszeit bei 20 Stunden pro Woche liegt, ist die 21. eine Überstunde, bei einer vertraglichen Wochenarbeitszeit von 30 Stunden erst die 31. Von Mehrarbeit sprechen sie, wenn die tarifliche Arbeitszeit überschritten wird. Für die meisten Menschen sind es aber nur zwei Wörter die dasselbe bedeuten.

Was ist das nun wirklich?

"Mehrwert ist der Wert, den die Arbeit des Lohnarbeiters über den Wert seiner Arbeitskraft hinaus schafft und den sich der Kapitalist unentgeltlich aneignet. Somit ist der Mehrwert das Ergebnis unbezahlter Arbeit des Arbeiters.

Der Arbeitstag im kapitalistischen Betrieb zerfällt in zwei Teile, und zwar in die notwendige Arbeitszeit und die Mehrarbeitszeit, die Arbeit des Lohnarbeiters unterteilt sich in die notwendige Arbeit und die Mehrarbeit. Im Verlaufe der notwendigen Arbeitszeit reproduziert der Arbeiter den Wert seiner Arbeitskraft; im Verlaufe der Mehrarbeitszeit schafft er den Mehrwert." (Lehrbuch Politische Ökonomie I, Berlin 1955 / Frankfurt a. M. 1971, S. 127/128)

Hier ist nicht die Rede von Überstunden, sondern von einem ganz normalen Arbeitstag, von Löhnen, die dem Wert der Arbeitskraft entsprechen und der unbezahlten Mehrarbeitszeit, die jeder Arbeiter tagtäglich für den Kapitalisten leistet!

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Quelle:
KAZ - Kommunistische Arbeiterzeitung, Nr. 359, Juni 2017, S. 45 - 47
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2017

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