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MARXISTISCHE BLÄTTER/470: Kapital-Begriff und Kapitalismus-Analyse


Marxistische Blätter Heft 6-10

Kapital-Begriff und Kapitalismus-Analyse

Von Werner Seppmann


"Sie erklären gar nichts, berühren niemals etwas Tieferes in den Dingen, sie bewegen sich weit entfernt von den Wissenschaften, sie haben nicht einen Funken von jener menschlichen Begabung, die Dinge selbstständig zu durchdenken, daher missachten sie auch die Auslegungen der Weisen und lesen traditionelle Texte nach ihrem eigenen begrenzten Verständnis."

Moses Maimonides
(judäo-arabischer Philosoph 1135 - 1204)


Eine eklatante kapitalistische Widerspruchsentwicklung hat zu einem neuen Interesse am Marxismus geführt. Wie zuletzt in den späten 60er und 70er Jahren ist eine Bewegung organisierter "Kapital"-Lektüre und -Schulung entstanden. Sie ist Ausdruck der ungebrochenen Faszination einer Theorie, die Dutzende Male "widerlegt" wurde und trotzdem immer wieder neue Generationen animiert hat, sich mit ihr zu beschäftigen. Verwunderlich ist das nicht: Während angesichts der Krisenexzesse die herrschenden ökonomischen Doktrinen sich als konzeptionslos erweisen und der Glaube an die Möglichkeit einer "Pazifizierung" des Kapitalismus schwindet, hat die Marxsche Theorie von kapitalistischer Entwicklungsstufe zu kapitalistischer Entwicklungsstufe an Überzeugungskraft gewonnen. Faktisch präsentiert sich Marx weniger als ein Analytiker des neunzehnten Jahrhunderts, sondern weit mehr als "ein Ökonom des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts. Heute ist die westliche Welt dem 'reinen' Modell des 'Kapitals' weit näher als zu der Zeit, da es geschrieben wurde."

Es wäre jedoch kurzschlüssig, das neue Interesse am "Kapital", umstandslos mit einer Renaissance produktiver Marx-Beschäftigung gleichzusetzen. Zwar gibt es nicht wenige Aneignungsbemühungen, die den gegenwärtigen Kapitalismus mit Hilfe des Marxschen Analyseverfahrens zu verstehen versuchen. Oft gelingt es auch, einem spontanen Antikapitalismus ein festes Fundament zu geben. Die "Kapital"-Lektüre-Bewegung leistet in ihren überwiegenden Teilen einen bemerkenswerten Beitrag zu konkreter (Selbst-)Aufklärung. Ohne Frage: Sie stellt ein ermutigendes Gegengewicht zu der nun schon Jahrzehnte währenden Marxismus-Verdrängung und Marxismus-Verleugnung dar.

Jedoch agieren im Windschatten eines antikapitalistischen Aufbruchs auch eine ganze Reihe von "Kapital"- und Marxismus-Interpreten, denen es nach eigenen Bekundungen nicht darum geht, gesellschaftskritische Artikulationsbedürfnisse zu fundieren. Denn vorrangig sind sie damit beschäftigt, die Marxismus-Interessierten in ein Labyrinth weltloser Exegese zu führen: Die Marxsche Kapital-Analyse wird so zurechtgestutzt, dass von ihr letztlich nur noch ein Kategoriensystem als Ausdruck der "Umarbeitung der Hegelschen Logik" übrig bleibt. Inhaltlich wird ein Marx-Verständnis ohne die 11. Feuerbachthese, also die Perspektive der Weltveränderung, propagiert. Es wird von den Wortführern dieser Diskursgemeinschaft, die für sich eine "Neue Marx-Lektüre" in Anspruch nehmen, klipp und klar gesagt, wohin die Reise geht: Es soll die Kritik der politischen Ökonomie "generell von revolutionstheoretischen Deutungen" "befreit" werden.


"Kapital"-Exegese statt Gesellschaftstheorie

Die Versuche, Marx ohne Praxis-Bezug zu interpretieren, haben eine lange Tradition. Ganze Bibliotheken wurden mit Beiträgen zur "Wertformanalyse" gefüllt, die jedoch kaum mehr als eine (wenn auch anspruchsvolle) intellektuelle Selbstbeschäftigung darstellen. Ob beabsichtigt oder nicht: Die Aufmerksamkeit wird dabei systematisch vom Blick auf die aktuellen Machtstrukturen und Klassenverhältnisse, von der konkreten Analyse des Gegenwartskapitalismus insgesamt, abgelenkt. Fraglich bleibt, ob es von den "Ableitungs"-Prozeduren oder den theoretischen Explikationen zur "logischen Struktur des Kapitalbegriffs" noch fruchtbare Verbindungslinien zu den Analyseerfordernissen einer kritischen Theorie der Gesellschaft gibt. Der betriebene Aufwand dieser Diskursschulen steht jedenfalls in einem auffälligen Missverhältnis zu ihren gesellschaftsanalytischen Erträgen.

Zwar sind methodische Vorklärungen über die theoretische Konsistenz der Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie für ein profiliertes Verständnis des Gegenwartskapitalismus von eminenter Bedeutung, jedoch können sie dessen empirische Analyse nicht ersetzen. Produktive Bedeutung für ein kritisches Gesellschaftsverständnis besitzen die Erörterungen über "das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft" nur, wenn die konkreten Gesellschaftsprozesse immer mit im Blick behalten werden. Allgemeine Bewegungsgesetze und die ihnen zugeordneten kategorialen Bestimmungen sind leere Abstraktionen, wenn sie nicht wieder zu den sozialen Bewegungsformen in Beziehung gesetzt werden. Schon gegen Proudhon hatte Marx eingewandt, dass "die Materialien der Ökonomen ... das bewegte und bewegende Leben der Menschen [sind] und nicht ... die Dogmen der Ökonomen".

Ein Blick in den Briefwechsel von Marx (nicht nur den mit Engels, der jedoch von besonderer Bedeutung ist) zeigt, wie er geradezu gierig und ohne Vorbehalte neue Informationen und Fakten aufgesogen und in immer neuen Anläufen die Erklärungskraft seiner Kategorien an den realen Entwicklungen überprüft hat. Man kann es auch so formulieren: "Die Marxsche Werkstatt überrascht immer wieder mit der Frische ihres Gedankenmaterials."

Das abstrakte "Entwicklungsgesetz" und der kategorielle Interpretationsrahmen (also allgemeine Aussagen über den Kapitalismus) als unverzichtbare Basis einer konkreten Gesellschaftsanalyse sind Ergebnis theoretischer "Verdichtungsarbeit", deren Bezugs- und Ausgangspunkt die empirischen Sachverhalte sind: "Die Struktur des 'Kapitals' ist nicht die von logischen Kategorien, denen die untersuchte Wirklichkeit und ihre Bearbeitung untergeordnet wäre; die wissenschaftlich analysierte Wirklichkeit wird vielmehr in der 'dialektischen Gliederung', die sich in einer entsprechenden logischen Struktur herausbildet und realisiert, adäquat zum Ausdruck gebracht."

Um das zu leisten, sah Marx es als unabdingbar an "durch Kritik eine Wissenschaft erst auf den Punkt zu bringen, um sie dialektisch darstellen zu können". Die Theoriearbeit eignet sich deshalb zunächst "den Stoff ... im Detail" an, trennt das Zufällige vom Gesetzmäßigen und stellt dann Zusammenhänge her, wo dem oberflächlichen Blick die "Tatsachen" als selbstevident erscheinen. Aber am Ende des Reflexionsvorganges muss wieder die Rückvermittlung zum Zwecke einer "Kontrolle durch die Tatsachen respektive durch die Praxis" stattfinden: "Die abstraktesten Bestimmungen, genauer untersucht, zeigen immer auf weitere konkrete bestimmte historische Basis hin".

Zur adäquaten Konzeptionalisierung des theoretischen Zusammenhangs hält Marx also die Rückkopplung des Kategoriengeflechts zu den historischen Bewegungsformen für unumgänglich. Theorie und Empirie stehen in einem wechselseitigem Bedingungsverhältnis: "Das unaufhörliche Oszillieren zwischen der abstrakten dialektischen Entwicklung und der sinnlich konkreten historischen Wirklichkeit durchdringt das ganze 'Kapital' von Marx. Es muss jedoch betont werden, dass sich die Marxsche Analyse unaufhörlich aufs Neue von dem Ablauf und der Oberfläche der historischen Wirklichkeit loslöst und ideell die inneren notwendigen Beziehungen dieser Wirklichkeit ausdrückt. Nur so konnte Marx die historische Wirklichkeit begreifen, nur dadurch, dass er das wissenschaftliche Abbild als die leicht idealisierte und typisierte innere Organisation der historisch wirklichen kapitalistischen Verhältnisse gestaltete."

Von der angeblich neuen "Marx-Lektüre" wird jedoch eine fundierende Bedeutung des dialektischen Beziehungsverhältnisses von Logischem und Historischem für die Kritik der politischen Ökonomie grundsätzlich in Frage gestellt: Die Auseinandersetzung mit den ökonomietheoretischen Kategorien soll weder als "Vorschule" zur adäquaten Erfassung gesellschaftlicher Entwicklungen dienen, noch aus einem realen Vermittlungsverhältnis heraus verstanden werden. Stattdessen soll "das Realsystem politische Ökonomie als ein Ganzes ökonomischer Kategorien" fixiert werden: Der historische und soziale Prozess, wovon sie im Marxschen Verständnis "in dieser Bestimmtheit abstrahiert sind", soll weitgehend ausgeklammert bleiben. Der Begriff tritt an die Stelle des konkreten Wissens über die Dinge in der Welt: er dient nicht als Schlüssel zu ihrem Verständnis, sondern letztlich als Denkzeug der Realitätsabwehr: Im Widerspruch zur Marxschen Selbstpositionierung wird unterstellt, dass es ihm nicht um die Rekonstruktion des historischen Vermittlungsverhältnisses und der gesellschaftlichen Funktionalität der Kategorien (beispielsweise Profit, Preis, Zins, Arbeit etc.) ginge, sondern er sich vorrangig mit der "reinen" Analyse ihrer immanenten Formentwicklung beschäftigt hätte.

Die ganze Konstruktion dient letztlich dazu, die Marxsche Theoriearbeit zu konterkarieren: Die Absicht, "kritisch und revolutionär" die gewordene gesellschaftliche "Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite" hin, aufzufassen, wird auf den Kopf gestellt und versucht, ein Bild vom Kapitalismus als sich unaufhörlich und historisch grenzenlos reproduzierendes System zu konstruieren. Das impliziert - ganz im Sinne der neoliberalen Ideologie - eine Auffassung des gegebenen Gesellschaftszustandes als festgefügt und alternativlos.


System und Subjekt

Argumentiert wird im Geltungsbereich dieser "Neuen Marx-Lektüre" meist im Windschatten eines objektivistischen Theorieverständnisses, das in den 60er Jahren, dabei Grundelemente eines traditionellen Dogmatismus neu aufpolierend, von Louis Althusser propagiert wurde. Der französische KPF-Philosoph hatte mit seiner Parole "Das Kapital lesen" Furore gemacht. Der Hauptgedanke seines gleichnamigen Buches bestand in der Behauptung, dass das Marxsche "Kapital" die alleinige Basis eines "wissenschaftlichen" Marxismus sei und fast alle anderen theoretischen Erörterungen einer "ideologischen" Denkphase von Marx angehörten. Propagiert wird ein Marx ohne Historischen Materialismus, Zivilisationskritik und humanistische Selbstvergewisserung, ohne Entfremdungstheorie und konkrete Emanzipationsperspektive.

Im Kontrast zu einem "ganzen" Marx und unter ausdrücklichem Verzicht auf Dialektik (sowohl als Bewegungs- als auch als Denkform) und historisch-materialistischer Geschichtsauffassung wird ein "reiner" Logizismus propagiert, der sich nur noch für formale Abläufe und eine unmittelbare "Faktizität" interessiert: "Wir müssen in aller Strenge die absolute Notwendigkeit begreifen, die Theorie der Geschichte von jedem kompromittierenden Anklang an eine 'empirische' Zeitlichkeit ... zu befreien."

Althusser stilisiert im Rahmen seines ahistorischen Wissenschaftsverständnisses (nach dem Modell naturwissenschaftlicher Beschreibungsprozeduren) die Kapital-Analyse als geschlossenes System ohne jeden Weltbezug: "Einmal wirklich begründet und entwickelt bedürfen ... [Wissenschaften] zur Verifizierung ihrer Erkenntnisse, d. h. zum Nachweis des Erkenntnischarakters ihrer Produkte, keiner Bestätigung durch andere, äußere Praxisformen mehr." Jeder empirischen Bezugnahme und jeglicher historischen Entwicklungsvorstellung - auf welcher Stufe der Theoriearbeit auch immer - wird eine schnöde Absage erteilt: "Wir betrachten das Resultat ohne sein Werden ..., [denn dies] befreit uns von der empiristischen Ideologie der Geschichte."

Ist aber eine Theorie ohne Fakten, empirische Rückkopplung und ohne Kenntnis der Entwicklungsgeschichte der Sachverhalte nicht eine absurde Inszenierung? Mit Marx, mit seiner dialektischen Wirklichkeitswissenschaft hat sie jedenfalls nichts zu tun. Für ihn ist, wie zu sehen war, die permanente empirische Selbstvergewisserung von eminenter (auch politischer) Bedeutung, denn "man muss dies Zeug im Detail studieren, um zu sehn, wozu der Bourgeois sich selbst und den Arbeiter macht, wo er die Welt ungeniert nach seinem Bilde modem kann." Folglich betont Marx im "Kapital" gegenüber einem "abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus" auch, dass der Rekurs auf die "jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnisse", die "einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode" ist.

Althussers Positionierungen sind dagegen Ausdruck eines "Elends der Philosophie", wie es Marx schon in seinem gleichnamigen Buch gegen Proudhon beschrieben hat und deren Kern in der sich verselbstständigenden "Logik" gegenüber den tatsächlichen Sachverhalten, in einer Verallgemeinerung der Form, gegenüber den Inhalten besteht. Mit den Worten eines später von Marx präzisierten Methodenverständnisses lautet die Kritik: Findet nach dem Aufstieg "vom Abstrakten zum Konkreten" nicht wieder eine Rückvermittlung statt, wird das Resultat zur "angewandten Metaphysik", weil "jedes Ding sich [dann nur noch] als logische Kategorie darstellt ... Die Dinge dieser Welt [wären] nur Stickereien ... auf einem Stramingewebe, gebildet durch die logischen Kategorien."

Zwar intendiert die Marxsche Vorgehensweise tatsächlich, wie Althusser unterstreicht, zunächst das abstrakte Bewegungsgesetz des Kapitalismus zu erkennen, denn das ist die Voraussetzung, um mit dem entwickelten Theorierahmen jede konkrete kapitalistische Gesellschaft analysieren zu können. Nur durch die Brille einer Logik des Gesamtprozesses können die isoliert erscheinenden Faktizitäten als Elemente eines realen Geflechts von Beziehungsverhältnissen erkannt werden; nur auf der Basis theoretischer Verallgemeinerungen kann das innere Gefüge von auf den ersten Blick scheinbar disparaten Elementen und sich oft auch widersprechenden Entwicklungen verstanden und theoretisch entschlüsselt werden.

Die Gesetzesanalyse macht deshalb den Kern einer kritischen Theorie des Sozialen aus, stellt jedoch gleichzeitig nur ein Zwischenstadium dar: "Der spekulative Horizont der Totalität wird erst mit Wirklichkeit erfüllt, wenn er auf die positiv wissenschaftlich zu erfassenden Bestimmtheiten seiner einzelnen Teilbereiche bezogen wird." Die Totalitätsauffassung muss, wenn sie ihren Gegenstand nicht verlieren will, fortlaufend mit dem historischen Prozess (der gesellschaftlichen Realität) in Beziehung gesetzt werden. Temporär ist es zwar notwendig, von der "Vielgestaltigkeit" der Empirie bei der Formulierung theoretischer Verallgemeinerungen zu abstrahieren. Sie muss jedoch immer im "Hinterkopf" präsent bleiben. Es handelt sich um Abstraktionen, aber so betont Marx in einem Brief an Engels, um spezifisch "historische Abstraktion, die eben nur auf der Grundlage einer bestimmten ökonomischen Grundlage der Gesellschaft vorgenommen werden konnte".

Während bei den "Kapital-Logikern" das abstrakte Kategorienschema ein Eigenleben führt, ist es bei Marx als Leitfaden zur analytischen Durchdringung einer jeweils aktuellen Realität konzipiert. Ihm war bewusst, dass "wer den Rückfall in metaphysisches Denken vermeiden will, ... dem Gegenstand in seinen Bewegungen und Übergängen folgen" muss.

Gleichzeitig wird bei diesem Vorgehen beständig die Plausibilität und Angemessenheit der Theoreme überprüft. Am Ende des Aneignungs- und Reflexionsvorganges können (im Bedarfsfalle) die Kategorien revidiert und erneute Durchdringungsversuche der gesellschaftlichen Totalität von einer präziseren Grundlage aus durchgeführt werden.

Die Kategorien werden im Fortgang der theoretischen Reproduktion der Funktionsprinzipien der kapitalistischen Verhältnisse gleichzeitig "abstrakter", aber empirisch auch immer "gesättigter", weil in ihnen die realen Bedingungs- und Abhängigkeitsverhältnisse "aufgehoben" werden. In seiner konkreten Forschungspraxis ist Marx "orthodoxer" Hegelianer, der nicht "nur das abstrakt Allgemeine, sondern das den Reichtum des Besonderen in sich fassende Allgemeine" zu erfassen versucht.


Die Methode des "Kapitals"

Trotz ihrer fundierenden Bedeutung erschließen sich die methodologischen und sozialtheoretischen Vorklärungen dem Leser des "Kapitals" nicht auf den ersten Blick. Insofern besitzt Althussers "naturwissenschaftliche" Interpretationsvariante einen Schein von Plausibilität. Sein objektivistischer Modus der Marx-Lektüre lässt sich jedoch nur so lange aufrechterhalten, wie dessen dialektische und historisch-materialistische Denkvoraussetzungen ignoriert werden, auf die Marx auch im "Kapital" immer wieder hinweist. Kaum zu übersehen und in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen ist seine in methodologischer Hinsicht positive Verhältnisbestimmung zu Hegel: "Ich bekenne mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers ... Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewusster Weise dargestellt hat."

Dass die Anwendung dieser Methode, ihre Besonderheiten und Umsetzungsprobleme bei einer oberflächlichen Rezeption zu Irritationen führen kann, hat Marx schon im Nachwort zur 2. Auflage des "Kapitals" festgestellt: "Die im 'Kapital' angewandte Methode ist wenig verstanden worden." Dennoch lässt sich das "Kapital", durchaus mit Gewinn, auch ohne die Aufmerksamkeit für seine methodischen Grundprinzipien lesen. Dann ist es (obwohl es als schwierig gilt) ein spannendes Buch. Jedoch bleibt hinter den ökonomischen Facherörterungen, historischen Exkursen und den Beispielen aus dem Lebensalltag der Marxschen Epoche der innere Zusammenhang der diversen Problemkomplexe in der Regel verborgen. Marx hat darauf selbst hingewiesen, dass es gerade dem politisch ambitioniertem Publikum schwer fallen dürfte "den Zusammenhang zwischen den allgemeinen Grundsätzen und den Fragen zu erkennen, die es unmittelbar bewegen". Deshalb kann, wenn das Buch in seinen grundlegenden Intentionen begriffen, aber auch seine wissenschaftlicher Erträge einigermaßen vollständig erfasst werden sollen, seine methodische Grundstruktur genau so wenig unbeachtet bleiben, wie die Tatsache, dass Marx auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen argumentiert und zwischen den beiden wesentlichen Argumentationsstufen, der reinen, kategoriell verdichteten "Modell"-Ebene und der Empirie konkreter Gesellschaften, ständig wechselt. So gibt es Aussagen, die wörtlich zu verstehen sind, aber auch Feststellungen, die nur ein argumentatives "Zwischenstadium" darstellen, oder von solch einer Allgemeinheit sind, dass ihr Sinn sich erst durch "Vermittlung" erschließt.

Die verallgemeinernde Theoriearbeit lässt sich durchaus mit einer experimentellen Anordnung in den Naturwissenschaften vergleichen, die alle peripheren Einflußmomente vorübergehend ausblendet. Jedoch stellen Gesetzeshypothesen im sozialtheoretischen Kontext kein geschlossenes System dar, sondern werden unter dem Vorbehalt formuliert, dass Entwicklungs- und Bewegungstendenzen in ihrer "Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert" werden.

Im Gegensatz zu einem Methodenverständnis, das mit den Verkürzungen der Kapital-Logiker deckungsgleich ist, hat Marx im Juni 1870 in einem Brief an Ludwig Kugelmann betont, dass es darauf ankomme, statt "die ganze Geschichte ... unter ein einziges großes Naturgesetz zu subsumieren", die Wirkung gesellschaftlicher Entwicklungsprinzipien konkret zu analysieren, zur Kenntnis zu nehmen, wie sie "sich geschichtlich in verschiedenen bestimmten Gesellschaftsformen" darstellen. Dazu ist es natürlich unverzichtbar, die kategorialen Bestimmungen immer wieder zu den konkreten Entwicklungen in Beziehung zu setzen.

Die Ökonomie-Kritik wurde auch deshalb die unendliche Geschichte des Marxschen Lebens, weil durch die überwältigende Fülle des Tatsachenmaterials sich immer neue Fragestellungen aufdrängten, neue Präzisierungen möglich und nötig wurden. Wäre es nur um die immanente Kategorienabfolge gegangen, hätte Marx es sich leichter machen können und wäre schneller "fertig" geworden.


Faktizität und Zusammenhang

Programmatisch geht Marx in seiner Darstellungspraxis zunächst von der isolierten Faktizität, bzw. ihren Erscheinungsformen aus. "Der Reichtum der Gesellschaften, in welcher kapitalistische Produktion herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform", lautet der erste Satz im "Kapitals". Das ist jedoch alles andere, als Ausdruck eines Tatsachenfetischismus, denn in der Entwicklung der Argumentation wird deutlich, worauf Marx hinaus will: Es soll gezeigt werden, dass die Ware in einem inneren Zusammenhang zu anderen Dingen und Komplexen steht und nicht "aus sich heraus" verständlich ist. Die Ware ist zur Arbeit und zum Austauschprozess, zum Problem des Mehrwerts und zur Zirkulation des Kapitals etc. vermittelt. Präsentiert sich die Ware zunächst als eine selbstständige Größe, die in ihrer Unmittelbarkeit "glänzt", so wird im Fortgang der Analyse herausgearbeitet, in welch elementarer Weise sie unter entwickelten kapitalistischen Bedingungen, Vermittlungsinstanz der gesellschaftlichen Praxis ist.

In dieser Durchdringung von Oberflächenerscheinungen liegt eine wesentliche Erkenntnispotenz der Marxschen Ökonomiekritik. Das Problem spricht er nicht zufällig mit den Begriffen Hegelscher Philosophie an: Zur Überwindung des "Scheins" und der Erkenntnis des Wesentlichen (des "Wesens") sei wissenschaftliche Vermittlung notwendig. Vor stellungen vom "Wert und Preis der Arbeit" als bloße verzerrte "Erscheinungsform", die "sich unmittelbar spontan, als gang und gäbe Denkformen" reproduzieren, müssen zum "wesentlichen Verhältnis", also "ihrem verborgenen Hintergrund" vermittelt, also "durch die Wissenschaft erst entdeckt werden." werden. Deshalb werden auf dieser Analyseebene die ökonomischen Kategorien nicht in ihrer historischen Abfolge eingeführt, sondern entsprechend ihrer sozialen Funktionalität behandelt. Sie werden "durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben, und die genau das umgekehrte von dem ist, was als ihre naturgemäße erscheint oder der Reihe der historischen Entwicklung entspricht" dargestellt.

Die "Kapital"-Logiker beziehen sich gerne auf diesen Marx-Satz, um ihre Unterstellung zu untermauern, dass Marx grundsätzlich unter Absehung der realen Geschichte argumentieren würde. Aber dieser Schuß geht nach hinten los. Marx beginnt zwar im Kontrast zur historischen Abfolge mit der Ware, aber nicht aufgrund "logischer" Konstruktionszwänge, sondern weil sie in der schon angedeuteten Weise das zentrale Vermittlungsprinzip kapitalistischer Vergesellschaftung ist. Er selbst bezeichnet dieses Verfahren im Nachwort zur 2. Auflage des Kapitals als wichtiges Element seiner "dialektischen Methode" (hier als Methode der Darstellung realer, selbst dialektisch strukturierter Prozesse gemeint!) die es nach etlichen leichtfüßigen Interpretationen bei ihm überhaupt nicht geben dürfte: "Allerdings muss sich die Darstellungsweise formell [!] von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsstufen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wieder, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun."

In den Passagen zur Warenform weist Marx nach, welche zentrale Rolle ihre Dechiffrierung bei der Auseinandersetzungen mit verbreiteten Selbsttäuschungen zukommt, die jedoch nicht nur "falsches Bewusstsein" repräsentieren (das sind sie auch), sondern gerade in ihrer Verzerrtheit auch als Orientierungsmuster fungieren, die den Erfordernissen der Alltagspraxis entsprechen. Wer seine Arbeitskraft verkaufen will, tut z.B. gut daran, sich so zu verhalten, als ob er vom Kapitalisten "Arbeit" annehmen würde.


Gesetz und Modifikation

Die "kontemplativen" Exegeten des "Kapitals" haben in einem wichtigen Punkt recht: Nichts wäre verfehlter, es als empirische Beschreibung eines konkreten Kapitalismus mißzuverstehen. Die methodischen Hinweise von Marx sind von dankenswerter Klarheit: "In der Theorie wird vorausgesetzt, dass die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise sich rein entwickeln. In der Wirklichkeit besteht immer nur Annäherung". Dies verdeutlicht, dass die Marxsche Prozessanalyse (besonders im Band 1 des "Kapitals") sehr oft auf höchster Abstraktionsebene angesiedelt ist. Es ist deshalb verfehlt, die so gewonnenen "reinen" Gesetzeshypothesen, mit der gesellschaftlichen Realität zu verwechseln; aber nicht minder, sie im Sinne Althussers als ein geschlossenes System mit monokausaler Tendenz zu interpretieren. Soziale Gesetze haben zwar einen objektiven Charakter, ihre Wirkungsweise hängt jedoch, wie schon betont, von den konkreten sozialen Konstellationen ab. Es können dadurch Effekte eintreten, "welche die Wirkung des allgemeinen Gesetzes durchkreuzen und aufheben, und ihm nur den Charakter einer Tendenz geben".


Gesellschaft als gegliederte Totalität

Werden im Gegensatz zu einer dialektischen Auffassung der Wirkungsweise sozialer Gesetze und Tendenzen, die abstrakten Strukturtotalitäten sachfremd verabsolutiert, oder sogar das ökonomische Kategoriengeflecht als die eigentliche Realität missverstanden, verfehlt das Denken die tatsächlichen Vermittlungsverhältnisse. Denn es ist nicht das "Gesetz der Akkumulation", das Beschäftigte entlässt, sondern der konkrete Kapitalist, der aufgrund unterschiedlicher (oft auch divergierender) Faktoren (Konjunktur, betriebliche Neuausrichtung, negative Leistungseinschätzung des Mitarbeiters) diese Maßnahme ergreift. Aber diese Gründe hängen alle eng mit dem Profitimperativ und dem Akkumulationszwang zusammen. Jedoch funktionieren die Gesetze nur, wenn auf ihrer Grundlage (und durchaus in modifizierender Weise) konkrete Subjekte agieren.

Durch das Verständnis der gesellschaftlichen Abläufe als konkrete Subjekt-Objekt-Dialektik ("Wie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen produziert, ist sie durch ihn produziert", heißt es bei Marx) wird deutlich, wie fundamental die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie als Sozialwissenschaft konzipiert ist: Die kapitalistische Gesellschaft wird durch diese Vorgehensweise im Marxschen Theorierahmen nicht nur ökonomisch analysiert, sondern auch ihre kulturellen, politischen und geistigen Vermittlungsformen immer mit im Blick behalten. Objektive Strukturen und subjektive Reaktionsmuster werden durch diesen Reflexionsmodus als sich wechselseitige Bedingungsmomente des gesellschaftlichen Geschehens begriffen: Durch das Marxsche Verständnis der Universalität des Konkurrenzverhältnisses, läßt sich begreifen, in welch intensiver Form die Subjekte im Spätkapitalismus gezwungen sind, sich auf Grundlage von Selbstunterdrückung und Selbstdeformierung sozial zu reproduzieren. Im gleichen Sinne ermöglicht das Verständnis der sozialen Prägekraft der Warenform, ein kritisches Verständnis realitätsverzehrender Bewusstseinsformen, die sich spontan aus einer kapitalistischen Praxis heraus entwickeln und die eine fundierende Rolle bei den Prozessen ideologischer Machtreproduktion spielen. Durch die im Marxschen "Kapital" durchgeführte Analyse der Ausbeutungsmechanismen, werden die aktuellen Prozesse von Prekarisierung und Ausgrenzung verständlich. Nicht zuletzt durch die Beschäftigung mit den Prozessen von Entfremdung und Selbstentfremdung wird deutlich, dass sich der Kapitalismus zunehmend durch die Instrumentalisierung von Bewusstsein, Psyche und Sinnlichkeit reproduziert.

Diese umfassende Analysekompetenz der Marxschen Theorie begründet sich durch ein umfassendes Verständnis des menschlichen Weltverhältnisses und seiner vielgestaltigen Voraussetzungen. Dazu gehört auch ein normativer Maßstab, der reflektiert, welche Gesellschaftsformation die der "menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen" zu schaffen in der Lage ist. Ohne Berücksichtigung seines normativen Horizonts bleibt die kapitalismuskritische Intervention unbegriffen. Denn Marx und die Marxistinnen sind ja nicht gegen das Ausbeutungssystem, weil die einen mehr und die anderen etwas weniger bekommen, sondern weil seine Reproduktionsdynamik den Lebensansprüchen der Arbeitenden entgegensteht und es um den Preis zunehmender zivilisatorischer Verfallstendenzen künstlich am Leben erhalten wird.


Antizipiertes Mißverständnis

Dass seine Forschungsmethode und Darstellungsweise Mißverständnisse hervorrufen würde, hat Marx übrigens befürchtet. Zusammen mit Korrekturbögen des "Kapitals" übersandte er am 27. Juni 1867 an Engels die Notiz: "Wollte ich nun alle derartigen Bedenken vorweg abschneiden, so würde ich die ganze dialektische Entwicklungsmethode verderben. Umgekehrt. Diese Methode hat das Gute, dass sie den Kerls beständig Fragen stellt, die sie zur unzeitigen Manifestation ihrer Eselei provozieren."


Werner Seppmann, Dr., Gelsenkirchen, Sozialwissenschaftler


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-10, 48. Jahrgang, S. 43-51
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2011