Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


MARXISTISCHE BLÄTTER/588: Das Putinsche Russland


Marxistische Blätter Heft 1-15

Das Putinsche Russland
Machtverhältnisse und Politik

Von Willi Gerns


Vor dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzungen in und um die Ukraine erleben wir in den imperialistischen Hauptländern eine kaum noch zu übertreffende antirussische Hetzkampagne. In Deutschland erinnert sie in erschreckender Weise an die Jahre der Nazi-Diktatur und des zweiten Weltkriegs, sowie an den Höhepunkt des kalten Krieges (damals in Gestalt des Antisowjetismus). Die Schallwellen dieser Kampagne finden selbst bei manchen Linken noch einen gewissen Widerhall. Andererseits gibt es als Reaktion darauf hier und da auch eine undifferenzierte Unterstützung Russlands ohne Berücksichtigung der Klassengrundlagen dieses Staates. Weder das eine, noch das andere kann das Herangehen von Marxisten sein.

Eigentums- und Machtverhältnisse in Russland

Als Marxisten gehen wir bei der Beurteilung eines Staates von der Frage aus, welche Gesellschaftsordnung, das heißt welche Eigentums- und Machtverhältnisse, in diesem Land herrschen - die Interessen welcher Klasse bzw. Klassen liegen dieser Politik also zugrunde, Zugleich bemühen wir uns darum, durch eine genaue Analyse der konkreten historischen Situation die Rolle dieses Staates unter den gegebenen weltpolitischen Konstellationen zu erfassen.

Wenn wir diese Grundsätze auf das heutige Russland anwenden, müssen wir feststellen: Russland ist ein kapitalistisches Land, in dem der größte Teil der Produktionsmittel im Zuge der antisozialistischen Konterrevolution in kapitalistisches Privateigentum übergegangen ist. Dominierend ist das geraubte Eigentum der Oligarchen-Clans. Daneben gibt es trotz weitergehender Privatisierungen noch einen relativ großen Bereich staatlichen Eigentums bzw. gemischten Produktions- oder Finanzmittel-Eigentums. Soweit es bei letzterem um strategische Unternehmen geht, hält der Staat in der Regel noch die Kontrollmehrheit.

Diese Eigentumsstruktur wird durch die von der russischen staatlichen Behörde für Statistik (Rosstat) veröffentlichten Daten belegt. Danach waren 2013 von allen in der Wirtschaft Beschäftigten im staatlichen Sektor (einschließlich Stadt- und Kommunaleigentum) 28,4 Prozent der Beschäftigten tätig; im Sektor des Privateigentums 60 Prozent; in Unternehmen mit russischen gemischten Eigentumsformen 5,9 Prozent; in Unternehmen mit ausländischem Eigentum bzw. gemischtem russischem und ausländischem Eigentum 5,2 Prozent sowie in Eigentumsformen gesellschaftlicher und religiöser Organisationen und Vereinigungen 0,5 Prozent.(1)

Die politische Macht wird in Russland durch eine Herrschaftselite ausgeübt, in der die Macht der obersten Staatsbürokratie mit der Wirtschaftsmacht von Oligarchen zusammenwächst. Das bestätigt auch eine Studie, die im August 2012 von den russischen Politologen Jewgeni Mitschenko und Kirill Petrow unter dem Titel "Die 'Große Regierung' Wladimir Putins und das 'Politbüro 2.0'" veröffentlicht wurde.(2)

Als Ergebnis ihrer Untersuchungen - bei denen sie sich unter anderem auf Befragungen und Ausarbeitungen von mehr als sechzig Spezialisten stützen - kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die Macht in Russland von einem Konglomerat aus Clans und Gruppen ausgeübt wird, die um die Ressourcen des Landes konkurrieren. Gegenwärtig stelle sich diese Elite das Ziel, die Stabilität ihrer Herrschaft für einen langen Zeitraum zu gewährleisten, was die Umwandlung der Macht in Eigentum mittels einer neuen Etappe der Privatisierung, die Nutzung des Staatshaushalts sowie die Legalisierung des in den Jahren 1990 bis 2000 erworbenen Eigentums voraussetze.

Als Mechanismus zur Lösung der Widersprüche innerhalb dieser Machtelite diene ein informelles Organ, das die Autoren in Anspielung auf das letztlich entscheidende Machtorgan in der Sowjetunion "als Politbüro 2.0" bezeichnen. Diese Quasiinstitution kollektiver Macht der herrschenden Gruppen habe sich im Laufe der Jahre nach 2000, dem Jahr des Machtantritts Putins, im Ergebnis der Umverteilung der Ressourcen von kleinen oligarchischen Klans, der Zerschlagung der Medienimperien und der Liquidierung des Großteils der regionalen Regime herausgebildet.

In der Rolle des Schiedsrichters und Moderators trete Präsident Putin auf. Er übe zudem die direkte Kontrolle über die langfristigen Gasverträge, die Leitung des Erdgassektors und die systemrelevanten Banken aus.

Vollmitglieder des "Politbüros 2.0" seien die Führer großer Gruppen der Eliten, die über einflussreiche Positionen in der Wirtschaft und den staatlichen Strukturen verfügen. Zu ihnen zählen die Autoren Ministerpräsident Medwedjew, der zugleich Vorsitzender der Kremlpartei "Einiges Russland" ist. Hinzu kommen Sergej Iwanow, der Chef der mächtigen Präsidentenadministration und enge Vertraute Putins sowie dessen Stellvertreter Wjatscheslaw Wolodin. Weiter werden der Chef des Ölkonzern Rosneft, Igor Setschin, der milliardenschwere Ölhändler Gennadi Timischenko sowie der Banker und Medienmogul Jurij Kowaltschuk genannt. Komplettiert werde die Runde der Mächtigsten durch den Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin, der eine Gruppe der regionalen Nomenklatura repräsentiere, sowie durch Sergej Tschemesow, den Direktor des Konzerns Rostechnologie, als Vertreter der Rüstungsindustrie.

Weiter heißt es, um das "Politbüro 2.0" habe sich eine Reihe konkurrierende Gruppen formiert, die bedingt als "Silowiki" (Militärs, Geheimdienstler und Angehörige anderer bewaffneter Organe), "Politiker", "Techniker", "Unternehmer" bezeichnet werden könnten. Deren Vertreter, oder die einflussreichsten von ihnen werden als "Kandidaten" für die Mitgliedschaft im "Politbüro 2.0" bezeichnet.

Ohne sich an der Anspielung auf das Politbüro des ZK der KPdSU aufzuhängen - es handelte sich dabei um die Spitze eines Machtsystems, dem eine vollkommen andere ökonomische Basis zugrunde lag - scheint die in der Studie beschriebene Vereinigung der politischen Macht des Staates mit der ökonomischen Macht bestimmter, dem Kreml besonders naher Oligarchen-Clans als Kern der Sache, im Wesentlichen durchaus zutreffend zu sein. Von daher kann man bei allen Besonderheiten auch von einer russischen Variante des staatsmonopolistischen Kapitalismus sprechen.

Russland - ein imperialistisches Land?

Der Marxismus-Leninismus sieht im staatsmonopolistischen Kapitalismus eine Entwicklungsvariante auf dem Boden des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus. Darum soll kurz der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit die von Lenin in seiner Schrift "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" herausgearbeiteten grundlegenden ökonomischen Merkmale des Imperialismus auf den heutigen russischen Kapitalismus zutreffen.

Dabei geht es vor allem um die Existenz und Herrschaft von Monopolen, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; um die Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und die Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis des Finanzkapitals; um den eine immer größere Rolle spielenden Kapitalexport; um die Herausbildung und Entwicklung internationaler monopolistischer Kapitalisten-Verbände.(3) Am Vorhandensein dieser Merkmale im Kapitalismus des postsowjetischen Russland kann es meiner Meinung nach keinen Zweifel geben. Allerdings sind dabei russische Besonderheiten zu beachten.

Während die Herrschaft der Monopole in den klassischen imperialistischen Ländern das Ergebnis eines langen historischen Prozesses der Konzentration und Zentralisation des Kapitals war, ist sie im heutigen Russland das Resultat eines relativ kurzen kriminellen Prozesses räuberischer Aneignung der Filetstücke des Volkseigentums während der antisozialistischen Konterrevolution. Im Weiteren sind dann auch in Russland die Oligarchen-Kapitale durch Konzentration und Zentralisation zu noch größeren Gebilden gewachsen.

Auch in Russland sind Bank- und Industriekapital miteinander verschmolzen, wie ein Blick auf die Oligarchen-Konglomerate untrüglich deutlich macht. Eine Finanzoligarchie ist entstanden. Und die Entwicklungstendenzen der russischen Direktinvestitionen im Ausland zeigen, dass auch der Kapitalexport eine immer größere Rolle spielt. So belegte Russland 2013 mit 95 Milliarden Dollar Direktinvestitionen ins Ausland (FDI) nach den USA, China (inklusive Hongkong) und Japan den vierten Platz in der Welt, noch vor der Schweiz (60 Mrd. FDI) und Deutschland 58 Mrd. FDI. Die aus dem Ausland nach Russland geflossenen Direktinvestitionen machten 2013 75 Mrd. Dollar aus.(4) Schnell wachsen zudem die Verflechtungen mit dem internationalen Monopolkapital, und dies sowohl auf russischen Boden wie im Ausland.

Fazit: Das Russland Putins ist ein kapitalistisches Land in dem die ökonomischen Grundlagen des Monopolkapitalismus/Imperialismus mit gewissen Besonderheiten durchaus weitgehend gegeben sind.

Die wichtigste Besonderheit des russischen Kapitalismus liegt dabei darin, dass dieser durch seine Integration in das von den USA, der EU unter Führung des deutschen Imperialismus und Japan beherrschte System der kapitalistischen Weltwirtschaft in diesem System nur eine zweitrangige Rolle spielt. Seine Hauptfunktion besteht darin, Rohstofflieferant für ökonomisch höher entwickelte, imperialistische Länder und Markt für deren technisch fortgeschrittene oder konkurrenzfähigere Produkte zu sein.

Dies widerspiegelt sich z. B. auch deutlich in der Struktur der deutsch-russischen Handelsbeziehungen. So sind die wichtigsten Erzeugnisse, die Deutschland nach Russland exportiert: Maschinen, Kraftfahrzeuge und Kraftwagenteile, chemische Erzeugnisse, Datenverarbeitungsgeräte, elektrische und optische Erzeugnisse. Die wichtigsten Erzeugnisse, die Deutschland von Russland importiert, sind: Erdöl und Erdgas, Kokerei- und Mineralölerzeugnisse sowie Metalle und Kohle.(5) "Entscheidend für das Wirtschaftswachstum in Russland bleibt der Energie- und Rohstoffsektor. Rohstoffe stehen für ca. 80 Prozent des russischen Exports und finanzieren zu rund 50 Prozent den Staatshaushalt".(6)

Der Platz des heutigen Russlands im System der kapitalistischen Weltwirtschaft findet seinen Ausdruck auch in der Verwundbarkeit des Landes durch die von den USA und der EU verhängten Sanktionen. Das zeigt sich in der Abhängigkeit vom Import bestimmter moderner Technologien sowie in den Möglichkeiten der imperialistischen Hauptmächte, die russische Wahrung durch Kapitalflucht und andere Manipulationen unter Druck zu setzen.

Oligarchen und andere superreiche Russen sind den Gegnern Russlands dabei behilflich. Nach Angaben des stellvertretenden Vorsitzenden des ZK der KPRF und Mitglieds der Russischen Akademie der Wissenschaften, W.I. Kaschin, wurden in der ersten Hälfte 2014 bereits von ausländischen Anlegern und reichen Russen 80 Mrd. Dollar aus Russland abgezogen und ins Ausland verbracht. Experten gehen davon aus, dass diese für die Modernisierung der russischen Wirtschaft fehlenden Mittel im ganzen Jahr 2014 auf die Summe von mehr als 110 Mrd. Dollar ansteigen werden. Dies ist möglich, wie Kaschin betont, weil praktisch alle Beschränkungen für die Überführung von Valuta und Direktinvestitionen in die ausländische Wirtschaft bzw. in die Offshore-Ökonomie aufgehoben wurden.(7)

All das zeigt die ökonomische Schwäche des postsowjetischen Russlands. Sein Einfluss in der Welt beruht heute auf seinem Status als Atommacht und Vetomacht in der UNO, auf seinen Naturreichtümern, insbesondere den Vorräten an Energieträgern, und darauf, dass sein Eintreten für eine multilaterale Weltordnung in China, den übrigen BRICS-Staaten, in der Schanghai-Kooperationsorganisation sowie in weiteren regionalen Organisationen und Staaten eine zunehmende Unterstützung erfährt.

Nach alledem lässt sich aus meiner Sicht die in der Zwischenüberschrift gestellte Frage ob Russland ein imperialistisches Land ist, trotz des Vorhandenseins wesentlicher ökonomischer Merkmale dieses Entwicklungsstadiums des Kapitalismus nicht mit einem uneingeschränkten "JA" beantworten.

Schließlich gehört zu den marxistisch-leninistischen Charakteristika des Imperialismus auch die auf seine ökonomischen Merkmale gründende Politik imperialistischer Staaten, insbesondere deren aggressive, mit Hilfe von imperialistischen Kriegen auf die Neuaufteilung der Einflusssphären in der Welt gerichtete Außenpolitik. In dieser Hinsicht bestehen allerdings wesentliche Unterschiede zwischen dem Putinschen Russland und den klassischen imperialistischen Mächten.(8)

Was die Politik Russlands betrifft, so ist es notwendig, zwischen Innen- und Außenpolitik sowie in der Außenpolitik zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden.

Die Innenpolitik wird von den Profit- und Machtinteressen der oben charakterisierten herrschenden Klasse bestimmt. Sie ist darauf gerichtet, einerseits günstige Bedingungen für die möglichst effektive und profitable Ausbeutung der russischen Arbeiterklasse zu schaffen, zugleich aber andererseits auch durch soziale Zugeständnisse wie durch eine Politik der harten Hand die Stabilität des Regimes zu sichern. Das Ergebnis der auf die Profitinteressen des Großkapitals gerichteten Politik findet seinen Ausdruck in der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. So entfallen laut einer Studie der Schweizer Großbank Credit Suisse auf zehn Prozent der Russen 85 Prozent des gesamten Privatvermögens des Landes. "Das ist wesentlich mehr als in jedem anderen Industrieland der Welt", heißt es in der Untersuchung. In den USA belaufe sich diese Zahl auf 75 Prozent und in China auf 64 Prozent.(9)

Dabei dient sicher auch die gelegentlich positive Bezugnahme auf das Erbe der Sowjetzeit der Bindung jener noch immer großen Teile des russischen Volkes an das Putin-Regime, die stolz auf die Supermacht Sowjetunion und ihren entscheidenden Anteil am Sieg über das faschistische Deutschland als Höhepunkt der russischen Geschichte sind. Dieser Stolz mag in einem gewissen Maße selbst für Teile der herrschenden Klasse selbst gelten, besonders für diejenigen, die wie Putin von den "Silowiki" kommen. Allerdings gibt es keinen Grund dafür, daraus auf vermeintliche Sympathien für den Sozialismus zu schließen.

Die Rückbesinnung auf die Geschichte - die Sowjetunion als "Supermacht" eingeschlossen - dient vielmehr als ideologische Begleitmusik für das Bestreben, die Zeit der Schwäche und Demütigung Russlands durch die imperialistischen Hauptmächte nach dem Ende der UdSSR endgültig zu beenden und dem heutigen kapitalistischen Russland, erneut einen geachteten Platz in der Welt zu verschaffen. Das ist der Leitgedanke, den die russische Führung seit dem Machtantritt Putins an der Wende des neuen Jahrhunderts im Maße der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Regeneration des Landes mit wachsendem Nachdruck verfolgt. Seinen Ausdruck findet dies in der russischen Außen- und Sicherheitspolitik.

Das Projekt der eurasischen Integration

In der Außenpolitik betrifft die erste Ebene - wie es in Russland heißt - das "nahe Ausland". Damit gemeint sind die Beziehungen zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die baltischen Staaten ausgenommen. Hier verfolgt das Putin-Regime eine langfristig angelegte Politik der Reintegration unter russischer Führung. Ausgangspunkte dafür sind die Zollunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan und ihr einheitlicher Wirtschaftsraum, die zu einer Eurasischen Union (EAWU) weitergeführt werden sollen.

Auf diesem Weg stehen die Teilnehmerstaaten der Zollunion gegenwärtig an der Schwelle einer neuen Integrationsstufe. Am 29. Mai wurde der Vertrag über eine Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) von den Präsidenten Kasachstans, Belarus und Russlands unterzeichnet. Inzwischen wurde er ratifiziert und mit seiner Umsetzung soll am 1. Januar 2015 begonnen werden.

Der Vertrag und seine Begleitdokumente legen das weitere Entwicklungsprogramm der drei Länder für die kommenden 10 Jahre fest. Unter Berücksichtigung der Spezifika der einzelnen Volkswirtschaften wurde die Frist bis zur Vollendung der Union auf das Jahr 2025 festgesetzt.

Das höchste Organ der EAWU wird der Oberste Eurasische Wirtschaftsrat sein, der aus den Präsidenten der Teilnehmerstaaten besteht. Außerdem gibt es den Rat der eurasischen Regierungen, dem die Premiers der Teilnehmerstaaten angehören, die Eurasische Wirtschaftskommission, die für die laufende Arbeit zuständig ist und zunächst aus je zwei Vertretern der Teilnehmerstaaten besteht und das Gericht der EAWU. Als Sitz für die Eurasische Kommission ist Moskau, für das Gericht Minsk und für das Finanzzentrum Almaty vorgesehen.

Die EAWU soll einen einheitlichen Markt für Waren und Dienstleistungen bilden. Die bereits auf dem Weg dahin in der Zollunion und ihrem Einheitlichen Wirtschaftsraum erreichten Vereinbarungen über einheitliche Zollregulierungen und Tarife sowie die freie Warenbewegung gelten weiter. Im neuen Vertragswerk sind auch Verfahren zum Schutz gegen Importe geregelt. Die Investitionsrichtlinien der Mitgliedsländer werden angeglichen. Ebenso soll es um einheitliche makroökonomische, Kartell-, Währungs- und finanzpolitische Standards gehen. Vorgesehen ist zudem die Entwicklung eines koordinierten Verkehrs- und Energiesystems zur Entwicklung der Industrie im eurasischen Raum.(10)

Im Oktober wurde bei einem Treffen der Präsidenten der drei Vertragsstaaten und Armeniens in Minsk ein Vertrag über den Beitritt Armeniens zur EAWU unterzeichnet. Die Republik Armenien wird damit der vierte Teilnehmerstaat der neuen Wirtschaftsunion sein. Zugleich gehen die Vorbereitungsarbeiten für einen Beitritt Kirgisiens weiter.

Nach dem Beitritt Armeniens wird die EAWU am 1. Januar 2015 bereits mit einem wirtschaftlichen Integrationsraum starten, in dem mehr als 190 Millionen Menschen leben. Seine Fläche wird fast 20,5 Millionen Quadratkilometer betragen. Der Integrationsraum ist reich an Bodenschätzen wie Erdöl, Erdgas und Kohle sowie an Edelmetallen.

Im Umgang Russlands mit seinen Partnern im "nahen Ausland" hat es leider auch Praktiken gegeben, die den Integrationsprozess erschweren. Das betrifft z. B. den wiederholten wirtschaftlichen Druck auf Belarus um dessen Führung dazu zu bewegen, belarussisches Staatseigentum an den russischen Konzern Газпром (Gazprom) abzugeben und den Weg für das Eindringen russischer Oligarchen in die belarussische Wirtschaft zu öffnen. Solche Praktiken begünstigen Skepsis der Partner gegenüber den Absichten Moskaus und Zurückhaltung bei der Aufgabe nationaler Verfügungsrechte an Gemeinschaftsorgane. Der Weg zur Umsetzung des Vertragswerks der EAWU wird darum sicher mühsam sein und nicht widerspruchsfrei verlaufen.

USA, NATO und EU kommt dies durchaus gelegen. Sie werden den weiteren Integrationsprozess im eurasischen Raum zu torpedieren versuchen, wo immer sich die Möglichkeit dazu bietet. Besteht doch ihr erklärtes Ziel darin, eine Reintegration ehemaliger Sowjetrepubliken unter Führung Russlands um jeden Preis verhindern. Die Konzeption dafür hat Brzezinski bereits in seinem Buch "Die einzige Weltmacht" (1999) entwickelt. Im Kern geht es bis heute darum, "jedes Aufkommen eines Rivalen" für die "einzige Weltmacht" zu verhindern. Russland soll auf seine eigenen Grenzen beschränkt und zugleich durch Assoziationsverträge zwischen der EU und Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie die NATO-Osterweiterung wirtschaftlich und militärisch eingekreist werden. Die Rohstoff-Ressourcen des eurasischen Raumes sollen unter die Kontrolle der USA gebracht werden. Wobei das NATO- und EU-Gefolge, nicht zuletzt Deutschland, dabei ebenfalls sein Stück vom Kuchen abschneiden will, was Widersprüche zwischen den Räubern hervorruft. Diese Strategie und ihre Gemengelage ist letztlich auch der tiefste Hintergrund für die gegenwärtige Ukraine-Krise.

Russlands Rolle in der Weltpolitik

Die zweite Ebene der russischen Außenpolitik betrifft die Weltpolitik. Im Unterschied zu den USA mit ihrem NATO-Gefolge sind auf diesem Feld zumindest heute und in der nächsten Zukunft keine russischen Ambitionen auf die Weltherrschaft zu erwarten. Dafür wären auch die Kräfteverhältnisse nicht gegeben. Hier strebt das Russland Putins danach, dem Weltherrschaftsanspruch des US-Imperialismus und seiner Verbündeten eine multipolare Weltordnung entgegenzusetzen.

Nachdem Russland unter Jelzin sich dem Herrschaftsanspruch der USA devot unterordnete und auch Putin in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft nur zögerlich eigene russische Interessen deutlich machte, begann sich dies seit etwa Mitte der 2000er Dekade zunehmend zu ändern. So stellte der stellvertretende Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums, Dmitri Trenin, bereits 2006 fest: "In der Tat macht Russland einen Prozess durch, der als außenpolitische Revolution bezeichnet werden kann. Es hat tatsächlich angefangen, sich als moderne Großmacht zu erneuern. Der äußerste Planet des westlichen Sonnensystems, hat seine Umlaufbahn verlassen, um eine neue und unabhängige Flugbahn einzuschlagen. Das hat weitreichende Folgen [...] Die große Veränderung des Jahres 2005 ist, dass in diesem Jahr die russische Außenpolitik von einer Position der Schwäche zu einer der Stärke wechselte. Sicherlich fußt dies auf der sehr viel besseren finanziellen Lage des Landes und auf der Konsolidierung von politischer und wirtschaftlicher Macht in den Händen des herrschenden Zirkels im Kreml, es gehört aber mehr dazu als nur Geld in der Staatskasse - und der phänomenale persönliche Erfolg derjenigen, die über den Staat herrschen. Der psychologische Faktor ist entscheidend. Postsowjetische Erniedrigung ist ein Ding der Vergangenheit und den russischen Führern gefällt das Spiel mit den harten Bandagen".(11)

Wenn die führenden Politiker im Westen diese Veränderungen zur Kenntnis genommen hätten, wären sie wahrscheinlich ein Jahr später, im Februar 2007, von der Rede Putins auf der Münchener Sicherheitskonferenz weniger hart erwischt worden. So platzte die Abrechnung des russischen Staatsoberhaupts mit dem Weltherrschaftsanspruch der USA wie eine Bombe ins Auditorium.

In seiner Rede betonte Putin, dass das von den USA verfolgte monopolare (unipolare) Modell für die heutige Welt "nicht nur unannehmbar, sondern überhaupt unmöglich ist", und fuhr fort: "Dabei ist alles, was sich heute in der Welt abspielt [...] eine Folge der Versuche, gerade diese Konzeption, die Konzeption der monopolaren Welt, in die internationalen Angelegenheiten hinein zu pflanzen. [...] Heute beobachten wir eine durch fast nichts gezügelte und übertriebene Anwendung von militärischer Gewalt in den internationalen Angelegenheiten. Einer Gewalt, die die Welt in die Tiefen einander ablösender Konflikte stößt. [...] Wir beobachten eine immer stärkere Vernachlässigung der grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts. Mehr noch: Einzelne Normen, eigentlich beinahe schon das gesamte Rechtssystem eines einzelnen Staates, in erster Linie natürlich der Vereinigten Staaten, haben die nationalen Grenzen in allen Bereichen überschritten und werden sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik und in der humanitären Sphäre anderen Staaten aufgedrängt".(12) Der Weltherrschaftspolitik des US-Imperialismus stellte Putin eine auf der UN-Charta und den Prinzipien des Völkerrechts basierende multipolare Weltordnung entgegen.

Nicht weniger deutlich war auch seine Rede am 18. März 2014 zur Wiedervereinigung der Krim mit Russland. Darin heißt es unter anderem: "Unsere westlichen Partner, vor allem die Vereinigten Staaten, ziehen es vor, in ihrer praktischen Politik nicht vom Völkerrecht, sondern vom Recht des Stärkeren Gebrauch zu machen. Sie glauben an ihre Erwähltheit und Exklusivität; daran, dass sie die Geschicke der Welt lenken dürfen und daran, dass immer nur sie allein Recht haben können. Sie handeln so, wie es ihnen einfällt: Mal hier, mal da wenden sie Gewalt gegen souveräne Staaten an, bilden Koalitionen nach dem Prinzip 'wer nicht mit uns ist, ist gegen uns'." Diese Feststellungen belegte der russische Präsident mit zahlreichen Beispielen, vom Überfall auf Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen bis zur Organisierung "bunter Revolutionen", darunter in der Ukraine 2004 und mit dem Putsch 2014.

Weiter heißt es: "Wir schlagen ständig Kooperation in Schlüsselfragen vor, wir wollen das gegenseitige Vertrauen fördern, wir wünschen, dass unsere Beziehungen auf Augenhöhe stattfinden, dass sie offen und ehrlich seien. Aber wir sehen keinerlei Entgegenkommen. Im Gegenteil, Wir wurden Mal ums Mal betrogen, es wurden Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen, man stellte uns vor vollendete Tatsachen. So war es mit der NATO-Osterweiterung, mit der Installation von militärischer Infrastruktur an unseren Grenzen. So war es auch mit der Entfaltung der Systeme der Raketenabwehr. [...] Man versucht ständig, uns in irgendeine Ecke zu drängen, und zwar dafür, dass wir eine unabhängige Position einnehmen, dafür, dass wir diese verteidigen und dafür, dass wir die Dinge beim Namen nennen und nicht heucheln. Im Falle der Ukraine haben unsere westlichen Partner eine Grenze überschritten, handelten grob, verantwortungslos und unprofessionell."

Putin forderte "die Hysterie abzustellen, die Rhetorik aus Zeiten des kalten Krieges zu beenden und eine offensichtliche Sache anzuerkennen: Russland ist ein selbständiger, aktiver Faktor der internationalen Gemeinschaft, es hat, wie andere Länder auch, nationale Interessen, die man berücksichtigen und achten muss".(13)

Die auf der Münchener Sicherheitskonferenz und in seiner Rede zur Wiedervereinigung der Krim mit Russland dargelegten Positionen bekräftigte der russische Präsident auch in seinem Beitrag beim 11. Valdai-Diskussionsforum Ende Oktober 2014 in Sotschi. Er betonte, die monopolare Welt habe ihre Unfähigkeit bewiesen, "effektiv solche echten Bedrohungen zu bekämpfen, wie regionale Konflikte, Terrorismus, Drogensucht, religiösen Fanatismus, Chauvinismus und Neonazismus. Die unipolare Welt ist nichts anderes als eine Diktatur über Menschen und Länder." Das "einseitige Diktat und das Aufzwingen der eigenen Schablonen"führe zur Eskalation der Konflikte. "Anstelle souveräner und stabiler Staaten entsteht ein wachsendes Chaos. Statt Demokratie wird suspektes Publikum gefördert - angefangen bei ausgesprochenen Neonazis bis hin zu islamischen Radikalen."

Putin machte deutlich, dass Russland im Unterschied zu den USA keine globale Führungsposition beanspruche. Wörtlich: "Wir fordern für uns keinen Sonderplatz unter der Sonne. Wir gehen bloß davon aus, dass alle internationalen Akteure die Interessen der anderen Akteure respektieren müssen. Wir sind bereit, die Interessen unserer Partner zu respektieren und erwarten eine genauso respektvolle Behandlung unserer Interessen".(14)

Trotz der antirussischen Hysterie bleibt Russland um vernünftige partnerschaftliche Beziehungen sowohl zu den USA wie zur EU und deren Mitgliedsländern bemüht. Das betrifft nicht zuletzt auch die wirtschaftlichen Beziehungen. Allerdings deuten sich in der Perspektive gewisse Verschiebungen in den Prioritäten durchaus an. Schließlich kann Russland nicht unberücksichtigt lassen, dass die EU als Erfüllungsgehilfin der US-Weltherrschaftspolitik zu einem unberechenbaren Partner geworden ist, wie die antirussische Sanktionspolitik zeigt.

So erklärte das russische Staatsoberhaupt Anfang Oktober bei dem von der Investmentbank VTB Capital veranstalteten Forum "Russland ruft" zwar, dass sein Land nicht vorhabe die Wirtschaftsbeziehungen zu den EU-Ländern abzubauen. Zugleich fügte er jedoch hinzu: "Wir müssen aber in die Zukunft hinausschauen. Wir werden den erklärten Kurs auf Ausbau und Diversifizierung unserer Außenwirtschaftsbeziehungen verfolgen. Zu unseren Prioritäten gehört eine Vertiefung der Partnerschaft mit den Ländern Lateinamerikas, den Ländern des Asiatisch-Pazifischen Raums, mit unseren BRICS-Kollegen, darunter mit China und Indien".(15)

Russlands Rolle für den gesellschaftlichen Fortschritt

Das Streben Russlands nach einer multipolaren Weltordnung liegt objektiv im Interesse von Frieden und gesellschaftlichem Fortschritt, weil sie den selbsternannten Weltpolizisten USA, NATO und EU Grenzen setzen kann. Das sollte Anlass dafür sein, Russland und seine westlichen Konkurrenten - trotz im Wesentlichen gleicher Klassengrundlagen - nicht über einen Kamm zu scheren.

Dazu veranlassen sollten auch die historischen Erfahrungen mit unterschiedlichen Systemen und Formen kapitalistischer und imperialistischer Politik sowie die konkrete Analyse der konkreten historischen Situation. Davon ausgehend gelangte die Sowjetunion vor und während des zweiten Weltkriegs bekanntlich trotz tiefer Widersprüche mit den imperialistischen Westmächten zu dem Schluss, im faschistischen Deutschland die Hauptgefahr für die UdSSR und die Menschheit zu erkennen. Das wurde zur Grundlage für ihr Ringen um kollektive Sicherheit und machte im Ergebnis trotz vieler Schwierigkeiten die Anti-Hitler-Koalition als bedeutenden Faktor für den Sieg über Nazi-Deutschland möglich.

Die konkrete Analyse der heutigen konkreten historischen Situation in der Welt macht es meiner Überzeugung nach notwendig, in klarer Erkenntnis des Klassencharakters des kapitalistischen Russlands, auf dem Gebiet der internationalen Politik zwischen Russland und den imperialistischen Hauptmächten zu differenzieren.

In der heutigen Konfrontation zwischen dem US-Imperialismus mit seinem NATO- und EU-Gefolge einerseits und Russland andererseits, ist die erstgenannte Seite, die ihre militärischen Kräfte unter Bruch getroffener Vereinbarungen immer näher und umfangreicher an die russischen Grenzen heranführt und damit Russland immer direkter bedroht, eindeutig der Aggressor. Russland wird gezwungen sich und seine legitimen Interessen zu verteidigen. Die Hauptgefahr für Frieden und gesellschaftlichen Fortschritt liegt in der Weltherrschaftspolitik des US-Imperialismus und seiner Verbündeten. Sie sind darum der Hauptfeind gegen den die nach Frieden und gesellschaftlichem Fortschritt strebenden Kräfte heute den Hauptstoß ihres Kampfes richten müssen.


Willi Gerns, Bremen, MB-Redaktion


Anmerkungen

(1) "Россия в цифрах, Moskau 2014

(2) www.mitchenko.ru

(3) Siehe W.I. Lenin: Werke, Bd. 22, S. 270/271

(4)Quelle: DPA, UNSTAD

(5)Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden

(6) Ostausschuss der deutschen Wirtschaft - Stand März 2014

(7) Siehe, W.I. Kaschin: Das politische System Russlands. Zwanzig Jahre Reformen, veröffentlicht auf: www.kprf.ru (28.8.2014)

(8) Zum Vorwurf Russland habe die Krim annektiert siehe in diesem Zusammenhang: Willi Gerns: Die Krim gehört wieder zu Russland. Aktuelle, geschichtliche und sicherheitspolitische Hintergründe, in: Marxistische Blätter Heft 3_2014, S. 21-30

(9) Nach "Nowoje Iswestija" vom 17. Oktober 2014

(10) Siehe: Jelena Kuzmina: Moskau. Eurasische Wirtschaftsintegration: Möglichkeiten und Probleme, in: Russland-Analysen Nr. 283, 10. Oktober 2014

(11) Dmitri Trenin: Der Westen und Russland. Das verlorene Paradigma, in: Russlandanalysen 88/06

(12) Siehe Putins Rede in München im vollständigen Wortlaut nach www.rian.novosti.ru

(13) Siehe Putins Rede zum Beitritt der Krim nach www.rian.novosti.ru

(14) Der Text des Putin-Beitrages beim Valdai-Forum wurde am 24. Oktober 2014 in russischer Sprache auf der Internetseite des Präsidenten der Russischen Föderation (www.kremlin.ru) veröffentlicht.

(15) Siehe de.ria.ru vom 2. Oktober 2014

*

Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-15, 53. Jahrgang, S. 67-77
Redaktion: Marxistische Blätter
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Telefon: 0201/23 67 57, Fax: 0201/24 86 484
E-Mail: redaktion@marxistische-blaetter.de
Internet: www.marxistische-blaetter.de
 
Marxistische Blätter erscheinen 6mal jährlich.
Einzelheft 9,50 Euro, Jahresabonnement 48,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang