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MARXISTISCHE BLÄTTER/529: VR China - Nur ein Reformstau?


Marxistische Blätter Heft 3-12

VR China: Nur ein Reformstau?
"Gesellschaft vom Typ des Wandels"

Von Helmut Peters



Folgen wir den Verlautbarungen der KP Chinas, dann haben wir es in China mit "einer Gesellschaft vom Typ des Wandels" zu tun, in der der Reform gegenwärtig die Aufgabe zukommt, die "Hemmnisse im System und in der Struktur zu attackieren" und zu beseitigen. Die Gesellschaft, die im Ergebnis dieses Wandels entstehen soll, wird nicht definiert.

Gesellschaftliche Gegebenheiten

Ich teile die Auffassung, dass die heutige Gesellschaft in China weiterhin den Charakter einer Übergangsgesellschaft hat. Historisch wurde dieser Übergang unter Führung der KP Chinas aus einer im Wesentlichen vorkapitalistischen Gesellschaft mit dem Ziel eingeleitet, in China eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu schaffen. Die Neukonzipierung dieses Weges in Gestalt der Reform - und Öffnungspolitik basierte in Anlehnung an die NÖP Lenins auf der Strategie, sich in Kooperation mit dem internationalen Kapital den materiellen und geistigen Fortschritt der Menschheit im Kapitalismus anzueignen. Abgesehen von der Art und Weise der Aneignung vernachlässigte die KP Chinas in diesem Prozess jedoch zwei wesentliche Aufgaben - die politisch-ideologische und organisatorische Absicherung ihrer proletarischen Klassenbasis und die klassenmäßige Auseinandersetzung mit dem Imperialismus. Das machte die chinesische Gesellschaft besonders anfällig für bürgerliche Ideologie, Lebensweise und Unmoral, für das unbedingte Streben nach Macht und Geld als die zwei Kategorien, die heute in der chinesischen Öffentlichkeit über die gesellschaftliche Stellung eines Menschen zu befinden scheinen. Die politische Macht in der VR China kommt immer noch "aus den Gewehrläufen", d. h. als ihre entscheidende Basis und Stütze gelten nach wie vor die bewaffneten Streitkräfte in der Hand der Partei. Schädigung und Verletzung von Lebensinteressen der Werktätigen seit den 1990er Jahren haben die Beziehungen zwischen Volk und Partei in erheblichem Maße untergraben. Die Parteielite, die die hoch konzentrierte Macht im Wesentlichen weiter autoritär ausübt, tut sich nach wie vor schwer, die Widersprüche zwischen Macht und Volk demokratisch zu regeln.

Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen elitären Interessengruppen sind in den letzten Jahren bis in die Führungsspitze hinein intensiver und schärfer geworden. Maßgeblich ausgelöst und gefördert wurde diese Tendenz durch ökonomische, soziale und ökologische, innere und äußere Zwänge, von der bisherigen Art der wirtschaftlichen Entwicklung Abstand zu nehmen. Die Volksrepublik hatte auf diesem Weg zweifellos bedeutende Ergebnisse erreicht. Sie verfügt heute mit über drei Billionen US-Dollar unter allen Ländern über die größten Devisenreserven und entwickelte sich unter den Bedingungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise zu einem Motor der Weltwirtschaft. Diese Ergebnisse wurden jedoch auf Kosten einer systematischen Vorbereitung des künftigen Übergangs von der arbeitsintensiven zu einer kapital- und technikintensiven nachhaltigen Produktion und Reproduktion erreicht. Das bisherige Modell ökonomischer Entwicklung war nicht auf die Entwicklung der Arbeitsproduktivität, sondern in Konkurrenz mit den "entwickelten Ländern" darauf gerichtet, China im Bruttoinlandsprodukt in die Weltspitze zu katapultieren und einen Maximalgewinn für die Akkumulation von Eigenkapital zu erreichen. Dieses Modell blieb bei der Ausnutzung des internationalen Großkapitals auf dem Nachbau hängen. Eigenes geistiges Eigentum und die Fähigkeit zur eigenen Innovation wurden kaum entwickelt. Produktion und Handel beruhten zu großen Teilen auf billig gehaltener und unqualifizierender Arbeitskraft, auf Eingliederung großer Teile der chinesischen Wirtschaft in untere Ebenen der internationalen Produktionsketten westlicher transnationaler Konzerne, auf Verarbeitungshandel, auf Vorteilsnahme in der internationalen Konkurrenz durch eine Unterbewertung der Landeswährung und auf einer "Marktwirtschaft chinesischer Prägung", in der die Verteilung der hauptsächlichen Ressourcen von der Regierung vorgenommen wurde. Der erforderliche Übergang von der arbeitsintensiven zu einer kapital- und technikintensiven nachhaltigen Produktion und Reproduktion, die allein die materielle Grundlage für die Sicherung und den weiteren Ausbau der chinesischen Position in der kapitalistischen Weltwirtschaft sein kann, muss sich allein schon unter diesen inneren Bedingungen außerordentlich schwierig gestalten. In diesem Zusammenhang möchte ich auch in Erinnerung rufen, dass keines der Länder des "frühen Sozialismus", die zum Teil über deutlich bessere Ausgangsbedingungen als das heutige China verfügten, imstande gewesen war, diesen Übergang zu vollziehen und in der Arbeitsproduktivität mit den entwickelten kapitalistischen Ländern zumindest gleichzuziehen.

Die Dinosaurierkrankheit

Ein brennendes Problem im gegenwärtigen Reformstreit sind die Situation in der nichtstaatlichen Wirtschaft(1) und ihre Rolle bei der weiteren Entwicklung des Landes. Im Grunde geht es um die Bedeutung und den Platz von staatlichem und (einheimischen) privatkapitalistischen Eigentum bei der weiteren Gestaltung der ökonomischen Basis.(2) Dieser Streit ist nicht neu, er hat schon die gesamte Entwicklung in der letzten Dekade begleitet.

Nach der Rettung der maroden Staatswirtschaft 1997-1999, die allein über 2 Billionen Yuan kostete, orientierte das ZK der Partei im September 1999 angesichts der generellen Konkurrenzunfähigkeit der staatlichen Unternehmen auf die Konzentration des staatlichen Kapitals in drei Bereichen ohne Konkurrenz: staatliche Sicherheit, natürliche Monopole und gemeinnützige Institutionen. Die Bereiche der marktwirtschaftlichen Konkurrenz sollten den nichtstaatlichen Sektoren mit dem (einheimischen) privatkapitalistischen Eigentum als Kern (schafft allein schon über 80 Prozent aller neuen Arbeitsplätze!) überlassen werden. Damals wurde auch eine größere Zahl staatlicher Unternehmen im Zuge der Wiederanpassung der Produktionsverhältnisse an den Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Produktivkräfte privatisiert. In diesem Prozess traten in der Administration Kräfte auf, die privates Eigentum für effektiver hielten, sich deshalb generell für eine Privatisierung der staatlichen Unternehmen aussprachen und dazu übergingen, selbst große staatliche Unternehmen zu privatisieren. In der darauf folgenden Diskussion setzte sich angesichts der negativen Erfahrungen Russlands mit der Privatisierung staatlicher Unternehmen die Auffassung durch, den staatlichen Sektor nicht zu privatisieren, sondern weiter zu reformieren. Unter Leitung der 2003 gegründeten Staatlichen Kommission für die Verwaltung des staatlichen Eigentums wurde dieser Prozess eingeleitet. Die Reform wurde darauf konzentriert, die zentral unterstellten staatlichen Unternehmen (damals noch 236, heute etwa 120) bei Beibehaltung ihres Charakters nach westlichem Muster in große moderne und spezialisierte Konzerne umzubauen und zu entwickeln, die international agieren und in der internationalen Konkurrenz bestehen können.

Obwohl schon damals davon die Rede war, allmählich auch das Monopol in den "Gewerben ohne Konkurrenzcharakter" abzuschaffen, bilden und entwickelten sich unter den zentral geleiteten große Unternehmen in allen wichtigen Branchen (Erdöl und Erdölverarbeitung, Energie, Verkehr u.ä.m.) "Unternehmen mit administrativen Monopolcharakter", d. h. das Monopol bildete sich durch die Administration und auf der Grundlage der Ressourcen heraus, über die die Regierungen der einzelnen Ebenen verfügten. Die enormen Profite, die diese Monopolunternehmen im Laufe der Jahre erzielten, resultierten im Prinzip nicht aus der Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Sie wurden neben der Unterstützung durch die Politik vor allem aus dem Monopol an Ressourcen und in den letzten Jahren auch durch spekulative Aktionen z. B. im Immobilienwesen (2009 hausierten in dieser Branche rund 60 Prozent aller zentral geleiteten Unternehmen) eingefahren.

Die Jagd nach Profit trieb diese staatlichen Unternehmen auch in andere Bereiche der realen Wirtschaft. Die Entwicklung begann sich damit wieder umzukehren, die großen staatlichen Unternehmen dehnten ihren Radius aus. Im Chinesischen nennt man das "Staat hinein, Privat raus". Anschaulich zeigte sich diese Tendenz am Beispiel des staatlichen Konzerns Zhong Liang (China-Getreide), der eigentlich in den Bereichen Getreide und Speiseöl, verbunden mit einem Außenhandelsmonopol, angesiedelt war. Das Kapital dieses Unternehmens hatte sich auf diese Weise von 2003 zu 2008 von knapp 60 auf über 140 Mrd. Yuan erhöht. Danach ging er daran, in allen Branchen, die die Bevölkerung mit den täglichen Nahrungsprodukten versorgen, sich ein nichtstaatliches Unternehmen nach dem anderen einzuverleiben und auf diesem breiten Feld als führendes nationales Unternehmen zu etablieren. In der chinesischen Presse las man von einem Unternehmen, in dem sich "der Charakter eines Dinosauriers und mit dem eines Wolfes" vereine und das "mit seinem ausgeprägten Instinkt auf Jagd nach Profit" von der "Dinosaurierkrankheit" befallen sei.(3)

Das "Anti-Monopol-Gesetz" war zwar nach einer langen Auseinandersetzung beschlossen worden, seine Gegner, inzwischen fest etablierte Interessengruppen in Administration und Monopolunternehmen, konnten bisher jedoch die Praktizierung des Gesetzes verhindern. Damit blieben auch die 2005 von der Regierung beschlossenen "36 Punkte", die den privatkapitalistischen Unternehmen den Weg in die Monopolbereiche öffnen sollten, wie auch ihre Erweiterung vom Mai 2010 auf dem Papier.

Mit der Verdrängung durch staatliche Unternehmen verschlechterten sich auch die Bedingungen für die Bewirtschaftung der nichtstaatlichen Unternehmen. Nicht zuletzt durch eine hohe Besteuerung und andere Gebühren legten allein 2011 die Selbstkosten dieser Unternehmen im Durchschnitt um fast 30 Prozent zu. Die Handelsbanken konzentrierten ihre Kreditgeschäfte auf die großen Unternehmen, die die notwendige Sicherheit und gute Geschäfte boten. Für die nichtstaatlichen Unternehmen blieb fast nur die Möglichkeit, sich Kapital aus privaten Quellen zu einem Zinssatz zu beschaffen, der im Vergleich zu den staatlichen Banken um ein Mehrfaches höher lag. In Regionen wie Wenzhou, Provinz Zhejiang, deren ökonomische Entwicklung von nichtstaatlichen Unternehmen getragen wird, bahnte sich zuerst eine kritische Situation an. Nach Angaben des Statistikamtes der Provinz Zhejiang gaben allein im ersten Halbjahr 2011 1447 mittlere und kleine Unternehmen auf. Ein anderer gewichtiger Anteil dieser Unternehmer suchte den Ausweg in hohen Gewinnen durch Anlage ihres Kapitals im spekulativen Gewerbe im benachbarten Shanghai. Der einsetzende massenweise Abfluss von Kapital aus der realen Wirtschaft Wenzhous in die virtuelle Wirtschaft Shanghais bewirkte einerseits einen außergewöhnlichen Aufschwung der dortigen Immobilienbranche mit der Gefahr einer neuen Blasenbildung, andererseits begann er die wirtschaftlichen Grundlagen der Region Wenzhou infrage zu stellen.

Das veranlasste die chinesische Regierung zu Beginn des Jahres 2012, sich intensiv mit dieser Entwicklung auseinanderzusetzen und Maßnahmen zu treffen, den Abfluss von Kapital aus der realen Wirtschaft zu stoppen und abgeflossenes Kapital wieder in die reale Wirtschaft zurückzuholen.

Erste Signale

Vor den "beiden Tagungen"(4) im März deutete sich bereits an, dass die marktwirtschaftlich orientierten Kräfte das "Wenzhou-Problem" durch eine Öffnung des Kapitalmarktes für die privatkapitalistische Wirtschaft anstreben. Auf einem Forum der chinesischen Unternehmer Anfang Februar wurden "Freiheit, Eigentumsrecht und Unternehmergeist" als die drei unverzichtbaren Merkmale einer "wirklichen Marktwirtschaft" gefordert. Aufhorchen ließ, dass die chinesische Führungsspitze diese Position in einer Meldung von Xinhua vorbehaltlos unterstützte: "Unter den Bedingungen des Rechts auf Privateigentum und der Marktwirtschaft sind Kapital und Unternehmer Produktionsfaktoren. Der freie Zusammenschluss aller Produktionsfaktoren und das Streben nach Maximalprofit sind nach wie vor unerschöpfliche Triebkräfte für die Erzeugung von gesellschaftlichem Reichtum. Das erfordert die gleichzeitige Anwesenheit von Freiheit des Kapitalmarktes und Unternehmergeist ... Deshalb muss es im System des Kapitalmarktes eine Lockerung geben, wenn wir einen gesunden und vollkommenen Unternehmergeist haben wollen."(5) 2001, als der Generalsekretär der Partei Jiang Zemin die Privatkapitalisten als sozialistische Werktätige "hoffähig" machte, konnte das immerhin noch als Politik verstanden werden, dieses Eigentum umfassend für den sozialistischen Aufbau nutzen zu wollen. Die jetzigen Äußerungen scheinen noch darüber hinaus zu gehen. Ich bin mir deshalb nicht mehr sicher, ob sich die Führung der KP Chinas insgesamt noch darin einig ist, die Renaissance der chinesischen Nation konsequent im Vorzeichen des Sozialismus anzustreben.

Es zeichnete sich ab, dass bestimmte Kräfte bestrebt waren, in der Zeit der "beiden Tagungen" eine Vorentscheidung über die Richtung und die nächsten Schwerpunkte der Reform herbeizuführen. Hier reihte sich auch die hochrangige Konferenz mit der Weltbank vom 27. Februar in Beijing ein. Gegenstand der Veranstaltung war der Report "Entwicklung einer modernen, harmonischen und kreativen Gesellschaft: Internationale Erfahrungen und Chinas strategische Herausforderung" (Kurzfassung: China 2030), vorgestellt und erläutert vom Präsidenten der Weltbank, Robert Zoellick. Dieser Report war auf Vorschlag des designierten chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang von der Weltbank in Zusammenarbeit mit einer chinesischen Regierungsinstitution, dem Zentrum für Entwicklungsforschung beim Staatrat der VR China(6) unter Leitung eines Ministers, gemeinsam erarbeitet und von Präsident Hu Jintao und Ministerpräsident Wen Jiabao gebilligt worden.

Zoellick sprach einleitend davon, dass China, wenn es sein Wirtschaftmodell ändert, eine profunde Entwicklung nehmen und bis 2030 mit 16.000 US-Dollar Einkommen pro Person das Dreifache des jetzigen Niveaus erreichen kann. Das würde die Welt ökonomisch, sozial und politisch beeinflussen. China gäbe damit ein Beispiel für Entwicklungsländer und entwickelte Länder, wie ein ökonomischer Fortschritt aussehen muss, der nicht auf Kosten der sozialen und ökologischen Entwicklung oder der globalen Verantwortung geht. Zoellick kam dann zum eigentlichen Teil des Reports, dem Vorschlag einer neuen Entwicklungsstrategie für die nächsten zwei Dekaden mit einem Reformprogramm, das auf sechs strategischen Säulen beruht:

  • Vollständiger Übergang zur Marktwirtschaft durch eine neue Definition der Rolle des Staates und des privaten Sektors,
  • Anpassung an ein "offenes Gesellschaftssystem" mit globalen Verbindungen zum Kapital und Unternehmermärkten,
  • Förderung eines grünen Wachstums,
  • Sicherung der Chancengleichheit und der sozialen Grundsicherung für alle,
  • Stärkung des Fiskalsystems und Förderung der fiskalen Stabilität und Absicherung der weiteren Integration China als internationaler Partner in die globalen Märkte.

China sollte - ausgehend von diesen sechs Überlegungen - auch bedenken, wie es seine Entwicklung mit seiner internationalen Verantwortung verbinden muss. Es könnte Schlüsselpartner für zahlreiche globale Lösungen werden.

Diese Reformvorschläge könnten auch aus der Feder bürgerlicher Parteiwen in einer kapitalistischen Gesellschaft stammen. Das heißt nicht, dass Manches auch für eine nichtkapitalistische Entwicklung zu bedenken wäre, z. B. die Regelung der Beziehungen zwischen Staatsunternehmen und Marktwirtschaft. Lenin vertrat in seiner Neuen Ökonomischen Politik bekanntlich die Auffassung, dass eine Marktwirtschaft unter Führung des proletarischen Staates die Möglichkeit bietet, die Staatsunternehmen über die exakte Rechnungsführung rentabel zu machen. Insofern bleibt offen, wie weit in diesem Dokument die Gemeinsamkeiten in den Interessen der Weltbank, der sie dominierenden Mächte, und der am Report beteiligten chinesischen Kräften tatsächlich reichen, und wo und wie weit sie auseinander gehen. Es bleibt jedoch der Eindruck, dass imperialistische Mächte die sich heute in China bietende Situation eines Wandels zu nutzen suchen, um der Klärung der gesellschaftlichen Entwicklung Chinas in ihrem Sinne entscheidend näher zu kommen. Dabei ist die werbende Lockung im Report an die chinesische Adresse nicht zu übersehen: Wenn Du tust, was ich vorschlage, hast Du die große Chance, der Primus inter Pares unter allen Ländern der Welt zu werden. Psychologisch geschickt hält sich der Report mit Vorschriften zurück. Es wird vielmehr akzeptiert, dass die in ihm niedergeschriebenen Vorschläge in China erst diskutiert werden müssen, um Richtung, Leitlinien und Details der weiteren Reform bestimmen und in Gesetze fassen zu können. Der Report ist auch dem offiziellen chinesischen Sprachgebrauch angepasst, was seiner Akzeptanz in China förderlich sein könnte.

Erkenntnisse aus der Reformdebatte

Eine erste Wahrnehmung aus den öffentlichen Diskussionen über die Reformen, die vor und während der "beiden Tagungen" geführt wurden, ist, dass die breite Masse der werktätigen Bevölkerung nicht einbezogen wurde. Sie werden vielmehr zwischen verschiedenen Gruppen der Elite geführt, die auch in dieser Debatte die öffentliche Meinung bestimmen.

Diese Eliten beziehen, ausgehend von ihren jeweiligen Interessen, in der Einschätzung der bisherigen Reform, der gegenwärtigen Lage der Reform und des weiteren Weges der Reform unterschiedliche und gegensätzliche Positionen. Eine erste Gruppe, die bisher einen großen Nutzen aus der Reform gezogen hat und deren Interessen daher mit der bisherigen Lage fest verbunden sind, tritt grundsätzlich für die Beibehaltung des Status Quo ein. Dazu gehören z. B. Management und die Stammbelegschaften vor allem der großen staatlichen Monopolunternehmen und die mit ihnen verbundenen Teile der Administration bis auf die Ebene der Zentralregierung. Sie gelten heute als die "Reformblockierer". Eine zweite Gruppe der Elite betrachtet die bisherige Reform vor allem angesichts der sozialen Polarisierung und der Korruption im Grund als gescheitert und sieht den Ausweg in einer bestimmten Rückkehr zur Politik und zu Methoden früherer Zeit; Kopf dieser "alten Linken" schien Bo Xilao, bis Mitte März einflussreicher Parteichef von Chongqing, zu sein. Seine Absetzung und Entfernung aus dem ZK am Vorabend des XVIII. Parteitages bedeutet, dass der mit ihm verbundene Teil der Elite deutlich geschwächt wurde. Eine dritte Gruppe der Elite sieht den Ausweg aus der gegenwärtigen kritischen Reformsituation vor allem im Übergang zu einer "wirklichen" Marktwirtschaft, in zusätzlichen Konzessionen an das Privatkapital. in einer verstärkten Zusammenarbeit mit der Weltbank und in der Erweiterung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit dem internationalen Großkapital. Einiges deutete daraufhin, dass dieser Teil der Elite die Arbeit der Regierung in der folgenden Wahlperiode bestimmen wird.

Grundsätzliche Entscheidung

Auf der Märztagung des Nationalen Volkskongresses wurde eine erste Orientierung für den weiteren gesellschaftlichen Wandel beschlossen. Die Reform soll auf die gegenwärtigen Brennpunkte und hauptsächlichen Problemgebiete in der gesellschaftlichen Entwicklung konzentriert werden. Sechs gesellschaftliche Beziehungen stehen im Mittelpunkt - die Beziehungen zwischen Regierung und Markt, zwischen Zentrale und Regionen sowie zwischen den Regionen im Bereich der Verteilung der Finanzen zwischen Stadt und Dorf, zwischen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung und zwischen Regierung einerseits und Bürgern und gesellschaftlichen Organisationen andererseits.

In den Diskussionen "beider Tagungen" wurden vereinzelt auch konkretere Vorstellungen dazu geäußert. So sieht der stellvertretende Leiter des Zentrums für Entwicklungsforschung beim Staatsrat, Liu Shijin, das Kernstück der vorzunehmenden Korrekturen im Wandel der Regierungsfunktionen. Für ihn muss künftig die eigentliche Funktion der Regierung in der Bereitstellung und Gewährleistung notwendiger Systeme, Regeln und Politiken für die gesellschaftliche Entwicklung bestehen, um die Aufstellung der Ressourcen durch den Markt zu optimieren, eine faire Konkurrenz und bahnbrechende Leistungen zu fördern und gesellschaftliche Risiken gering halten zu können. Im Nationalkomitee der PKKCV standen naturgemäß die Probleme in der nichtstaatlichen Wirtschaft im Mittelpunkt der Aussprachen. Gefordert wurde, den Kapitalmarkt wieder auf die Bedürfnisse der realen Wirtschaft auszurichten und zur Unterstützung der Kleinunternehmen einen "Graswurzelkapitalmarkt" zu schaffen. Sichtbar wurde dabei auch das besondere Interesse der privatkapitalistischen Unternehmer an der Infrastruktur und am Kapitalmarkt.

Nach den "beiden Tagungen" ging die KP Chinas dazu über, den bis dahin staatlich organisierten Kapitalmarkt dem einheimischen Privatkapitalismus zu öffnen. Dazu beschloss der Ständige Ausschuss des Staatsrats am 28. März das "Gesamtprojekt für den Versuch einer komplexen Finanzreform im Gebiet der Stadt Wenzhou".

Mit dem Projekt sollen die hauptsächlichen Probleme in der wirtschaftlichen Entwicklung Wenzhous gelöst werden, darunter die Rückorientierung des Geldmarktes auf seine Dienstleistung für die reale Wirtschaft und die Sicherung der Finanzierung mittlerer und kleiner Unternehmen.

Diese Ziele des Projekts wurden in 12 Aufgaben aufgeschlüsselt. Sie betreffen die private Finanzierung, den Aufbau von neuartigen Organisationen des Kapitalmarktes, die Verwaltung der Vermögenswerte, Versuche mit direkten Investitionen außerhalb der Region, die Reform des regionalen Finanzapparats, Entwicklung von Finanzprodukten und Dienstleistungen für Kleinunternehmen und für die "drei Nong" (Dorf, Landwirtschaft, Bauern) und für vielschichtige Finanzierungen, Entwicklung eines regionalen Kapitalmarktes, Dienstleistungen im Versicherungssystem, Ausbau des gesellschaftlichen Kreditsystems, Vervollkommnung der Verwaltung des regionalen Kapitalmarktes und die Abwehr von Risiken für die komplexe Finanzreform.

Die entscheidende Aussage findet sich in der zweiten Aufgabe "Beschleunigter Aufbau von Kapitalmarktorganisationen neuen Typs". Dazu heißt es: "Das Privatkapital wird ermuntert und unterstützt, an der Reform des regionalen Kapitalmarktes teilzunehmen, auf der Grundlage der Gesetze Kapitalmarktorganisationen neuen Typs wie Banken, Kreditgesellschaften und Vereinigungen der gegenseitigen Finanzhilfe auf dem Dorf zu errichten oder sich mit Aktien daran zu beteiligen. Kleine Kreditgesellschaften, die die Bedingungen dafür aufweisen, dürfen sich in dörfliche Banken umwandeln." An anderer Stelle wird hinzugefügt, dass das Privatkapital dabei "angeleitet werden soll".

Formal gesehen hat das Projekt Wenzhou. das nach den geltenden Gesetzen durchgeführt werden soll, (noch) keine gesetzliche Grundlage: denn das Gesetz über die Handelsbanken aus dem Jahre 1998 verbietet dem Privatkapital, Handelsbanken zu gründen.

Drei Aspekte scheinen mir (als "Nichtökonom") wesentlich zu sein, wenn dieses Projekt wie vorgesehen umgesetzt und im Landesmaßstab praktiziert werden sollte: die generelle Öffnung des nationalen Bankensystems für das einheimische Privatkapital, die künftig wahrscheinliche Dominanz des Privatkapitals im tagtäglichen Leben des Dorfes und die Einbeziehung der Kapitalzirkulation des gesamten Landes einschließlich der Öffnung ins Ausland.

Der generelle Einzug des einheimischen Privatkapitals in das bislang grundsätzlich staatliche Bankensystem hat für mich zwei Seiten: Auf längere Sicht kann sich ein ernster Konkurrent für die staatlichen Banken entwickeln, der den Zwang auf sie verstärken würde, die Bewirtschaftung auf der Basis konsequenter Rechnungsführung effektiv im Sinne sozialistischer Werte zu entwickeln. In diesem Prozess steckt aber auch die potentielle Gefahr, dass sich, zumal China in so breitem Ausmaß mit dem internationalen Kapital kooperiert, ein allmählich erstarkendes Privatkapital gegenüber den staatlichen Banken behauptet bzw. diese kapitalistisch zersetzen wird.

Für direkt bedrohlich halte ich den generellen Einzug des Privatkapitals in das chinesische Dorf, exakter ausgedrückt: in die Region unterhalb der Kreisebene, d.h. in den Xiang (Dörferverband) und das Dorf. Bislang war der einzige oder größte Aktionär für diesen Bereich der Finanzapparat der staatlichen Banken. Das soll sich nun grundlegend ändern. Der Staat wird zwar weiterhin große Projekte für die Landwirtschaft und das Dorf finanzieren, die konkreten Finanzierungsgeschäfte für den mittleren, kleinen und Kleinstunternehmer werden künftig jedoch von Privatkapitalisten getätigt werden. Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann niemand ausschließen, dass der Privatkapitalist diese Gelegenheit nutzen wird, um einen größeren, wenn nicht sogar wesentlichen Einfluss auf die Situation im Dorf und damit auf den Bauern zu erlangen. Das wäre für die Entwicklung Chinas als Volksrepublik verhängnisvoll.

Die Einbeziehung der Kapitalzirkulation des gesamten Landes in das Versuchsprojekt Wenzhou hätte große Auswirkungen auf die gesamte Finanzwirtschaft des Landes nach innen wie nach außen, die viele noch nicht bedachte Risiken einschließen würde.

Mit dem Projekt Wenzhou hat sich die Reformdebatte unter den gesellschaftlichen Eliten der Finanzreform zugewandt. Auf dem jährlichen Baoan-Forum für Asien, das in diesem Jahr Anfang April der designierte Ministerpräsidenten Li Kequan eröffnete, waren die Teilnehmer einer Meinung: Mit dem Versuchsprojekt Wenzhou ist der Vorhang für die Reform des Kapitalmarktes aufgezogen und das Eis für den privaten Kapitalmarkt gebrochen. Dabei spricht die Tatsache, dass die großen staatlichen Handelsbanken der Diskussion auf dem workshop "Wenzhou" kollektiv fernblieben, Bände. Anwesende führende Vertreter großer staatlicher Konzerne zentraler Unterstellung wie China Petrol äußerten auch, dass sie nicht verstehen würden, weshalb man "dem Privatkapital noch Suppe reichen" sollte. Das Projekt Wenzhou wurde unter verschiedenen Aspekten strittig analysiert. Der Tenor des Teilforums über Wenzhou war jedoch: Die Kapitalmarktreform kann nur von "oben" eingeleitet werden, und das Projekt Wenzhou ist zu begrüßen.

Li Keqiang hatte in seiner Eröffnungsrede, in der das Wort Sozialismus nicht einmal auftauchte, am 2. April hervorgehoben: "Wir werden angesichts der Gegebenheiten in der Welt und ihren tiefen Veränderungen jene Hemmnisse im System und in den Mechanismen zerschlagen, die dem Wandel in der Wachstumsweise der Wirtschaft entgegenstehen." Diese Art Formulierung erinnert an jene. mit der der Übergang Chinas zur Marktwirtschaft begründet worden war.

Die Rede Lis bestärkt mich in der Einschätzung, dass künftig unter seiner Regierung die fundamentale Rolle des Marktes bei der Aufstellung der Ressourcen unter makroökonomischer Leitung und Kontrolle voll ausgenutzt werden soll. Es wird abzuwarten sein, ob und inwieweit die KP Chinas dann die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft des Landes weiter kontrollieren und regulieren kann.


Helmut Peters, Prof. Dr., Berlin, Sinologe


Anmerkungen:

(1) Der Begriff "nichtstaatliche Wirtschaft" schließt den privatkapitalistischen Sektor und den Sektor der kleinen Warenproduktion, aber nicht die Unternehmen des ausländischen Kapitals ein. Mitte 2011 betrug das registrierte Kapital des privatkapitalistischen Sektors 25,7 Billionen Yuan, das der kleinen Warenproduktion 1,5 Billionen Yuan. Von der Betriebsgröße her gesehen geht es in erster Linie um mittlere und kleine Unternehmen, die generell privatkapitalistischer Natur sind, und Unternehmen der kleinen Warenproduktion.

(2) Grob geschätzt erzeugt der staatlichen Sektor bei einem Anteil am gesellschaftlichen Kapital von gut 50 Prozent etwas über 30 Prozent des BIP, während die nichtstaatliche einheimische Wirtschaft bei einem Anteil von weniger als 40 Prozent am gesellschaftlichen Kapital mit etwa 60 Prozent zum BIP beiträgt. Offensichtlich hat der privatkapitalistische Sektor mit einem Anteil von 65 Prozent an Patenten eine generell höhere Arbeitsproduktivität entwickelt als die staatliche Wirtschaft.

(3) Su Yongtong u. Wang Zunfu, Zhoung Liang - "wilde" Erweiterung zu einem Allround-Unternehmen zentraler Unterstellung, in: Nanfang Zhoumo v. 20.9.09

(4) Dieser in China übliche Begriff meint die jährlichen Märztagungen des Nationalen Volkskongresses und des Nationalkomitees der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes (Organisation der nationalen Einheitsfront).

(5) Xinhua She v. 6.2.12

(6) In dieser Institution sind chinesische Ökonomen wie Wu Jinglian tätig, die sieh seit den 1980er Jahren maßgeblich für die Einführung der Marktwirtschaft in China eingesetzt hatten.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-12, 50. Jahrgang, S. 28-35
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. September 2012