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LICHTBLICK/205: Offener Vollzug - Interview mit Dr. Meyer-Odewald, Leiter der JVA des Offenen Vollzuges


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 355 - 2/2013

Interview mit Dr. Meyer-Odewald, Leiter der JVA des Offenen Vollzuges

von Murat Gercek



lichtblick: Wir freuen uns sehr, Sie hier in unserer Redaktion begrüßen zu dürfen und bedanken uns für diesen Termin. Bitte stellen Sie sich doch kurz unseren Leserinnen und Lesern vor.

Dr. Meyer-Odewald: Ich möchte mich für die Einladung bedanken und vorweg betonen, dass ich seit Jahren zu der interessierten Leserschaft des lichtblicks gehöre. Auch wenn ich nicht unbedingt alles gut finde, was Sie schreiben, so ist es doch enorm wichtig, dass Themen aus dem Strafvollzug die Öffentlichkeit und die Menschen draußen erreichen.

Nun zu meiner Person: Als Jurist begann ich in der Senatsverwaltung für Inneres, kam dann zu SenJust, und war dort mehrfach tätig. Zwischendurch war ich u.a. 5 Jahre Teilanstaltsleiter in der JVA Tegel im Haus II und später dann als Vollzugs- und Anstaltsleiter in der JVA Charlottenburg. Ab 2007 war ich Anstaltsleiter zunächst der JVA Hakenfelde und leite nun nach zwei Fusionen mit der JVA Heiligensee und der JVA Düppel seit 2010 die JVA des offenen Vollzuges Berlin. Sie hat vier Bereiche in Spandau, Reinickendorf und Zehlendorf.

lichtblick:Wie Sie ja wissen, geht es heute um das Thema Lockerungen und offener Vollzug. Im Strafvollzugsgesetz steht geschrieben, dass der offene Vollzug der Regelvollzug ist. D.h., dass der zum Freiheitsentzug Verurteilte im offenen Vollzug unterzubringen ist. Wieso hält sich niemand dran?

Dr. Meyer-Odewald: Also, wir in Berlin halten uns dran. Hier hat diese Vollzugsform eine starke Stellung. Es sind ca. 30 Prozent der Inhaftierten im offenen Vollzug untergebracht. Aber eine Unterbringung im offenen Vollzug setzt voraus, dass keine Flucht- und Missbrauchsgefahren vorliegen.

lichtblick: Genau hier müssen wir einhaken, denn allzu oft werden abstruse Flucht- und Missbrauchsgefahren bei Inhaftierten verortet und sie dann nicht gelockert oder im offenen Vollzug untergebracht. Das läuft dem Strafvollzugsgesetz, Urteilen von Bundesverfassungs- und Oberlandesgerichten und gesundem Menschenverstand zuwider: Erstens kann niemand Vorhersagen für die Zukunft treffen und zweitens kann man jedwede Risiken nicht pauschal ausschließen - dem Leben sind Unwägbarkeiten innewohnend und deshalb heißt es richtig: Es müssen konkrete Gefahren ermittelt und benannt werden. Nur dann kann eine Ungeeignetheit für eine Unterbringung im offenen Vollzug festgestellt werden.

Dr. Meyer-Odewald: So wird es ja auch gemacht. In einem umfangreichen und sorgfältigen Eignungsverfahren wird entschieden, ob sich jemand für den offenen Vollzug eignet oder nicht. Nach meinen Erfahrungen machen das Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr verantwortungsvoll. Von Willkür oder Ähnlichem kann daher überhaupt keine Rede sein. Natürlich gibt es immer auch Spielräume, die Anlass zu unterschiedlichen Bewertungen geben können. Ob diese Spielräume im Einzelfall überschritten werden, kann gerichtlich nachgeprüft werden. Das ist ein erprobtes rechtsstaatliches Verfahren, von dem ja auch Gebrauch gemacht wird. Klar muss aber immer auch sein, dass die Sicherheit der Bevölkerung Vorrang hat. Resozialisierungsmaßnahmen, die nicht verantwortbar sind, wird es daher auch nicht geben.

Grundsätzlich gilt natürlich: Resozialisierung und künftige Straflosigkeit der Gefangenen sind das Ziel des Strafvollzugs (§ 2 StVollzG). In der Behandlungsarbeit müssen u.a. Defizite bearbeitet werden. Der offene Vollzug bietet dabei mit seiner starken Außenorientierung gute Möglichkeiten, dass Inhaftierte in realistischen Belastungssituationen ihres Lebens erprobt werden und dabei lernen, mit Freiheit verantwortungsvoll umzugehen.

lichtblick: Das stimmt! Aber das ist doch sicherlich auch die Zielsetzung für den geschlossenen Vollzug oder nicht?

Dr. Meyer-Odewald: Natürlich.

lichtblick: Jedoch geschieht im geschlossenen Vollzug dies genau nicht! Sühnegedanken und Verwahrvollzug prägen hier das Bild. Oder mit drastischeren Worten: Im geschlossenen Vollzug wird keiner gebessert, sondern alles wird nur noch schlimmer!

Dr. Meyer-Odewald: So allgemein wird man das nicht sagen können. Wichtig ist immer, dass Strafvollzug mit Verstand praktiziert wird. Die Steuerzahler haben ein Anrecht darauf, dass die finanziellen Mittel für den Strafvollzug rational eingesetzt werden. Das schließt einen Vollzug aus dem Bauch aus. Irrationale Strafbedürfnisse haben hier nichts zu suchen. Insofern müssen wir den Vollzug konsequent so organisieren, dass wir immer künftige Straflosigkeit im Blick haben. Und das tun wir auch. Es wäre gesetzeswidrig, Inhaftierte nicht im offenen Vollzug unterzubringen, obwohl sie hierfür geeignet wären und keine Gefahr für die Sicherheit darstellten.

lichtblick: Oft berichten Medien auf eine reißerische Art und Weise von vereinzelten Missbrauchsfällen. In der Bevölkerung verursacht dies meist Angst und ein hohes Unsicherheitsgefühl. Was sagen Sie zu solch' einer Berichterstattung?

Dr. Meyer-Odewald: Zunächst einmal: Wir nehmen derartige Ängste sehr ernst. Mit ihnen müssen wir uns auseinandersetzen. Dies ist bei einer reißerischen Berichterstattung allerdings schwierig. Mit Ängsten spielt man nicht. Es ist immer wieder unsere Aufgabe und die der Politik, deutlich zu machen, dass der Vollzug eine wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllt. In diesem Zusammenhang muss dann auch gesagt werden, dass die Missbrauchsquoten im offenen Vollzug sehr gering und nicht schlechter als im geschlossenen Vollzug sind. Die Inhaftierten müssen sich gerade auch im offenen Vollzug an Vereinbarungen halten. Unsere Anforderungen an sie sind ausgesprochen hoch. Eigenverantwortung und Selbstdisziplin sind nur einige erforderliche Voraussetzungen. Wer im offenen Vollzug mit den realen Bedingungen eines Lebens in Freiheit nicht klarkommt und sich nicht notwendige Strukturen erarbeiten will oder kann, ist im offenen Vollzug fehl am Platz. Wir tolerieren nur ein gewisses Maß an Fehlverhalten.

lichtblick: Was sind denn die häufigsten Gründe für eine Ablösung aus dem offenen Vollzug? Wo ist die Toleranzgrenze?

Dr. Meyer-Odewald: Wir prüfen immer im Einzelfall, ob der Inhaftierte noch geeignet ist. Nicht jedes Vergehen führt automatisch zur Ablösung. Man muss da mit einem gewissen Augenmaß urteilen. Aber es gibt natürlich Richtlinien, an die wir uns zu halten haben, so insbesondere bei einer neuen Straftat oder aber auch bereits bei einem konkreten Verdacht einer neuen Straftat. Wenn z.B. die Ehefrau oder Partnerin bei uns anruft und von einer Gewaltanwendung berichtet, d.h. wenn der Inhaftierte in seinem Urlaub die Frau verprügelt haben soll, führt das in der Regel zur sofortigen Verlegung in den geschlossenen Vollzug. Auch der Konsum von Alkohol oder bei BtM-Verstößen sowohl in als auch außerhalb der Anstalt wird nicht akzeptiert - so dass diese Nichteinhaltung in der Regel zu einer Ablösung führt.

lichtblick: Und was passiert, wenn sich später herausstellt, dass die Behauptungen falsch waren und die angebliche Straftat eine von der Frau erfundene Lüge war, um dem Mann eine auszuwischen?

Dr. Meyer-Odewald: Das kommt leider auch immer mal vor. Wenn die polizeilichen Ermittlungen eingestellt werden oder der Betroffene vom Gericht einen Freispruch erhält, dann wird er unverzüglich wieder in den offenen Vollzug verlegt. Die Sozialarbeiter müssen daher den Ausgang des Verfahrens immer im Blick haben.

lichtblick: Wir können Ihnen nur von Erfahrungen berichten: Wer einmal hier in Tegel landet, der kommt hier nicht mehr so schnell weg, das ist leider die Realität.

Dr. Meyer-Odewald: Ein Inhaftierter, der die Gründe und die Verhaltensmuster seiner begangenen Straftat begriffen hat, der einsichtig ist und unter Beweis gestellt hat, dass er vereinbarungsfähig ist und am Vollzugsziel mitarbeitet, dem soll auch die Gelegenheit gegeben werden, in den offenen Vollzug verlegt zu werden. So will es das Gesetz.

lichtblick: Wie recht Sie doch haben... aber um eine positive Entwicklung zu vermerken, braucht es im geschlossenen Vollzug ausreichende und vor allem engagierte Vollzugsmitarbeiter und, von denen gibt es hier in der JVA Tegel zur Zeit viel zu wenig. Immer weniger Personal steht zur Verfügung. In einigen Teilanstalten liegt derzeit der Betreuungsschlüssel Sozialarbeitern je Gefangene bei 1 zu 60! Wie sieht es bei Ihnen im offenen Vollzug aus?

Dr. Meyer-Odewald: Ich kenne noch aus meiner Zeit in Tegel dort ausgesprochen viele gute Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Das nur nebenbei. Aber zum offenen Vollzug: Bei uns liegt der Stellenschlüssel ungefähr bei 1 zu 40. Jedoch übernehmen bei uns auch die Beamtinnen und Beamten des AVD neben ihren Betreuungsaufgaben weitere wichtige Tätigkeiten. So sind sie z. B. in die gesamte Freigangssachbearbeitung verantwortlich eingebunden. Das ist eine enorme Entlastung für die Gruppenleiter. Wir versuchen zudem, feste Teams den einzelnen Stationen zuzuordnen, damit dort eine konstante Betreuung stattfinden kann.

lichtblick: Das ist sehr lobenswert! Auch in Tegel gab es noch vor der Einführung des Rahmenkonzeptes im Jahr 2011 solche stabilen Strukturen, aber leider hat man den Wohngruppenvollzug abgeschafft. Seither fehlt es in der JVA Tegel an einem vernünftigen Vollzugskonzept, das bemängeln wir und auch Strafvollzugsexperten immer wieder.

Dr. Meyer-Odewald: Ich kann und will hier über andere Anstalten kein Urteil abgeben.

lichtblick: Müssten aber nicht 95% der Gefangenen im offenen Vollzug untergebracht sein? Sie haben doch selbst gesagt, dass der offene Vollzug der Königsweg der Resozialisierung ist.

Dr. Meyer-Odewald: Ich habe nie von einem Königsweg gesprochen. Einen solchen wird es in diesem Arbeitsfeld wohl auch nicht geben. Richtig ist aber - siehe oben - dass für geeignete Gefangene der offene Vollzug eine unverzichtbare Vollzugsform ist. Defizite der Gefangenen können nun einmal naturgemäß unter deregulierteren Bedingungen realistischer erprobt werden. Ich bin sehr dankbar, dass die Politik die Vorteile dieser Vollzugsform in Berlin parteiübergreifend bis heute immer so gesehen hat und für die entsprechenden Rahmenbedingungen sorgt.

lichtblick: In Norwegen muss jeder Fall von NICHT-Unterbringung im offenen Vollzug dem Justizminister vorgelegt werden! Das heißt der Vollzug muss begründen, wieso er es nicht schafft, die Eignung des Gefangenen für den offenen Vollzug herzustellen. So müsste es gemäß Gesetz und - so sagen sie selbst - rationalem Vollzugsansatz auch in Berlin sein. Das Gegenteil aber ist der Fall: Gefangene müssen, sofern sie nicht Selbststeller im offenen Vollzug sind, darum kämpfen, in den offenen Vollzug verlegt zu werden.

Dr. Meyer-Odewald: Dazu müsste man die Einzelheiten kennen.

lichtblick: Herr Dr. Meyer-Odewald, wir möchten uns recht herzlich für dieses interessante Gespräch bedanken und würden uns freuen, Sie irgendwann erneut hier begrüßen zu dürfen. Wer weiß, vielleicht schafft es sogar der Eine oder Andere, den nahezu unmöglichen Sprung aus dem geschlossenen in den offenen Vollzug. Das wäre auf jeden Fall sehr wünschenswert. Danke!

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Quelle:
der lichtblick, 46. Jahrgang, Heft Nr. 355, 2/2013, Seite 20-21
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2013