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MARXISTISCHE BLÄTTER/407: Was ist schöne Kunst? oder - Das Klassenauge muß trainiert werden


Marxistische Blätter Heft 4-09

Was ist schöne Kunst? oder: Das Klassenauge muss trainiert werden

Von Julia Sastra


Kunst soll schön sein. Sie soll "der Menschen Augen und Sehen erquicken, froh machen, rühren und erbauen", so der Kunstwissenschaftler Ludwig Knaus 1860. Bis heute prägt diese Vorstellung den Umgang mit Literatur, Theater, Oper, Film, Musik und Bildender Kunst. Seit Generationen gelten die Venus von Milo, die Mona Lisa oder Botticellis "Frühling" als Inbegriffe "ewiger Schönheit". Jeder und jede weiss, dass Gedichte von Mörike und Eichendorff, eine Sinfonie von Haydn und die Bilder der Impressonisten schön sind.

Die unermüdliche Reproduktion bourgeoiser Kunstvorstellungen durch Schule, Medien und Wissenschaft prägt die Wahrnehmung von und den Umgang mit Kunst im Bildungsbürgertum. Im Kleinbürgertum. Unter ArbeiterInnen. Unter "Linken". Unter MarxistInnen. "Ist es proletarische Augenkultur, wenn wir in neun Zehntel aller Arbeiterwohnungen Bilder, Fotografien und Nippes sehen, die dem kleinbürgerlichen Ideal der geleckten, romantischen, unwirklichen Schönheit, der kleinbürgerlichen Sehnsucht nach "süßem Müßiggang", der kleinbürgerlichen Verehrung "höherer" menschlicher und himmlischer Wesen, dem kleinbürgerlichen Familienstumpfsinn und nicht zuletzt jener kleinbürgerlichen Vorliebe für Zoten und dreckige Witze entsprechen, die die Folge einer von Moral und Kirche unterdrückten und verkrüppelten Sinnlichkeit ist?", fragt der KPD-Funktionär Edwin Hoernle in seinem Aufsatz "Das Auge des Arbeiters. Das Klassenauge muss trainiert werden". Er entsteht 1930, und Hoernle analysiert in ihm die vorherrschenden proletarischen Kunstvorstellungen: "Wenn sich der Proletarier eine Kamera auf Abzahlung ersteht, dann fängt er in neun von zehn Fällen genau wie sein bürgerlicher Nachbar mit dem Knipsen irgendeiner "schönen Landschaft", einer "romantischen Ecke", einer Familienpartie, eines "hübschen Mädels" an, holt sich also die Motive möglichst weit vom Klassenkampf entfernt, er will doch in seinem Album etwas zur "schönen Erinnerung" haben, etwas, was ihn die Not und den Dreck des Alltags "vergessen" lässt."

Natürlich könne dies jeder machen, so Hoernle. Doch er gibt zu bedenken: "Mensch, Baum und Eidechse unterscheiden uns nicht von dem gebildeten Bürgerlichen, der morgen vielleicht schon unsere Klassengenossen als Richter ins Zuchthaus spricht, als Naziführer die Mordhetze gegen uns leitet, dessen ausgezeichnete Kamera und ästhetische Bildung von unserem Schweiße bezahlt ist."

Konzernführer diktieren PolitikerInnen Anweisungen zur Umsetzung einer aggressiv-imperialistischen Politik. Ihre ideologischen Handlanger hämmern uns diese tagtäglich als alternativlos in die Hirne. Um uns herum herrschen Völkermord, Hunger, Unterdrückung, Ausbeutung. Die Wirklichkeit, wie sie ist, deformiert uns psychisch wie physisch. Wir leben in Zeiten politischer Reaktion. Wir sind wenige, unsere Stimme ist schwach.

Was ist angesichts dieser Wirklichkeit und dem Wissen um eine sozialistische Alternative "schöne" Kunst?
Weshalb soll Kunst überhaupt "schön" sein? Für wen?
Wie kam das "Schöne" in die Künste? Und was ist dort seine Funktion?
Wer bestimmt, was schön ist?

Das ästhetische Werturteil, ob etwas "schön" oder "häßlich" ist, stellt eine Form der Parteinahme dar, in der Individuen und Klassen ihre bejahende oder ablehnende Haltung zu bestimmten Erscheinungen der objektiven Realität zum Ausdruck bringen. Die Künste (Musik, Theater, Tanz, Literatur, Film, Bildende Kunst) sind in keinem Punkt von dieser objektiven Gesetzmäßigkeit ausgenommen, ganz gleich, ob sie Natur, Gesellschaft, Politik, Liebe usw. zum Gegenstand haben.
(Lexikon der Kunst)

Schon in der Antike machten sich Gelehrte Gedanken über "Schönheit". Oft verbanden sie den Begriff mit denen der Harmonie und Nützlichkeit. Nach Aristoteles etwa verkörperte im klassischen Griechenland der Mensch das Schöne, der alle Vorzüge an und in sich vereinigte. Ideellen Ausdruck fand dies in den Marmorskulpturen. Doch was waren das für Vorzüge? Das "Lexikon der Antike" erklärt: "In hohem Maße als schön gelten die sozialen Attribute der Freien: Ruhm, Würde, Ehre, Besitz, Freiheit von banausischer, entehrender Arbeit." Die Vertreter der herrschenden Klasse erklärten also sich selbst als "schön" und "nützlich" - auf dass die Masse der Unfreien, Arbeiter, Sklaven und Frauen Ruhe hält.

Auch die Kirche nutzte den Begriff des Schönen für ihre Zwecke: ihr galt die Welt als schön, da sie das Abbild der göttlichen Ordnung sei. Mithilfe dieser schönen göttlichen Ordnung schrieben die Kirchenherren fest, dass sie oben standen und der gemeine Mann unten. Bilder von Höllendarstellungen bzw. strahlenden Heiligen sollten helfen, diese Ordnung durchzusetzen: Was heute, herausgelöst aus dem historischen Kontext, von Kunstwissenschaftlern in Museen zu "schöner Kunst" gemacht wird, galt bis ins hohe Mittelalter als Handwerksprodukt, das sich von Philosophie und Religion nicht trennen ließ.

In der Renaisance stellte eine kleine Klasse frühbürgerlicher Händler und Bankiers nicht mehr Gott, sondern den Menschen in den Mittelpunkt der Welt. Im Kampf um politische Teilhabe eigneten sie sich die Welt rational an, und entwickelten die Idee einer humanistischen Gesellschaft. Die Malerei spiegelt diese Vorstellungen im Idealbild eines neuen, schönen, diesseitigen und selbstbewussten Menschen. Diese Zeit war, so Friedrich Engels, die "größte, progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte".

Die Kirchenmächtigen wehrten sich gegen diese Weitsicht: Mithilfe von Gegenreformation und Inquisition ließen sie Andersdenkende verfolgen, foltern und umbringen.

Was ist schön? Das Ideal des selbstbewussten, neuen Menschen der Renaissance? Die massenhaften Kirchenbilder der schönen göttlichen Ordnung, die die Bevölkerung bis ins 16. Jahrhundert hinein einschüchtern, dumm und gehorsam halten im Interesse der Feudalherren und ihrer Ordnung? Oder sind es die nach 1500 in deutschen Landen erschienenen volkstümlichen Holzschnitte und Flugschriften? Bilder, auf denen Ungeheuer Päpste scheißen, der Papst als Sau oder Esel erscheint, die Kirche Menschen in Schafe verwandelt und Bauern Ablassverkäufer aufhängen, weil sie es leid sind, sich von den Pfaffen und ihrer "schönen göttlichen Ordnung" auspressen zu lassen? Bilder, deren Schöpfer radikale gesellschaftliche Veränderungen einfordern?

Schönheitsurteile, -begriffe und -ideale (sind) stets auch Reflexionen konkreter sozialer Interessen und Bedürfnisse, Erwartungen und Anforderungen von Klassen und Schichten in Bezug auf die ästhetische Aneignung der Wirklichkeit.
(Lexikon der Kunst)

Das Schöne ist konkret. Es ist historisch. Es ist zukunftsorientiert. Es ist nicht zu trennen von einem Wert wie Wahrheit, von Kategorien wie Tragisch, Komisch, Anmutig oder Hässlich.

Wer wann was als "schön" empfindet, ist weder zufällig noch rein subjektiv. Doch bis zur Begründung der marxistischen Wissenschaft konnten die Menschen nicht erkennen, dass die Vorstellung von "Schönheit" - wie die von "Freiheit" oder "Demokratie" - historisch geworden und veränderbar ist. Dass sie abhängt von den objektiv herrschenden gesellschaftlichen Grundlagen, der jeweils herrschenden Klasse und ihren Werten. Von der Haltung beidem gegenüber.

In üppig-wallenden Kleidern aus kostbar schimmernden Stoffen, eng geschnürt und den Blick auf ihre hochgepressten Brüste freigebend, lustwandeln die Damen mit gleichfalls raffiniert ausstaffierten Herren durch samtiggrüne Parks. Sie hocken auf Lichtungen, spielen Theater, machen Musik oder geben sich Liebeständeleien hin. Antoine Watteaus (1684-1721) galante Bilder vom französischen Adel waren fast so erfolgreich wie die Bouchers (1703-1770), der in feinster Malweise nackte Frauen zeigt, die sich lassziv zwischen aufgeworfenen Bettdecken räkeln. Die adligen Auftraggeber waren hingerissen von den Bildern. Bis heute gelten sie als "schön", loben Betrachterinnen Watteaus neuen Umgang mit Farbe, goutieren sie an Boucher den erotischen Kitzel.

Doch so groß die Meisterschaft der beiden ist: Die "schönen Bilder" sind Ausdruck der Macht und Lebensart des absolutistischen Adels. Sie feiern eine nutzlose, sich langweilende, ausbeuterische, unterdrückerische Klasse. Sie gehören damit, wie Bertolt Brecht am Beispiel Paul Claudels verdeutlichte, zu den "gefährliche(n) Künste(n), die zu bestimmten Zeiten gefährlich sind, die lähmend wirken zu bestimmten, enervierend zu anderen Zeiten und für bestimmte Klassen, für andere Klassen", und die deshalb - zu bestimmten Zeiten - zu bekämpfen sind, da sie die Realität, wie sie wirklich ist, zum eigenen Nutzen verschleiern.

Zur selben Zeit entsteht dies: Der Blick auf eine Steinbank mit Kupferkessel, drei Eiern, einem Pfefferstreuer und einer Pfanne. Oder: zwei Apfel und ein Messer. Oder: ein Wasserglas und eine Kaffekanne.

Auf kleinem Format und in klaren Konturen hält Jean Siméon Chardin (1699-1779) seine alltägliche Umgebung fest, malt - stets vor einfarbig dunklem Hintergrund - Kessel- und Rübenputzerin, Küchenmagd und "Die Freuden des häuslichen Lebens". Das Bild zeigt eine Bürgerin, die sinnend in einem roten Sessel hockt und in ihren Händen ein Buch hält. Neben ihr: ein Tisch mit einem Spinnrad.

Als einer der ersten zeigt Chardin das an die Macht strebende französische Bürgertum samt seiner Tugenden - Vernunft, Fleiß, Bildung, Natürlichkeit, Die Werke dienen dem Bürgertum zur Begründung eines eigenen Selbstverständnisses. Als Abgrenzung zum Adel und seiner als unschön empfundenen Kunst. "Boucher: Ich weiss nicht, was ich über diesen Mann sagen soll", stöhnt sein Zeitgenosse Diderot, "Der Verfall des Geschmacks, der Farbe, der Komposition, der Charaktere, des Ausdrucks, der Zeichnung folgte Schritt für Schritt der Verderbung der Sitten Ich wage zu behaupten, dass er geschmacklos ist".

Was nun wäre für uns schön?

Während in Frankreich die gesellschaftliche Situation zur Revolution drängt, setzt das ökonomisch schwache deutsche Bürgertum auf die "Erziehung des Menschengeschlechts", um eine gerechtere Gesellschaft zu erreichen. Als Mittel zum Zweck dient vor allem die Literatur: Erziehungstraktate und moralische Abhandlungen sollen die neuen bürgerlichen Tugenden als das "Schöne, Wahre, Gute" vermitteln.

Nach dem Wiener Kongress von 1815 flieht das Bürgertum vollends in private Idyllen. Vor Reaktion, Verfolgung demokratischer Ideen, Bespitzelung und Zensur zieht es sich zurück in weltfremde schöne Kunstwelten, von denen es meint, so die DDR-Historikerin Renate Krüger, dort "jeden äußeren Zwang durch innere Freiheit kompensieren oder gar aufheben zu können." So halten Biedermeier-Maler Familienidyllen fest. Und zahlreichen Poeten entdecken das christliche Mittelalter, Schäferidyllen und die Natur, deren blaue Bänder sie flattern lassen.

Heinrich Heine zieht aus der herrschenden Wirklichkeit radikal andere Konsequenzen. Empört fragt er, wie man angesichts der Verhältnisse noch Poesie betreiben könne. Für ihn sei "die Zeit der Gedichte" vorbei. Statt auf "Frühlingssonne", "Maienwonne" und "Gelbveiglein" hätte er sich auf Prosa verlegt, die andere Inhalte verlange. So hätte er nachdenken müssen über "die Mittel, wie man die Leute besser und glücklicher machen kann." Denn, so Heine, "meine Liebe für Menschengleichheit, mein Hass gegen den Klerus war nie stärker als jetzt, ich werde dadurch fast einseitig. - Aber eben um zu handeln, muss der Mensch einseitig werden."

Ist schön, was für uns geistig nützlich ist?

Der Widerspruch zwischen schönem Schein und realer Situation, zwischen humanistischer Idealbildung und affirmativer Idealisierung im Schönen wird mit sich entwickelnden bürgerlichen Verhältnissen symptomatisch.
(Lexikon der Kunst)

1848 lässt die Bourgeoisie die Arbeiterinnen niederschlagen. In den 50er Jahren hetzt sie Zensoren und Spitzel gegen Republikaner und Arbeitervereine. In den 60cm und 70cm wird sie durch fortschreitende Industrialisierung und Ausbeutung immer reicher, ihre Politik immer reaktionärer. Gleichzeitig schmückt sie ihre Salons mit exotistischen Haremsszenen, symbolistischem Schwulst, idealistischen Idyllen, religiöser Verklärung, arkadischen Landschaften, sowie pompösen, sie selbst verherrlichenden Historienbildern.

Nach Aufklärung und Revolution spricht die Bourgeoisie der Kunst jetzt - als ihre neue Hauptauftraggeberin - jegliche emanzipatorische Fähigkeit ab. Gleichzeitig behauptet sie die gesellschaftlichen Verhältnisse als unveränderbar. Aufgabe der Künste wird es nun, mithilfe schönen Scheins die herrschende Realität der kapitalistischen Gesellschaft zu verschleiern, und bürgerliche Geschäftemacherei, Gewinnsucht, Ausbeutung und Egoismus unter strahlendem Glanz zu verbergen. Dafür werden sie inszeniert als ein von gesellschaftlichen Widersprüchen freier Raum, als etwas "reines", "erhabenes", das mit dem schnöden Alltag nichts zu tun hat: "Die Kunst und nichts als die Kunst, kann uns vor den schmutzigen Gefahren des Lebens schützen", schreibt Oscar Wilde Mitte des 19. Jahrhunderts.

Dagegen ringen einige wenige Künstler um Möglichkeiten, der "schönen Lüge" das "wahre Schöne" entgegenzuhalten: Charles Baudelaire konfrontiert die Idyllen-Literatur nach 1848 mit der Hässlichkeit der Realität und schafft dafür neue Inhalte und Formen. Gustave Courbet entwickelt gegen die schönfärberische Saionkunst seine "dreckige" Malerei, mit der er den Blick auf die Menschen von unten richtet. Honoré Daumier greift zum Mittel der Karikatur, um die reaktionären Jahrzehnte bis zur Niederschlagung der Pariser Kommune darzustellen, und die jeweiligen "Volksvertreter" als machtbesessenen, devoten, ausschließlich auf eigene Interessen fixierte Klüngel vorzuführen. Bilder, die nicht den schönen Schein zeigen, sondern die Wirklichkeit. Werke die aufklärerisch - also geistig nützlich - und damit zukunftsweisend sind.

Die herrschende Vorstellung von Kunst ist jedoch eine andere. Die Bourgeoisie, ihre Presse und ihre Kunstwissenschaftler, wie etwa Theodor Lipps, erklären unisono: "Schön ist etwas, was den Betrachter zur Einfühlung stimuliert, dazu, sich ganz und gar in den betrachteten Gegenstand hineinzuversenken". Schöne Kunst diene der Kontemplation, könne den Menschen von seinen alltäglichen Sorgen befreien, und, so Lipps 1907, das Ich "von der Realität des Lebens" befreien.

Kunst und Wirklichkeit werden bewusst voneinander getrennt. Damit, so der DDR-Kunsthistoriker Peter H. Feist, verkommt das Schöne in der Kunst immer mehr "zur bloßen Verschönerung und Harmonieillusion von Wirklichkeit", wird mit "illusionären und verklärenden Bedeutungszuweisungen" belastet.

Dies gilt bis heute. Und es funktioniert bis heute. Hartnäckig hält sich auch unter "Linken" die bourgeoise Vorstellung, die Künste seien eine von Klassengegensätzen befreite Welt. Anstatt ihnen mit marxistischer Haltung gegenüberzutreten, um ihre Nützlichkeit - und damit Schönheit - für unsere Zwecke zu prüfen, geben sie, so Brecht, "in der Garderobe ihr gewohntes Benehmen, ihre Haltung "im Leben" ab; wollen sie abgelenkt werden vom desaströsen Alltag". Bereits Sigmund Freud entlarvte diese Sehnsucht als "Ersatzbefriedigung" und "Illusion", und konstatierte: "Diese Rauschmittel (die Künste) tragen unter Umständen die Schuld daran, dass große Energiebeträge, die zur Verbesserung des menschlichen Loses verwendet könnten, nutzlos verloren gehen."

Angesichts einer Wirklichkeit, die uns auf die Ware Arbeitskraft reduziert und andere Fähigkeiten und Bedürfnisse verkümmern lässt, hoffen viele, wenigstens in den Künsten sich als ein Ganzes spüren zu können: Sie möchten sich hineinfallen lassen in Musik, sich in Filme, Theater oder Romane hineinversetzen und mit den handelnden Personen identifizieren. Die Künste als harmonisierende Kraft - damit wir den Dreck der Welt besser ertragen.

Als hätten wir nicht stets zu fragen, wer uns da was als "schön" vorsetzt. Wer da warum "große Gefühle" schafft. Wem ihre Darstellung dient. Und zu welchem Zweck.

Wer heute Künste noch immer für zweckfrei oder ewig-schön hält, wer noch immer behauptet, sie könnten alle Menschen einen - Ausbeuter und Ausgebeutete, Besitzende und Besitzlose -, weil sie ein von den Widersprüchen der Gesellschaft befreiter Bereich seien, vertritt herrschende bürgerliche Ideologie. Er verleugnet damit die bestehenden Klassengegensätze. Er verleugnet die Veränderbarkeit der Verhältnisse, deren konkreter Ausdruck die jeweils herrschenden Schönheitsvorstellungen sind. Er verleugnet die Fähigkeit der Künste, Bewusstsein zu vernebeln oder zu schaffen.

Wer als Marxist oder Marxistin die Venus von Milo, die Mona Lisa, die Sommerlandschaften der Impressionisten "schön" findet, sollte dafür bessere Argumente parat haben als die Bürgerlichen. Und wer als MarxistIn noch immer von den Künsten erwartet, sie sollten erhabene Gefühle vermitteln, dem hält Bertolt Brecht entgegen, dass die Wirklichkeit in den Künsten manchem wie eine Erniedrigung vorkommen möge, "da er die Kunst, ist die Bezahlung geregelt, in die höchsten Sphären versetzt; aber die höchsten Entscheidungen für das Menschengeschlecht werden auf der Erde ausgekämpft, nicht in den Lüften."

"Ich habe die Verse mir nach der poetischen Schönheit ausgesucht. Aber poetisch schön ist für mich nur das Nützliche, das geistig Nützliche", erklärt Hanns Eisler die Vertonung eines Hölderlin-Gedichts. Denn zwischen den massenhaft produzierten "schönen Lügen" gab und gibt es stets auch das "wahrhaft Schöne", das Wirklichkeit zeigt, wie sie ist. Dies als für uns Nützliches - und damit Schönes - aufzuspüren, uns anzueignen und weiterzuentwickeln setzt eine eingreifende, marxistische und dialektische Lebenshaltung voraus. Man brauche dafür, so Eisler, Übung, Kenntnisse und Lebenserfahrung. "Und zwar Lebenserfahrung nicht des Spießbürgers, ... sondern Lebenserfahrung eines Kommunisten. Er muss genau wissen: Worauf kommt es an, was kann er sagen - und was nützt das Gesagte."

Eine realistische Einstellung gegenüber der Wirklichkeit heißt primär, dass die objektive Wirklichkeit, so wie sie ist, ohne religiöse Verhüllung und in ihrer Gänze, als wesentlicher Aneignungs- und Darstellungsgegenstand angesehen wird. Sie steht damit im Gegensatz zu all den Auffassungen, die Kunst in eine "höhere" Welt der Ideen ansiedelt und - aus welchen Gründen auch immer - sie von der tatsächlichen Wirklichkeit abtrennt und damit von ihr ablenkt.
(Peter H. Feist)

Paris, Sommer 1873.

Zwei Jahre zuvor ließ die Bourgeoisie die Kommune zerschlagen und tränkte Paris in Blut. Jetzt liegt die Stadt in Schutt und Asche. Jegliche Opposition ist erstickt.

Vor den Toren der Stadt malt Claude Monet eine helle Sommerlandschaft, in der sich einige in weiße Spitzenkleider gehüllte gutbürgerliche Spaziergängerinnen mit Sonnenschirmchen verlieren. Es ist das Lieblingsmotiv impressionistischer MalerInnen, das in dieser Zeit in hunderten Varianten entsteht. Gleichzeitig fordern führende Pariser Schriftsteller, nach dem Albtraum der Kommune müsse die Literatur die Bevölkerung von dem erlebten Unflat "ablenken und erbauen". Meterweise verfassen sie nette Liebesgeschichten und Gedichte über Rosen.

Gustave Courbet sitzt derweil als ehemaliger Vertreter der Kommune im Gefängnis. Die Vorstellung der Bourgeoisie und ihrer Künstler, Kunst habe schön und erhaben zu sein und solle unbequeme Wirklichkeit ausblenden, macht er mit seinen Pinselstrichen zunichte. Seine Erkenntnis: "Die Grundlage für Realismus ist die Verweigerung des Idealen". Die Konsequenz: "Man muss die Kunst in die Gosse führen."

Im Gefängnis entstehen Bilder, die bildfüllend jeweils eine Forelle zeigen. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass die Fische an einer Angelschnur hängen.

Was ist angesichts dieser Wirklichkeit "schön"?

Die Malerei der Impressionisten, deren Blick von der widersprüchlichen Realität weg in gutbürgerliche Salons und auf Sommerwiesen fällt? Denen es gleich ist, wie ein zeitgenössischer Kritiker schreibt, ob sie sich mit einem Blumenstrauß oder einem Gesicht beschäftigen? Die sich statt um neue Inhalte, um rein malerische Fragen kümmern? Eine Methode, die 99 Prozent der bürgerlichen KünstlerInnen bis heute nutzen, um in ihrer Arbeit Wirklichkeit auszublenden.

Courbet, dessen Forellen an Angelhaken vom gefesselten, mundtot gemachten Künstler erzählen?

Die Parnasse-Literaten, die sich im rote-Rosen-Duft ihrer Poesie verlieren?

Das Gedicht "Aufenthalt in der Hölle" des 17-Jährigen Artur Rimbaud, in dem er von den Leistungen der Kommune erzählt und von ihrer brutalen Niederschlagung? In dem er, trotz herrschender blutiger Reaktion, den Widerstand gegen die Bourgeoisie beschwört?

Was ist nun schön? Und also uns nützlich? Szenen aus dem Bauernkrieg. Ein Bergarbeiterstreik. Der Weberaufstand. Die Armut des Proletariats. - Mit Hilfe einer starken Arbeiterbewegung und einer marxistischen Arbeiterpartei entwickelt Käthe Kollwitz ab 1898 neue künstlerische Themen und Formen. "Ich bin einverstanden damit, dass meine Kunst Zwecke hat. Ich will wirken in dieser Zeit, in der Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind", notiert sie im November 1922 in ihrem Tagebuch. Eine Haltung mit Tradition - von Renaissance über Reformation, Aufklärung, Französische Revolution, 1848, 1871 bis zur Novemberrevolution. Eine Haltung, der das Bemühen um eine grundlegend neue Gesellschaft zugrunde liegt. Eine schöne Haltung.

Trotz starker KPD und eigener Kulturstrukturen hängt und steht in Arbeiterhaushalten vor allem der billige Abklatsch bürgerlich-idealistischer Traum- und Fluchtwelten. Seit den 1870er Jahren produzieren Unternehmer Massenkultur: Trivialliteratur, Groschenhefte, Drucke "schöner" Blumenstilleben und Landschaften. Dinge, die die ArbeiterInnen von ihrem tristen Dasein ablenken, moralisch "erheben" und ihren Alltag "verschönern" sollen, damit sie ihr Elend still erdulden. Deshalb fordert KPD-Funktionär Edwin Hoernle: "Das Klassenauge muss trainiert werden".

John Heartfield und George Grosz ringen um ein marxistisches Klassenauge: Sie zerschlagen den schönen Schein der angeblich harmonischen bürgerlichen Welt und entwickeln neue, dynamische Formen. Heartfield konfrontiert gegensätzliche Positionen und Ansichten miteinander und verlangt von seinen Betrachterinnen weiterzudenken, die Lügen der Herrschenden zu entlarven. Grosz reißt den Herrschenden die Masken vom Gesicht und zeigt ihre hässlichen Fratzen. Der Theaterregisseur Erwin Piscator entstaubt an der Berliner Volksbühne Klassiker: Karl Mohr aus Schillers "Räuber" tritt als Kommunist auf, sein Gegenspieler Spiegelberg als Trotzkist. Einige Arbeiterfotografen nehmen Rodschenko als Vorbild, der in der jungen UdSSR den Aufbau der neuen Gesellschaft in dynamischen, vorwärtstreibenden Perspektiven fotografierte. Die meisten jedoch konsumieren und produzieren Kunst, wie Hoernle kritisch bemerkt, mit den Augen Bürgerlicher.

Eine marxistische Vorstellung von Schön darf nicht von einem ästhetischen Ideal ausgehen, dem die Wirklichkeit unterworfen ist. Vielmehr muss sie real, historisch und revolutionär sein. Kritikwürdig ist die illusionäre Vorstellung, Harmonie sei ohne Konfliktbewältigung zu gewinnen - sie ist vielmehr deren Ausdruck.
(Claus Träger)

Sommer. Ein junges Paar am Strand. Hinter ihnen das Meer. Er hockt mit dem Rücken zum Meer, sie liegt bäuchlings neben ihm. Beide blicken nach rechts aus dem Bild, ihre Hände berühren sich im Sand.

Walter Womackas Bild "Am Strand" entsteht 1962. In einer Umfrage anlässlich der V. Deutschen Kunstausstellung in Dresden wird es zum beliebtesten Bild der Veranstaltung gewählt. Jahrzehntelang ist es der gefragteste Kunstdruck des Landes, heute kann man ihn für 20 Euro im ND-Shop kaufen. "Ohne Furcht, von einigen der Schönfärberei bezichtigt zu werden", heißt es 1963 in einem Beschluss der TeilnehmerInnen der Tagung des Präsidiums des VBK, der das Werk wiederholt als vorbildhaftes darstellt, "erhebt Walter Womacka ganz bewußt mit seinem Bild die Schönheit unseres Lebens, die Schönheit unserer heranwachsenden Jugend und ihres inneren Reichtums zum Schönen in der Kunst und kommt dadurch zur ästhetischen Verallgemeinerung der Wahrheit unseres Lebens."

Wenn damals bereits alles so schön und harmonisch war, - wie hat es dann zu 1989 kommen können?

1963 malt Bernhard Heisig ein Bild der Pariser Kommune. Er zeigt das Ereignis als leidenschaftlich erlebte Tragödie. Den Obersten ist es zu negativ. Heisig zerstört das Bild. 1965 stellt Fritz Cremer seine Skulptur "Deutschland bleiche Mutter" vor. In der großen sitzenden Frauenfigur mit zerschlagener Stirn und übergroßen Händen erinnert Cremer an die Jüngste deutsche Geschichte, an Widerstand, Verfolgung, Leid. Die Skulptur ist umstritten. Kritisiert wird, dass ihre Proportionen nicht stimmten und sie nicht schön sei. "Was soll das allgemeine Gerede über Schönheit? Gibt es denn eine Schönheit an sich?", schreibt Cremer. "Wirkliche Kunst ist immer wahr und wahre Kunst ist auch immer schön. Sogenannte "schöne Kunst" aber ist nicht immer wahr. Meiner Ansicht nach braucht die sozialistische Kunst kein Schönheitsideal wie es die Klassengesellschaften vergangener Epochen propagierten." Statt sozialistischen Idealismus fordert Cremer eine Kunst, "die Menschen zum Denken veranlasst, und keine, die ihnen das Denken abnimmt."

Etliche Politiker und Funktionäre sehen das anders. Dennoch streiten einige Künstler hartnäckig für eine wirklich sozialistische, dialektische Kunst, Neben Fritz Cremer macht dies vor allem Volker Braun. 1968 charakterisiert er Kunst, die statt des Seins den Schein festhält als eine Kunst, "die vor der Gegenwart abbricht in die Idylle und sich selbst auflöst mit den Widersprüchen." Eine, so Braun, "mutlose" Kunst. Wie Cremer verwahrt sich auch der Schriftsteller und Dramatiker Braun unermüdlich gegen Schönfärberei, das Wegbügeln herrschender Widersprüche, das Verschweigen von Problemen, das So-Tun-als-ob der Sozialismus bereits erreicht sei, als gäbe es - wie in der bürgerlichen Ideologie - einen historischen Endpunkt, der aller dialektischen Bewegung und Entwicklung ein Ende mache.

Angesichts massenhaft ungelöster gesellschaftlicher Probleme, des Klassenfeindes im Innern, sowie ständiger Bedrohung von Außen wendet Braun sich entschieden gegen solche sozialistisch-idealistischen Idyllen. "Freilich ist es möglich, so weit vorzugreifen, dass einem die Realität nicht mehr dazwischenkommt", schreibt er damals, "und ich sehe diesen anmutigen Weg jetzt von dem glänzenden Hacks beschritten. Ich müsste mich nur, auf ziselierten Schwingen, aus der prosaischen Wirklichkeit hinausheben in die poetische Zukunft. Ich sage nicht, dass das keine Kunst ist! Ich fürchte bloß, das sozialistische Establishment, das auf wenig noch mit sich hinauswill, wird sich dabei bald wohlfühlen." Doch, so warnt Braun, "die Widersprüche, an denen sich wirklich die Bewegung der Zeiten, der Gesellschaft zeigen lässt, sind Epochenwidersprüche und haben einen zäheren, mächtigeren Gang, als dass sie sich mit einem Schritt überholen ließen."

Einfacher als die realistische Analyse der Wirklichkeit ist ihre Idealisierung. Doch wo Funktionäre, gleich welcher Art, sich anmaßen, KünstlerInnen vorzuschreiben, wie ihre Kunst aussehen soll, wo sie didaktische Zukunftsentwürfe liefern soll, anstatt kritisch die Wirklichkeit zu befragen, wird sie notwendig schönfärberisch. "Ein junger wie auch ein alter Künstler kann sich nur orientieren nach dem, was er selbst als richtig erachtet oder begriffen hat", erklärt Fritz Cremer, "Die Eigenverantwortlichkeit ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für gute Kunst."

Hässlich kann nur etwas sein, was schön war oder schön sein könnte.
(Claus Träger)

Ein kahler Raum. Die Wand grau. Der Boden graugrün. In der Mitte eine Art Podest, auf dem ein verrenkter menschlicher Körper steht, ohne Arme, ohne Kopf, dort wo der Hals sein könnte, ragt ein Stück Wirbelsäule in die Luft.

Der britische Künstler Francis Bacon malte bis zu seinem Tod 1992 immer wieder den gefolterten, geschundenen Menschen, wendet sein Innerste nach außen. Wie einst das Bürgertum vor Courbets revolutionär neuer Malerei zurückzuckte, sind noch heute viele von Bacons Bildern schockiert: Von dem, wie der Mensch dem Menschen Gewalt antut. Aber es ist wahr.

Kann das Hässliche schön sein?

Im Hässlichen, betont der DDR-Literaturhistoriker Claus Träger, stecke "stets das Element der Entrüstung, eingeschlossen in die objektive Darstellung der Negation des Schönen". Auch sei Hässlich nicht einfach das Gegenteil von Schön: "Es ist, was seine objektive Seite angeht, die Zerstörung des Schönen, sein Verfall, und in subjektiver Hinsicht die Entrüstung oder die Trauer über diese Negation des Schönen. Das Hässliche setzt also in jedem Betracht den Wert des Schönen voraus. Es existiert in der Kunst als subjektive Verneinung des Verfalls oder der Zerstörung des Schönen, das heißt als Negation der Negation. Als Negation wird das Hässliche uns schön, zur indirekten Bejahung des Schönen."

In historischen Aufbruchzeiten wie der Renaissance, der Aufklärung, der Französischen und der Oktoberrevolution konnten die an die Macht strebenden neuen gesellschaftlichen Klassen optimistische Schönheitsideale entwickeln, bei denen ein neuer, idealer Mensch im Mittelpunkt der jeweiligen Künste stand.

In Zeiten der Reaktion, der politischen Unterdrückung, der fundamentalen Schwäche alternativer Ideen, der Schwierigkeiten ihrer Verbreitung, entwickeln die wenigen KünstlerInnen, die noch gegen die vorherrschenden Ansichten anarbeiten, andere Strategien: In vielerlei Form und Gestalt entlarven sie - Heine, Büchner, Baudelaire, Courbet, Daumier - herrschende Missstände. Denn, so Bertolt Brecht 1930, das "Schöne darf uns nicht mehr als wahr erscheinen, da das Wahre nicht als schön empfunden wird".

Und heute? Angesichts der Übermacht herrschender reaktionärer Ideologie? Der kräftemäßig bedeutungslosen Alternativen? Des daraus folgenden Mangels an marxistischen KünstlerInnen? Was ist da "schöne" Kunst? Kunst, die heute entsteht?

Viele Arbeiten von Magdalena Abacanowicz, Doris Salcedo, Francis Bacon, Luis Camnitzer, Mauricio Cattelan, Alfred Hrdlicka oder Santiago Sierra verweigern Schönheit und Harmonie. Sie zeigen das Hässliche der Wirklichkeit, die herrschenden Widersprüche. Ihre Benennung und Darstellung - Ausbeutung, Erniedrigung, Folter, Gewalt, Deformation - erschreckt, rüttelt auf, kann auf die Notwendigkeit von Veränderung verweisen. "In meiner Arbeit versuche ich den Mangel an Schönheit zu zeigen und ihre Abwesenheit. Das ist wahrscheinlich, wie ich Schönheit am nächsten komme", erklärt die kolumbianische Künstlerin Doris Salcedo Ende der 90er Jahre. Wer von Kunst simple Vertröstung, Bilder einer roten Zukunft oder die Vermittlung schönfärberischer bourgeoiser Gefühlswelten erwartet, reagiert deshalb auf ihre Arbeiten, wie auf die von Camnitzer, Bacon oder Sierra oft aggressiv und beklagt, dass diese Kunst kahl sei. Doch sie wird, so Bertolt Brecht, "in Wirklichkeit nicht kahler, als sie in Wirklichkeit ist. Aber sie ist eben kahl. Hier schaut die Fratze derer, die sie ausräubern, am besten durch."

Vom marxistischen Standpunkt aus, erklärt Claus Träger, "erfüllt das Hässliche eine wichtige ästhetische Wertungsfunktion, da es die historisch-konkrete Ablehnung von Erscheinungen in der objektiven Realität ausdrückt, die der Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte, dem realen Humanismus ... sich hemmend in den Weg stellen." Folglich sei Schönheit, so Träger, "wie jede Sinnerfüllung nicht ohne Kampf zu erreichen. Insofern drückt sich im jeweiligen Schönheitskonzept immer auch die Einstellung zur jeweils konkret-historisch bestimmten Notwendigkeit des Kampfes um Sinnerfüllung des Menschenlebens aus."

So wäre "schön", wenn sich jemand in seinem Schreiben, Komponieren, Filmen, Malen wehrt gegen die Herrschaftslügen? Gegen das Glattbügeln der Widersprüche? Das Verharmlosen der Wirklichkeit? Wenn jemand gegen die "schönen Lügen" die Realität so hässlich und vielfältig zeigt, wie sie ist? Schön wären Werke mit Inhalten und in Formen, die dieser widersprüchlichen Realität angemessen sind? Die - im besten Fall - die bestehenden Verhältnisse als veränderbare vorführen? Schön wäre, was uns - in angemessener ästhetischer Form - im Kampf für das Neue "geistig nützlich" sein kann, auch wenn dieses heut zumeist von fortschrittlichen bürgerlichen Künstlerinnen geschaffen sein wird?

1956 forderte Bertolt Brecht in der DDR, die Künste müssten die Kunstgenießer spalten: "Was wir erreichen müssen, ist, dass im Publikum ein Kampf entfacht wird, und zwar ein Kampf des Neuen gegen das Alte. Wir müssen also erreichen, dass wir ... das Publikum wirklich scheiden", denn nie wird es geschlossen für das Neue sein.

Um wieviel mehr muss dies heute gelten, gegenüber den herrschenden Künsten, die uns mit ihren schönen Lügen einlullen und stillhalten wollen. Gegenüber gutgemeinter "kritischer Kunst", die oft simplifizierend und schablonenhaft daherkommt. Wir sollten Ansprüche stellen, auch uns selbst gegenüber. So wie Hoernle, Brecht, Eisler, Cremer, Braun und viele andere. Denn egal von welcher Seite es kommt, gilt: Alles Glatte, Idyllische, Geordnete, leicht Üherschaubare und Erfassbare sollte uns suspekt sein. Die Wirklichkeit ist widersprüchlich, vielschichtig, oft verwirrend, brutal und hässlich, immer in Bewegung begriffen. Nicht die Flucht in schöne falsche Welten, sondern das Ringen um Wahrheit, der Wille nach Erkenntnis und Veränderung, die Suche nach angemessenen Formen für neue Inhalte sind schön. "Im Marxismus-Leninismus ist Schönheit als ein dynamisches Prinzip gefasst", schreibt Claus Träger, "Es ist mit Tätigkeit verbunden, es ist mit Widerstreit verbunden, es ist mit Lust verbunden - auch mit der Lust am Kampf."


Julia Sastra, Hamburg, Journalistin


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-09, 47. Jahrgang, S. 30-39
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2009