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MARXISTISCHE BLÄTTER/497: Rechtsextremismus in Frankreich


Marxistische Blätter Heft 5-11

Rechtsextremismus in Frankreich

von Georg Polikeit


Laut französischen Meinungsforschungsinstituten waren im Juli 2011 rund 20 Prozent der Französinnen und Franzosen bereit, bei der kommenden Präsidentenwahl im Frühjahr 2012 (22. April und 6. Mai) die rechtsextremistische "Front National" (FN) unter der Führung von Marine Le Pen zu wählen. Das ist die Tochter des Ex-Fremdenlegionärs und FN-Gründers Jean-Marie Le Pen, der die Partei 39 Jahre lang angeführt hat, bis er dieses Amt am 16. Januar 2011 als 83-Jähriger in die Hände seiner Tochter legte und Ehrenvorsitzender wurde.

Anfang März 2011 läuteten in den französischen Medien die Alarmglocken. Da hatte Frau Le Pen mit 23 Prozent sogar den amtierenden Staatschef Sarkozy und seine "sozialistische" Gegenkandidatin Martine Aubry (beide 21 %) überrundet. Das weckte Erinnerungen an das Fiasko von 2002, als der alte Le Pen bei der Präsidentenwahl am 21. April mit 16,86 Prozent den Sozialdemokraten Jospin (16,18 %) um Haaresbreite überholt hatte und damit erstmals ein Rechtsextremist in die Stichwahl um das Amt des Staatspräsidenten kam.

Im Sommer lagen die Umfragewerte für Frau Le Pen wieder etwas niedriger. Aber ein zweiter oder dritter Platz im 1. Wahlgang 2012 wird ihr seit dem Frühjahr anhaltend als sicher vorhergesagt. Unübersehbar sind rund ein Fünftel der französischen Wählerinnen und Wähler offenbar entschlossen, den rechtsextremistischen Parolen nicht nur Gehör zu schenken, sondern sie auch durch Stimmabgabe aktiv zu unterstützen.

Manche Kommentatoren führen dies vor allem darauf zurück, dass mit Marine Le Pen ein "neues Gesicht" auf den FN-Plakaten und im Fernsehen zu sehen ist, das wesentlich attraktiver ist als das Konterfei ihres gealterten Vaters.


Ein "neues Gesicht" soll "entdiabolisieren"

Vor allem aber legte die 43 Jahre alte Tochter, von Beruf Anwältin und seit 2004 EU Abgeordnete, schon seit längerem Wert darauf, sich zwar nicht offen von ihrem Papa zu distanzieren, aber doch zu verdeutlichen, dass sie "manches anders machen" will. Sie initiierte bereits in den letzten Jahren als stellvertretende Parteivorsitzende (seit 2003) einen Kurs der "Entdiabolisierung" und "Modernisierung" der FN, um das Image des "Extremismus" loszuwerden.

So verwahrte sich Frau Le Pen beispielsweise heftig gegen den Vorwurf des Antisemitismus. Im Unterschied zu ihrem Vater, der den Holocaust noch als "Detail der Geschichte" bagatellisiert hatte, bezeichnete sie die Gaskammern der Nazis als "Gipfel der Barbarei". Sie habe "eine Anzahl jüdischer Freunde", ließ sie öffentlich wissen. Sogar eine demonstrative Reise nach Israel hatte sie beabsichtigt, was allerdings an Protesten in Israel zunächst noch scheiterte. Sie setzte den Ausschluss eines FN-Lokalpolitikers durch, der sich mit dem Zeigen des Hitlergrußes vor einer Nazi-Fahne fotografieren ließ. Zugleich scheute sich die FN nicht, sogar "Farbige" als Aushängeschilder zu nutzen. Bereits im Wahlkampf 2007 hatte Marine Le Pen Plakate mit einer dunkelhäutigen Französin in engen Jeans aufhängen lassen, auf denen die Forderung nach besserer "Assimilation" der Einwanderer propagiert wurde.

Ganz auf der Linie, die FN in eine "wohlanständige" bürgerliche Partei der "rechten Mitte" umzudekorieren, zögerte Frau Le Pen auch nicht, das Attentat des norwegischen Rechtsextremisten Breivik in Oslo als "Verbrechen" zu verurteilen. Allerdings kam ihr da ihr Vater in die Quere. Dieser reduzierte das Massaker mit 77 Toten wenige Tage später auf einen "Zwischenfall eines einzelnen". Schlimmer als die Tat sei die "Naivität und Untätigkeit der norwegischen Regierung", die "das Ausmaß der globalen Gefahr der Masseneinwanderung nicht begriffen" habe. Ein anderer FN-Politiker namens Coutela verherrlichte den Attentäter sogar als "Widerstandskämpfer" gegen die "muslimische Invasion". Beides Anzeichen dafür, dass die "alte Garde" mit dem "Modernisierungskurs" der neuen Parteichefin gelegentlich noch Probleme hat. Während Frau Le Pen sich weigerte, sich von der Äußerung ihres Vaters zu distanzieren, wurde Coutela von seinen Parteiämtern in der FN suspendiert.


Kapitalistische Krisenprozesse schufen den Nährboden

Eine Erklärung der derzeitigen Position der "FN" in der französischen Gesellschaft allein mit den Weichspülmanövern der verjüngten Parteiführung ist allerdings viel zu oberflächlich.

Woher kommt die relative Stärke einer rechtsextremistischen Partei als drittstärkste politische Formation in einem Land, das einst mit der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789 die erste Menschenrechtserklärung in Europa verkündet und die Tradition von "Liberté, Egalité, Fraternité", das Prinzip der Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von Herkunft, Rasse oder Geschlecht begründet hat? In einem Land, in dem eine umfassende antifaschistische Widerstandsbewegung aktiv für die Befreiung des Landes von der faschistischen deutschen Besatzung gekämpft hat und in dem die Linkskräfte sowohl vor und wie nach dem zweiten Weltkrieg mehrfach weit reichende soziale Fortschritte durchgesetzt hatten?

Es gibt dafür wohl eine ähnliche objektive ökonomisch-soziale Basis wie in den meisten anderen europäischen Staaten, in denen seit einiger Zeit ein Zulauf zu rechtsextremistischen Parteien zu verzeichnen ist. Im Grunde handelt es sich um ein Produkt der Krisen, Widersprüche und Zerfallserscheinungen des heutigen Kapitalismus und der ihm verbundenen bürgerlichen Gesellschaft.

Die Auswirkungen der Krise, die massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen und die damit verursachte soziale Existenzangst, die sich ausweitende Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse durch Niedriglohnjobs, die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die Deindustrialisierung ganzer Regionen, die mit diesen Entwicklungen sich vertiefende "soziale Fraktur" in der Gesellschaft, das Entstehen immer größerer "sozialer Brennpunkte", besonders in den Vorstädten der großen Ballungszentren (banlieus), der Verfall ganzer Stadtteile, die von der herrschenden Politik "im Stich gelassen" werden - dies alles ist der sozial-ökonomische Nährboden, auf dem der Rechtsextremismus gedeiht.

Auf diesem Boden vollzog sich schon seit Ende der 80er Jahre ein enormer Umschichtungsprozess in der Wählerbasis der FN. Nach ihrer Gründung im Oktober 1972 war sie zunächst nur eine Partei ehemaliger Fremdenlegionäre und vom Gaullismus enttäuschten Algerien-Franzosen ("pieds noirs"), von Nostalgikern des Vichy-Regimes und seines Marschalls Pétain, von Nazi-Kollaborateuren und Mitgliedern französischer SS Einheiten im 2. Weltkrieg sowie von erzreaktionären Katholiken. Dies änderte sich jedoch in den 80er und 90er Jahren, als die FN-Führung begann, sich nicht nur als fremdenfeindliche und rassistische, sondern auch als "soziale Protestpartei" zu präsentieren.

Untersuchungen zeigen, dass sich der Anhang der FN heute im Wesentlichen aus zwei sozialen Gruppen rekrutiert. Erstens aus unmittelbaren Opfern der kapitalistischen Krisenprozesse in den vom industriellen Strukturwandel gebeutelten Industrieregionen und Ballungszentren. Dazu gehören in beträchtlichem Maß auch desorientierte Teile der Arbeiterklasse in diesen Regionen. Zweitens aus Teilen der abstiegsbedrohten, um ihre Existenz fürchtenden kleinbürgerlichen Mittelschichten, die ihre "heile Welt" gegen die Gefahren und Auswirkungen der Krise und gegen die "Zuwanderung" von "Fremden" bewahren möchten.

Dies widerspiegelt sich auch in der räumlichen Verteilung der FN-Wahlergebnisse. Ihre regionalen Hochburgen liegen einerseits in den von Strukturwandel und kapitalistischen Krisenfolgen besonders stark betroffenen Regionen in Nord- und Ostfrankreich, besonders in den Departements Nord-Pas-de-Calais, sowie in Südfrankreich in der Region PACA (Provence-Alpes-Côte d'Azur) rund um den Großraum Marseille. Zum anderen erreicht die FN hohe Stimmenquoten oft über 40 Prozent im Elsass und teilweise in "wohlhabenderen" banlieus im Großraum Paris, wo die Ängste kleinbürgerlicher Kreise vor wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit mit Ängsten vor Immigration und abnehmender "innerer Sicherheit" sowie vor manchmal in krassen Formen revoltierenden Jugendlichen zusammenfließen.


Eine gefährliche Mischung von Kapitalismuskritik und Schürung antiislamischer Ängste

Nach eigenen Angaben hat die FN derzeit rd. 40.000 Mitglieder. Bei der im Januar 2011 veranstalteten Mitgliederabstimmung über Marine Le Pen wurden allerdings nur 22.400 eingeschriebenen Mitglieder genannt, von denen ca. 17.000 (76,5 %) für Frau Le Pen als künftige Vorsitzende votiert haben sollen. Mehr als in der Mitgliederstärke liegt die Gefahr jedoch im Wähleranhang.

Die FN stieß mit ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Demagogie mit großer Raffinesse und taktischem Geschick in die durch die Auswirkungen der Krise verängstigten Bevölkerungsschichten vor. Die nationalistischen und fremdenfeindlichen Parolen wurden engstens mit einer durchgängig vorgetragenen Kritik der "Globalisierung" und des "Neoliberalismus" und prononciert "antikapitalistischen" Äußerungen vermischt. Die "Verteidigung der nationalen Souveränität Frankreichs" zum "Schutz der heimischen Wirtschaft" verbindet sich mit vehementer Kritik am "internationalen Finanzkapital" und mit der Forderung nach dem Austritt Frankreichs aus EU und NATO sowie der Wiedereinführung des Franc anstelle des Euro. Gefordert wird auch die "Nationalisierung der strategischen Sektoren der französischen Wirtschaft" einschließlich von Öl- und Energiekonzernen und ein "starker Staat", der die Wirtschaft lenkt und für "soziale Gerechtigkeit", ja sogar für eine "Umverteilung des Reichtums zwischen Kapital und Arbeit zugunsten der Arbeit" sorgt. Die tägliche Agitation richtet sich gegen steigende Preise und den damit verbundenen Kaufkraftverlust der Löhne. Mit ihrer Kritik am "Neoliberalismus" der Sarkozy-Regierung versucht sich die FN in der Pose einer "dritten Kraft" zu präsentieren, die "weder rechts noch links" ist, sondern "national und sozial" und die "kleinen Leute" gegen die "Kaste da oben" vertritt.

Den Übergang von der sozialen zur fremdenfeindlichen Agitation bildet die Parole von der "nationalen Präferenz". Bei der Besetzung von Arbeitsplätzen, bei Sozialleistungen, bei der Vergabe von Fördermitteln und überhaupt auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens soll stets den "echten Franzosen" der Vorrang vor "Einwanderern" eingeräumt werden. Das soll Verfassungsrang bekommen. Die Stimmungsmache gegen "unkontrollierte" und "unbegrenzte" Immigration gipfelt in einem hemmungslosem "Anti-Islamismus". Geschürt wird die Angst vor der "Überfremdung" des französischen Volkes, seiner "nationalen Identität" und "Kultur", kombiniert mit einer vehementen Kritik an "Multi-Kulti" und mit der Behauptung, dass die vom Staat nicht genügend im Griff gehaltene Immigration auch die Hauptursache für die wachsende Kriminalität und Unsicherheit in Frankreich sei.


Der Nutzen der FN für das etablierte System

Welche Rolle spielt die "modernisierte" FN im Herrschaftssystem des heutigen französischen Kapitalismus? Ihr Nutzen für die herrschende Klasse kann in drei Punkten zusammengefasst werden:

Erstens dient sie den etablierten bürgerlichen Rechtskreisen à la Sarkozy als ideologischer Stoßtrupp, Stichwortgeber und Einpeitscher. Mit den Parolen gegen "Überfremdung", mit der Agitation in Sachen "innere Sicherheit" (mehr Polizei, härteres Durchgreifen gegen "Kriminelle", "Unruhestifter", "Autoanzünder" hilft sie ein innenpolitisches Klima zu schaffen, in dem einerseits verschiedene Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufgehetzt werden, in dem andererseits das schärfere Vorgehen der Regierung als "Antwort" auf in der Bevölkerung vorhandenen Ängste und Forderungen erscheint. Obwohl als "Systemopposition" auftretend, hilft die FN den bürgerlichen Rechtskreisen damit, den staatlichen Repressionsapparat auszubauen, die autoritären antidemokratischen Entwicklungstendenzen des Systems weiter voranzutreiben und den Abbau demokratischer Rechte und Errungenschaften zu erleichtern.

Zweitens dient die FN als rechtes Auffangbecken für von der rechtsbürgerlichen Politik Enttäusche und Unzufriedene. Sie hilft, diese im Bannkreis rechter Politik zu halten und ihre Hinwendung zu einer echten Alternative, zu einer Wende nach links zu verhindern.

Drittens kann die "entdiabolisierte" FN schließlich auch als Reservepotenzial für künftige "rechts-rechte" Koalitionen dienen. Bereits nach den Regionalwahlen 1998 haben sich Funktionsträger der Sarkozy-Partei mit Hilfe der FN in lokale oder regionale Ämter wählen lassen, um dadurch deren Übernahme durch "Linke" zu verhindern - wenn auch heftige Proteste sie in einigen Fällen dann wieder zum Rückzug zwangen.

Sarkozys Wahlstrategie im Präsidentschaftswahlkampf 2007 war darauf gerichtet, alle rechtsbürgerlichen, konservative wie liberale und christliche Kräfte unter seiner Führung zu vereinen, aber zugleich auch in der Anhängerschaft des Rechtsextremismus zu "wildern". Das Ergebnis war damals ein deutlicher Rückgang der FN-Stimmen: die Lepenisten verloren über eine Million Stimmen und kamen nur noch auf 10 Prozent (gegenüber 16,9 % 2002). Die von und unter Sarkozy gestarteten Kampagnen zu Themen wie "Immigration", "nationaler Identität", "Staatsbürgerschaft", Kopftuch- und Burka-Verbot, das Vorgehen gegen Roma-Camps u.ä. verhalfen, jetzt von der Regierungspartei selbst vorangetrieben, der rechtsextremistischen Ideologie zu größerer Glaubwürdigkeit und Verbreitung. Seitdem das Sarkozy-Regime in jüngerer Zeit immer mehr auch in eine politische Krise geriet und die Umfragewerte für den Staatschef auf historische Tiefststände absanken, gibt es den umgekehrten Effekt: die FN profitiert von der Enttäuschung der früheren Sarkozy-Wähler und verzeichnet einen Wiederaufschwung.

Mit Blick auf die Präsidentenwahlen 2012 ergeben sich daraus "spannende Fragen". Wenn es im zweiten Wahlgang, wie vorhersehbar, zu einem Duell zwischen dem amtierenden Staatschef, der dann auch die Stimmen der anderen antretenden rechtsbürgerlichen Formationen für sich einsammeln müsste, und einem oder einer "sozialistischen" (also sozialdemokratischen) Kandidatin kommt, zu deren Wahl auch die anderen Linkskräfte einschließlich der Kommunisten und der "Linksfront" aufrufen, könnten die 20 Prozent FN-Wähler am Ende den Ausschlag geben. Natürlich wäre dies von vielen taktischen Manövern und sicherlich heftigen politischen Auseinandersetzungen begleitet. Ein mehr oder weniger offenes Bündnis Sarkozys mit den Rechtsextremisten würde von der Linken scharf angegriffen werden können. Auch innerhalb der bürgerlichen Rechtsformationen und selbst innerhalb der FN würde dies nicht ohne Streit abgehen. Deshalb sind die Kreise in der herrschenden Klasse Frankreichs, die auf eine Wiederwahl Sarkozys setzen, heute an einer "entdiabolisierten", "gemäßigt" auftretenden FN äußerst interessiert.


Probleme der Linken

Der Blick kann jedoch nicht nur auf die potenziellen Manöver der Rechtskräfte gerichtet bleiben. Das Anwachsen des Rechtsextremismus in Frankreich steht auch in einem Zusammenhang mit der Entwicklung der französischen Linken.

Das Vordringen der FN in Teile der Arbeiterklasse, vor allem in den früheren schwerindustriellen Regionen in Nord- und Ostfrankreich sowie in den Ballungsgebieten Südfrankreichs steht zeitlich und auch politisch-inhaltlich im Zusammenhang mit bestimmten Entwicklungen unter den Linkskräften. 1981 war es durch das Bündnis zwischen den Sozialisten und der Kommunistischen Partei (PS und PCF) gelungen, mit der Wahl von Francois Mitterrand nach langen Jahrzehnten der Vorherrschaft der Rechten erstmals wieder einen Sozialisten zum Staatspräsidenten zu machen. Anschließend wurde die erste gemeinsame Linksregierung aus PS und PCF seit der "Volksfront" 1936 und den antifaschistischen Koalitionsregierungen nach dem Ende des 2. Weltkriegs gebildet. Dies war mit enormen Erwartungen in großen Teilen der Bevölkerung auf eine spürbare Kurswende in der französischen Politik begleitet. Doch 1984 zerbrach das Bündnis, weil die "Sozialisten" vom gemeinsamen Regierungsprogramm abrückten und immer mehr zu einer antisozialen Politik des Sparzwangs und der Privatisierungen übergingen. Den Preis für die dadurch ausgelöste Enttäuschung in der Bevölkerung zahlten vor allem die Kommunisten. Hatten sie bei der Parlamentswahl 1981 noch 16,2 Prozent erreicht, kamen sie bei der EU-Wahl 1984 nur noch auf 11,2 Prozent. Erstmals lag die FN mit 11,0 Prozent mit ihnen gleichauf.

Ähnliches wiederholte sich, als es den Linksparteien 1997 noch einmal gelang, eine parlamentarische Mehrheit zu erringen und eine neue "Linksregierung" unter dem Sozialisten Lionel Jospin zu bilden. Diesmal hielt die Regierung zwar die volle Legislaturperiode bis 2002, aber ihre Ergebnisse entsprachen bei weitem nicht den Hoffnungen, die viele Menschen damit verbunden hatten. Dies beschleunigte den Wählerverlust insbesondere der Kommunisten, die zu diesem Zeitpunkt zusätzlich durch einen "Mutationsprozess" im Ergebnis des Zusammenbruchs des "realen Sozialismus" in Osteuropa und der UdSSR stark erschüttert und geschwächt waren. Hatte die PCF mit ihrem damaligen Parteisekretär Robert Hue 1997 noch 9,9 Prozent erreicht, kam sie 2002 nur noch auf 3,4 Prozent.

Es steht zweifelsfrei fest, dass in beiden Fällen enttäuschte Linkswähler und in deutlich sichtbar werdenden Ausmaß auch kommunistischer Wähler nicht einfach ins Lager der Nichtwähler abwanderten, sondern ein Teil davon direkt den sozialdemagogischen Parolen der FN auf den Leim und in deren Wählerlager überging.

Damit wird bestätigt, dass die Übernahme linker Regierungsverantwortung, die nicht mit einer tatsächlich durchgesetzten grundlegenden sozialen und politischen Kurswende verbunden ist, und eine durch selbst verursachte Enttäuschungen geschwächte Linke der Sozialdemagogie der Rechtsextremisten großen Spielraum verschafft. Diese Erfahrung dürfte auch für die Wahlentscheidung 2012 von Gewicht sein. Nur eine Linke, die glaubwürdig und kraftvoll für eine grundlegend andere Politik, für eine an den elementaren Lebensbedürfnissen und sozialen Interessen der arbeitenden Bevölkerung orientierte Alternative ficht und die Sicherheit vermittelt, dass es ihr mit der Wende weg von den Rezepten der kapitalistischen "Krisenbewältigung" und hin zu einer grundlegenden Neuausrichtung tatsächlich ernst ist, die dafür auch durchsetzungsfähige außerparlamentarische Bewegungen entwickeln hilft, kann mit Aussicht auf Erfolg darauf rechnen, einen neuerlichen Machtantritt des rechten Bürgerblocks mit Schützenhilfe der Rechtsextremisten zu verhindern.


Georg Polikeit, Wuppertal, Journalist


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-11, 49. Jahrgang, S. 53-57
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2011