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MARXISTISCHE BLÄTTER/535: Friedensbewegung und Arbeiterbewegung


Marxistische Blätter Heft 6-12

Friedensbewegung und Arbeiterbewegung
Zwischen Pazifismus, Antimilitarismus, Patriotismus und Menschenrechten

von Hermann Kopp und Peter Strutynski



Der Basler Sozialistenkongress am 24. und 25. November 1912 gehört zweifellos zu den Höhepunkten der proletarischen Antikriegsbewegung. Aufgeschreckt vom kurz zuvor entfesselten Balkankrieg kamen über 500 Delegierte aus 23 Staaten zusammen, um Verabredungen im Kampf gegen einen drohenden europäischen Krieg, der durchaus schon als kommender Weltkrieg wahrgenommen wurde, zu treffen. Bemerkenswert war der Ort der Versammlung: Die Sozialisten tagten im Münster von Basel, das ihnen der zuständige Pfarrer Täschler zur Verfügung gestellt hatte. Bemerkenswert aber auch die Ernsthaftigkeit der Beratungen und vor allem das einmütig verabschiedete "Manifest über die Kriegsgefahr und die Aufgaben des internationalen Proletariats", das kein geringerer als Jean Jaurès vortrug. Jaurès wurde neun Monate später von einem französischen Chauvinisten ermordet - so als müssten die letzten großen Antimilitaristen aus dem Weg geräumt werden, bevor das große Völkermorden im August 1914 beginnen konnte. Das Manifest von Basel machte es der internationalen Arbeiterbewegung zur Aufgabe, den drohenden Krieg zu verhindern und, falls das nicht möglich wäre, "für dessen rasche Beendigung einzutreten" und die dabei entstehende politische Krise zu nutzen, um "die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen". Bemerkenswert - und von Lenin besonders lobend hervorgehoben - war schließlich auch die konkrete Zuweisung politischer Aufgaben an die verschiedenen nationalen Abteilungen der Arbeiterbewegung.

Doch die vielen antimilitaristischen Manifestationen am Vorabend des 1. Weltkriegs konnten den drohenden Krieg nicht aufhalten; ja, eine weit verbreitete Antikriegsstimmung in der arbeitenden Bevölkerung und in Teilen der Intelligenz schlug binnen kurzem in eine Kriegszustimmung um, die oft chauvinistische Züge annahm. Die Entwicklungen in Arbeiterbewegung und Friedensbewegung zu skizzieren, die dem vorausgingen, den Ursachen für die mehr oder weniger hilflose ideologische und emotionale Auslieferung dieser Bewegungen an die Kriegspropaganda der Herrschenden nachzugehen, scheint uns auch mit dem Blick auf heute sinnvoll zu sein. Wir werden das im Folgenden thesenhaft versuchen.


I. Die Herausbildung der Arbeiterbewegung, als einer Bewegung von Lohnabhängigen, die sich ihrer gemeinsamen, von den Interessen anderer Klassen, insbesondere der Bourgeoisie unterschiedenen bewusst werden, sich entsprechend organisieren und organisiert für die Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse, für soziale und politische Rechte bis hin zur Überwindung des Lohnsystems kämpfen - kurz: von der Klasse an sich zur Klasse für sich werden -, war ein Prozess, der sich über mehrere Jahrzehnte hin zog. Seine Anfänge in Deutschland fallen in die 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts. Da dieser Prozess eng an die Formierung eines modernen Industrieproletariats gebunden war, gewann er an Tiefe und Breite, als die industrielle Revolution immer weitere Teile der gesellschaftlichen Produktion erfasste. Höhepunkte dieser Entwicklung waren die Gründung des ADAV 1863 als einer ersten politischen Arbeiterorganisation mit Masseneinfluss und dann, 1869, die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, deren "Eisenacher Programm" bereits wesentlich von den Ideen von Marx und Engels geprägt war und die sich als Teil der 1864 gegründeten "Internationalen Arbeiter-Assoziation" verstand.

Der Kampf um den Frieden spielte in diesen Formierungsjahren der Arbeiterbewegung eine dem "Kampf um das Brot" untergeordnete Rolle.

Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Arbeiterbewegung jener Zeit von zwei - auch von anderen gesellschaftlichen Kräften unhinterfragten - Voraussetzungen ausging: Einmal galt das Führen von Kriegen als selbstverständliches "Recht" souveräner Staaten. Das ius ad bellum, das Recht zum Krieg, war Bestandteil des damals geltenden Völkerrechts, das insofern seit dem Westfälischen Frieden 1648 von den souveränen Staaten - anabhängig von ihrer jeweiligen Staatsform und ihrem Regime - in Anspruch genommen wurde. Zweitens wurde, damit eng zusammenhängend, die Existenzberechtigung bewaffneter Streitkräfte nicht in Frage gestellt. Alle drei Parteiprogramme der deutschen Sozialdemokratie, das Eisenacher Programm 1869, das Gothaer Programm 1875 und das Erfurter Programm 1891, forderten nicht die Abschaffung des Militärs, sondern dessen Umwandlung in ein Volksheer. Die "allgemeine Volksbewaffnung" war schon ein Bestandteil der "Forderungen der Kommunistischen Partei" vom März 1848 gewesen, wenn auch nicht des zuvor verfassten "Kommunistischen Manifests". Zum Thema "Krieg und Frieden" formulierte das "Manifest" lediglich einen Zustand nach dem - als "gewaltsam" vorgestellten - "Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung": "Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander."(1) Frieden ist also im Inneren wie in den Außenbeziehungen erst mit der Überwindung des bürgerlichen (oder feudalen) Klassenstaats denkbar,


II. Sozialökonomische Fragen, die sich auf den strukturellen Zusammenhang von Klassenstaat und seinen inneren wie äußeren Repressionsinstrumente bezogen, wurden in zahlreichen Grundlagenschriften von Marx und Engels, später von Karl Kautsky und Franz Mehring thematisiert und fanden auch Eingang in die sozialdemokratische Propaganda von Bebel, Wilhelm und Karl Liebknecht bis zu Rosa Luxemburg.

Inwieweit diese Gedanken von den Mitgliedern und Anhängern der Sozialdemokratie rezipiert und verinnerlicht wurden, bleibt allerdings fraglich - stießen sie sich doch mit einer auch in den "Unterschichten" verbreiteten Staatsgläubigkeit, die schon von Lassalles Kungelei mit Bismarck befördert worden war und sich durch den Sieg über Frankreich von 1870/71 eher bestätigt sehen durfte. Der "Antimilitarismus" gerade der deutschen Sozialdemokratie machte sich oft genug an Äußerlichkeiten fest: etwa dem schon von Engels karikierten Stechschritt oder dem Respekt vor der preußisch-deutschen Pickelhaube - verniedlichend dargestellt später in Zuckmayers ansonsten so grandiosem Lustspiel "Der Hauptmann von Köpenick".


III. Ein anderes Herangehen an die Fragen von Krieg und Frieden seitens der Arbeiterbewegung erforderten dann freilich die Entwicklungen, die den Übergang des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium begleiteten. Als einer der ersten begriff das Friedrich Engels. Organisator des bewaffneten Widerstands in Elberfeld während der 48er Revolution, aktiver Kämpfer in deren letzt Phase, beim Aufstand in Baden, Autor von über 400 längeren und kürzeren Arbeiten zu Militärfragen - die ihm im Freundeskreis den von Jenny Marx geprägten Spitznamen "Der General" eintrugen - war er über jeden Verdacht erhaben, ein allem Militärischen abholdes "Weichei" zu sein.

Aber in seiner Beschäftigung mit militärischen Problemen ist eine deutliche Akzentverschiebung. festzustellen: galt das Interesse des jungen Engels vor allem Fragen der Kriegsplanung und Kriegführung - "[d]ie enorme Wichtigkeit, die die partie militaire [die militärische Seite] bei der nächsten Bewegung bekommen muss" nannte er 1851, neben. "eine[r] alte[n] Inklination" als einen der Gründe, die ihn veranlassten, "Militaria zu ochsen", schrieb er in einem Brief an seinen Freund Weydemeyer (der war Leutnant in der preußischen Armee gewesen)(2) -, so beschäftigten ihn seit den 1880er Jahren zunehmend Fragen der Kriegsverhütung.(3)

Die Ursachen für diese Akzentverschiebung sind wohl in drei Entwicklungen zu suchen:

Erstens war eine Periode von Volkskriegen und -aufständen - etwa der Bürgerkrieg in den USA oder der polnische Aufstand 1863 gegen die Zarenherrschaft - zunächst abgeschlossen; zweitens weckten die Erfolge, welche die Sozialdemokratie auf politischem Gebiet zu verzeichnen hatte, die Hoffnung, auch auf friedlichem Weg zu einer sozialen Umwälzung zu kommen; drittens und vor allem aber befürchtete Engels, und nicht nur er, dass das Wettrüsten die Gefahr eines großen Krieges und dass die militärtechnischen Fortschritte das Gefahrenpotential eines Krieges ungeheuer erhöhen würden. Engels, dessen Vorstellungen von einer sozialistischen Revolution sich lange, nicht anders als die von Marx, an der "klassischen" französischen Revolution von 1789-94 orientiert hatten, sah zugleich, dass diese "Fortschritte" überdies eine neue revolutionäre Taktik erfordern würden.

1892 schreibt er an Paul Lafargue: "Die Zeitungsberichte über die entsetzliche Wirkung der neuen Sprenggeschosse in Dahomey [wo Frankreich damals einen kolonialen Eroberungskrieg führte] werden Sie gelesen haben. Ein junger Wiener Arzt ... hat die Verwundungen gesehen, die die österreichischen Sprenggeschosse bei dem Streik von Nürmitz angerichtet haben, er sagt uns dasselbe. Natürlich wollen die Menschen, die sich der Gefahr aussetzen, auf diese Weise in Stücke gerissen zu werden, wissen, warum. Das ist ausgezeichnet, um den Frieden zu erhalten und auch um die sogenannten revolutionären Anwandlungen im Zaum zu halten, auf deren Explodieren unsere Regierenden nur warten. Die Ära der Barrikaden und Straßenschlachten ist für immer vorüber; wenn sich die Truppe schlägt, wird der Widerstand Wahnsinn. Also ist man verpflichtet, eine neue revolutionäre Taktik zu finden. Ich habe seit einiger Zeit darüber nachgedacht, bin aber noch zu keinem Ergebnis gekommen."(4)

Und schon fünf Jahre zuvor, Ende 1887, hatte er jene bekannten, prophetisch anmutenden Sätze formuliert: "Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse. - Das ist die Aussicht, wenn das auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen endlich seine unvermeidlichen Früchte trägt."(5)

Angesichts solch gespenstischer, aber, wie sich zeigen sollte: sehr realistischer Perspektiven bekommt die Frage der Kriegsverhütung ein viel höheres Gewicht. Und erfordert damit auch die Zusammenarbeit mit Friedenskräften, die der Arbeiterbewegung sozial recht fern stehen.

Aus dieser Einsicht heraus hatte z. B. das sozialdemokratische Zentralorgan "Vorwärts", in dem Anfang 1893 Engels' realpolitische Schrift "Kann Europa abrüsten?" erschien, schon kurz zuvor auch den Roman "Die Waffen nieder!" der adligen Friedensaktivistin Bertha von Suttner in Fortsetzungen veröffentlicht. Und stellte der Basler Stadtpfarrer für den Friedenskongress der Sozialisten das dortige Münster zur Verfügung!


IV. Doch standen große Teile der Arbeiterbewegung und nicht zuletzt auch ihres revolutionären Flügels bürgerlichen Friedenskräften noch lange distanziert gegenüber. Davon zeugt z. B. Rosa Luxemburgs im Mai 1911 veröffentlichter Aufsatz "Friedensutopien".(6) "Unsere Aufgabe" bestehe "in erster Linie darin, ... den prinzipiellen Unterschied zwischen der Stellung der Sozialdemokratie und derjenigen der bürgerlichen Friedensschwärmer scharf und klar herauszuarbeiten. ­... Die Sozialdemokratie kann ... ihren Beruf nur darin erblicken, die bürgerlichen Anläufe zur Eindämmung des Militarismus als jämmerliche Halbheiten, die Äußerungen in diesem Sinne, namentlich aus Regierungskreisen, als diplomatisches Schattenspiel zu entlarven und dem bürgerlichen Wort und Schein die rücksichtslose Analyse der kapitalistischen Wirklichkeit entgegenzustellen." (Hervorhebungen von uns) Eine solche Position unterschätzt u. E. sowohl den Sinn und die Berechtigung von Übergangsforderungen (= "Halbheiten") als auch die Notwendigkeit eines breiten Bündnisses, zumal angesichts der drohenden Kriegskatastrophe. Sie wird aber in gewisser Weise verständlich, wenn man in Rechnung stellt, dass Luxemburg sich im selben Artikel völlig zu Recht vehement gegen die in der Tat illusionäre, gefährliche und - siehe Friedensnobelpreis für die EU! - höchst aktuelle Vorstellung Georg Ledebours und Karl Kautskys wenden musste, dass "die Herstellung der Vereinigten Staaten von Europa" "das Gespenst des Krieges für immer bannte".

Die Auseinandersetzung innerhalb des revolutionären Flügels der Arbeiterbewegung um die richtige Strategie, Bündnisstrategie, im Kampf um den Frieden war auch nach dem 1. Weltkrieg nicht beendet. Sie auch nur grob nachzuzeichnen, würde den Rahmen dieses Aufsatzes völlig sprengen. Hier seien nur zwei wichtige Einschnitte vermerkt:

Erstens entwickelte Lenin - der dem "Revolutionsexport", siehe Polenfeldzug 1920, zunächst keineswegs ablehnend gegenüber gestanden hatte - schon bald darauf die Konzeption der "friedlichen Koexistenz" von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung; sie trug im Vertrag von Rapallo vom April 1922 mit der kapitalistischen Weimarer Republik ihre ersten Früchte.

Und zweitens führten die US-amerikanischen Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki 1945 allen Klardenkenden vor Augen, dass die Selbstvernichtung der Menschheit zur realen Möglichkeit geworden war. Als eine vorerst theoretische hatte sie bereits Karl Liebknecht in seiner 1907 erschienenen Schrift "Militarismus und Antimilitarismus" gesehen: "Und in der Tat können wir damit rechnen, dass, wenn auch in einer fernen Zukunft, die Technik, die leichte Beherrschung der gewaltigsten Naturkräfte durch den Menschen, eine Stufe erreichen wird, die eine Anwendung der Mordtechnik überhaupt unmöglich macht, weil sie Selbstvernichtung des Menschengeschlechts bedeuten würde ..."(7)

Wir sagten: Allen Klardenkenden musste das bewusst sein. Etliche Militärs und Politiker des imperialistischen Lagers gehören nicht in diese Kategorie. (Sowohl beim Koreakrieg - schon 1949 hatte auch die Sowjetunion die Atombombe - als auch beim Vietnamkrieg wurde von den USA der Einsatz von Nuklearwaffen ernsthaft erwogen.) Der Stockholmer Appell vom März 1950 zur Ächtung der Atomwaffen und vor allem ihres Ersteinsatzes, von vielen Nicht-Kommunisten wie Albert Einstein getragen und unterzeichnet,(8) war ein Ergebnis dieser Einsicht. Verbreitet wurde er, jedenfalls in der BRD, vor allem von KommunistInnen, die dafür zahlreichen staatlichen Repressionen ausgesetzt waren.(9)

1960 hat dann auch eine Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien die Erhaltung des Friedens zum "brennendsten Problem unserer Zeit" erklärt.(10) Spätestens seither sehen das - lassen wir die eine oder andere sich als kommunistisch bezeichnende Sekte beiseite - alle KommunistInnen so. Und bemühen sich seither um die Zusammenführung aller Friedenskräfte, unabhängig von ihren weltanschaulichen Positionen und ihrer sozialen Zugehörigkeit.


V. Allerdings: Der Imperialismus hat auch eine neue Form des Opportunismus in der Arbeiterbewegung hervorgebracht. Der "alte" (Lassallesche) Opportunismus war gewissermaßen noch Ausdruck der Unentwickeltheit, der Schwäche der Arbeiterbewegung gewesen: des Glaubens, man müsse und könne, wie die utopischen Sozialisten, die Herrschenden (im Falle Lassalles in Gestalt Bismarcks) für eine "sozial gerechte" Lösung der sozialen Frage gewinnen; der neue, imperialistische Opportunismus basiert, sozialökonomisch gesehen, darauf, dass Teile der Arbeiterklasse, und vor allem wichtige ihrer Repräsentanten, eben mehr zu verlieren haben als ihre Ketten.

Auf die Möglichkeit, den britischen Arbeitern Gratifikationen durch Extraprofite aus der Auspressung der Kolonien anzubieten, hatte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts John A. Hobson ("Der Imperialismus") hingewiesen. Lenin knüpfte später in seiner Imperialismus-Schrift daran an und sprach in dem Zusammenhang von einer sich herausbildenden Arbeiteraristokratie. In Deutschland dürfte zu jener Zeit die Hebung des Einkommensniveaus und des Status von Teilen der Arbeiterschaft durch den wirtschaftlichen Aufschwung und die Verheißung auf Belohnung durch den angestrebten "Platz an der Sonne" eine korrumpierende Rolle gespielt haben. Streiks und Arbeitskämpfe waren eher in zivilen Branchen und Unternehmen zu verzeichnen, kaum in der Kriegsproduktion und der Schwerindustrie.

Wobei wir nicht vergessen wollen, dass die gesamte Arbeiterklasse tagtäglich, "von der Wiege bis zur Bahre", der Ideologie der Herrschenden, einem extremen Nationalismus und, gegenüber den "Wilden" in den Kolonien, Rassismus ausgesetzt war. Und dass gerade die deutsche Bourgeoisie es schon damals glänzend verstand, eigentlich berechtigte Emotionen der Werktätigen für ihre Interessen nutzbar zu machen. Das galt z.B. für den Hass auf den reaktionären Zarismus, der der gesamten internationalen Arbeiterbewegung eigen war. Auch das Baseler Manifest sieht im Zarismus den "grimmigste[n] Feind der Demokratie", "dessen Untergang herbeizuführen die gesamte Internationale als eine ihrer vornehmsten Aufgaben ansehen" müsse. Die Chance, daraus keine zwei Jahre später eine "Begründung" für den Krieg gegen das zaristische Russland zimmern, ließen sich die Herrschenden im Deutschen Kaiserreich und in der k. u. k. Monarchie natürlich nicht entgehen.

Die sozialpsychologischen Mechanismen, die zur Identifikation auch vieler Arbeiter mit den Zielen und Werten der Bourgeoisie führten, hat Carl Sternheim in seinem Stück "Bürger Schippel" und hat Heinrich Mann in der Gestalt des Arbeiterführers Napoleon Fischer in seinem Roman "Der Untertan" sinnfällig herausgearbeitet. Mann schrieb im Mai 1919, mit Bezug auf das imperialistische Vorkriegsdeutschland: "Ein Zeitalter scheidet sich nicht, es ist eins. Klassenkämpfe geschehen an der Oberfläche, in der Tiefe sind alle einig." Den Hinweis auf diese Äußerung verdanken wir der DDR-"Geschichte der deutschen Literatur"; sie wird dort kritisch bewertet, als "Resultat einer im letzten undifferenziert bleibenden, bürgerlich-idealistischen Gesellschaftssicht. Eine Gesellschaft wird danach beherrscht von einer einzigen Geistesart, die das ganze Leben durchtränkt."(11) Von Manns in der Tat allzu pauschalisierendem "alle" aber einmal abgesehen - liegt er damit nicht doch recht nahe sowohl bei Marxens Diktum, dass die herrschenden Ideen immer die Ideen der Herrschenden seien, als auch an der Realität? Und dies nicht nur in Bezug auf das wilhelminische Deutschland? Es lohnt sich, darüber nachzudenken.

Opportunismus oder das Zurückschrecken vor der "revolutionären Tat", wie sie von Rosa Luxemburg in der Massenstreikdebatte als Option gefordert wurde, sind wohl die entscheidenden Gründe für die Begrenztheit des antimilitaristischen Widerstands gegen Rüstung und Krieg am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Und für das klägliche Versagen fast aller Parteien der 2. Internationale, allen voran der deutschen Sozialdemokratie, bei Kriegsausbruch.

Selbst das Baseler Manifest 1912, so klar darin die Analyse des Imperialismus und der drohenden Weltkriegsgefahr, der sich gegenseitig aufschaukelnden Hochrüstung, des gegen den äußeren und "inneren Feind" gerichteten Militarismus formuliert war, lässt dem Opportunismus insofern eine Hintertür offen, als es zwar zum Protest in den Parlamenten und Massenkundgebungen auffordert, aber die weiteren "Mittel" zur Verhinderung des befürchteten Krieges - "alle Mittel, die euch die Organisation und die Stärke des Proletariats in die Hand geben" -, nicht konkret benennt. Die Forderung nach Ausrufting des politischen Generalstreiks (in der damaligen Terminologie: des Massenstreiks) hätte die Einmütigkeit, in der das Manifest verabschiedet wurde, gesprengt. Viele, wenn nicht gar die Mehrheit der Delegierten, die ihm im November. 1912 "einmütig" zustimmten, fand der 4. August 1914 in den Reihen der Vaterlandsverteidiger ihrer jeweiligen "Kulturnation" wieder, nachdem sie wenige Tage zuvor noch bei "machtvollen" Antikriegs-Kundgebungen flammende Reden gegen den Krieg gehalten oder solchen Beifall gezollt hatten.


VI. Wenden wir uns der Friedensbewegung zu. Wodurch definiert sich, definieren wir die Friedensbewegung? Das sind die Kräfte, die sich, aus welchen Motiven auch immer, gegen die bewaffnete Durchsetzung von Interessen, die Lösung aller oder auch nur bestimmter aktueller Konflikte mittels Krieg einsetzen - unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und Zugehörigkeit. Teile der Friedensbewegung engagieren sich zugleich für die Schaffung gesellschaftlicher Verhältnisse, die Kriege unmöglich oder weniger wahrscheinlich machen sollen.

Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zur Arbeiterbewegung. Auch eine opportunistisch und chauvinistisch gewordene Arbeiterpartei, wie die Kriegskredite bewilligende und damit den Weltkrieg unterstützende SPD, ist immer noch Teil der Arbeiterbewegung, die sich vor allem (wenn auch nicht nur) durch ihre soziale Basis definiert; die Friedensbewegung definiert sich dagegen durch ihre Ziele: "Friedenskräfte", die sich für Krieg stark machen - man denke etwa an Joseph Fischer samt seinen Grünen -, sind keine Friedenskräfte mehr, sondern (allenfalls) Abtrünnige der Friedensbewegung.


VII. Die Friedensbewegung war im Wesentlichen eine bürgerlich-kleinbürgerliche Bewegung. Der Pazifismus-Forscher Karl Holl betont in seiner Geschichte des Pazifismus die "Homogenität in der sozialen Zusammensetzung" der Friedensbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts: "... zumeist waren selbstständige Kaufleute, Industrielle, Bankiers, Anwälte, Beamte, Professoren, Pastoren beteiligt."(12) Das gilt auch für frühere Jahrzehnte. Die ersten Vereine oder Friedensgesellschaften, wie sie sich häufig nannten, wurden bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gegründet, teils aus idealistischen, teils aus religiösen Gründen. Ihnen allen war gemein, dass sie von der Möglichkeit überzeugt waren, Gewaltkonflikte zwischen den Staaten durch internationale Schiedsgerichte verhindern zu können. Die Erfahrungen aus dem Krim-Krieg (1853-1856), insbesondere der Belagerung Sewastopols, mit seinen unvorstellbaren Opfern unter Soldaten und Zivilpersonen, und aus der Schlacht von Solferino 1859 führten sowohl zur Gründung einer kriegshumanitären Organisation, des Internationalen Roten Kreuzes, als auch letztlich zum Abschluss einer ersten völkerrechtlichen Konvention zur "Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen", der ersten "Genfer Konvention" 1864. Sewastopol und Solferino haben aber nicht nur wegen der besonders grausamen Kriegführung (Einsatz schwerer Artillerie), sondern auch infolge des Einsatzes von Kriegsberichterstattern und Kriegsfotografen das Gewissen der europäischen Öffentlichkeit erschüttert.

Die soziale Zusammensetzung der Friedensbewegung trug sicher dazu bei, dass die gesellschaftlichen und ökonomischen Grundlagen des Militarismus in der Regel unverstanden blieben. Rüstung und Militarismus wurden nach Holl lediglich als "pathologische Erscheinung des nationalen und internationalen Systems interpretiert". Das gewaltträchtige und anarchische internationale System müsse sich in ein harmonisches System internationaler Zusammenarbeit umwandeln lassen - wozu die internationale Schiedsgerichtsbarkeit der entscheidende Hebel sei. So lebte die bürgerliche Friedensbewegung von Anfang an in einem grundlegenden Widerspruch zwischen ihrem Friedensappell auf der einen und ihrer sozialen Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse auf der anderen Seite. Diese konnte sich doch - schon vor der Epoche des Imperialismus - nur durch Militarismus und Krieg zur herrschenden Klasse entwickeln. Die Herausbildung der bürgerlichen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts war bekanntlich ganz wesentlich begleitet von Krieg und Gewalt. Daneben ergaben sich für den bürgerlichen Pazifismus aber auch ideologische Einfallstore. Etwa wenn es um die Verteidigung der "zivilisierten Welt" gegen die Bedrohung durch die russische (zaristische) Gefahr ging. Ein führender Pazifist, Otto Umfrid, trat nach Beginn des Krieges sogar für eine "friedliche Expansion" Deutschlands ein - im Namen der deutschen "Kulturnation"!

Die Friedensbewegung in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern orientierte sich darüber hinaus an der am Ende des 19. Jahrhunderts breit diskutierten Vorstellung, die hoch gerüsteten Staaten, deren Spannungen untereinander sich im Zeitalter des Imperialismus hochschaukelten, dazu zu bringen, ihre Streitigkeiten vor einem Internationalen Schiedsgericht schlichten zu lassen. Signalwirkung hatte dabei eine Anregung von Zar Nikolaus II. In der Literatur ist umstritten, ob er aus redlichen Motiven heraus diese Friedensinitiative ergriff oder ob er damit nur versuchen wollte, die Rüstungsmodernisierung der mit Russland verfeindeten Staaten (insbesondere Österreich-Ungarn) zu verhindern. Jedenfalls hatte er mit einem Friedensmanifest 1898 den Vorschlag gemacht, eine Internationale Staatenkonferenz einzuberufen, die dann ein Jahr später in Den Haag auch stattfand (1. Haager Konferenz). Verhandelt wurden damals Fragen wie die Einrichtung eines internationalen Schiedsgerichtsverfahrens oder die allgemeine Abrüstung. Immerhin mündeten diese Bemühungen in das 1. Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle 1907 (auf der 2. Haager Konferenz). Ansonsten herrschte - ähnlich wie in der Arbeiterbewegung - die Vorstellung, bei aller Ablehnung von Krieg und Gewalt im Notfall doch auch zur "Verteidigung" bereit zu sein. Bei einem äußeren Angriff sei es in jedem Fall legitim, sich mit Waffengewalt zur Wehr zu setzen. Diese Haltung ist auch heute noch nicht zu beanstanden, entspricht sie doch auch dem Völkerrecht, in dem Fall der UN-Charta von 1945, die zwar die Staaten zum allgemeinen Gewaltverzicht verpflichtet (Art. 2), ihnen aber auch das Recht auf Verteidigung im Falle eines militärischen Angriffs von außen zubilligt (Art. 51). Ein besonderes Problem entsteht aber dadurch, dass es die Regierenden in der Regel sehr gut verstehen, auch noch den perfidesten Angriffskrieg als "Verteidigungs"-Maßnahme" hinzustellen.


VIII. 100 Jahre nach Basel stellen sich für die Friedens- und Arbeiterbewegung neue Probleme. Sie lassen sich aber durchaus auf Grundmuster der historischen Auseinandersetzung zurückführen. Es müssen lediglich ein paar Begriffe geändert und ein paar Sachverhalte näher erläutert werden.

Entscheidend verändert hat sich, zumindest in Deutschland, die Einstellung breiter Bevölkerungskreise zu Krieg, Gewalt und Obrigkeit. Der zweimalige Weg in die Weltkriegskatastrophe, den die deutschen Eliten zu verantworten hatten, hat das Denken in militärischen Kategorien stark desavouiert. Dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen dürfe, hat sich spätestens in der Folge des Zweiten Weltkriegs tief in das kollektive Bewusstsein der Menschen in West- und Ostdeutschland eingegraben. Dieses Bewusstsein verband sich in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs mit der Überzeugung, dass erfolgreiches Wirtschaften, soziale Wohlfahrt und Internationale Anerkennung auch mit beschränkten Souveränitätsrechten und einer insgesamt zurückhaltenden Außenpolitik erreichen lassen. Bis zum heutigen Tag lässt sich die damit verbundene allgemeine Kriegsabstinenz der Bevölkerung in zahlreichen demoskopischen Studien belegen. (Dem widerspricht nicht, dass außen- und sicherheitspolitische Fragen so gut wie keine ausschlaggebende Rolle bei Wahlentscheidungen spielen. Da waren 1982 etwa 70 Prozent der [west-]deutschen Bevölkerung gegen die Raketenstationierung, aber der Raketenbefürworter Kohl konnte einen glorreichen Wahlsieg einfahren.)


IX. Die kritische Haltung gegenüber Kriegseinsätzen der Bundeswehr - die nach der epochalen "Wende" erst möglich wurden - speist sich im Wesentlichen aus zwei Motiven: Deutschland solle sich nicht in Dinge einmischen, die es nichts angehen (was interessiert uns Afghanistan! Haben wir nicht genug eigene Probleme?) - eine eher in der Arbeiterklasse (um einmal diesen Begriff ohne nähere Eingrenzung zu verwenden) beheimatete Haltung. Ein anderes Motiv kommt aus der Überlegung, mit Militär, Intervention und Krieg keine tatsächlichen Fortschritte herbeiführen zu können, sondern allenfalls neues Leid über die betroffenen Länder und Menschen zu bringen.(13) So argumentiert in erster Linie die Friedensbewegung, die heute vor allem wieder von Teilen der "Intelligenz", grob gesagt also den Mittelschichten, getragen wird.(14)

Zugleich interessiert und engagiert sich diese Gruppe aber auch für Menschenrechte und Demokratie (in aller Welt) und möchte - wo immer es geht - Menschen in ihrer tiefsten Not beistehen. Sie sind also sehr empfänglich für medial aufbereitete "schockierende" Zustände in der Dritten Welt und möchten am liebsten sofort helfen (das "Helfersyndrom"). Die Herrschenden wissen das geschickt auszunutzen, indem sie die militärische Komponente ihrer "Politik" ins Spiel bringen: Wenn im syrischen Bürgerkrieg Zivilpersonen ums Leben kommen: Muss man da nicht eingreifen um das Morden zu beenden? Dieser Mechanismus hat Teile der "grünen" Friedensbewegung während der Auseinandersetzungen auf dem Balkan in die Arme der NATO getrieben. Nicht umsonst ist uns der NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 als Einsatz zur Verhinderung einer "humanitären Katastrophe" gepriesen worden. Die aktuelle Debatte um die Schutzverantwortung ("Responsibility to protect") haut in dieselbe Kerbe. Und es ist intellektuell so schön in Einklang zu bringen mit dem "linken" Anspruch, der nationalen Beschränktheit zu entkommen und internationale Solidarität zu zeigen.

Damit kehrt sich der traditionelle Internationalismus der sozialistischen Arbeiterbewegung, die überall demselben Klassengegner gegenüberstand, in sein Gegenteil: im Schulterschluss mit der eigenen herrschenden Klasse, militärisch in fremden Ländern für Menschenrechte zu intervenieren, im Ergebnis aber diese Länder (wieder) unter den Einfluss der imperialen Staaten zu bringen.

Von "Opportunismus" lässt sich insofern sprechen, als viele Anhänger eines so gewendeten Solidaritätsbegriffs gern die "herrschende Meinung" auf ihrer Seite wissen. Es lebt sich einfacher im ideologischen Einklang mit den Leitartikeln von FAZ, SZ, FR und taz, als ständig wider den Stachel der Mainstream-Medien zu löcken.


X. Natürlich wirkt das "süße Gift" der ideologischen Zugehörigkeit zum Mainstream auch in der Arbeiterklasse. Hier kommen aber auch materielle Interessiertheiten dazu. Man versuche nur einmal, Kolleginnen und Kollegen in Rüstungsbetrieben dazu zu bewegen, für Alternativen einzutreten! Und haben nicht im Interesse der Sicherung des "Standorts Deutschland" Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihre Gewerkschaften seit zwei Jahrzehnten auf Lohnbestandteile und Sozialleistungen in einem Ausmaß verzichtet, dass die Gesellschaft in eine regelrechte soziale Abwärtsspirale geraten ist?! Die politische Bindung an die Herrschenden kann unter Bedingungen neoliberaler Umverteilung von unten nach oben nicht mehr über die Besserstellung der "Arbeiteraristokratie" gelingen, sondern nur noch über den Ausweis der "Alternativlosigkeit" einer solchen Politik und den geschürten Chauvinismus gegenüber jenen, denen es noch schlechter geht als uns, z. B. den Griechen.


Fazit: Friedens- und Arbeiterbewegung stehen heute also von drei Seiten unter Druck: Einmal von Seiten des herrschenden sicherheitspolitischen Diskurses, der Militär und Krieg wieder zum allgemein akzeptierten Mittel der Politik gemacht hat - ohne dass die große Masse der Bevölkerung dies als ein Mittel der Herrschenden entlarven würde, den Imperialismus wieder hegemoniefähig zu machen. Zum zweiten hat die Arbeiterklasse alle Hände voll zu tun (und müsste eigentlich noch viel mehr tun), sich gegen die alltäglichen Zumutungen von Kapital und Staat zur Wehr zu setzen, sodass sie das politische Interesse an Fragen der internationalen Politik weitgehend verloren hat (es gab andere Zeiten, etwa Anfang der 70er Jahre, als es um die Ostverträge, oder Anfang der 80er Jahre, als es um die Raketenstationierung ging). Und zum dritten dienen Menschenrechtsdiskurs und Helfersyndrom als Einfallstor für die Akzeptanz der Wiederkehr des Kriegs in die Politik.

Die Friedensbewegung kann diesem dreifachen Druck ideologisch am besten dadurch standhalten, dass sie sich auf friedenspolitische Grundsätze bezieht, die über die moralische Ablehnung von Krieg und Gewalt hinaus reichen. Kriegsursachen erkennen und konkret benennen, die Interessenten an Rüstungsproduktion und Waffenhandel beim Namen nennen und das Zusammenspiel von Ökonomie, herrschender Politik, Militär und Medien aufdecken: All das schärft den kritischen Verstand der Friedensaktivistinnen und -aktivisten - und zwar gleichgültig, ob sie aus der eher mittelschichtorientierten Friedensbewegung oder aus der klassischen Arbeiterbewegung kommen - und macht sie immun gegen die ideologischen Zumutungen der Bewusstseinsindustrie. Auch das verhindert noch nicht unbedingt kommende Kriege, aber es stärkt den Widerstand gegen die Kriegstreiber und die Nutznießer von Rüstung und Krieg. Und das ist ja auch schon etwas.


Anmerkungen

(1) MEW 4, S. 479.

(2) MEW 27. S. 553

(3) Wir sprechen von Akzentverschiebung, nicht von einem Bruch. Auch der junge Engels interessiert sich schon für Bedingungen der Kriegsvermeidung (z. B. in "Po und Rhein", MEW 13, S. 225-268), und auch der späte Engels macht um Probleme der Kriegsführung keinen Bogen.
Es gibt eine Art Zwischenphase, in den 1870er Jahren. Damals behandelte Engels allgemeintheoretische Probleme des Militärwesens, vor allem in seinen beiden großen Arbeiten, dem "Anti-Dühring" in dem sich drei Kapitel mit Dührings "Gewaltstheorie" auseinandersetzen (außerdem: "Taktik der Infanterie aus den materiellen Ursachen abgeleitet"), und im "Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats".

(4) Brief vom 3.11.1892, MEW 38, S. 504 f.

(5) MEW 21, S. 350 f.

(6) Rosa Luxemburg, GW 2, Berlin 1972, S. 491-504

(7) Karl Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus, 1907; als Download verfügbar unter
http://www.marxints.org/deutsch/archiv/liebknechtk/1907/mil-antimil/a-01.htm

(8) Weltweit wurden in Jahresfrist 500 Millionen Unterschriften gesammelt. Siehe: Lorenz Knorr, Kleines Lexikon Frieden Abrüstung Frieden, Köln 1981, S. 183.

(9) In West-Berlin wurden z. B. auf einen Schlag 1500 FDJ-Mitglieder festgenommen, weil sie Unterschriften sammelten. Im August 1950 beschloss die Innenministerkonferenz eine Reihe von Maßnahmen gegen die "kommunistische Propaganda": So wurden öffentliche Veranstaltungen und Demonstrationen zur Unterstützung des Appells verboten. Die Meinungsmedien vom "Spiegel" bis zur "Zeit" überschlugen sich in antikommunistischen Hetzartikeln gegen die von Moskau "gelenkte" Kampagne.

(10) Erklärung der Beratung von Vertretern der kommunistischen und Arbeiterparteien, Berlin 1960, S. 28-38. Hier zitiert nach der nützlichen Textsammlung von Wolfgang Scheler, Krieg und Frieden, in. Marxistische Lesehefte 5, Berlin 1998, Als Download verfügbar unter
http://www.die-linke.de/fileadmin/download/zusammenschluesse/maxistisches_forum/mf_leseheft5.pdf

(11) Autorenkollektiv, Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 9, Vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917, Berlin 1974, S. 475. Das Mann-Zitat stammt aus dem Essay "Kaiserreich und Republik".

(12) Karl Holl: Pazifismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 14

(13) Vgl. hierzu Werner Ruf, Lena Jöst, Peter Strutynski, Nadine Zollet, Militärinterventionen: verheerend und völkerrechtswidrig. Möglichkeiten friedlicher Konfliktlösung, Berlin 2009

(14) Siehe Hans-Jürgen Krysmanski, Soziologie und Frieden. Grundsätzliche Einführung in ein aktuelles Thema, Opladen 1993. S. 187.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-12, 50. Jahrgang, S. 33-41
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2013