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MARXISTISCHE BLÄTTER/456: Ölkatastrophe im Golf von Mexiko


Marxistische Blätter Heft 4-10

Ölkatastrophe im Golf von Mexiko - Ein Fanal des eigentlich überlebten Ölzeitalters

Helmut Selinger


Was ist geschehen? Daten, Fakten, Zeitverlauf bisher

Am 20. April 2010 explodierte die Ölbohrinsel "Deep Water Horizon". Der Ölmulti BP(1) betrieb zusammen mit den Firmen Transocean (Betreiber der Ölplattform) und Halliburton (Spezial-Dienstleister für Ölbohrungen) eine Offshore-Tiefsee-Ölbohrung in 1.500m Tiefe, ca. 80 km vor der Küste Louisianas südlich von New Orleans im Golf von Mexiko.

Am Abend des 20. April beschloss BP trotz unzureichender Tests und Meinungsverschiedenheiten der Fachleute, den Abschluss der Testbohrung in der Tiefe einzuleiten, um wenige Tage Zeit und vergleichsweise lächerliche Kosten zu sparen. BP wollte endlich die "Erschließung" eines neuen Ölfeldes vermelden.

Ca. 2 Stunden später dringt Gas aus dem Bohrloch an die Oberfläche und explodiert auf der Bohrinsel. Einige Crewmitglieder werden sofort getötet. Ein infernalisches Feuer breitet sich aus, glücklicherweise liegt in der Nähe ein Versorgungsschiff, das die meisten der über 100 Arbeiter der Bohrinsel retten kann, elf Menschen verlieren direkt ihr Leben. Herbeigeeilte Löschschiffe haben keine Chance. Nach weiteren Explosionen sinkt die Bohrinsel am Morgen des 22. April, das Bohrrohr bricht und die Ölkatastrophe nimmt ihren Lauf, im übrigen ist dies der 40. Jahrestag des "Earth Day", der in vielen Ländern als Umwelttag von Millionen Menschen begangen wird.

Unterwasserroboter liefern Bilder der Lecks in 1.500 m Tiefe, aus denen in dunklem Schwall mit hohem Druck Öl in die Tiefsee sprudelt.

Nun beginnt ein Drama verharmlosender Abschätzungen und Verlautbarungen des Konzerns BP. Die US-amerikanischen Behörden sind hilflos auf die Angaben und Aktivitäten von BP angewiesen, denn sie besitzen keine adäquate Technik, um in dieser Meerestiefe bei dem dort herrschenden extrem hohen Wasserdruck Überwachungs- oder gar Katastrophenschutzmaßnahmen durchführen zu können. So gab BP am 26.4. die austretende Ölmenge zunächst völlig verharmlosend mit ca. 130 t pro Tag(2) an. Dieser Wert wurde am 30.4. auf 560 t pro Tag erhöht, am 11.6. schätzten dann US-Geologen die ausströmende Ölmenge auf bis zu 5.400 t pro Tag - am 12.7. lauten die Schätzungen auf bis zu 6.800 t pro Tag(3) und in Summe wird die in die Tiefsee ausgetretene Ölmenge bis zu diesem Datum auf bis zu 550.000 Tonnen geschätzt. Zum Vergleich: Bei der bisher größten Ölkatastrophe in den USA, beim Tankerunglück der Exxon Valdez 1989 in Alaska flossen ca. 40.000 t Rohöl in das Meer (s. u.).

Noch im April wurde in Louisiana der Notstand ausgerufen. Am 30.4. erreicht das Öl erstmals das Mississippi-Delta südlich von New Orleans, am 9.5 werden Ölklumpen an der Küste Alabamas gesichtet. Alle Versuche, das Leck am Meeresgrund zu schließen, scheitern kläglich. Die angeblich so sicheren technischen Vorrichtungen für einen Notfall versagen allesamt. Am 11.5. - bei einer Anhörung vor dem US-Senat - schieben sich die Manager von BP, Transocean und Halliburton die Schuld gegenseitig zu. Am 14.5. erklärt BP-Chef Tony Hayward, "der Ölteppich sei "relativ winzig im Vergleich zum sehr großen Ozean". Am 15.5. entdecken unabhängige Wissenschaftler riesige versteckte Ölschwaden in verschiedenen Tiefen unterhalb der Wasseroberfläche, die vielfältig möglichen ökologischen Auswirkungen des Öls und der zusätzlich zur Dispergierung des Öls in großen Mengen künstlich zugefügten giftigen Chemikalien(4) sind im noch kaum erforschten Ökosystem der Tiefsee völlig unbekannt und das Ausmaß der Verseuchung unter Wasser ist langfristig möglicherweise noch wesentlich dramatischer als an der Wasseroberfläche, an der das Öl, soweit es möglich ist, abgefackelt, aufgefangen oder zurückgehalten wird. Die Schilderung der diversen weiteren Begebenheiten und der Chronologie im Zusammenhang mit dieser Katastrophe sei hier abgebrochen, zumal dies im Internet gut dokumentiert ist(5). Am 16.7. kam von BP die Nachricht, eine neu installierte Abdichtkappe verhindere erstmals, dass am Bohrloch Öl austritt, allerdings sei dies noch keine sichere Abdichtung.

Ein Ende und das ganze Ausmaß dieser Katastrophe ist noch nicht absehbar. Die Folgen für die Menschen in der Region und evtl. darüber hinaus(6), die Natur, empfindliche Ökosysteme, Tiere und Pflanzen werden noch Jahrzehnte zu spüren sein.

Im Folgenden werden einige Fragen und Aspekte aufgeworfen, die sich durch diese Katastrophe wie in einem Brennglas besonders intensiv und symbolträchtig stellen, und ohne Anspruch auf Vollständigkeit zumindest kurz angerissen:


Das Verhältnis Staat - Ölkonzerne: Der Staat ist zum kläglichen Büttel bzw. Komplizen der Energiekonzerne geworden

Wie schon erwähnt, haben der US-amerikanische Staat und entsprechende Behörden(7) kaum Mittel und Gerätschaften, um ihre Kontrollpflichten bei den extrem risikoreichen Tiefseebohrungen auszuüben. Außerdem sind sie in keiner Weise adäquat ausgerüstet, um wirksame Maßnahmen des Katastrophenschutzes für derartige Risiken in der Tiefsee zu bewältigen. Trotzdem haben die zuständigen Behörden solche Tiefseebohrungen in großer Anzahl ohne vernünftige Prüfungen und Auflagen und im Vertrauen auf die beschönigenden Angaben der Energiekonzerne über die angeblich mehrfache Sicherheit der eingesetzten Technik und die "außerordentlich geringe Wahrscheinlichkeit" einer derartigen Havarie genehmigt.

Ein Grund ist auch in der sehr engen persönlichen Verquickung zwischen Ölindustrie und "Aufsichtsbehörde" in der Region zu sehen.

Der tiefere Grund jedoch für die Schwäche bzw. Selbstentmachtung des Staates liegt darin, dass Ideologie und Praxis der Energiekonzerne in den USA Staatsräson ist. D. h. die Denk- und Handlungsweise der Energiekonzerne ist in der US-amerikanischen Gesellschaft auf allen Ebenen kaum hinterfragt. Dies ist an diesem Beispiel exemplarisch zu erkennen.

Vor allem in der Bush-Ära gab es eine direkte Verbindung der US-Regierung mit der Ölindustrie. Mit dem Amtsantritt von Obama hat sich zumindest die Rhetorik geändert. Faktisch wich jedoch auch Obama in wesentlichen Punkten, so z. B. in der Energie- und Klimapolitik von seinen ursprünglich proklamierten Zielen ab und stellte sich nicht der notwendigen Auseinandersetzung.

Die Katastrophe im Golf von Mexiko ereignete sich im übrigen zeitlich am Anfang einer neuen Phase von Offshore-Bohrungen vor US-amerikanischen Küsten (u. a. Virginia). Obama hat Ende März 2010 - um die Zustimmung der Republikaner für sein Klimaschutzprogramm zu erhalten - das seit fast 30 Jahren geltende Moratorium für Ölbohrungen vor den US-Küsten im Atlantik und in Alaska aufgehoben(8). Angesichts der Katastrophe verhängte Obama Ende Mai einen 6-monatigen Bohrstopp für Tiefseebohrungen im Golf von Mexiko. Es sollten 33 Bohrinseln vorübergehend geschlossen werden. Die Regierung wollte die Gefahren der Tiefseebohrungen besser untersuchen lassen. Die Ölindustrie zog jedoch gegen dieses als Mindestmaßnahme objektiv sinnvolle Moratorium vor Gericht, sie argumentierte, der Bohrstopp sei willkürlich und bestrafe die gesamte Branche. Und, es ist kaum zu glauben, gleichzeitig, während das Öl nur ca. 100 km entfernt in die Tiefsee strömt, gab das Bundesgericht in New Orleans der Ölindustrie recht und hob das Moratorium auf. D. h. auch in der Judikative ist die Sichtweise der Ölwirtschaft verankert. Die neuen Versuche der US-Regierung, doch noch einen Bohrstopp durchzusetzen, erscheinen eher kläglich.

Auch die neue Energiegesetzgebung, die demnächst vom US-Kongress verabschiedet werden soll, ist mit Zugeständnissen an die Ölindustrie gespickt.

Passend zu dieser Nachricht und ein weiteres Lehrstück für das Zusammenspiel zwischen Konzernen und Staat bzw. Gerichten in den USA ist die Reduzierung der Schadenszahlungen im Fall des Öl-Tankerunglücks der "Exxon Valdez" in Alaska, das der größte Konzern der Welt, der Ölmulti ExxonMobile, im März 1989 zu verantworten hatte.

1994 war den Fischern fünf Milliarden US-Dollar als Schadenersatz zugesprochen worden, 2006 wurde dieser Betrag auf 2,5 Mrd. Dollar halbiert, nun - am 26. Juni 2010 - reduzierte der oberste Gerichtshof der USA diese Summe noch einmal auf lediglich 0,5 Mrd. Dollar, d. h. ein Zehntel der ursprünglich für angemessen gehaltenen Schadenersatzleistungen. Der Ölkonzern Exxon (2008: Nettogewinn ca. 45 Mrd. Dollar, Umsatz 477 Mrd. Dollar) kämpfte mehr als 20 Jahre lang verbissen für diese Reduktion der Schadensersatzleistungen. Der übermächtige Konzern setzte nach Aussagen der Fischergewerkschaft mehr als 400 Mio. Dollar für seine Anwälte ein, mit diesem Geld kaufte Exxon einfach fast alle Rechtsanwälte in der Gegend auf, so dass die Fischergewerkschaft, die nur 1/10, aber immerhin noch 40 Mio. Dollar für ihre Anwälte investierte, diese im ganzen Land für den Kampf gegen den Ölriesen suchen musste.

Ähnlich desaströs wie sich im globalisierten Kapitalismus die Steueroasen im Finanzsektor auswirken, dient die Billigflaggen-Registrierung von Schiffen und auch Bohrinseln dem Sonderprofit. So war die "Deep Water Horizon" auf den Marshallinseln registriert, um Steuern zu sparen und Sicherheitsauflagen zu umgehen. Neben einer laxen Aufsicht durch die regionalen Behörden tritt ein internationales Seerecht, das zugunsten internationaler Konzerne große Lücken im Hinblick auf Vorsorge und Umweltschutz hat. Unterstützenswert ist die Forderung einer globalen UN-Konvention zur Sicherheit neuer, riskanter Ölbohrungen(9).


Das fossilistische Zeitalter fordert seinen Tribut. Der gesamte Öl-, Energie-, Auto-, Flugzeug- und Rüstungs-Industriekomplex gehört eigentlich auf die Anklagebank, nicht nur BP

Während der Aktienkurs von BP dramatisch in den Keller rutschte, warten die anderen großen Ölmultis auf ihre Chance, einen ihrer großen Konkurrenten übernehmen oder zerschlagen zu können. Sie argumentieren, die Katastrophe im Golf von Mexiko sei alleine durch Fehler von BP zustande gekommen, die ihnen nie passieren würden. Diese Argumentation ist natürlich nicht stichhaltig, denn die Geschäftspraktiken und Antriebsmomente sind bei allen großen Ölmultis gleich. Ihre Geschäftspolitik wird geleitet von der Jagd nach Profit. So haben die 4 größten Ölmultis der Welt, Exxon, Shell, BP und Chevron/Texaco, im Jahr 2007 bei einem Umsatz von 1,3 Billionen Dollar einen Nettoprofit von 111 Milliarden Dollar erzielt(10). Darunter an erster Stelle Exxon mit 41 Mrd. Dollar und BP an dritter Stelle mit 21 Mrd. Dollar. Unterschiedslos für all diese Konzerne ist die Jagd nach Profit die oberste Maxime und es gilt der von Marx im "Kapital"(11) zitierte Satz "Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens."

Generell ist die Situation so, dass aufgrund des drohenden Klimawandels und des nicht verallgemeinerbaren exorbitant hohen Energie- und Ressourcenverbrauchs in den hoch entwickelten Industrieländern - insbesondere USA - nicht nur eine Wachstumsbegrenzung sondern eine radikale Reduzierung und Umstellung objektiv notwendig ist. Allerdings wird die auf die Ausbeutung fossiler Rohstoffe gegründete globale kapitalistische Gesellschaftsordnung und deren Öl-, Energie-, Auto-, Flugzeug und Rüstungsindustrie ihre Geschäfte so lange weiterführen, wie dies irgendwie möglich ist. Die privaten Ölkonzerne fördern zwar noch etwa die Hälfte des weltweit produzierten Öls, sie kontrollieren aber nur noch 10 bis 15 % der derzeit weltweit bekannten Ölreserven. D. h., um ihre Profitgeschäfte weiter fortsetzen zu können müssen sie in immer unzugänglichere und riskantere Fördergebiete ausweichen. Deshalb ist die Ölbohrung in der Tiefsee keineswegs nur von BP beabsichtigt, alle Konzerne, z. T. auch die Staatskonzerne - z. B. auch von Brasilien - setzen auf Offshore-Tiefseebohrungen. Weil die heutige globalisierte kapitalistische Gesellschaftsordnung wesentlich auf der Ausbeutung fossiler Energien und anderer Rohstoffe beruht, gehört eigentlich der gesamte von diesen fossilen Ressourcen profitierende Industriekomplex auf die Anklagebank. Am Ende ist dies auch eine Systemfrage und eine Frage des gesamten westlich orientierten Lebensstils.

Deshalb sind Proteste, die sich nur gegen die gewiss auch zu Recht zu beklagenden Schlampereien, Fehler und aus Profitgier getroffenen falschen Entscheidungen bei BP richten, eher problematisch zu sehen. Proteste müssen sich vielmehr mindestens auch gegen die gesamte Energie- und Transportwirtschaft richten, die weiterhin auf dieses Lebensstil-, Konsum- und Geschäftsmodell orientiert.

Die auch bei dieser Katastrophe zum Ausdruck kommende Gier nach immer weiter wachsendem Energie- und Rohstoffverbrauch stößt an ihre Grenzen. So spricht der Bayreuther Geologieprofessor Klaus Bitzer(12) von einer "standhaften Realitätsverweigerung" bei der Einschätzung der künftigen Möglichkeiten der Erdölförderung bei der Ölindustrie. Selbst angesichts der Katastrophe sind im Branchenblatt "Offshore" Stimmen zu lesen, wie "die Tiefseearena ist nichts für die Mutlosen ... Mit dem Erfolg kommt der Enthusiasmus" (Experte der Ölexplorationsfirma Schlumberger, Mark Riding).

Keiner der großen Ölkonzerne zieht grundsätzlich kritische Konsequenzen aus dem Desaster im Golf von Mexiko. Der Chef von Shell kündigte sogar Anfang Juni an, das Tiefseegeschäft auszubauen. Selbst BP verfolgt seine Pläne z. B. in der Tiefsee vor der norwegische Küste unbeirrt weiter.


Im Verhältnis Mensch - Natur kommt eine grundsätzlich falsche Hybris im Gebrauch von Technik in einer vom Profit getriebenen Gesellschaft zum Vorschein

Ein weiterer Aspekt der Katastrophe im Golf von Mexiko betrifft die Frage des Umgangs der vom Profit getriebenen Gesellschaft mit der Natur und die Frage des völlig überheblichen Gebrauchs der Technik. Dieses Beispiel zeigt zum einen bewundernswerte technische Leistungen. Es ist in der Tat eine Meisterleistung(13), in einer Meerestiefe von 1.500 bis 3.000 m ein fast 10 km tiefes Loch in die unter dem Meer liegende Erdkruste zu bohren. In der Tiefsee herrscht extrem hoher Druck bei absoluter Dunkelheit und eiskaltem Wasser. Dies ist eine Lebensumwelt, die dem Menschen völlig fremd ist. Alle Operationen müssen über ferngesteuerte Roboter ablaufen. Der Einsatz von Menschen in dieser Tiefe ist völlig ausgeschlossen. Die Ölindustrie feiert ihre Erfolge z. T. als Weltrekorde mit Preisen und großer Überheblichkeit. So sollte die "Deep Water Horizon" in der Zeit des Unglücks mit einem Preis für die sicherste und leistungsfähigste Bohrinsel von BP ausgezeichnet werden. Nun muss man jedoch konstatieren, dass der Umgang mit dieser Technik in diesen Tiefen nicht beherrscht wird. Die monatelange Hilflosigkeit bei der Eindämmung der Katastrophe war ein ähnliches Signal wie bei den Atomkraftwerks-GAUs in Harrisburg und Tschernobyl.

Aus dieser Erfahrung resultiert die Erkenntnis, dass wir eine grundsätzlich andere Art des Gebrauchs von Technik benötigen. Generell braucht die Menschheit im Umgang mit gefährlicher Technik Prinzipien der Verantwortung, Vorsicht, Vorsorge, Behutsamkeit und Achtsamkeit. Technische Systeme müssen so ausgelegt sein, dass sie bei Unfällen fehlerfreundlich reagieren und nicht unbeherrschbar werden. Außerdem müssen staatliche Stellen in der Lage sein, effektive und scharfe Kontrollen durchzuführen und selbst wirksamen Katastrophenschutz zu leisten. Mit diesen Voraussetzungen müssen dann breite, transparente gesellschaftlich-demokratische Diskussionen geführt werden, inwieweit und bis zu welchem Grad riskante Projekte angegangen werden. Auf keinen Fall darf eine lediglich durch extreme Profiterwartung einseitig als sicher deklarierte Technik eingesetzt werden. Der Umgang mit hochriskanten Technologien darf nicht nach Profitgesichtspunkten entschieden werden. Dies gilt nicht nur für Tiefseebohrungen, Kernkraft und Gentechnik, sondern auch für Urwald- und Polarregion-"Erschließung" und neuerdings diskutierte sogenannte global sich auswirkende Geoengeneering-Projekte, die angeblich zur Abwendung des Klimawandels tauglich seien.


Berichterstattung bei dieser Katastrophe, Wahrnehmung der Öffentlichkeit regional und global. Zeichnet sich eine Protestbewegung ab?

Diese Katastrophe ist auch ein lehrreiches Beispiel, wie eine derartig eindeutige und klare Sachlage im kapitalistischen Medienbetrieb und durch den beteiligten Konzern in der Öffentlichkeit präsentiert wird. Zunächst wurde durchaus sachgerecht und angemessen über die Explosion und das Sinken der Ölplattform als Unfall berichtet. Da es Bilder aus der Tiefe des Meeres nur von Seiten von BP gab, wurde dann jedoch tage- und wochenlang kaum scharfe und wenig aussagekräftige Kamerabilder des Ölstroms in der Tiefe gezeigt, begleitet von absolut beschönigenden Angaben über die auströmende Ölmenge (s. o.). Nach wenigen Tagen kontrollierte BP in trauter Eintracht mit staatlichen Behörden den Zugang zu Informationen. Journalisten berichteten über Behinderungen ihrer Arbeit, Fotojournalisten konnten Orte mit schlimmeren Auswirkungen der Ölpest nicht aufnehmen.

Entschädigungszahlungen und Hilfsjobs, um die Ölpest zu bekämpfen, wurden mit der Verpflichtung verbunden, keine Unterstützung bei unabhängigen Berichten zu leisten oder sogar über bestimmte Aspekte zu schweigen. Der Konzern war bemüht, im Internet seine verharmlosende Darstellung der Geschehnisse zu verbreiten. Dazu kaufte der Konzern bei großen Suchmaschinen mehrere Schlüsselwörter wie "oil spill" ("Ölpest"), um Internetnutzer an erster Stelle auf die eigenen Darstellungen zu leiten. In diesen Darstellungen wird vor allem viel blauer Himmel und sauberes Meer gezeigt, mit einigen Arbeitern, die im sauberen Overall die Säuberung von Stränden gut im Griff haben bzw. Öl aus dem Meer abpumpen und Ingenieure, die scheinbar professionell mit dem Unfall und den Folgen umgehen. Es sollte der Eindruck erweckt werden, dass alles nicht so schlimm sei. Dazu wurde immer wieder betont, dass BP für alle Folgen aufkommen wird und bald alle Folgen des Unfalls beseitigt sein werden. Immerhin wurde finanziell von einem Treuhandfonds für zukünftige Kosten von 20 Mrd. Dollar gesprochen. Z. T. war sogar die Rede von einer Summe von 50 Mrd. Dollar. Wie es am Ende, nach Jahren, im Unterschied zu aktuellen Beteuerungen mit solchen Schadenersatzleistungen durch große Konzerne jedoch aussieht, konnte just zur selben Zeit einer Nachricht über den "Erfolg" von Exxon Mobile vor dem obersten US-Bundesgericht in Sachen Exxon-Valdez-Schadensersatzkosten entnommen werden (s. o.).

Eine örtlichen Protestbewegung scheint nur schwach und wenig grundsätzlich kritisch gegenüber der Ölförderung im Meer bzw. der Ölförderung und dem Ölverbrauch überhaupt zu sein. Sie ist paralysiert durch die unmittelbare Betroffenheit und Existenzbedrohung. Die Menschen vor Ort sind ausgeliefert und abhängig von diesem und anderen Ölkonzernen, sie sind allenfalls wütend auf BP. Oft gibt es in denselben Familien zum einen Fischer, deren Existenz für die absehbar nächste Zeit zerstört ist(14), und zum anderen Arbeiter, die auf den zahlreichen Ölplattformen oder bei der Weiterverarbeitung des Erdöls ihr Auskommen finden. Selbst in der Katastrophe sind die Menschen auf BP angewiesen, sie müssen sich als Reinigungskräfte bei diesem Konzern verdingen. Wut äußert sich allenfalls über falsche konkrete Versprechungen, unzureichende Schadenersatzleistungen, peinliche Befragungen vor Schadensleistungen und sonstige misstrauische und unsensible Behandlung der Opfer durch BP.

Eine große landesweite Solidaritäts- und Anti-Öl-Kampagne ist nicht in Sicht. Lediglich einige große Umweltverbände wie Greenpeace stellen die Orientierung auf Öl und andere fossile Rohstoffe grundsätzlich in Frage. Auch in anderen Ländern richtet sich der Protest eher nur gegen den Konzern BP als gegen die Ölindustrie überhaupt und die Orientierung auf fossile Energierohstoffe.

Kleine Aktionäre von BP und Rentner in Großbritannien, deren Pensionsfonds mit dem Wohlergehen von BP verknüpft sind, befinden sich in einer teuflischen Komplizenschaft mit dem Konzern. Auch wenn sie ein Verständnis und Mitgefühl mit den existenzbedrohten Fischern und anderen betroffenen Menschen in der Krisenregion haben, so werden sie doch oft aufgrund ihrer eigenen Interessenlage um die Profitabilität von BP bangen und im Zweifelsfall eher Sparmaßnahmen des Konzern bei betroffenen Opfern befürworten. Ähnlich widersprüchlich ist die Situation der allermeisten Bürger in den hochentwickelten Industrieländern, die spüren, dass jedes Auto und Flugzeug und viele Heizungen, die mit Öl oder anderen fossilen Energien betrieben werden, mit diesem Energieregime und damit auch dieser Art der Ölförderung zusammenhängen. Diese Erkenntnis ist bitter, aber die Menschheit und damit auch wir müssen uns dieser Wahrheit stellen.

Eine Lösung dieses Dilemmas kann jedoch nicht nur in einem persönlichen Verzicht auf Öl und andere fossile Ressourcen liegen, sondern wir brauchen die Einsicht, dass die gesamte Struktur des Energie- und Rohstoffkonsums verändert werden muss.


Notwendig ist ein Systemwechsel - ähnlich wie zur Bewältigung der Klimakrise

Diese Ölkatastrophe im Golf von Mexiko sollte in erster Linie für die USA ein starkes Warnsignal - ein "Fanal" - sein, um den Weg des ungebrochen hohen Energiekonsums und des unverantwortlich hohen Verbrauchs von fossilen Rohstoffen und damit unverschämt hoher CO2-Emissionen(15) zu verlassen. Präsident Obama hat in seiner ersten Rede aus dem Oval Office(16) am 16.6.2010 z. T. die richtigen Worte gefunden. Immerhin warb er im letzten Drittel seiner Rede um eine grundsätzliche Energiewende in den USA. Er verglich den Ölverbrauch der USA mit einem Drogenabhängigen. Auch die Kontrolle der Ölfirmen habe versagt und es sei zu Korruption gekommen. Er verglich die Herausforderung mit der des 2. Weltkrieges.

Allerdings ist es nicht damit getan "die Schlacht gegen das Öl zu gewinnen, das unsere Küsten und unsere Bürger angreift", wie er im ersten Teil seiner Rede sagte, sondern es ist notwendig, einen grundsätzlichen Kampf zu führen gegen eine Lebensweise und ein ganzes System, das von enormen Machtgruppen getragen wird. Dieser Kampf gegen Konzernmacht und ein ganzes Lebens- und Konsummodell kann nur geführt werden, wenn die Massen in den USA, dann aber auch in den anderen industrialisierten Ländern diese Einsicht haben und sich Politiker finden, die diesen Kampf mit den Menschen zusammen gegen die herrschenden Kräfte führen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die sich bildende weltweite Klimabewegung nach dieser Katastrophe noch mehr durch eine entsprechende Bewegung aus den USA und anderen Ländern gestärkt wird, unter dem Motto "System Change - not Climate Change".

Hier im Sinne eines symbolträchtigen Ereignisses, das eine folgenreiche Veränderung ankündigt. Interessanterweise war Fanal in den 1960er Jahren auch der Markenname für Mineralöle der Hugo Stinnes AG. Damals gehörten zur Fanal-Kette über 800 Tankstellen. Ende der 1970er Jahre umfasste das Netz über 1.000 Tankstellen. Nach 1970 wurde die Fanal-Kette an VEBA verkauft und schließlich 1978 an BP. Bis 1991 wurden alle Fanal-Tankstellen nach und nach entweder geschlossen oder auf die Marke BP umgeflaggt.


Helmut Selinger, Dr., München, Naturwissenschaftler


Anmerkungen:

(1) Internationaler Energie-Konzern mit Hauptsitz in London, einer der vier weltgrößten Ölmultis ("big oil"), im Jahr 2008 Umsatz: 387 Mrd US-$, Nettoprofit: 21.7 Mrd $ hervorgegangen aus British Petroleum. Heute soll das Akronym für beyond petroleum (über Benzin hinaus) stehen, um das Engagement in neuen Energien zu unterstreichen. Dies ist allerdings eher eine riesige Image-Kampagne und in keiner Weise durch die Realität begründet. Was BP bislang pro Tag an erneuerbaren Energien erzeugt, ist weniger als ein Tausendstel seiner Öl- und Gasproduktion. BP besitzt rund 22.400 Tankstellen (in D vor allem ARAL), und fördert knapp 5 % der weltweiten Öl- und Erdgasproduktion.

(2) Das entspricht etwa drei Öltank-Güterwaggons à 43 t - pro Tag.

(3) Das entspricht etwa fünf Güterzügen mit jeweils 32 Öltank-Waggons - pro Tag.

(4) Die US-Umweltbehörde EPA und US-Küstenwache genehmigten den Einsatz dieser chemischen Zersetzungsmittel, u. a zunächst das Chemikaliengemisch Corexit, mit dem Argument, diese seien "generell weniger schädlich als das giftige Öl"; in Großbritannien z. B. ist Corexit seit über 10 Jahren als zu giftig verboten! Der Aktienkurs der Chemiefirma Nalco, die Corexit produziert und mit der Ölindustrie verbunden ist, stieg im Mai sprungartig an.

(5) s. z. B. http://www.spiegel.de/flash/0,,23431,00.html

(6) Zwischenzeitlich wurde auch auf Key West an der Südspitze von Florida Öl festgestellt. Von dort sind es nur noch 150 km bis nach Matanzas in Kuba. Die Wahrscheinlichkeit, dass Öl in den Golfstrom gelangt, ist nicht vernachlässigbar.

(7) So ist die U.S. Minerals and Mining Service, MMS, zuständig für die Prüfung und Genehmigung von Tiefseebohrungen. Am 27.5.10 wird die Chefin der MMS, Elizabeth Birnbaum, von Obama gefeuert: es gebe zu enge Verbindungen zur Ölindustrie, es sei zu lax kontrolliert worden Offshorefirmen, 2009 bekam die "Horizon" einen solchen Sicherheits-Preis. Auch die US-Küstenwache wirkt hilflos und überfordert. Ähnlich die US-Environmental Protection Agency EPA.

(8) Nach der Katastrophe wurde dieses Offshore-Explorationsprogramm zunächst gestoppt.

(9) Von Klaus Töpfer, Zeit 15.7.2010

(10) TSW-Report 73 Klima-Killer-Konzerne, 5. 42 (ISW = Institut für sozialökologische Wirtschaftsforschung München)

(11) Marx Das Kapital Bd 1, MEW Bd 23, 5. 788, Fußnote

(12) Prof. Bitzer unterstützt die "Association for the study of peak oil and gas" (ASPO); http://www.peakoil.net/

(13) BP meldete am 2.9.2009, dass der "Horizon" bei einem benachbarten Ölfeld "Tiber" die tiefste Ölbohrung aller Zeiten gelungen ist: Das Ölfeld liegt 10.685 m tief

(14) Zur Zeit sind etwa ein Fünftel des Golf von Mexiko für den Fischfang gesperrt.

(15) Die Pro-Kopf CO2-Emissionen der USA betragen ca. 20 t CO2 pro Einwohner und Jahr, der entsprechende weltweite Durchschnitt liegt bei ca. 4 t.

(16) Die Dramaturgie "Rede an die Nation - aus dem Oval Office" wird nur sehr selten angewendet und bleibt dramatischen Momenten in der Geschichte der USA vorbehalten.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-10, 48. Jahrgang, S. 19-25
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2010