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MARXISTISCHE BLÄTTER/374: Betriebliche und gewerkschaftliche Kämpfe Ende der 60er-Jahre


Marxistische Blätter Heft 6-08

Betriebliche und gewerkschaftliche Kämpfe Ende der 60er-Jahre

Von Heinz Hummler


Vorbemerkung

Am 17. Mai 1966 lag ich in der Freiluft-Liegehalle des Lungensanatoriums, in dem ich seit Februar eine Tbc auskurieren sollte, als die stellvertretende Chefärztin mich bat, in die Sanatoriums-Verwaltung zu kommen. Dort erwarteten mich zwei Kriminalbeamte, um mich in einer Ermittlungssache im Auftrag der Generalbundesanwaltschaft zur Tätigkeit der verbotenen KPD zu befragen. Das "Verhör" wurde im Rahmen der seit März 1966 laufenden Verfolgungswelle unter dem Namen "Aktion Schneehase" geführt. Nach verschiedenen Gesinnungsurteilen, bei denen es zu zahlreichen Verhaftungen und Verurteilungen kam, beschloss der Deutsche Bundestag am 29. Mai 1968 das 8. Strafrechtsänderungsgesetz sowie ein Straffreiheitsgesetz, das die Einstellung solcher Verfahren in die Gänge brachte.


Themen der Zeit

Nach dem KPD-Verbot durch das der Adenauerregierung willfährige Bundesverfassungsgericht und einem Jahrzehnt kalten Krieges gab es mit dem Überfall der USA auf die Volksrepublik Vietnam seit 1964 schon wieder einen heißen, einen "schmutzigen" Krieg, wie dieser vom IGM-Vorsitzenden Otto Brenner auf dem 8. Gewerkschaftstag der IG Metall 1965 in Bremen charakterisiert wurde.

Die Versuche der CDU-geführten Bundesregierung, Notstandsgesetze durchzupauken, wurden schon auf dem 6. IGM-Gewerkschaftstag 1960 abgelehnt und führten zu immer stärkeren, auch von zahlreichen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern unterstützten Protesten, mit zahlreichen Aktionen bis hin zu einer Großkundgebung des "Kuratoriums Notstand der Demokratie" im Dezember 1967 in Essen mit starker Beteiligung aus den Gewerkschaften. Das Ziel war, keine Verfassungsänderung zuzulassen, was letztlich jedoch daran scheiterte, dass auch große Teile der SPD diesem Abbau von Demokratie zustimmten.

Bei den Streiks der Metallarbeiter in Baden-Württemberg 1963 hatten die Metall-Unternehmer zum ersten Mal seit Ende der Weimarer Republik in einer Tarifbewegung wieder zum Mittel der Aussperrung gegriffen. Alois Wöhrle, der 2. Vorsitzende der IG Metall, formulierte dazu in Bremen 1965, "dass die Aussperrung der krasseste und brutalste Missbrauch von wirtschaftlicher Macht" sei. Die Kolleginnen und Kollegen aus den Betrieben forderten schon damals: "Wer aussperrt gehört eingesperrt." Drei weitere erfolgreiche Tarifrunden, in Baden-Württemberg, maßgeblich organisiert von dem legendären Bezirksleiter Willi Bleicher, führten dann ab 1. Januar 1967 zur Erfüllung der Mai-Losung von 1965, der Fünftagewoche bei 40 Stunden Arbeit.

Die in der Nachkriegszeit in Westdeutschland fehlende konsequente Aufarbeitung der Verbrechen des deutschen Faschismus begünstigte, dass in mehrere Landtagen der BRD mit der NPD eine Nazi-Nachfolgepartei einzog! Weder die Bundesregierung noch eine der Bundestagsparteien war bereit, dies nach Art. 129 GG zu unterbinden.


Westdeutschland vor 40 Jahren

In den Massenmedien der Bundesrepublik Deutschland wird in diesem "Jubiläumsjahr" über (fast) alles von den und über die so genannten 68er gesendet und geschrieben. Über brennende Autos in Paris, über radikalisierte Studenten in schmuddeligen Anoraks, mit Ho-chi-Min-Parolen durch die Straßen rennend, über Kommunarden und Kommunen, in denen jede mit jedem pennt. Manchmal sogar über den "ersten" Toten, der in Wahrheit gar nicht das erste politische Opfer polizeilicher Gewalt war, denn der von der Essener Polizei 1952 hinterrücks erschossene Friedenskarawanenteilnehmer Philipp Müller wurde schon damals und wird von den Meinungsmachern auch heute noch "vergessen".

So gut wie nichts wird berichtet über die dazumal noch immer aktiven alten Nazis in Politik und Wirtschaft und auch nichts von den schon wieder und immer frecher auftretenden neuen Nazis. Niemand erinnert an den Jahrestag des Beginns der Bombardierung Vietnams durch die USA. Doch überhaupt nichts wird vermeldet von den Klassenauseinandersetzungen um soziale und demokratische Rechte in jener Zeit, über die zahlreichen "wilden Streiks", bei denen es sowohl um Verbesserung der zurückgebliebenen Löhne, als auch gegen willkürliche Lohn- oder Leistungskürzungen ging.


Die Gewerkschaften

Es war die wachsende Anerkennung, welche sich bekannte und zu ihrer Überzeugung stehende Kommunistinnen und Kommunisten in den Bewegungen gegen Atomtod, gegen Notstandsgesetze und gegen den schmutzigen Krieg der USA in Vietnam, vor allem aber, getragen vom Vertrauen ihrer Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben und Gewerkschaften erworben hatten, was den Generalbundesanwalt damals zu seiner "Aktion Schneehase" genannten Kommunistenhatz veranlasste.

Die Unternehmer versuchten die Rezession 1966/67 zu nutzen, um planmäßig und brutal den von ihnen so genannten sozialen Klimbim abzuschaffen. Von der Milchzulage für werdende Mütter über die Anrechnung und damit Nicht-Auszahlung der Lohn- und Gehaltserhöhungen bis zur Kürzung der Vorgabezeiten, der Erhöhung der Kantinenpreise, der Kürzung von Weihnachtsgratifikationen, erheblichen Abgruppierungen und einem Dutzend weiterer solcher oder ähnlicher Maßnahmen vergaßen die Unternehmer nichts, um in der stagnierenden Konjunktur die Ertragslage ihrer Firmen auf dem Rücken der Beschäftigten zu steigern.

Die Reaktion der Gewerkschaften darauf war sehr unterschiedlich. Ein großer Teil der Gewerkschaftsführer ließ sich von der Regierung Kiesinger in die "Konzertierte Aktion" mit eben dieser Regierung und den Unternehmerverbänden hineinziehen. Vorteil, in Gestalt von verbesserten Abschreibungen und weiteren Vergünstigungen hatte davon nur das Kapital. Zuvor hatte sich, auf politischen Druck hin, in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte ein Standpunkt durchgesetzt, wonach das grundgesetzlich garantierte Streikrecht auf Tarifauseinadersetzungen beschränkt sei. In der Gewerkschaftsspitze beugte man sich dieser Regel weitgehend ohne aufzumucken.

Ganz anders waren die Reaktionen an der gewerkschaftlichen Basis. Die IG Metall in Baden-Württemberg ging 1967 in die Tarifauseinandersetzung mit der Forderung: "Schluss mit der sozialen Demontage" und argumentierte in einem von Willi Bleicher unterzeichneten Flugblatt: "Die Maske fällt und rücksichtslos offenbaren die Herren der Wirtschaft, dass im Mittelpunkt aller ihrer Überlegungen nicht der arbeitende Mensch als wertvollster Produktionsfaktor steht, sondern wie eh und je - der Profit."(1) So standen sich schon damals klassenbezogene Positionen, an denen kommunistische Betriebsräte und Vertrauensleute keinen geringen Anteil hatten, und sozialpartnerschaftliches Denken diametral gegenüber.

Verbal lehnten die Gewerkschaften zwar die Notstandsgesetze weiter ab, sie überließen es aber immer mehr einzelnen linken Funktionären, zusammen mit dem Kuratorium Notstand der Demokratie, die Kampagne dagegen zu führen.


Druck aus den Betrieben

Nach der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg im Juni 1967 in Westberlin und den daraus resultierenden Protestaktionen, vor allem der Studenten, brachte das Jahr 1968 nicht nur zahlreiche Aktivitäten gegen die Gängelung der Jugend an den Hochschulen, gegen das atomare Wettrüsten, die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg sowie die Meinungsmanipulation durch die Medien, allen voran die Springerpresse, sondern in Paris auch Massenstreiks, welche den Beginn einer politischen Koalition von Arbeiterbewegung und Studenten signalisierten.

In der BRD gab es zwar nichts Vergleichbares, aber auch da war es in den Betrieben alles andere als ruhig. Schon ab 1967 gab es eine Vielzahl betrieblicher Abwehraktionen. Ein Beispiel von vielen. Die Wochenzeitung "offen und frei" titelt am 10 Juli 1968: "Erste Erfolge im AEG-Streik - 2.600 Arbeiter traten in den Ausstand gegen Lohnraub"(2). Bei der AEG hatte sich gezeigt, wie die Konzerne im Klima der Notstandsverfassung nach Möglichkeiten suchten, die Erfolge der letzten Tarifbewegungen umzudrehen. Aber es hat sich auch gezeigt, dass solche Versuche an einer zum Kampf entschlossenen Belegschaft scheitern müssen. Angesichts der Geschlossenheit der Belegschaften in drei Werken nahm die Konzernspitze die Kündigung von mehreren Betriebsvereinbarungen zurück.

Dass es in Baden-Württemberg aber dann nicht so zahlreich wie in anderen Bundesländern zu spontanen Streiks kam, lag unter anderem auch daran, dass in vielen Unternehmen Beschäftigte und Betriebsräte durch innerbetrieblichen Druck Zulagen von bis zu 50 Pfennigen durchgesetzt hatten.

Die Gewerkschaftsführungen hingegen hatten sich in der Konzertierten Aktion mit Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) und den Unternehmerverbänden auf Lohnleitlinien eingelassen, und so akzeptierte beispielsweise 1969 der IGM-Vorstand zentral eine Erhöhung von 8 Prozent, obwohl in zahlreichen Betrieben bis zu 17 Prozent gefordert worden waren.

Dass die Metallarbeiter keinen Streikaufruf dieser "Tarifpartner" brauchten um für ihre eigene Sache zu kämpfen, zeigte sich dann schon im September 69. Ausgelöst von den Hoesch-Kumpels in der Westfalenhütte streikten in diesem Monat ca. 140 000 Stahlarbeiter und viele Metaller aus verarbeitenden Betrieben. Es ging nicht mehr um Prozente, sondern um Festbeträge, und ihre Erfolge gaben den Kämpfenden recht. Auch der Versuch, sie mit Aussperrung in die Knie zu zwingen, scheiterte. Zudem hatte sich in der politischen Landschaft etwas verändert. Nicht wenige der betrieblichen Gewerkschaftsfunktionäre waren der neu konstituierten DKP beigetreten und von dort gab es eine Unterstützung, welche von allen anderen Parteien fehlte. Entscheidend war, dass in der richtigen Situation die richtigen Kollegen die richtige Orientierung gegeben hatten. Die Massenmedien, allen voran die Bildzeitung, faselten von kommunistischen Drahtziehern, doch die kämpfenden Belegschaften erkannten, wer für und wer gegen sie war.

Mit den Septemberstreiks wurden Fakten geschaffen, welche einige Gewerkschaftsvorstände zum Umdenken zwangen. Der IGM-Vorstand suchte nach Ursachen, verzichtete, im Gegensatz zu anderen Gewerkschaften, zwar auf eine Verurteilung der Streikenden, begrüßte die Streiks aber auch nicht und kam zu dem Schluss, es müsse wohl an der langen Laufzeit der Tarifverträge gelegen haben.

Die "Konzertierte Aktion" war gescheitert und die Partnerschaftsideologen hatten eine Abfuhr erlitten. Die Folge war, dass die IGM in Baden-Württemberg mit einer Forderung von 15 Prozent in die Tarifbewegung 1970 ging, obwohl auch da schon wieder ein paar Gesamtbetriebsratsfürsten diese auf 12 Prozent herunterzudrücken versucht hatten. Im Ergebnis wurde nach zahlreichen betrieblichen Warnstreiks und einer Urabstimmung mit 97 Prozent, ohne dass es zum Streik kam, eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 15,3 Prozent erkämpft. Das war, erstmals und einmalig, mehr als gefordert und gleichzeitig die höchste Lohnerhöhung seit Bestehen der BRD.


Bleibende Ergebnisse?

Bis weit in die 80er Jahre hinein zehrten bei den verschiedensten Tarifauseinandersetzungen die Gewerkschaften von den Erfolgen in den 69er-Streiks. Auch der Massenaussperrung im Jahr 1971 begegneten die kämpfenden Kolleginnen und Kollegen offensiv und mit großer Geschlossenheit. Die streikenden und ausgesperrten Belegschaften aus dem Stuttgarter Stadtbezirk Bad Cannstatt hatten in Vorbereitung einer zentralen Kundgebung vor einem Werkstor ein Transparent: "Streik ist Notwehr - Aussperrung ist Terror" gemalt, und trugen diese Losung, welche sich bald überall durchsetzte, bei der Demonstration ins Zentrum von Stuttgart.(3)

Bis 1984 durch den Streik der baden-württembergischen Metaller der endgültige Durchbruch hin zur 35-Stunden-Woche geschafft war, gab es viele Tarifkämpfe zu erinnern wäre da an den Druckerstreik im gleichen Jahr - in denen, eben weil die klassenmäßige Interessenlage klar war, eine Reihe wichtiger Erfolge errungen werden konnte. So wurden u. a. die Verdienst- und Alterssicherung, der Schutz vor Abgruppierung, 6 Wochen Urlaub und die stufenweise Abschaffung der untersten Lohngruppen erreicht. Zu danken war dies in erster Linie der Kampfbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen und einer offensiven Orientierung auf Forderungen, die von Klasseninteressen bestimmt waren. Unter aktiven Gewerkschaftsfunktionären wurde aber auch rückhaltlos ausgesprochen, welch positive Rolle dabei, unsichtbar am Verhandlungstisch, ein dritter Tarifpartner, der real existierende sozialistische Staat im anderen Teil Deutschlands, gespielt hat.

Nicht zuletzt half die Existenz einer marxistischen Partei, der DKP, vielen Betriebsbelegschaften, sich nicht den Regeln des ausschließlich auf Profit orientierten Kapitals zu unterwerfen, sondern wie beim Kampf gegen immer mehr um sich greifende Stilllegungen, die Interessenlage von Klasse gegen Klasse zu erkennen. Dafür stehen solche Beispiele wie der Besetzungsstreik bei Videocolor in Ulm 1982, der SEK-Einsatz gegen die Belegschaft der Trafo Union in Stuttgart 1985 und vor allem die Besetzung der Brücke der Solidarität durch die Kumpels des Stahlwerks Rheinhausen in Duisburg 1987.

Gegen die Steigerung der Massenarbeitslosigkeit gibt es, nach dem Sieg der Konterrevolution in Deutschland, seitens der meisten Gewerkschaftsführungen keine Konzeption und kaum mehr nennenswerte Gegenwehr. Von Gegenmacht, wie in den 70er Jahren ist nicht mehr die Rede. Die Diskussion darüber ist im Partnerschaftsdenken versandet.


Heinz Hummler, Stuttgart, Rentner, ehemaliger Betriebsrat


Anmerkungen:

(1) 90 Jahre IG Metall, S.432/33
(2) offen und frei, Nr. 29/1968
(3) 90 Jahre IG Metall, S. 470

Literatur zum Thema:

Die Septemberstreiks - Auf den Arbeiter kommt es an, VMB 1969
Klassenkampf & Solidarität VSA 2007
Halali für Aktion Schneehase, Selbstverlag Karl Weber


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-08, 46. Jahrgang, S. 49-52
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2009