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MARXISTISCHE BLÄTTER/500: Die rechte Schweiz


Marxistische Blätter Heft 5-11

Die rechte Schweiz

von Anne Polikeit


"Klein und frei zu sein und diese Freiheit gegen die Großen zu verteidigen, gehört zum Selbstverständnis des Schweizervolkes, ob es das will oder nicht."(1) Allerdings klafft laut einem Schweizer Nationalfonds-Forschungsprojekt "das Selbstverständnis, eine liberale Gesellschaft zu sein, und das Bedürfnis vieler Bürgerinnen und Bürger nach nationaler Identität und Abwehr des Fremden auseinander". Warum?


Die Schweizerische Eidgenossenschaft

Neben den Kantonen, die weitgehende Entscheidungsbefugnisse haben, gibt es die Bundesversammlung (zwei Kammern): Nationalrat (proportional zur Bevölkerungszahl gewählte Abgeordnete) und Ständerat (2 VertreterInnen pro Kanton, 1/Halbkanton). Beide Räte werden jeweils nur kantonal gewählt. Die Bundesversammlung wählt den Bundesrat, der aus sieben "gleichwertigen Mitgliedern" besteht. Ein Bundesrat leitet ein Departement (Ministerium). Die Zusammensetzung erfolgt seit 1959 nach der "Zauberformel": 2 FDP (Freisinnig-Demokratische Partei), 2 CVP (Christlich-Demokratische Volkspartei), 2 SPS (Sozialdemokratische Partei Schweiz), 1 SVP (Schweizerische Volkspartei). Die Zauberformel entspricht nicht den jeweiligen Wahlergebnissen, so sind die SVP und die SPS heute die wählerstärksten Parteien. Das Arbeitsprinzip des Bundesrats ist die "Konkordanz" (Übereinstimmung): Kompromisse finden, die alle vertreten können. Es gehört zum guten Ton, dass ein Bundesrat sich nicht öffentlich gegen die "Mehrheitsmeinung" äußert. Soviel zur Funktionsweise der offiziellen Politik, und vieler SchweizerInnen.

Dazu kommt die "direkte Demokratie": die Möglichkeit Initiativen einzubringen, oder Beschlüsse mit Referenden zu verhindern. Zur Annahme in der Abstimmung sind das Volks- und das Ständemehr nötig. Das heißt, die Mehrheit der Abstimmenden und der Kantone muss zustimmen. Von beispielsweise 168 Initiativen wurden 13 angenommen, viele sind am Ständemehr gescheitert - der Föderalismus dominiert das Schweizer Denken.


Neuere (rechte) Geschichte

Um dem Arbeitskräftemangel nach dem zweiten Weltkrieg zu begegnen, wurden viele, vor allem italienische "Fremdarbeiter" in die Schweiz geholt. Auch hier erledigten sie die unbeliebtesten Arbeiten und lebten abgeschottet, unter oft unmenschlichen Bedingungen. Fremdenhass und rassistische Organisationen nahmen in den 60er Jahren zu. 1967 gelang es der "Nationalen Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat" einen Sitz im Nationalrat zu gewinnen. Sie lancierte eine Initiative zum "Schutz vor Überfremdung" und am 7. Juni 1970 stimmten über 40 Prozent der Schweizer Männer für die so genannte "Schwarzenbach-Initiative", gegen die Nein-Parole aller Parteien und Verbände. 1971 eroberten die Nationale Aktion (NA) und Schwarzenbachs neue Partei. die republikanische Bewegung, bei den Wahlen insgesamt elf Nationalratssitze.

In der Wirtschaftskrise der 70er Jahre verließen viele Ausländer die Schweiz "freiwillig" und so wurde das Thema vorübergehend weniger stimmenträchtig. 1978 zog sich Schwarzenbach aus dem Nationalrat und den Parteien zurück, diese Gruppierungen wurden bedeutungslos. Viele ihrer Mitglieder traten der SVP bei. Dass "das Asylantenproblem" trotzdem weiter "wie eine Zitrone [ausgepresst wird], solange es noch einen Tropfen hergibt"(2), spricht für sich.

Neben der 2000 gegründeten "Partei national orientierter Schweizer", PNOS, die Sitze in Ortsparlamenten hat, gibt es heute an offen rechtsextremen Gruppen vor allem rechtsextreme Skinheads und die Blood-and-Honour-Bewegung. Neben Fußball-Fanclubs werden auch immer wieder Konzerte organisiert.


Die Schweizerische Volkspartei

Vom Rechtsextremismus distanziert sich die SVP verbal immer mal wieder, hat aber keinerlei Berührungsängste. Im Wahljahr 1999 erklärten führende SVP-Politiker "wenn die bürgerlichen Parteien richtig politisieren, darf es rechts von ihnen keine Partei geben", insbesondere nicht rechts von der SVP. Und zumindest was den Einfluss im Nationalrat anbelangt, ist ihnen das gelungen. Sie pressen die "Asylantenzitrone" effektiv aus, aber nicht nur diese. Im Ausland bekannt geworden oder sogar als Vorlage gedient haben die SVP-Wahlplakate, ein schwarzer Messerstecher, farbige Hände, die nach Schweizer Pässen greifen, das berühmte schwarze Schaf, die Minarett-Initiative usw. Derzeit aktuell (Wahlkampf) ist "Masseneinwanderung stoppen" mit schwarzen Beinen, die eine symbolische Schweiz betreten und dem emotionalen Eindruck, dass alles unter diesen schwarzen, schweren Schuhen zerquetscht wird. Ebenso ist die Begrenzung der Anzahl ausländischer Studierender an eidgenössischen Technischen Hochschulen und Universitäten eines der aktuellen Themen. Jeder und jedem wird ein Feindbild angeboten, das ihn, sie und die Schweiz bedroht. Diese Sorgen werden von den etablierten Parteien laut SVP nicht ernst genommen und so politisiert sie auch gegen die "Classe politique", das Establishment. An der Herstellung des erforderlichen Bedrohungsgefühls ist sie aktiv beteiligt. Mediengerecht nimmt sie z. B. zu allen aktuellen Ereignissen Stellung, lanciert fleißig Initiativen und erzeugt damit Diskussionen. Es gelingt ihr, dauerhaft bestimmte Konfliktlinien zu etablieren, die sie dann "auspresst".


AusländerInnen in der Schweiz

Übrigens, der Ausländeranteil in der Schweiz beträgt heute rund 20 Prozent. Wir zahlen knapp 27 Prozent der Sozialbeiträge ein. Neben den klassischen Unterschieden zwischen Asylbewerbern und Ausländern mit Aufenthaltsbewilligung gibt es auch bei letzteren gewaltige Unterschiede: nicht nur Bewilligungen mit unterschiedlichen Laufzeiten, sondern infolge der bilateralen Verträge mit der EU auch unterschiedliche Rechte. So erhält jemand mit einem bundesdeutschen Pass beispielsweise eher eine "C-Bewilligung"(3) als jemand aus Kanada.

Das Ausländergesetz wurde in den letzten Jahren kontinuierlich verschärft. Trotz vielfältigen Widerstands wurden 2006 und 2010 in entsprechenden Abstimmungen die vorgeschlagenen Verschärfungen gut geheißen.

Die Schweiz hat bei Ausschaffungen von abgelehnten Asylbewerbern mehrere Todesfälle zu verzeichnen und wird jährlich von Amnesty International für ihre kriminalisierende Einstellung zu AsylantInnen und die rassistischen Praktiken ihrer Polizei kritisiert.

Zurück zur SVP. Meinungen bilden, Abstimmungskampagnen führen kostet Geld, viel Geld. Auch die Initiativen selber kosten, manchmal wird sogar für gesammelte Unterschriften bezahlt. Die SVP hat sehr finanzkräftige Mitglieder, fleißige Spender. Zudem hilft ihr die Medienberichterstattung Geld zu sparen. In der Kampagne zur Minarett-Abstimmung z. B. beschlossen etliche Gemeindeparlamente die reißerischen SVP-Plakate nicht auf öffentlichen Flächen zuzulassen. Die damit einhergehende Berichterstattung in den Medien schloss fast immer die Abbildung des umstrittenen Plakates ein - gratis, versteht sich.

Seit 1999 ist die SVP auf Bundesebene die wählerstärkste Partei(4) und hat heute 29 Prozent der Sitze im Nationalrat inne. Sie ging 1971 aus der "Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei" (BGB) sowie Kantonalsektionen der "demokratischen Partei" hervor. Die BGB fiel ab 1933 durch ihre ambivalente Haltung gegenüber faschistischen Gruppen auf. Die Schließung der Grenzen für jüdische Flüchtlinge sowie die so genannten "J-Stempel" fielen in den Aufgabenbereich des BGB-Bundesrates von Steiger. Der heutige Bundesrat der SVP, Ueli Maurer, erklärte noch 1997, dass die Kennzeichnung jüdischer Pässe "zum Schutz der Betroffenen" geschehen sei. Über die Rolle der "neutralen" Schweiz im zweiten Weltkrieg wurde in den letzten Jahren viel publiziert. Die Erkenntnis, dass es durchaus eine Unterstützung des Faschismus gab, entspricht trotz allem nicht dem Selbstbild vieler SchweizerInnen. Oft endet die Diskussion mit dem Verweis auf den Bankenstandort und dass hält mit allen, die bezahlen, Geschäfte gemacht wurden und werden.

Die breitere politische Ausrichtung der SVP zu Gründungszeiten spiegelt ihr französischer Name wieder, "Demokratische Zentrumsunion". Allerdings blieb sie damit bei ihrem Wähleranteil von ±10 Prozent. Ihr für Schweizer Verhältnisse einmaliger Aufstieg begann Anfang der 90er Jahre mit der Kampagne gegen einen Schweizer EU-Beitritt. Als einzige Regierungspartei vertrat sie die Nein-Parole. Es wurde für die Schweiz als "natürliche Gemeinschaft" politisiert, gegen den "roten und goldenen Internationalismus" und die Unterjochung durch "fremde Vögte". Auch die Partei der Arbeit der Schweiz, PdAS, beschloss damals die "Ja"-Parole. Heute gibt es etliche GenossInnen, die meinen ein "Nein" zu einem eventuellen EU-Beitritt der Schweiz verbiete sich schon allein, um nicht die gleiche Abstimmungsparole wie die SVP zu haben.

Nach Einschätzung von Wikipedia unterlief die SVP "in den letzten zwanzig Jahren unter dem Einfluss des Großunternehmers Christoph Blocher einen tiefgreifenden Wandel". Das Leitmotiv der nationalen Souveränität und der Volksgemeinschaft ist erhalten geblieben. Dazu gesellten sich "innere Sicherheit", gepaart mit der Einwanderungspolitik. 2003 gelang auch eine nennenswerte Ausbreitung in die französischsprachige Schweiz.

Die "Volksgemeinschaft" wird von der SVP als Ausweg für alle gesellschaftlichen Krisen propagiert. In völliger Souveränität, unabhängig von internationalen Völkerrechtsnormen beispielsweise, soll dieses Volk mit Hilfe der direkten Demokratie über sich selbst bestimmen, zumindest solange seine Wünsche steuerbar sind. Nicht zur Volksgemeinschaft gehören alle jene, die den reibungslosen Ablauf des Ganzen behindern. In Zeiten steigender Arbeitslosigkeit, des Abbaus von Sozialleistungen und ökonomischer Krisen nimmt die Masse jener hinderlichen Elemente zu. Vor allem wird gegen AusländerInnen politisiert, aber auch die "SozialschmarotzerInnen" sind als Feindbild schon in Stellung gebracht. Die Themen werden übernommen, bis in die Sozialdemokratie. Doch der Versuch, auf den von der SVP gesetzten Feldern Stimmen zu gewinnen, endet nicht nur für die SPS mit dem gleichen negativen Resultat wie fast überall in Europa. In den Gewerkschaften gehören die Angst vor Lohndrückerei durch "Fremdarbeiter" oder die teilweise Ablehnung der Personenfreizügigkeit ebenso zum Alltag wie die Selbstdefinition als größte Ausländerorganisation. In der aktuellen Ausgabe des "work"(5), der Zeitschrift der größten Gewerkschaft unia, werden die "bitteren Folgen" einer Schweiz ohne ausländische Arbeitskräfte aufgezeigt. Außerdem gibt die unia ihre Unterstützung der Kampagne "Fairplay im Wahlkampf" bekannt, für ein klares Zeichen gegen Ausgrenzung, Diffamierung und Rassismus.

Niemand fragt, ob Blocher. zu dessen Familienimperium beispielsweise die EMS-Chemie gehört, im Ernstfall nicht doch der EU beitreten würde, weil er von einer Mitgliedschaft profitieren könnte. Genauso wie er auch gerne von gut qualifizierten ausländischen Arbeitskräften profitiert. Aber er möchte alleine entscheiden, wann die ausländische Ware Arbeitskraft in seinen Schweizer Unternehmen benötigt wird und wann sie wieder gehen soll. Das gleiche Entscheidungsrecht möchte er natürlich über "seine" Schweizer Arbeitskräfte, ohne Folgekosten. Ein wesentliches Moment der SVP-Wirtschaftspolitik ist daher die "Eigenverantwortung". Zwar ist diese mit einer Kopfpauschale für die Krankenkasse, einer, je nach Einkommen, auf mehrere Säulen verteilten Altersversorgung etc., ohnehin schon höher als in den Nachbarländern, aber jede staatliche Unterstützung ist der SVP zu viel. Mutterschaftsversicherung, Kinderkrippen, Integrationshilfen usw. gehören gestrichen oder privat finanziert. Und die Lohnnebenkosten könnten auch noch weiter reduziert werden. Das Wirtschaftsprogramm der SVP spricht eine klare Sprache.

Wie allerdings die SVP-Klientel der Klein- und Mittelbetriebe reagieren wird, wenn aufgrund diesen Krisenkonzepts auch die Binnennachfrage weiter einbricht, und wie dann die SVP agiert. das bleibt abzuwarten. Noch ist die offizielle Arbeitslosenzahl verglichen mit den umliegenden Ländern niedrig; vielen geht es materiell relativ gut. Die Tourismus- und Exportindustrien leiden zwar zunehmend unter dem "überbewerteten Franken" - und wieder sind es scheinbar die ausländischen Spekulationen". die den Schweizer Wohlstand bedrohen. Diese Sichtweise ist mehrheitsfähig. Der Politikwissenschaftler O. Mazzoleni unterscheidet die SVP von den militanten Rechtsextremen denn auch dadurch, dass sie nur auf Botschaften setzt, die in den Medien und der Bevölkerung ankommen.(6)

Es gibt trotzdem eine große Empörung über die SVP und Blocher, auch im bürgerlichen Lager. Meist geht es jedoch nur um den "unschweizerischen" Stil; der Inhalt ist weniger umstritten. Der Erfolg, den die Volksgemeinschaftsideologie bei der Spaltung der Arbeiterklasse hat, führt eben dazu, dass die bürgerlichen Parteien dem inhaltlich nicht viel oder nichts entgegensetzen. Warum auch? Das letzte Wahlbarometer prognostiziert u.a. eine Wahlbeteiligung von 46 Prozent, davon 2,9 Prozent für die BDP, 27.4 Prozent für die SVP und 18.5 Prozent für die SPS. Keine größeren Änderungen in Sicht.


Anne Polikeit, Prof. Dr., Biel/Schweiz, Diplomingenieurin


Anmerkungen:

(1) "Die Schweiz in der Vernehmlassung" Hrsg. G. Wurzenberger, N. Schiferer. 2003. Verlag Kein & Aber AG
(2) M. Ruf, damals führendes Mitglied der NA
(3) C- oder Niederlassungsbewilligung, längstfristige Aufenthaltsbewilligung, die neben einigen Rechten (beispielsweise die freie Wahl des Wohnortes) die gleichen Pflichten wie von SchweizerInnen "verleiht"
(4) Wählerstärkste Partei bei einer Beteiligung < 50 Prozent
(5) "work. die Zeitung der Gewerkschaft.", 26. August 2011
(6) Oscar Mazzoleni "Nationalisme et populisme en Suisse" nach Claude Longchamp. Blog 25.6.2008


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-11, 49. Jahrgang, S. 66-69
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2011