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OFFENSIV/079: Ausgabe Mai-Juni 2009 3/09


offen-siv 3/2009
Zeitschrift für Sozialismus und Frieden

Ausgabe Mai-Juni 2009



INHALT

Redaktionsnotiz

...und der Zukunft zugewandt
Herausgebergremium und Redaktion offen-siv: "...und der Zukunft zugewandt" - Veranstaltung zum 60. Jahrestag der Gründung der DDR am 10./11. Oktober 2009 in Berlin

Berichte und Informationen
Irene Eckert: Vereint im weltweiten Kampf gegen Rassismus!
Reinhold Schramm: Vermögensverteilung in EU-Deutschland
Werner Roß: Die Finanzkrise und die Eigentumsfrage
Reinhold Schramm: Der "Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI)" - zu den "Nationalen Wehrtechnischen Kernfähigkeiten"
Irene Eckert: Belgrader Frühling 2009

Standortbestimmungen
Redaktion offen-siv: Standortbestimmungen
Ingo Wagner: Die Partei DIE LINKE - eine sozialdemokratische Formation von eigener Art? Ja!
Mathias Meyers: Vom Lob des Falschen
Heinz W. Hammer: Leserbrief in "Theorie und Praxis"
Wahlaufruf zur Europawahl: Die EU ist die Wahl des Kapitals
ZK der KP Ungarns: Rückzug aus der Partei der Europäischen Linken (EL) Resolution des Zentralkomitees der Ungarischen Kommunistischen Arbeiterpartei
Leo Mayer: Referat bei der 6. Tagung des PV der DKP am 16./17. Mai 09 in Berlin - Auszüge
Gerhard Feldbauer: Zu den "notwendigen Vorbemerkungen" Frank Flegels
Thomas Waldeck: Momentaufnahme zur Krise - und zum Zustand der kommunistischen Bewegung in Deutschland

Der politische Islam
Margarete Pfliegner: "Politischer Islam" - kritischer Beitrag zur offen-siv-Ausgabe März-April 2009
Michael Opperskalski: Klassenkämpfe heute - eine Analyse zur Rolle des politischen Islam

Zur Geschichte Griechenlands
Reinhold Schramm: Griechenland zwischen Bürgerkrieg und Diktatur

Diskussion zur politischen Ökonomie des Sozialismus
Hermann Jacobs: Wäre ein Arbeitszertifikat ein Geldsurrogat?

Buchbesprechung
Norbert Müller: Rezension des Buches von Sarah Wagenknecht:
Wahnsinn mit Methode - Finanzcrash und Weltwirtschaft
Redaktion offen-siv: Nachdrucke von Werken Kurt Gossweilers im Ausland:
Frank Flegel: Über die Probleme des Herrn Haug (jW, 27./28.5.09)

Abschied von Hans Wauer
Anna C. Heinrich, Kurt Gossweiler, Frank Flegel: Abschied von Hans Wauer

Raute

REDAKTIONSNOTIZ

Beide Schwerpunkte unseres März-April-Heftes, "Politischer Islam" und "Positionsbestimmungen", haben zu interessanten Reaktionen geführt.

Unsere Veröffentlichungspolitik zum Thema "Politischer Islam" brachte uns nicht wenig Schelte ein für den Abdruck der Abbestellung des Falkenhauses Burgdorf und des Textes von Franz Siklosi. Deshalb hier einige Klarstellungen der Redaktion: die in den beiden Texten vertretenen Positionen sind falsch, ja schlimmer noch, sie sind Positionen des deutschen Imperialismus. Deshalb vertreten wir, was die Ausrichtung der kommunistischen Linken und möglichst auch der gesamten Friedensbewegung hier bei uns angeht, keinerlei Pluralismus und auch keine Äquidistanzüberlegungen (zwischen Israel und Palästina). Wir haben diese falschen - und zum Teil auch grottenschlechten, weil von Vorurteilen triefenden - Texte abgedruckt, um aufzuzeigen, welcher Unsinn vertreten wird und um zu einer Debatte um die Einschätzung der aktuellen Kämpfe, die mit dem Politischen Islam zu tun haben, zu kommen. Das ist uns auch gelungen. Insofern freut uns das Ergebnis. Dass wir jedoch in Gefahr geraten würden, mit diesen beiden falschen Positionen identifiziert zu werden, damit haben wir nicht gerechnet. Wir haben in diesem Heft zwei sehr gute Artikel zum Thema, nämlich Margarete Pfliegner: Politischer Islam; und Michael Opperskalski: Klassenkämpfe heute - zur Analyse der Rolle des politischen Islam. Von beiden Artikeln können wir sagen: sie stimmen mit der Auffassung der Redaktion überein.

Apropos Palästina. Wir hatten zu einer Hilfskampagne aufgerufen. Leider müssen wir diese abbrechen. Eine Repressionswelle in Ägypten zwingt uns dazu. Wir werden die eingegangenen Spenden in den nächsten Tagen zurücküberweisen.

Das zweite Schwerpunktthema des letzten Heftes, "Positionsbestimmungen", hat zu einigen Reaktionen geführt, für die wir herzlich danken und die wir gern bringen. Gleichzeitig ist im Zusammenhang mit der Europawahl und der Wahlausrichtung der DKP einiges zu sagen und zu dokumentieren, so dass ein umfangreicher Themenblock entstanden ist. Zur Europawahl selbst werdet Ihr im Heft nichts finden, denn unsere Drucktermine lagen so ungünstig, dass die Druckvorlagen dieses Heftes bereits unmittelbar vor der Wahl in der Druckerei sein mussten.

Weiterhin findet Ihr im Heft interessante Berichte und Informationen, die Friedensbewegung, die Krisenbewältigung, die sozialen Verhältnisse und der militärisch-industrielle Komplex werden betrachtet. Eine Erinnerung an die griechische Geschichte in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts und ein Diskussionsbeitrag zur politischen Ökonomie des Sozialismus schließen sich an. Unter der Rubrik "Buchbesprechungen" findet Ihr eigentlich nur eine einzige Buchbesprechung: Norbert Müller hat sich das Buch von Sarah Wagenknecht "Wahnsinn mit Methode" angesehen. Aus gegebenem Anlass haben wir danach eine Zusammenstellung der Auslandsveröffentlichung von Arbeiten des Genossen Kurt Gossweiler aufgenommen. Wir wollen damit auf seine internationale Bedeutung aufmerksam machen und dafür werben, dass Ihr Euch die beiliegende Postkarte des PapyRossa-Verlages genau anseht, denn es geht um ein Subsriptionsangebot des Buches von Kurt Gossweiler: "Der Putsch, der keiner war. Die Röhm-Affaire und der Richtungskampf im deutschen Faschismus". Wer jetzt bestellt, bekommt 20% Rabatt. 350 Bestellungen müssen zusammenkommen, damit das Projekt realisierbar wird. Wir werben gern dafür. Und als dritten Artikel haben wir bei den Buchbesprechungen eine Polemik von Frank Flegel gegen die Artikelfolge "Bewegung denken" und "Zweierlei Revisionismus" von Wolfgang Fritz Haug in der Tageszeitung "junge Welt" vom 27. und 28. Mai 2009 aufgenommen.

Neben der Postkarte des PapyRossa-Verlages haben wir eine zweite beigelegt, diese ist von uns. Wir hatten in Heft 1-2009 bereits kurz darauf hingewiesen, dass wir eine Veranstaltung zum 60. Jahrestag der Gründung der DDR durchführen wollen. Inzwischen sind die Planungen so weit fortgeschritten, dass wir Euch die Konzeption vorstellen können. Wir eröffnen damit das Heft. Hier nur der Hinweis: die Veranstaltung, die am 10. und 11. Oktober 2009 in Berlin stattfinden wird, ist keine öffentliche Veranstaltung im klassischen Sinne. Wir wollen sie als "halboffene" Tagung durchführen, d.h. abends vor Ort am Tag der Veranstaltung wird es keine Eintrittskarten geben. Man muss sich, wenn man teilnehmen will, vorher schriftlich bei uns melden (per E-Mail: redaktion@offen-siv.com; brieflich: Redaktion offen-siv, Egerweg 8, 30559 Hannover; oder per Fax: 0511 - 52 94 782), 10,- € Teilnahmegebühr für Raumkosten und Fahrtzuschüsse für die ausländischen Referenten beilegen oder überweisen und bekommt dann von uns eine Eintrittskarte zugesandt. Dies Vorgehen haben wir aus zwei Gründen gewählt: erstens müssen wir gerade wegen der Finanzen eine hohe Planungssicherheit haben und zweitens wollen wir es auf diesem Wege etwaigen Provokateuren etwas schwerer machen, bei unserer Veranstaltung Jauchekübel über die DDR auszugießen.

Finanziell ist die Situation etwas besser geworden - was aber selbstverständlich nicht dazu führen darf, dass Ihr Eure Anstrengungen in dieser Hinsicht einschränkt. Wir leben von der Hand in den Mund und brauchen dringend Eure Spenden.

Spendenkonto Offensiv:
Inland: Konto Frank Flegel, Kt.Nr.: 30 90 180 146 bei der Sparkasse Hannover, BLZ 250 501 80, Kennwort: Offensiv
Ausland: Konto Frank Flegel, Internat. Kontonummer(IBAN): DE 10 2505 0180 0021 8272 49, Bankidentifikation (BIC): SPKHDE2HXXX; Kennwort: "Offensiv".

Raute

...UND DER ZUKUNFT ZUGEWANDT

Herausgebergremium und Redaktion offen-siv: "...und der Zukunft zugewandt" - Veranstaltung zum 60. Jahrestag der Gründung der DDR am 10./11. Oktober 2009 in Berlin

Zweitägige wissenschaftliche Tagung über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Sozialismus.

Eine Veranstaltung von offen-siv. Sie wird unterstützt von der GRH, der KPD und der KPD(B). Die Jugendbibliothek Gera ruft zur Teilnahme auf.

Ziel der Tagung ist nicht allein der Blick zurück auf die DDR, vielmehr soll dieser unverzichtbare Blick zurück fruchtbar gemacht werden, um unter Zuhilfenahme der Analyse der Gegenwart Möglichkeiten für die Zukunft zu eröffnen.

Ort der Tagung: Münzebergsaal im Haus "Neues Deutschland", Franz-Mehring-Platz 1

Termin: 10. und 11. Oktober 2009

Die Referate, Diskussionen, Resultate und Beschlüsse der Konferenz werden von uns in geeigneter Form veröffentlicht.

Die Tagung wird eine halboffene Veranstaltung sein, d.h. nur diejenigen Interessenten/innen, die vorher eine Eintrittskarte zum Unkostenbeitrag von 10,- € erworben und von uns zugesandt bekommen haben, werden am 10. und 11. Oktober 2009 auch tatsächlich teilnehmen können. Wir brauchen nämlich erstens Planungssicherheit für die Raumkapazität und für die Finanzen, und wir wollen zweitens die Teilnahme von Provokateuren, deren Ziel es ist, Jauchekübel über die DDR auszugießen, erschweren. Deshalb haben wir uns entschlossen, ausschließlich durch den Vorverkauf Eintrittskarten für die Veranstaltung zu vergeben.

Selbstverständlich haben wir schon die Mitglieder unseres Förderkreises eingeladen.

Die nächsten, die wir informiert haben und denen wir die Teilnahme angeboten haben, waren unsere Fernstudenten/innen. Vierundzwanzig von ihnen werden teilnehmen.

Nun richten wir die Frage an Euch, unsere Leserinnen und Leser, ob Ihr teilnehmen wollt.

Dazu müsst Ihr Euch bei uns schriftlich anmelden und 10,- € mitschicken oder zeitnah überweisen.

E-Mail: redaktion@offen-siv.com
brieflich: Redaktion offen-siv, Egerweg 8, 30559 Hannover
Fax: 0511 - 52 94 782
Wenn beides eingegangen ist, bekommt Ihr von uns die Eintrittskarte/n zugesandt.

Nun das vorgesehene Programm der Veranstaltung:

Sonnabend, 10.10.2009 (Beginn: 10.00 Uhr):

1. Was haben wir verloren?

1.1. Die DDR selbst:
Hermann Leihkauf und Erich Buchholz zu ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Errungenschaften der DDR -- incl. Diskussionszeit bis ca. 12.00 Uhr

1.2. Die internationale Solidarität der DDR:
Achim Reichardt mit einem Überblick über die Solidaritätsarbeit der DDR, danach konkrete Berichte von jeweils daran Beteiligten aus dem In- und Ausland über die DDR-Solidarität mit Cuba, mit Vietnam, mit Nicaragua, mit dem Tschad und Schwarzafrika, mit dem Widerstand gegen die Apartheid in Südafrika und mit dem Widerstand in Palästina.
incl. Mittagspause, Diskussionszeit und Kaffeepause -- bis ca. 16.30 Uhr

1.3. Die DDR in Europa:
Vertreter unterschiedlicher europäischer Parteien, darunter möglichst der Kommunistischen Partei Griechenlands, der Kommunistischen Partei Polens, der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens, von Kommunisten aus Großbritannien (CPGB-ML) und aus der früheren Kommunistischen Partei der Sowjetunion berichten über die Kooperation mit der SED und der DDR, über historische Bedingungen und über die damalige Bedeutung.
incl. Diskussionszeit bis ca. 20.00 Uhr

Sonntag, 11. 10. 2009 (Beginn: 9.00)

2. Probleme der Entwicklung/Ursachen für die Niederlage
Hans-Werner Deim, Kurt Gossweiler, Dieter Hillebrenner, Dieter Itzerott, Michael Opperskalski und Heinz Keßler berichten über die Geschichte der SED, die militärische Sicherheit der DDR, die imperialistische Strategie gegen die DDR und deren Zusammenhang mit revisionistischen Entwicklungen in der Sowjetunion und in der DDR, über den Warschauer Vertrag, den Wandel der Friedenspolitik und die letzten Tage der SED und der DDR
incl. Diskussionszeit und Mittagspause bis ca. 13.00 Uhr

3. Konsequenzen für die Einschätzung der Gegenwart
Frank Flegel, Michael Kubi, Michael Opperskalski und Thomas Waldeck untersuchen die Resultate der Konterrevolution in Europa, den daraus zu erklärenden Zustand der kommunistischen Bewegung, Fragen von Klarheit und Einheit und den Charakter der DKP heute
incl. Diskussionszeit und Kaffeepause bis ca. 16.00 Uhr

4. Möglichkeiten für die Zukunft
Axel Galler und Jens Focke stellen grundsätzliche Möglichkeiten einer Kommunistischen Initiative als Mittel zur Einheit der Marxisten-Leninisten in Deutschland dar und erörtern - gemeinsam mit den Anwesenden - Notwendigkeiten, Aktivitäten und Projekte, die in Planungen und Beschlüssen ihren Ausdruck finden sollen.
incl. Diskussionszeit bis ca. 18.00 Uhr

Redaktion und Herausgebergremium offen-siv
Planungsstand Ende Mai 2009. Änderungen möglich

Raute

BERICHTE UND INFORMATIONEN

Irene Eckert: Vereint im weltweiten Kampf gegen Rassismus!

Bericht vom "Forum der Zivilgesellschaft" in Genf, April 2009

Unter dem Motto "United Against Racism" tagte bei strahlendem Sonnenschein vom 17. - 19. April am Genfer See das "Civil Society Forum" zur Vorbereitung und Vertiefung des Antirassismus-Gipfels/Durban-Nachfolgekonferenz.

Das Zustandekommen des internationalen Austausches der Nichtregierungsorganisationen war diesmal, anders als bei der Weltkonferenz in Durban/Südafrika 2001, keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Schon die Verlagerung der UN-Konferenz in die Alpenrepublik war Ausdruck der Reserven, die einige Staaten dem Konferenzthema unter fadenscheinigen Vorwänden entgegenbrachten. Es hatte massive Behinderungen nicht nur gegenüber der lange geplanten UN-Gipfel-Konferenz gegeben: Finanzmittel wurden zurückgehalten und Boykottaufrufe machten die Runde, ein Forum der Zivilgesellschaft war schon gar nicht vorgesehen. Ja, noch mehr, die Organisatoren des NGO-Forums wurden persönlich diffamiert und unter Druck gesetzt. Das allerdings spornte sie in ihrer Entschlossenheit an.

Während im alten Völkerbundpalast noch der Vorbereitungsausschuss des UN-Menschenrechtsrats an einem Konsenspapier für Durban II feilte, das Durban I den Zahn ziehen und somit allen Regierungen doch noch die Teilnahme am Antirassismus-Gipfel ermöglichen sollte, begann im Kinosaal des Auditorium Arditi die feierliche Eröffnung der Veranstaltung der Nichtregierungsorganisationen mit einer Filmdokumentation. Selbst auf der Filmleinwand kam die kreative Kraft der Frauen im von der Apartheid befreiten Südafrikadeutlich zum Ausdruck. Der Geist des Antirassismusgipfels in Durban wirkte auch medial vermittelt noch ansteckend: Die Aufbruchsstimmung unter den annähernd 20.000 Teilnehmern des Anti-Rassismusforums in den frühen Septembertagen des Jahres 2001 in Durban wurde für einen Moment spürbar.

Immerhin, auch nach Genf war eine aufrechte Schar engagierter Verfechter des so wichtigen Menschheitsanliegens dem kurzfristigen Aufruf der Veranstalter gefolgt und freute sich über das herzliche Willkommen, das der Vizebürgermeister Remy Pagany der Stadt des Multikulti und des Friedens den Teilnehmern entgegenbrachte. Genf, so versicherte er, unterstütze das Ringen der Veranstalter, deren Bemühen, sich jeder Form der Rassendiskriminierung entgegenzustellen.

Die nachfolgenden Redner des Abends brachten allerdings große Besorgnis zum Ausdruck über die Defensive, in die der Kampf gegen Rassismus global gesehen geraten sei. Professor Doudou Diene, der Grandseigneur aus dem Senegal, vormals Spezialberichterstatter der UNO über gegenwärtige Erscheinungsformen von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und verwandte Formen der Intoleranz, sprach darüber, dass der fragwürdige "Rasse"-begriff in die akademische Debatte zurückgekehrt sei. Ein Träger des Nobelpreises für Medizin habe mit Anspielungen auf die angebliche "Minderwertigkeit der schwarzen Rasse" solche Denkansätze wieder salonfähig gemacht. Das sei insbesondere deswegen alarmierend, weil es derzeit am politischen Willen mangele, derlei unwissenschaftlichen Konzepten mit der gebotenen Entschiedenheit zu begegnen. Eine besondere Gefahr sah er im Aufschwung der Islamphobie, der es durch eine entsprechende nationale Gesetzgebung Einhalt zu gebieten gelte. Gesetze, die sich gegen die Aufstachelung zum Rassenhass richteten und gegen die daraus erwachsenden Gewaltakte, seien die erforderliche Antwort, wolle man den bedrohlichen Entwicklungen entgegenwirken. Es gehe darum, auch auf nationaler Ebene die UN-Charta aktiv und entschieden zu verteidigen. Rassistisches Ideengut richte sich gegen deren Grundgehalt. Regierungen müssten an die Verpflichtungen erinnert werden, die sie mit Unterzeichnung der Charta eingegangen seien.

Edna Poland, die brasilianische Vertreterin einer Expertengruppe, mit der Implementierung der in Durban konsensual verabschiedeten Programmatik befasst, war voll des Lobes über die klare, vorwärts weisende Sprache des Durban I Papiers. Es sei aber leider ziemlich untergegangen durch die unmittelbar auf die UN-Konferenz in Durban folgenden Ereignisse des 11. September. "Der Raum, auf dem wir jetzt agieren, ist sehr viel enger geworden und täglich werden neue Barrieren errichtet. So wird etwa Sprache in demagogischer Manier eingesetzt: Jene, die den Rassismus sogar durch entsprechende Gesetzgebung fördern, bezichtigen andere des "Rassismus", hob die Expertin hervor. Während der Vorbereitungsarbeit für die Rassismus-Nachfolgekonferenz sei es sehr konfrontativ zugegangen. Frau Poland sprach gar von einer Art "Guerillakrieg" zwischen der Europäischen Gruppierung (einschließlich Israels und USA, die ja bereits "Durban I" boykottiert hatten) und der muslimischen Welt mit Afrika und Teilen Asiens. Als eine der Konfliktlinien charakterisierte sie die "europäischen Anstrengungen", die darauf abzielten, jede Aufforderung zu einer staatlichen Gesetzgebung gegen aggressive Aktivitäten zu blockieren, die in den Staaten des Südens als Aufstachelung zum Rassenhass empfunden würden. Selbst Vergleiche zwischen dem Koran und Hitlers "Mein Kampf" würden durch eine solche Haltung mit dem Hinweis auf das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt, ungeachtet der Gefühle von Millionen Muslimen dieser Erde. Frau Poland hielt es für angebracht, klare Definitionen dessen zu entwickeln, was nicht mehr durch den notwendigen Schutz der Meinungsfreiheit toleriert werden könne. Dieses sei dringend erforderlich, um die UN-Charta und die Menschenwürde, wie sie im "humanitären Menschenrecht" festgelegt ist, zu schützen.

Nach der Lateinamerikanerin sprachen Frauen, mit so unterschiedlichen Erfahrungs-hintergründen und Weltverständnissen, wie etwa die Tochter des ermordeten US-amerikanischen Black Panther Führers Malcolm X, Malaak Shabazz und die Senatorin Anne Mary Lizin, Ehrenpräsidentin des Belgischen Senats. Während beide Rednerinnen auf die große Bedeutung des Aktionsplanes von Durban I hinwiesen und der bevorstehenden UN-Konferenz einen darüber hinausweisenden Erfolg wünschten, nutzte Frau Shabazz das Forum um die neue US-amerikanische Regierung, für dessen Präsidenten Obama sie im Wahlkampf aktiv war, um ihre Regierung zur Teilnahme am nahen UN-Gipfel aufzufordern. Vergeblich, die USA boykottierten auch dieses Mal, ebenso wie Israel und die Bundesregierung Deutschland, trotz anders gerichteter Stimmen aus ihren Zivilgesellschaften, die Gipfel-Konferenz. In Durban 2001 waren es nur Israel und die USA gewesen, die der UN-Beratung ferngeblieben waren.

In der Plenarsitzung am Samstagfrüh drängte Frantz Fanons Tochter, Mireille Fanon, die Gattin von Mendes France, darauf, falsche, auf den Kopf gestellte Begriffe ins rechte Licht zu rücken. Es sei unvereinbar mit der UN-Charta und der humanitären Gesetzgebung, dass es Staaten gäbe, die unter dem Deckmantel des Anspruchs, den Rassismus zu bekämpfen, rassistische Gesetze erließen, meinte sie und unterstrich damit Worte, die ähnlich schon am Vorabend gefallen waren. Professor Yash Tandon, ein ugandischer Staatsbürger mit indischem Hintergrund, sekundierte solche Reflexionen, als er vom langen Weg von Durban sprach. Mit Hinweis auf seine neuste Publikation, die das Genfer "Süd-Zentrum" gerade herausgebracht hat,(*) wurde er sogar noch deutlicher: Das "kolonialistische Siedler-Regime" im heutigen Israel, befände sich wie alle Siedler-Regime im völligem Widerspruch zur Universellen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Der Hinweis auf das Wirken einer "zionistischen Lobby" in den Vereinigten Staaten ziele zu kurz, wolle man dem Wesen des Regimes gerecht werden und eine notwendige und starke Opposition dagegen unterstützen. Den moralische Rahmen für den anti-kolonialen revolutionären Prozess, der zu seiner Überwindung notwendig sei, böte die Französische Revolution mit ihrem grundlegenden Beitrag zu den Menschenrechten. Er zitierte Mahatma Ghandi, der einerseits tiefe Sympathie mit den Juden (in Südafrika) zum Ausdruck gebracht habe und ihre Behandlung durch die Christen dort mit jener verglich, die den Ausgestoßenen durch die Hindus zuteil wurde. "Diese meine Sympathie aber verschließt meine Augen nicht vor den Erfordernissen der Gerechtigkeit. Ihr Ruf nach einer nationalen Heimat gefällt mir nicht sehr. ...Palästina gehört den Arabern, wie sinngemäß England den Engländern oder Frankreich den Franzosen. Es ist ein Fehler und unmenschlich, dass die Juden über die Araber bestimmen. Das, was heute in Palästina geschieht, kann nicht durch irgendein moralisches Gesetz legitimiert werden. Das Mandat ist illegal, es ist ein Ergebnis des letzten Krieges. Eine teilweise oder ganze Überführung des Landes der Araber, die Palästina bevölkern, an die Juden als ihre nationale Heimstätte, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit." So Gandhi im Jahre 1938. Professor Tandon stellte die Sache des palästinensischen Volkes in den Zusammenhang der Forderung nach Reparationen für koloniale Ausbeutung und für die Versklavung ganzer Bevölkerungen. Palästina warte darauf, entkolonialisiert zu werden hob er hervor, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass einer der Folgeschäden, die das Bombardement von Gaza nach sich zöge, die "Zweistaatenlösung" sein könne.

Karl Flecker, ein führender Gewerkschaftsrepräsentant aus Kanada, Direktor des Menschenrechtsprogramms der CLUC (Canadian Labour Union Congress) ging auf die sozialen und ökonomischen Zusammenhänge der Rassismusfrage ein. Erweitert wurden seine Überlegungen durch den Beitrag von Frau Nimalka Fernando aus Sri Lanka, der Präsidentin der Internationalen Bewegung gegen alle Formen der Diskriminierung. Sie zeigte auf, inwiefern der 11. September zu einer Verschlechterung der schon vorhandenen ausbeuterischen Arbeitsbedingungen im globalen Süden geführt habe. Insbesondere beschrieb sie die Umstände, die Bauern in Not brächten und sie zwängen, Arbeit im Ausland zu suchen. Arbeitsmigranten, in besonderem Maße Frauen, fänden aber besonders schlimme Bedingungen vor und seien oft mit sexueller Gewalt konfrontiert.

Die Arbeitsgruppen boten Gelegenheit, viele der angesprochenen Problemkreise zu vertiefen. So bot ein gut besuchter Workshop über das traurige Schicksal des palästinensischen Volkes Gelegenheit, Informationen aus erster Hand über die gegenwärtige Lage im Gazastreifen zu erhalten. Charles Dedon (vormals Direktor des Genfer Zivilschutzes) und Dr. Saad Elnounoun (französischer Experte in Sachen Humangesundheitswesen) zeigten Dias von einer eben beendeten Reise in das Gebiet. Sie waren mit dem Auftrag dort gewesen, für eine internationale Zivilschutzorganisation zu evaluieren, welche Mittel für den Wiederaufbau der zivilen Infrastruktur erforderlich seien. Ihre Bilder dokumentierten die systematische, zum Teil punktgenaue Zerstörung ziviler Infrastruktureinrichtungen, wie etwa Feuerwehr-Ämter samt Ausrüstung, Polizeistationen, Krankenhäuser, Schulen, Laboratorien einer Universität. Die beiden erfahrenen Experten eines neutralen, unpolitischen Verbandes konnte ihre Erregung angesichts des Leides der Zivilbevölkerung kaum verbergen. Insbesondere lösten die Bilddokumente von Opfern des Einsatzes von Phosphorbomben oder Streumunition auch im Publikum schwer zu ertragende Gefühle aus.

Eine weitere Konferenz zum Thema Palästina war in Vorbereitung des UN-Gipfels vom Badil Ressource Centre organisiert worden. In dem nahe dem Maison des Associations gelegenen Tagungsort konnte man sich weitergehend über die Menschenrechtsverletzungen in der Region informieren. Die knapp 100 Teilnehmer dieser Sachverständigenrunde, die in Form eines Russel-Tribunals organisiert war, entwickelte auch ein Positionspapier für die Durban-Nachfolgekonferenz mit Empfehlungen, die, wenn angenommen, Würde und Gerechtigkeit für alle Menschen in der Region bringen könnten, die gegenwärtig mehrheitlich unter der rassistischen Politik leiden. Diese Vorschläge beinhalten die Forderung das Apartheid-Regime zu boykottieren, das sich schwere Menschenrechtsverletzungen zu Schulden kommen ließ, dort zu de-investieren und spürbare Sanktionen zu verhängen.

Die "Unabhängigen Jüdischen Stimmen aus Kanada" waren unter jenen Teilnehmern des erst genannten NGO-Forums, die ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk sehr entschieden vortrugen. Sie meldeten auch gegenüber jenen zionistischen und pro-israelischen Gruppen Widerspruch an, die nach Genf gekommen waren, um am 20. April in der Genfer Innenstadt des Holocausts zu gedenken und damit von den wichtigen Belangen der UN-Konferenz abzulenken. Die kanadischen Stimmen waren allerdings nicht die einzigen, die angesichts der Einschüchterungstaktik einiger prominenter jüdischer Organisationen alarmiert und irritiert waren. Derartige Ablenkungsmanöver wurden als Versuche gewertet, von den flagranten Verstößen des heutigen israelischen Staates gegen internationales Menschenrecht abzulenken.

Die Diskussionen im Verlauf des Wochenendes befassten sich auch mit der Sorge um die zunehmende Fremdenfeindlichkeit, die sich gegen Arbeitsmigranten und Asylsuchende richteten. Die Aufstachelung zum Hass gegenüber religiösen Überzeugungen, insbesondere die Islamfeindlichkeit wurde ebenso verurteilt wie der Antisemitismus. Die Konferenz schloss mit einer Plenarsitzung in der Ramsey Clark, der ehemalige US-Justizminister, als bekanntester Redner auftrat.

Am Samstagnachmittag nahmen viele Kongressteilnehmer an einer Demonstration durch die Genfer Innenstadt teil, zu der ein Schweizer Netzwerk aufgerufen hatte. Ziel war es, die auch hierzulande deutlich vernehmbare Fremdenfeindlichkeit anzuprangern, sich mit der weltweiten Bewegung zu verbinden und die Freilassung politischer Gefangener zu fordern, so etwa die Freilassung des seit über 25 Jahren im Todestrakt sitzenden US-Journalisten Mumia Abu Jamal.

Bis in die Morgenstunden des blauen Montags hinein feilten einige Forumsteilnehmer noch daran, ein aussagekräftiges Abschlussstatement zu redigieren, das die Durban-Nachfolgekonferenz begrüßen würde und das an alle Nationen appelliert, nicht nur das Aktionsprogramm von Durban I zu bestätigen und in nationale Aktionspläne umzusetzen, sondern noch darüber hinaus konkrete Schritte zu seiner Implementierung in Angriff zu nehmen.(**)

Am Montag, 20ster April, hieß es dann schon wieder in der Frühe Schlange zu stehen, um eine Zugangskarte für die UN-Konferenz zu erhalten. Denn auch die bereits akkreditierten NGO-Vertreter mussten sich noch einmal in einem besonderen Verfahren einschreiben. Nur eine Zugangskarte pro Organisation wurde ausgestellt. Trotzdem waren einige Organisationen offensichtlich überrepräsentiert, wie deutlich wurde, als am Nachmittag der iranische Präsident Ahmadinedjad als ranghöchster anwesender Staatsmann die Eröffnungsrede hielt. Der Konferenzraum, der für NGOs zusätzlich zur Verfügung stand, konnte wegen "technischer Probleme", die die Übertragungsanlage lahmlegten, die Worte des Staatsoberhauptes nicht empfangen. Die Tumulte aber waren vernehmlich, die die Worte des Präsidenten von der ersten Silbe an begleiteten. Clowns warfen Bälle durch den Saal, es wurde gebuht, und die meisten westlichen Vertreter verließen die Versammlungshalle unter Protest. Nach Auskunft von Experten waren derartige Störmanöver erstmalig innerhalb des UN-Geländes, selbst in den Hochzeiten des Kalten Krieges sei Derartiges nicht vorgekommen. Den Sicherheitskräften schienen die Hände gebunden. Wer am Inhalt der Rede interessiert war und sich nicht auf die äußerst tendenziöse Berichterstattung aller Nachrichtenkanäle verlassen wollte, konnte diese in aller Ruhe über web cam empfangen. Bei solch ruhiger Überprüfung der Botschaft aus dem Iran konnte man feststellen, dass Ahmadinedjad nichts gesagt hat, was nicht auch viele Regierungsvertreter aus dem globalen Süden oder viele NGO-Vertreter, die am Wochenende an der Konferenz der Zivilgesellschaft teilgenommen hatten, so gefühlt haben mochten. Es war eine ausgewogene Ansprache, die mit einem gewissen Humor und mit Gelassenheit auf die Störungen reagierte. Die Medienschelte in ihrer Heftigkeit oder gar die Zurechtweisung des Staatsmannes durch UN Generalsekretärs Ban Ki Moon ist - angesichts der Faktenlage - schwer nachvollziehbar. Der Vertreter Norwegens war es schließlich, der im Anschluss an die iranische Rede das Recht auf Meinungsfreiheit verteidigte. Obwohl der norwegische Minister am Inhalt der Ausführungen seines Vorredners Anstoß nahm, so verteidigte er doch immerhin das Recht, den divergierenden Inhalt vorzutragen.

Das Ausmaß an globaler Polarisierung, das am 20. April 2009 im UN-Gebäude spürbar geworden ist, hat eine neue Qualität erreicht. Ein kaum noch latent zu nennender Rassismus und vor allem der ungelöste Nahostkonflikt bringen die Gemüter der Welt ganz offensichtlich zum Kochen. Der überwunden geglaubte West-Ost-Konflikt hat sich nur verwandelt und kommt jetzt in der Nord-Süd-Polarisierung zum Ausdruck. Es ist unübersehbar, unüberhörbar und nicht mehr von der Hand zu weisen: Frieden und Verständigung zwischen den Nationen bedürfen als Grundlage der Gerechtigkeit. Koloniale Ausbeutung und Interventionskriege im Zeichen von Menschenrecht und Demokratie bilden kein Fundament für eine gerechte und friedliche Weltordnung, die frei ist von Rassismus, frei von allen Formen der Diskriminierung. Ohne eine gerechte Lösung, die allen Menschen in Palästina und den von dort Vertriebenen eine gemeinsame Zukunft ermöglicht auf der Basis von Demokratie und im Geiste der UN-Charta, wird es keinen Frieden in der Welt geben können, einer Welt, die zumindest frei wäre von Rassismus Weltordnung, die frei ist von Rassismus, frei von allen Formen der Diskriminierung. Ohne eine gerechte Lösung, die allen Menschen in Palästina und den von dort Vertriebenen eine gemeinsame Zukunft ermöglicht auf der Basis von Demokratie und im Geiste der UN-Charta, wird es keinen Frieden in der Welt geben können, einer Welt, die zumindest frei wäre von Rassismus und kolonialem Überlegenheitswahn und die somit dem Nährboden für neue kriegerische Auseinandersetzungen die Grundlage entzieht.

Irene Eckert, Berlin

Anmerkungen
(*) Reflections and Forsight on Development - Daring to think different, published by South Centre in Geneva April 2009
(**) siehe die Veröffentlichung des Statements auf der WILPF (Women's International League for Peace and Freedom) homepage

Raute

Reinhold Schramm: Vermögensverteilung in EU-Deutschland

Vom Nettovermögen entfielen:
Vermögensanteile
Jahr 2002
Jahr 2007
2007 insgesamt: 6.600 Mrd. Euro
das reichste Zehntel
der Bevölkerung
57,9 %

61,1 %

4.032,6 Mrd. Euro

das 9. Zehntel
19,9 %
19,0 %
1.254,0 Mrd. Euro
das 8. Zehntel
11,8 %
11,1 %
732,6 Mrd. Euro
das 7. Zehntel
7,0 %
6,0 %
396,0 Mrd. Euro
das 6. Zehntel
2,8 %
2,8 %
184,8 Mrd. Euro
das 2+3+4+5. Zehntel
1,7 %
1,6 %
105,6 Mrd. Euro
das ärmste Zehntel
-1,2 %
-1,6 %
 Schuldenstand: 105,6 Mrd. Euro

Quelle: Sozio-oekonomisches Panel 2002.2007; DIW 2009, HBS.

Der Reichtum konzentriert sich am oberen Ende der Gesellschaft.

Im Jahr 2007 summierte sich das private Nettovermögen (nach Abzug aller Schulden) auf 6.600 Milliarden Euro. Das waren rund 10 Prozent mehr als 2002. 23 Prozent des Nettovermögens (1.518 Mrd. Euro) konzentrieren sich auf das reichste Hundertstel der Bevölkerung. 70 Prozent der Erwachsenen besassen 2007 nur knapp neun Prozent des Gesamtvermögens (594 Mrd. Euro). Rund 27 Prozent aller Erwachsenen besitzen nichts oder sie haben sogar Schulden.

Die monatliche Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts beträgt 351 Euro. Die Regelleistung umfasst folgende Bedarfe:



Abteilung

Anteil in
Prozent
Euro/monatlich
(für 30 Tage)
Tagessatz

  1.
Nahrung, Getränke, Tabakwaren
37 %
129,87 € 4,33

  2.
Bekleidung, Schuhe
10 %
35,10 € 1,17

  3.
Wohnung (ohne Mietkosten), Strom
8 %
28,08 € 0,94

  4.
Möbel, Apparate, Haushaltsgeräte
7 %
24,57 € 0,82

  5.

Gesundheitspflege (z.B. Kosten für
    Medikamente, Hilfsmittel)
4 %

14,04 € 0,47



  6.
Verkehr
4 %
14,04 € 0,47

  7.
Telefon, Fax
9 %
31,59 € 1,05

  8.
Freizeit, Kultur
11 %
38,61 € 1,29

  9.
Beherbergungs- und Gaststättenleistungen
2 %
7,02 € 0,23

 10.


sonstige Waren und Dienstleistungen
    (insbesondere Kosten für
    Körperpflege und Hygiene)
8 %


28,08 € 0,94







100
351
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Quelle: "JobCenter" Tempelhof-Schöneberg in Berlin,
Widerspruchsstelle.

Anm.: Ab 1. Juli 2009 wird der Tagessatz um 27 Cent erhöht.

Reinhold Schramm, Berlin

Raute

Werner Roß: Die Finanzkrise und die Eigentumsfrage

H. Ahrenz stellt in der Jungen Welt vom 9. 2. des Jahres, S. 10, seine Auffassungen vor, wie die deutsche Linke auf die Finanz- und Wirtschaftskrise zu reagieren habe. Interessant sind seine Vorschläge im Hinblick auf die gesetzlichen Bestimmungen, deren Adressat die Verursacher und die Profiteure des - wie er schreibt - "Finanzmarktkapitalismus" sein sollten. Hier hat er vor allem die "Verschärfung der Haftung der verantwortlichen Manager, inklusive ihrer strafrechtlichen Ahndung bei Veruntreuung, verbindliche Bonus-Malus-Regelung und befristete Aussetzung der Dividenden" im Blick. Dem Grunde nach handelt es sich um einen Sanktionsmechanismus, der bei der individuellen Verantwortlichkeit zur Anwendung gelangt. Natürlich übersehe ich nicht, dass Habgier sowie falsche Risikoeinschätzung bei finanziellen Operationen von Belang sind und Manager, Vorstände und Aufsichtsräte von Finanzinstituten in Pflicht zu nehmen sind. Wenn wir jedoch dabei stehen blieben, kämen wir zu dem Schluss: Nicht das System hat Schuld, sondern das Individuum bzw. das Führungsgremium einer Kapitalgesellschaft. Das würde dazu führen, die Finanzkrise nicht in der Systembedingtheit des Kapitalismus festzumachen, sondern sie als Betriebsunfall des Neoliberalismus in seiner globalisierten Form umzudeuten. In diese Richtung geht auch der moralisierende Appell des französischen Präsidenten Sarkosy an das Finanzkapital, dieses möge sich seiner ethischen Verantwortung bewusst sein.

H. Arenz ist nicht vorzuwerfen, dass er derartige Thesen verficht. Kritisch zu vermerken sind jedoch seine Sichtweisen zur Verstaatlichung bzw. Vergesellschaftung von Banken. Dabei geht er über Andeutungen nicht hinaus und lässt die Kernfrage offen. Die Verstaatlichung des Eigentums von Banken (sicher gehören dazu auch die wichtigsten Finanzinstitutionen und Versicherungen) wird von ihm als eine pragmatische Fragestellung angesehen, deren Rechtfertigung bei der Causa des Verfalls des Kreditwesens gegeben ist.

Wenn wir die Finanzkrise in Zusammenhang mit der globalen Überakkumulation und der Verwertung der sprunghaft wachsenden Profite werten, dann war in diese nicht nur der Finanzsektor, sondern auch die Realwirtschaft involviert, wobei letztere ebenfalls ihre Profite in Finanzinvestitionen vornahm.

Die Frage, die sich ergibt, ist, wie zu reagieren sei.

Die G-20-Staaten haben zwar internationale Regularien und Aufsichtsmechanismen proklamiert, ohne allerdings zu konkreten Schlüssen zu gelangen. Dabei handelt es sich um

- die Kontrolle der Investmentbanken
- die Forderung nach höherem Eigenkapital der Banken
- Regulierung von Zweckgesellschaften.

Zweifellos bedürfen diese zwischenstaatlichen Orientierungen eines Umsetzungsmechanismus auf innerstaatlicher Ebene. Hier ist vor allem der Gesetzgeber gefordert.

National werden staatliche Hilfen gegenüber den Finanzinstitutionen in fast allen krisengeschüttelten kapitalistischen Ländern beschlossen. Solche sehen insbesondere vor:

- staatliche Anleihen
- staatliche Bürgschaften
- staatliche Beteiligungen an Kapitalgesellschaften. Somit wird der Staat Anteileigner.

Die staatlichen Rettungspakete werfen zunächst drei Fragen auf:

1. Inwieweit gehen diese zu Lasten der Lohn- und Sozialabhängigen und sind überhaupt hinnehmbar?

2. Handelt es sich hier nicht um Subventionen gegenüber dem Finanzkapital?

3. Welche Auswirkungen haben die Finanzspritzen auf die Neuverschuldung der Gesellschaft?

Das übergreifende Problem ist jedoch: Kann der Staat im Kapitalismus als Dienstleistungsunternehmen der Wirtschaft überhaupt ein Hoffnungsträger für das Allgemeinwohl sein?

Diese Frage muss klar verneint werden. Deshalb ist die staatliche Alimentierung nichts anderes als eine Unterstützungsbeihilfe für das Finanzkapital und die Realwirtschaft.

Demokratisierung der Wirtschaft

Notwendigerweise drängt sich ein anderer politischer Ansatz auf. So muss die Linke radikal-demokratische Veränderungen (Übergangsforderungen) anstreben, die perspektivisch systemsprengende Wirkung zeitigen. Ein wichtiger Schritt hierzu ist die Demokratisierung der Wirtschaft, die eine Reihe von Stufenlösungen einschließt.

Es besteht kein Zweifel, dass die Vergesellschaftung der entscheidenden Produktionsmittel und die Schaffung von Gemeineigentum das anzustrebende Ziel einer neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung ist. Das bedingt die Enteignung der Konzerne und der großen Wirtschaftsunternehmen, vor allem der Banken sowie der Versicherungsgesellschaften. Weder Art. 14, Absatz 2 Grundgesetz (GG), noch Art. 15 GG stehen der Vergesellschaftung im Wege. Die Bedenken von Arenz, dass es im Artikel 15 GG an einer punktuellen Bezugnahme auf die Banken mangelt, scheint nicht das Problem zu sein, zumal das GG seiner Zielvorstellung gemäß systemoffen ist und alternative Wirtschaftssysteme nicht ausschließt. Fraglos ist, dass die Rechtsgrundlage für die Vergesellschaftung des Eigentums und die Entschädigung politischer Mehrheitsverhältnisse bedürfen - auch unter Beachtung plebiszitärer Willensbekundungen.

Damit gerät die Machtfrage wiederum in den Mittelpunkt vorzunehmender gesellschaftlicher Veränderungen. So gesehen ist Recht eben Herrschaftsrecht.

Wenn von Stufenlösungen die Rede ist, gesamtgesellschaftliches Eigentum zu schaffen, so gilt es im Sinne eines Abwehrkampfes, die Privatisierung des öffentlichen Eigentums zu stoppen. Auch die Rückführung privatisierten öffentlichen Eigentums ist vorzunehmen.

Ein weiterer Schritt ist die Beschränkung der Eigentumsbefugnisse der Wirtschaftsunternehmen durch Restriktionen und staatliche Regulierungsmaßnahmen, wie: Auflagen, Zulassungen, Genehmigungen, Verbote. Gangbar wären ferner juristische Mechanismen, die abzielen auf Steuern, Abgaben, mögliche Wertschöpfungsnormative, Gewinnverwendung. Auch die Einschränkung der Vertragsfreiheit ist prüfenswert, insbesondere für den Export von Rüstungsgütern.

Damit wird deutlich, dass die Einschränkung von Verfügungsmacht des Kapitals einer andersartigen wirtschafts- und sozialpolitischen Logik untergeordnet werden muss, ansonsten wäre ihre soziale Zweckgebung verfehlt. Als Prüfkriterien sollten gelten: Eine Neuverteilung der Arbeit und des Reichtums von oben nach unten, Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnabzug, Reduzierung der Arbeitslosigkeit, Förderung der Bildung und der Weiterbildung sowie von Innovationspotenzialen vor allem mit ökologischem Bezug, Primat des Verbraucherschutzes gegenüber wirtschaftlichen und profitorientierten Interessen, Übergang von der Angebots- zur bedarfsorientierten Wirtschaft.

Maßstab für den gesamten Wirkungsmechanismus muss die Durchsetzung der sozialen Gerechtigkeit gegenüber den Lohn- und Sozialabhängigen sein.

Bedeutend hierfür sind die demokratische Einflussnahme und Kontrolle in den Wirtschaftsunternehmen. Das ergibt sich schon aus dem Beziehungsgefüge zwischen der Sozialstaatlichkeit (Art 20, Abs. 1 GG) und dem sog. Arbeiterschutzprinzip. Wichtig ist dabei die dem individuellen Arbeitsrecht vorgeschaltete Problematik der Mitwirkung und Kontrolle der sog. Arbeitnehmer (AN) bei der Unternehmensführung. Prüfstein ist das Mitbestimmungsrecht, das genau so wie das Betriebsverfassungsgesetz den neuen Bedingungen anzupassen ist; denn bei der Einflussnahme auf die Unternehmensführung ergeben sich eine Reihe sozialrelevanter Fragen. Das betrifft beispielsweise die Gewinnverwendung, Investitionen, Rationalisierungsmaßnahmen, Fusionen, Standortverlagerungen, Betriebsschließungen, Insolvenzen. Hervorzuheben ist, dass das Mitbestimmungsrecht nicht nur ein Aspekt des Betriebsverfassungsgesetzes bzw. des Bundespersonalgesetzes ist, sondern - wie angemerkt - über das traditionelle Arbeitsverhältnis hinausgehen muss. Damit ist auch das Rechtsinstitut der Kollektivvereinbarung (Tarifvertrag, Betriebsvereinbarungen) zu überprüfen, ob es den Anforderungen der direkten Einflussnahme auf das wirtschaftliche Geschehen des Unternehmens gerecht wird. Anders ist die Beschränkung der Verfügungsgewalt des kapitalistischen Eigentums nicht zu erreichen. Unumstößlich wird sein, das Recht über die Kapitalgesellschaften, vornehmlich über die Aktionsgesellschaften dieser Intention anzupassen. Das bezieht sich nicht zuletzt auf die Sperrminorität der Vertreter der Lohnabhängigen in sozialen Fragen.

Nicht unerwähnt bleiben darf, dass die Mitbestimmungsrechte auf der Betriebsebene stärker zu profilieren sind. Dabei sind insbesondere Abstimmungs-, Vereinbarungs-, Kontroll-, Zustimmungs- und Entscheidungsrechte von Bedeutung. Mitbestimmungsrechte machen einen höheren Stellenwert der Gewerkschaften in der Gesellschaften und somit auch in der Wirtschaft notwendig. Überlegenswert ist ihre direkte Verankerung in der Legislative und Exekutive auf der Grundlage eines Quotensystems, unabhängig von den Regeln der Stellvertreterdemokratie und dem damit verbundenen Wahlritual im Rahmen der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie. Sicher ist, dass politisch neue Wege beschritten werden müssen, wobei jeder Teilschritt politisch hart zu erkämpfen ist.

Die Eigentumsfrage

Durch eine umfassende Demokratisierung der Wirtschaft - wie überhaupt der gesamten Gesellschaft - nähern wir uns der Problematik der Vergesellschaftung des Eigentums, die nur in Wechselbeziehung mit der Vergesellschaftung der Arbeit und der Produktion zu begreifen ist.

Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass die Entfaltung des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit bestimmte zeitgeschichtliche Epochen durchlaufen hat und prägend für die Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse war.

Heute offenbart sich die industrielle maschinelle Produktion im Kapitalismus in der Automatisierung, der Industrierobotertechnik, der Mikroelektronik, der Digitalisierung aller Bereiche der Wirtschaft, der Bioenergetik, der Nanotechnologie sowie der supramolekularen Chemie. Die Vergesellschaftung der Arbeit und der Produktion ergibt sich aus der ständig zunehmenden Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft, der Vergrößerung der Anzahl der Industriezweige und Wirtschaftsbereiche sowie ihre Fusion zu einem gesamtgesellschaftlichen Prozess. Die gegenseitigen Abhängigkeiten der Produzenten, einschließlich des Dienstleistungssektors, sind total.

In diesen Prozess ist der Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Aneignung eingewoben. Dieser Grundwiderspruch verschärft sich zunehmend und kann nur durch die fundamentale Veränderung der Eigentumsfrage gelöst werden.

Hier steht nun die Frage des "Wie?" zur Debatte. Gruppeneigentum oder staatliches Eigentum, das ist die Alternative. Die jugoslawische sozialistische Variante über das Gruppeneigentum hat sich in praxi als nicht effektiv erwiesen. Das Gruppeneigentum, bei dem die Wirtschaftseinheiten als originäre Eigentümer fungieren, ist aus Gründen einer so nicht zu erreichenden planmäßigen Entwicklung und Optimierung des volkswirtschaftlichen Ganzen inakzeptabel. Auf die damit verbundenen Probleme, auch im Zusammenhang mit dem Anarchismus, hat Marx in seinem Werk "Das Elend der Philosophie" aufmerksam gemacht. Dabei setzte er sich mit den philosophischen und ökonomischen Auffassungen von Proudhon auseinander und kritisierte ihren idealistischen und kleinbürgerlichen Charakter.

Gemeineigentum als staatlich organisiertes Eigentum ist eng mit der Machtfrage verbunden. Es dient als Grundlage und Reproduktion staatlicher Machtausübung im Sozialismus. Bei dieser Form des vergesellschafteten Eigentums sind die Wirtschaftseinheiten zwar keine originären Eigentümer. Aber sie nehmen Befugnisse aus dem Eigentum im arbeitsteiligen Prozess, auch mit den zentralen staatlichen Organen wahr. Die Crux liegt darin, die Einheit von zentraler Leitung und eigenverantwortlichem Handeln der Wirtschaftseinheiten als einen Prüfstein der sozialistischen Demokratie durchzusetzen.

Wenn vom Eigentum die Rede ist, so kann man über den Aneignungsprozess nicht hinweg sehen. Dem Aneignungsprozess sind zwei Aspekte immanent:

1. das Verhältnis der Individuen bzw. ihrer Kollektive zu den Bedingungen der Produktion, den Produktionsmitteln, als ein Merkmal für die Unterscheidung der ökonomischen Gesellschaftsformationen;

2. die durch die Individuen bzw. Kollektive vollzogene Aneignung der Produkte, die Resultat der eigenen oder fremden Arbeit sein können. Bei dem Gemeineigentum drückt der Aneignungsprozess keine bloße Sachherrschaft aus sondern die Leitungsmacht des sozialistischen Staates, die eine Optimierung der gesamtgesellschaftlichen Aneignung bewirken soll.

Worum es aktuell gehen muss

Ausgehend von der Finanzkrise müssen den Volksmassen schlüssige Alternativen aufgezeigt werden, die deutlich machen, dass Reparaturmaßnahmen am kapitalistischen System politisch, ökonomisch, sozial und ökologisch perspektivlos sind. Letztendlich kann - ausgehend von der Demokratisierung der Wirtschaft - nur die Lösung der Eigentumsfrage die Lösung der Widersprüche bringen.

Die Menschen müssen auch davon überzeugt werden, dass in einer postkapitalistischen Gesellschaft qualitativ anders produziert, verteilt und konsumiert werden muss. Das ist eine schwierige, aber unerlässliche Aufgabe. Man unterliegt der Fehleinschätzung, wenn davon ausgegangen wird, es gäbe einen kausalen Zusammenhang zwischen den Krisen im Kapitalismus und einem Krisenbewusstsein der Massen.

Dieser Aussage scheint H. Arenz ebenfalls zuzustimmen, wenn er vermerkt, dass die Finanzkrise sich nicht als Gewinnthema für die Linke erwiesen habe; denn die Menschen - so seine Auffassung - wenden sich in der Mehrzahl dem Stärkeren zu. Sie hätten ein mangelndes Vertrauen in die Machbarkeit und Durchsetzung gesellschaftlicher Umbaukonzepte der Linken. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Bedenkenswert ist aber auch, dass die Menschen durch die Finanzkrise sensibler gegenüber dem Kapitalismus, seiner Wertorientierung und der herrschenden Politik geworden sind. Damit steht aber das politische Thermometer noch nicht auf "veränderlich". Nach wie vor schenkt die Mehrzahl der Lohn- und Sozialabhängigen der Oberhoheit des Marktes Glauben. Sie ist der Meinung, dass es ohne Kapitalismus keinen ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Fortschritt gäbe. Als Antrieb hierfür sieht sie die Konkurrenz und das Vorteilsstreben des Einzelnen. Diese Überzeugung lässt den kapitalistisch domestizierten Menschen erkennen, der in seinem Denken von den herrschenden, vom Kapital alimentierten Medien ständig manipuliert wird.

Aufzubrechen ist eine derartige Denkwelt nur durch die Beförderung der Emanzipation der Bürger, insbesondere durch eine überzeugende linke Politik.

Werner Roß, Zwickau

Raute

Reinhold Schramm: Der "Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI)" - zu den "Nationalen Wehrtechnischen Kernfähigkeiten"

Aus der "Gemeinsamen Erklärung" des "Bundesministeriums der Verteidigung" und des "Ausschusses Verteidigungswirtschaft im Bundesverband der Deutschen Industrie e.V." zu "Nationalen Wehrtechnischen Kernfähigkeiten" (Berlin):

"Die Festlegung Wehrtechnischer Kernfähigkeiten bildet eine solide Grundlage auf dem gemeinsamen Weg von BMVg[1] und BDI[2] zur Sicherung und Fortentwicklung der nationalen industriellen Rüstungs- und Technologiebasis. Als Schwerpunkt der künftigen Arbeiten werden BMVg und die deutsche Wehrtechnische Industrie gemeinsam und abgestimmt alle erforderlichen Maßnahmen festlegen und umsetzen, um der deutschen Rüstungsindustrie eine ihrer Leistungsfähigkeit angemessene Position im europäischen Kontext zu sichern bzw. diese weiter auszubauen." (Dr. Peter Eickenboom, Staatssekretär, Bundesministerium der Verteidigung; Friedrich Lürßen, Vorsitzender Ausschuss Verteidigungswirtschaft im BDI)

"Wehrtechnische Kernfähigkeiten". Definition: "Unverzichtbare nationale wehrtechnische Kernfähigkeiten (auch Teilfähigkeiten) sind die Fähigkeiten, auf die aus sicherheitspolitischen, industriepolitischen, technologischen oder rüstungswirtschaftlichen Gründen unter Berücksichtigung einer zukünftigen europäischen Ausrichtung auf der Basis der dazu notwendigen industriellen Wettbewerbs- und Durchsetzungsfähigkeit künftig nicht verzichtet werden kann."

"Systeme":
Raumgestützte Aufklärung
Kampfflugzeuge
Transportflugzeuge
Hubschrauber
Unbemannte Flugzeuge (UAV); Drohnen
Luftverteidigungssystem / Flugabwehr; Artillerieabwehr
Geschützte Radfahrzeuge
Kettenfahrzeuge
Infanterist der Zukunft (IDZ)
U-Boote; Autonome Unterwasserfahrzeuge (AUV)
Überwasserkampfschiffe
Seeminenabwehr
Modellbildung und Simulation
IT-SystemBw (Einsatz)

"Subsysteme ohne direkte Zuordnung zu einem System":
Elektronische Aufklärung / Elektronischer Kampf
ABC Abwehr Komponenten
Kampfmittelabwehr-Komponenten (Abwehr von Landminen, Kampfmitteln und IED - Improvised Explosive Device)

aus: Anlage zur "Gemeinsamen Erklärung" vom 20. November 2007.

"Die Sicherung unverzichtbarer Wehrtechnischer Kernfähigkeiten soll durch eine Reihe weiterer flankierender Maßnahmen gefördert werden. Hierzu zählt insbesondere im Rahmen der gültigen Exportrichtlinien die Exportunterstützung für die deutsche wehrtechnische Industrie. Das BMVg wird die deutsche wehrtechnische Industrie auch weiterhin bei Messen und Ausstellungen im In- und Ausland unterstützen, um dadurch das Vertrauen des Auftraggebers Bundeswehr in die Leistungsfähigkeit der Unternehmen auch gegenüber internationalen Kunden zu dokumentieren. Außerdem zählt hierzu, nationale und internationale Förderprogramme, z.B. der europäischen Verteidigungsagentur EDA und der Europäischen Union, zu nutzen." (Dr. Peter Eickenboom, BMVg; Friedrich Lürßen, Verteidigungswirtschaft im BDI)

Aus der "Gemeinsamen Erklärung" BMVg und BDI

Reinhold Scharmm, Berlin

Quellen
[1] Bundesministerium der Verteidigung
[2] Bundesverband der deutschen Industrie

Raute

Irene Eckert: Belgrader Frühling 2009

Nach 18stündiger Fahrt mit dem Linienbus Berlin-Belgrad und mehreren unerfreulichen Grenzkontrollen passieren wir bei der Einfahrt in die Balkanmetropole die Krankenhausruine. Vor 10 Jahren war sie eines der zivilen Bombenziele der Nato-Aggression. Vermutlich hat sich kein privater Investor gefunden, der am Wiederaufbau interessiert war, so erklärt eine Teilnehmerin des "Belgrad Forums" das Weiterbestehen eines der wenigen offenkundigen "Kriegsdenkmäler". Ich verlasse den Fernbus und steige um in den Trolly, der mich zum Kalemegdan, der Burganlage, bringt. Ein freundlicher Frühaufsteher weist mir den Weg und kauft mir eine Busfahrkarte, da der Euro hier noch nicht als Zahlungsmittel gilt. So kann ich noch vor dem Erwachen der Stadt im Festungspark spazieren gehen. Der Ausblick von den Höhen der riesigen Burganlagen ist weit und von träumerischer Schönheit. Unterhalb des Festungswalles fließen Donau und Save ineinander und auf der gegenüberliegenden Seite erhebt sich die Silhouette moderner Hochhausketten. Es weht eine laue Brise, die ersten Liebespaare schlendern vorbei, Parkgärtner sorgen für Reinlichkeit. Der Tag bricht an. So still und freundlich muss es auch am 24. März 1999 zugegangen sein, bevor am Nachmittag die Bomben über der Perle des Balkan niedergingen.

Dem unkundigen Fremden erschließt sich die serbische Tragödie nicht, die hier vor genau 10 Jahren einen ihrer ersten Höhepunkte fand. Das Elend lebt im Verborgenen. Hier laden Parkrestaurants zum Verweilen ein. Der nahe Prachtboulevard bietet dem Einkaufslustigen viele günstige Gelegenheiten, an modischen Accessoires, Cafes und Szenekneipen fehlt es nicht. Für den aus dem Westen angereisten Touristen sind die Preise günstig.

Im Hotel Royal in der Kralja Petra nehme ich mein erstes Frühstück ein. Dort treffe ich die Mitglieder des internationalen Solidaritätskomitees für die Verteidigung Milosevics. Sie sind aus verschiedenen Winkeln der Erde angereist, um heute dem gedemütigten serbischen Volk zu bekunden, dass es nicht allein ist. Sie sind gekommen als Teilnehmer der zweitägigen internationalen Konferenz, die seit gestern im SAVA-Kongresszentrum abgehalten wird, einige werden als Redner auf der großen Kundgebung am Abend im Herzen der "Weißen Stadt" sprechen und an den unheilvollen Beginn der NATO-Aggression erinnern. Andere sind dabei als OrganisatorInnen oder Geldgeber für eine internationale Solidaritätsbewegung, die viele Zeitgenossen für eine verkehrte oder doch verlorene Sache halten. Keine der serbischen Parteien wagt sich mit einer Unterstützung hervor, kein Sponsor hält die Sache für imagetauglich und doch finden sich auch auf serbischer Seite mutige Unverzagte, die wider den Stachel löcken. Sie haben den Kongressablauf organisiert mit Hunderten von prominenten Gästen aus dem In- und Ausland, alle sind zum Mittagsmahl eingeladen. Für die Übersetzung ins Englische ist gesorgt und die große eindrucksvolle Abendkundgebung wird orchestriert als eine technologische und logistische Meisterleistung. Ein orthodoxer Pope spricht seinen Segen zum Auftakt, der prominente russische General Ivanov und der ebenfalls prominente Ex-US-Justizminister Ramsey Clark treten auf.

Wie groß der Druck im Lande gegen ein organisiertes Erinnern an den zähen Widerstand des kleinen serbischen Volkes unter der Führung des Staatsmannes Milosevic und seiner Mitstreiter gewesen sein muss, wird offenkundig, als Professor Mihailo Markovic zu sprechen anfängt. Angetrunkene Jugendliche randalieren offensichtlich mit Auftrag gegen unerwünschte "Kommunisten", bengalisches Feuer wird entfacht, Stinkefinger werden erhoben.

Diese Jugendliche, so erklärt mir später ein serbischer Aktivist, sind Opfer der gefährlichsten Droge, die derzeit im Lande grassiert, der Droge Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Diese entwurzelten jungen Menschen beherrschen aber nicht die Szene. Angezogen vom durchdringenden Sound der Sirenen, der weinenden Babys und der Rockmusik, angelockt von Computersimulationsspielen auf Großleinwand, die die Zielvorgaben der NATO-Bomber wiedergeben, strömen zeitweilig Tausende auf dem Nachhauseweg in den Feierabend auf den zentralen Platz. Aufmerksam lauschen sie trotz der inzwischen eingetretenen Kälte und trotz des Regens den Redebeiträgen aus Russland, den Vereinigten Staaten oder Deutschland, die sich auf ihre Seite stellen. Sie tun es trotz der offiziellen Ächtung ihres Engagements. Die Veranstaltung setzt ein Zeichen gegen Resignation und Verzweiflung, so hören wir es am nächsten Tag von Vladimir Krisljanin, einem der serbischen Organisatoren. Er verweist auf die in seinen Augen nötige nationale Breite des schwelenden Widerstandes gegen "die Besatzer und ihre Marionetten". Deswegen so Krisljanin seien auch die Tschetniks als Redner eingeladen gewesen.

Eine große Delegation mit zwei Reisebussen ist am 25. März nach Pozarevac gereist. Dort fand der einstige Staatspräsident, von den Aggressoren vor einem illegalen Gericht zum Mörder gestempelt, eine bescheidene Grabstätte auf dem kleinen Familiengrundstück, das von den Bürgerschaftsvertretern der Gemeinde gepflegt wird. Rote Rosen schmücken das Grab. Alle Angereisten erweisen dem mutigen Mann in aller Stille die Ehre, viel tragen sich in das Kondolenzbuch ein. Nur wenige Kilometer entfernt liegt das Gefängnis, in dem der ehemalige Direktor des serbischen Fernsehens RTS seit 7 Jahren einsitzt. Ihm wird zur Last gelegt, das Rundfunkgebäude nicht evakuiert zu haben vor dem Abwurf der Bombe, die 16 Menschenleben und viele Verletzte zur Folge hatte. Damit sei er für das Ableben dieser Menschen haftbar zu machen, obgleich der Rundfunk- und Fernsehchef Dragoljub Milanovic selbst zum fraglichen Zeitpunkt im Gebäude war und auf einen Interviewtermin mit Vertretern von CNN wartete. Die kanadische Anwaltsvertreterin Tiphaine Dickson konnte mit einer Abordnung, der auch Peter Handke angehörte zum ersten Mal den Inhaftierten Medienvertreter sprechen, dessen Mut ungebrochen ist. Der Angriff auf den Sender wurde von den Anwesenden als Kriegsverbrechen gewertet. Bill Clinton soll den Angriffsbefehl allerdings öffentlich damit gerechtfertigt haben, dass der Sender eine Schlüsselfunktion für die serbische Regierungsführung innegehabt habe und "Hass und Desinformation" verbreitet hätte. Damit gab der ehemalige US Präsident Clinton gegenüber CNN zu, dass der Angriff absichtsvoll und zielgerecht erfolgt sei.

Ob Klaus Hartmann vom deutschen Freidenkerverband, ob Heather Cottin vom Internationalen Aktionszentrum in New York, ob der britische Journalist Neill Clark aus Oxford oder die irische Aktivistin June Kelly alle drängen darauf, den Fall als Angriff auf die Pressefreiheit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken. Parallelen zum in den USA einsitzenden schwarzen Journalisten Mumia Abu-Jamal werden gezogen.

Auch dieser Tag endet wie schon der vorhergehende mit orientalischer Gastfreundschaft. Die sozialistischen Bürgerschaftsvertreter der Kleinstadt, die den Mut aufbringen, Milosevic die Treue zu halten und die unseren Besuch als Ehre und Unterstützung empfinden, laden uns alle zu einem guten Abendessen mit Wein und Slivovic ein. Die Raumpflegerin aus Dresden, der Hartz IV Empfänger aus Leipzig, der Philosophieprofessor aus Belgrad und der Schriftsteller aus Wien, sowie der Hollywoodschauspieler und Theatermacher aus New York und Paris und die ehemalige Stewardess aus Schmitten, alle tafeln gemeinsam, verbunden als Kriegsgegner und Antifaschisten. Sie alle eint das Wissen, dass wir gegen den alles verschlingenden Imperialismus nur eine Chance haben durch Aufklärung und Gegeninformation. Die Gespräche darüber gehen weiter im Bus und zu "Hause" im Hotel bis tief in die Nacht.

Meine "Kutsche" verlässt Belgrad am Morgen des 26. März. Bei der Fahrt über die Donaubrücke sehe ich rechts und links des Ufers die Elendsquartiere, die an die Müllhalden in Manila erinnern. Hier hausen die Flüchtlinge, Sinti und Roma und andere, die der Krieg gegen das Land, das sich dem Diktat von IWF und Weltbank zu widersetzen suchte, erst geschaffen hat.

Die Zeit in Belgrad war viel zu kurz, aber ich fahre außerordentlich bereichert zurück.

Die schikanösen Kontrollen an der ungarischen Grenze, die das Tor zum Schengener EU-Raum "eröffnen", wollte ich auch nicht missen. Obwohl, vielleicht hätten wir auf den Busfahrer hören und die geforderten 5.- Euro Schutzgebühr entrichten sollen. Alles wäre wahrscheinlich reibungsloser verlaufen und vor allem, ich hätte meine Kamera noch.

Irene Eckert, Berlin

Raute

STANDORTBESTIMMUNGEN

Redaktion offen-siv: Standortbestimmungen

Wir hatten in der Ausgabe März-April 2009 geschrieben:

"Zur notwendigen Diskussion über den Zustand und die Perspektiven der kommunistischen Bewegung im imperialistischen Deutschland

Selbst für die herrschende Klasse, ihre Ideologen und Schreiberlinge sind die derzeitigen kapitalistischen Krisenerscheinungen die größte Herausforderung seit Jahrzehnten; ein ernst zu nehmender Gegner, der dieses imperialistische System mehr als nur in Frage stellt, ist nicht in Sicht: die sozialistischen Länder in Europa sind konterrevolutionär zerschlagen, die organisierte Arbeiterbewegung schwächelt sozialdemokratisiert vor sich hin, die kommunistische Bewegung in Europa ist in jeder Hinsicht, bis auf ganz wenigen Ausnahmen, ein Schatten ihrer selbst.

Mit ganz besonderer Zuspitzung triff dies auch für die Situation in der imperialistischen BRD zu.

Die imperialistische Barbarei wird jeden Tag offensichtlicher und zugleich bedrohlicher, aggressiver, gefährlicher, umfassender. Wir fragen deshalb gerade in diesen Tagen: Wo bleiben die Kommunisten? Was wurde aus ihrem Schrei nach einer revolutionären Alternative zur imperialistischen Barbarei und ihre Orientierung auf eine revolutionäre Umwälzung?

Wir sind der Auffassung, dass sich die Antworten auf diese Fragen in einer neuen Etappe bewegen werden und sind deshalb auf eine sich hoffentlich spannende und herausfordernde Diskussion gespannt. Was ist mit dieser "neuen Etappe" gemeint?

Unmittelbar nach dem Sieg der Konterrevolution (wobei insbesondere die konterrevolutionäre Zerschlagung der DDR für die deutsche Arbeiterbewegung im Allgemeinen und die Kommunisten im Besonderen verheerende Auswirkungen hatte, war mit der DDR doch die bisher größte Errungenschaft der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung durch den Imperialismus, besonders den deutschen Imperialismus, vernichtet worden!) war die Situation der kommunistischen Bewegung in der BRD im wesentlichen durch drei Hauptelemente gekennzeichnet:

- organisatorisch war sie bis an den Rand ihrer Existenz geschwächt und in verschiedene Einzelteile zersplittert;

- politisch waren alle möglichen Strömungen revisionistischen und rechtsopportunistischen Gedankenguts dominant;

- auch und gerade deshalb erschien auch für sehr viele, die sich noch als Kommunisten verstanden, die damalige PDS als Hoffnungsträgerin für eine sozialistische Perspektive; dies umso mehr, als in ihre eine recht starke so genannte "Kommunistische Plattform" wirkte.

Diese nur kurz angerissenen Koordinaten haben sich inzwischen verändert bzw. verschoben. Die PDS hat sich nicht nur einen neuen Namen gegeben ("Die Linke"), es wurde auch immer deutlicher, dass diese Partei bereits in ihrer Anlage die Formierung einer neuen sozialdemokratischen Formation zum Ziel hatte. Dieser Prozess ist in seinem Kernbereich bereits abgeschlossen, wird lediglich noch - entsprechend bürgerlichen Notwendigkeiten und innerparteilichen Möglichkeiten in all ihren Widersprüchlichkeiten - feinjustiert. Das hat zu einem großen Stück Klarheit hinsichtlich der objektiven Rolle dieser Partei innerhalb des bürgerlichen Parteiensystems der BRD geführt. Dies wurde jedoch auch dadurch möglich, dass jene Gruppierung in der PDS/"Die Linke", die vorgab, am revolutionären Erbe und seiner Perspektive festzuhalten und so die Gesamtpartei in wesentlichen antikapitalistischen Grundfragen "auf Kurs zu halten", die so genannte "Kommunistische Plattform (KPF)", systematisch als das entzaubert wurde, was sie objektiv von Beginn an war - ein linkes Feigenblatt einer Partei auf dem Weg in die Sozialdemokratie; mit dieser Entzauberung einher ging der organisationspolitische Zerfall der KPF, die heute lediglich nur noch als ein blasser, müder, gerade noch geduldeter, relativ einflussloser und heiserer Schatten ihrer selbst vor sich hin dümpelt.

Inzwischen gibt es auch eine Reihe von Erfahrungen mit Versuchen, die zersplitterten kommunistischen und sozialistischen Formationen zusammenzuführen. Aus diesen gescheiterten Erfahrungen lassen sich aus unserer Sich vor allem zwei bleibende herauskristallisieren: sie mussten scheitern, weil sie zu Gunsten einer - kaum definierten - Sehnsucht nach Einheit die notwendige Klarheit an inhaltlichen Positionierungen als gemeinsame Basis vernachlässigten und sie schlossen deshalb auch von Beginn an Kräfte ein, die einen objektiv reaktionären Charakter haben (Trotzkisten und/oder Parteien wie MLPD, KPD/ML etc.). Sie mussten außerdem scheitern, weil sie auf Diskussionen auf Führungsebenen dieser Formationen beschränkt blieben, bestenfalls wohlklingende Kongresse oder Zusammenkünfte organisierten und jede Orientierung auf die Entwicklung gemeinsamer Aktionen, gemeinsamer ideologischer wie politischer Tätigkeit, gemeinsamer Bildungs- und Jugendarbeit, gemeinsamer Schwerpunktsetzung auf die Arbeiterklasse unterblieb bzw. angesichts der ideologisch-politischen Unklarheiten unterbleiben musste. Jetzt gib es aber in dieser Hinsicht eine Herausforderung für die notwendige Einheit, eine Herausforderung auf der Basis ideologisch-politischer Klarheit: die "Kommunistische Initiative".

So sehr wir dieses die Lage verbessernden Veränderungen registrieren, so deutlich finden sie immer noch in einer Situation statt, in der revisionistisches und reformistisches Gedankengut in unterschiedlichsten Spielarten innerhalb der immer noch zersplitterten sozialistischen und kommunistischen Bewegung dominant ist, alle noch existierenden Organisationen deshalb an Einfluss und organisatorischer Kraft verlieren (dieses Element hat sich bisher nicht verändert).

Hier muss aus unserer Sicht in dieser Etappe die Diskussion ansetzen, um - ähnlich wie bei der so genannten KPF - zu einer schrittweisen Entzauberung jener Kräfte zu kommen, die objektiv jeder politisch-ideologischen Klarheit im Wege stehen und damit ein Hindernis für das Wiedererstarken der kommunistischen Bewegung in Deutschland sind.

Damit schälen sich aus unserer Sich in der und für die Diskussion folgende Fragenkomplexe heraus:

1) Welche Rolle spielt die neue Sozialdemokratie in Form der Partei "Die Linke" im bürgerlichen Parteiensystem der BRD und was bedeutet dies für den Umgang von Kommunistinnen und Kommunisten mit ihr (Stichwort: Bündnispolitik)?

2) Unter den kommunistischen Parteien und Formationen ist derzeit die DKP organisatorisch immer noch die stärkste. Welche Rolle spielt sie objektiv? Bedeutet deshalb die eigene Standortbestimmung zur DKP nicht konsequenterweise auch eine Positionsbestimmung hinsichtlich aller Fragen zur ideologisch-politischen Klarheit, der Einheit und dem Wiedererstarken der kommunistischen Bewegung im imperialistischen Deutschland?

3) In fast allen kommunistischen Formationen in der BRD gibt es unterschiedliche Strömungen, Auffassungen und/oder Tendenzen. Was sagen diese über den Grundcharakter einer Formation aus? Woran UND worin bestimmt sich der Grundcharakter einer kommunistischen Organisation, Partei oder Formation?

4) Wer ist wer im Gefüge kommunistischer Formationen, Parteien und Organisationen jenseits der stärksten, der DKP (z.B. KPD, KPD/B), und wie positionieren sie sich hinsichtlich der brennenden Fragen nach Klarheit und Einheit?

5) Welche Rolle können in unserer derzeitigen Situation politische Organe mit marxistischem oder gar marxistisch-leninistischem Anspruch (z.B. "Rotfuchs", KAZ, T&P, "offen-siv") spielen? Welche Aufgabe/Rolle müssten sie eigentlich einnehmen oder haben sie derzeit objektiv?

6) Was bedeutet unter den heutigen Bedingungen die Leninsche Aussage Klarheit vor Einheit?

Über diese aus unserer Sicht für die kommunistische Bewegung notwendigen Grundparameter wollen wir eine prinzipielle Diskussion anstoßen. Eure Meinungen und Positionen, Gegenreden etc. sind deshalb gefragt! Zudem werden wir aus unserer Sicht interessante Positionspapiere veröffentlichen; wir werden innerhalb dieses notwendigen Diskussionsprozesses auch drucken, was andernorts unbequem ist, nicht an die Öffentlichkeit soll, sofern es unserer Diskussion nützlich ist. Ihr seid gefordert! Es nutzt uns allen..."

Wir setzen die Debatte fort mit Beiträgen von Ingo Wagner, Mathias Meyers, Gerhard Feldbauer, Thomas Waldeck und dem auszugsweisen Nachdruck eines von Leo Mayer gehaltenen Referates beim Parteivorstand der DKP sowie Dokumenten aus Ungarn und Griechenland.

Redaktion offen-siv, Hannover

Raute

Ingo Wagner: Die Partei DIE LINKE - eine sozialdemokratische Formation von eigener Art? Ja!

In Offensiv 2/08 wird zu einer Diskussion über den Zustand und die Perspektiven der kommunistischen Bewegung im imperialistischen Deutschland aufgerufen, die zu diesbezüglichen "Standortbestimmungen" führen soll. In dieser Sicht heißt es folgerichtig, "daß sich die Antworten auf diese Fragen in einer neuen Etappe bewegen werden..." Ich gehe mit der Auffassung konform, daß sich unmittelbar nach dem Sieg der Konterrevolution (mit seinem geschilderten verheerenden Folgen für die revolutionäre deutsche Arbeiterbewegung und die kommunistische Weltbewegung) für viele, die sich noch als Marxisten verstanden, möglich schien, "die damalige PDS als Hoffnungsträgerin für eine sozialistische Perspektive" zu akzeptieren; "dies um so mehr, als in ihr eine recht starke 'Kommunistische Plattform' wirkte." Ich selbst gehörte bis zum Dresdner Parteitag (2001) der PDS an. Danach war der Rubikon überschritten. Und ich habe mich später mit einer Schrift "Eine Partei gibt sich auf" (edition ost 2004) in Form von theoretisch-politischen Glossen zum Niedergang der Partei des Demokratischen Sozialismus von dieser Partei verabschiedet. Diese Generalabrechnung weist aus, daß die PDS von Anfang an von innerparteilichen Auseinandersetzungen geschüttelt wurde, vom Widerspruch zwischen Opposition und Regierungsbeteiligung; sie war bereits mit ihrer Gründung unentschlossen in ihrem Verhältnis zur Vergangenheit und ihren künftigen politischen Wegen. In kritischer Auseinandersetzung mit dieser Partei, ihren Flügelkämpfen, Programmdiskussionen, ihrem theoretischem Selbstverständnis, mit ihren Anliegen, Chancen und ihrer Zukunft habe ich diesen Report geschrieben und der Öffentlichkeit vorgestellt. Im Prinzip haben sich meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt - abgesehen von historisch-konkreten Modifikationen. Ich kann also ohne jede Einschränkung die Einschätzung in den "Standortbestimmungen" bestätigen, daß sich die damaligen Koordinaten inzwischen verändert bzw. verschoben haben. Richtig ist: "Die PDS hat sich nicht nur einen neuen Namen gegeben ("Die Linke"), es wurde auch immer deutlicher, daß diese Partei bereits in ihrer Anlage die Formierung einer neuen sozialdemokratischen Formation zum Ziel hatte. Dieser Prozeß ist in seinem Kernbereich bereits abgeschlossen, er wird lediglich noch - entsprechend bürgerlichen Notwendigkeiten und innerparteilichen Möglichkeiten - feinjustiert." Und dies setzt bis in die jüngste Zeit, die Zeit der Krise des kapitalistischen Systems fort. Diese Krise könnte zwar etwas Wasser auf die Mühlen dieser Partei leiten. Aber es wird bereits jetzt im Konnex des "Rettungspakets" der Bundesregierung in Kanäle geleitet, die die Deformation der neoliberalen Kapitalepoche wohl mehr als eine Rückkehr zu einer Art organisierten Staatskapitalismus signalisiert. Deshalb verwundert es auch nicht, das wirklich antikapitalistische Töne dieser Partei bislang unterblieben. Auf der Basis eines unmarxistischen programmatischen Steinbruchs schwankt diese Partei auch in ihren Vorstellungen zum Bundestagswahlprogramm mit ihrem unerschütterlichen Vertrauen in den Kapitalismus zwischen Bruchstücken von John Maynard Keynes und eines "Konsequenten Realismus" - in der Gewißheit, daß dieser früher oder später wie der Phönix aus der Asche sein Haupt erheben und zu einem neuen Aufschwung starten wird. All dies zeugt davon, daß diese Partei als eine linke sozialdemokratische Partei fungiert, deren politisches Anliegen darin besteht, die Existenz und das Funktionieren des Kapitalismus zu sichern, und zwar durch die Beschneidung seiner extremen parasitären Auswüchse und zugleich durch die Lähmung der revolutionären, wirklich sozialistischen Kräfte.

Dies hier weiter zu erläutern, ist nicht meine Absicht. Unter historischem Aspekt kann man dies alles konkret in meiner genannten Schrift nachlesen. Einen Aspekt möchte ich hier jedoch knapp abheben, der auch völlig zutreffend in den "Standortbestimmungen" abgehoben wird: daß diese Partei bereits mit ihrer Geburt faktisch dieses Ziel und damit ein historisch weitergehendes Anliegen in den Augen hatte, wovon auch die Etappen dieses Prozesses zeugen, der nunmehr in seine Endphase eingetreten ist.

Erstens. In historischer Sicht begann dieser Richtungswandel, der mit dem Chemnitzer Parteiprogramm (2003) seinen programmatischen Abschluß fand, bereits mit dem Gysischen Parteiputsch von 1989. Er wurde von der Parteiführung seitdem bewußt - mit voller Absicht - kontinuierlich betrieben; es gab natürlich durch marxistische Gegenwehr Rückschläge, Unterbrechungen und Tempoverlust. Aber letztlich ging die Rechnung der für diesen "Richtungswechsel" Verantwortlichen auf - auch deshalb, weil es die neue Parteielite immer besser verstand, dem Zeitgeist zu huldigen, in großem Maßstab Manipulationspraktiken einsetzte, die marxistische Linke in der PDS zu paralysieren, das "Ankommen" in der kapitalistischen Gesellschaft voranzubringen, eine Parteiauslese vorrangig am Erlangen von Mandaten und (Regierungs-)Ämtern zu interessieren und dergleichen mehr.

Zweitens. Allerdings zwang die damalige geschichtliche Konstellation die PDS auf ihrem Weg zu einer sozialdemokratischen Formation und in das politische System der BRD zu einem historischen Umweg. Einerseits war im Unterschied zu den ehemaligen sozialistischen Ländern dem leitenden Personal der sich formierenden PDS, das sich aus der SED-Elite rekrutierte, der sofortige Übergang in staatlich-leitende Positionen der BRD verwehrt. Andererseits wurde der PDS das Leben nicht besonders schwer gemacht. "Im Gegenteil; wichtige Machtfaktoren der alten BRD haben ihr ganz schön geholfen. Dies ist der Grund dafür, daß sie sich längere Zeit als sichtbare Größe halten konnte, ohne sich - im Unterschied z. B. der ehemaligen PVP in Polen - zur offiziellen Sozialdemokratie zu transformieren. An letzterem wurde sie dadurch gehindert, daß die SPD es 1989/1990 vorzog, in die ehemalige DDR einzumarschieren, ohne sich darum zu bemühen, erhebliche Teile der SED, dann PDS, ebenso freundlich zu übernehmen wie Kohl die Post-DDR-CDU." (G. Fülberth)

Drittens. Deshalb war zunächst ein historischer Kompromiß erforderlich, der 1993 in das Programm der PDS einmündete. Hans Modrow meinte hierzu: Die PDS habe "ihren programmatischen Platz 1993 als eine linke, sozialistische Partei mit pluralistischem Charakter, in der sich revolutionäre und parlamentarische Traditionen der deutschen Sozialdemokratie und kommunistisch-revolutionäre Traditionen verbinden, in der bundesdeutschen Gesellschaft bestimmt." (Disput/Pressedienst 11/03, S. 4) Der Ehrenvorsitzende sagte dies bei der Annahme des Chemnitzer Programms der PDS, mit dem sich die PDS vom Marxismus und damit vom authentischen Sozialismus verabschiedete! Dieser "Abschied" wurde im Saal mit stürmischem Applaus quittiert. Zutreffend ist, daß das PDS-Programm aus dem Jahre 1993 ein Programm mit einer marxistischen Grundkomponente war. Es basierte (in Worten) auf dem Grundkonsens aus dem Jahre 1989. Hierzu gehörte auch, daß die Partei "eine marxistische sozialistische Partei" ist, deren Grundlage der Marxismus sei. (Statut der SED/PDS) Des Erinnerns wert ist auch die Feststellung im "Diskussionsstandpunkt des Arbeitsausschusses: Unsere Partei stützt sich in ihrer Politik auf die modernen Gesellschaftswissenschaften. Marx und Lenin sind uns dabei historisches Vorbild. Sie wendet sich gegen jede Einengung der theoretischen Quellen."

Viertens. Tatsache jedoch ist, daß Bisky, Gysi und Klein, die dem Ausschuß zur Vorbereitung des Außerordentlichen Parteitages der SED angehörten, schon in dieser Zeit Positionen eines "demokratischen bzw. modernen Sozialismus" formuliert hatten. Es ist dokumentarisch umfangreich belegt, daß sich bereits in dieser Zeit des Verrates der DDR die Genannten und andere vom Marxismus verabschiedeten und im Rahmen eines europäischen Integrationsprozesses hofften, die SED/PDS schrittweise auf dem Wege einer Sozialdemokratisierung zu führen, der dann später in Richtung auf dem Weg zum Dresdner Parteitag als ein solcher Erneuerungsprozeß ausgelegt und propagiert wurde, der den Übergang in das Parteiensystems der BRD und einem neuen Europas angemessen sei. Dieser Weg der Grundlegung und Entwicklung des Modernen Sozialismus "ist bestenfalls eine der möglichen Suchrichtungen. Er könnte ein neues wissenschaftliches Paradigma oder auf ganz andere Weise ein neues politisches Programm werden." Dies schrieb Michael Brie l995. In dieser Sicht mündete die weitere Entwicklung in die Kreation eines Modernen Sozialismus, der als ein soziales Produkt des modernen Kapitalismus selbst "Sozialismus" durch Kapitalverwertung auf dem Boden und im Rahmen des Kapitalismus sein sollte. In Wirklichkeit handelte es sich um einen kapitalistischen "Sozialismus" - Bourgeoisiesozialismus, welcher der PDS das programmatische Gepräge geben sollte. Er wurde von einer kleinen intellektuellen Minderheit bereits mit der Gründung der PDS ins Spiel gebracht und zunächst in kleinen Dosen gegen das Programm aus den Jahre 1993 eingeführt. Die Modernen Sozialisten begannen erfolgreich um die programmatische Hegemonie zu kämpfen. Sie verstanden es dabei, ernsthaften Debatten auszuweichen und ins Leere laufen zu lassen. Dieses schändliche Spiel mündete später in den "Sozialismus als Tagesaufgabe". Die Mitglieder dieser Partei wurden einer Gehirnwäsche unterzogen. Und das Ergebnis zeigte sich darin, daß es auf dem Dresdner Parteitag den Modernen Sozialisten gelang, eine programmatische Richtungsentscheidung einzuleiten. Der vorgelegte Programmentwurf war eine Mixtur von Ansätzen der bürgerlichen Moderne plus primitiver Verfälschung Marxschen Gedankengutes. Und damit war der Weg frei für die spätere Annahme des Chemnitzer Programms der PDS, für den entgültigen Abschied vom Marxismus und vom authentischen Sozialismus.

Fünftens. Das neue Parteiprogramm entwickelte die marxistische Grundkomponente des programmatischen Platzes der PDS aus dem Jahre 1993 nicht weiter, sondern verwarf sie. Damit hatte sich das Wesen der PDS als Sozialdemokratie sui generis theoretisch-programmatisch bereits deutlich herausgebildet; denn dieses Pogramm orientierte nicht auf den Klassenkampf, sondern auf den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft mittels sozialreformerischer Anpassung an den Kapitalismus - also auf einen "sozialistischen" Kapitalismus. Die politische Linie dieser Partei konnte also nur darin bestehen, die Umsetzung des neuen Parteiprogramms in dieser Intention voranzubringen. Anders formuliert: Dieses Programm bezweckte tatsächlich politisch-ideologisch das "normale" Funktionieren des Kapitalismus; und zwar durch die Lähmung der noch revolutionären und wirklich antikapitalistischen Kräfte. Und darin bestand auch der "Gebrauchswert" der PDS für die Bourgeoisie: die "Herausbildung eines oppositionellen oder gar revolutionären Subjekts zu verhindern und das objektiv existierende Protestpotential in den Kapitalismus zu überführen." (H. Schneider) Ja. Die PDS-Führung hat mit diesem Kurs insgesamt etwas vollbracht, was niemand in der alten Bundesrepublik hätte bewerkstelligen können. Sie hat einerseits das noch vorhandene antikapitalistische, sozialistische Bewußtsein vieler ehemaligen Bürger der DDR deformiert, "anpassungsfähig" gemacht - und andererseits wirklich Linke ins Abseits gestellt. Insofern hatte die PDS ihre "historische Mission" erfüllt. Heute wird dieser Kurs durch DIE LINKE als antirevolutionäre Potenz modifiziert in anderen politischen Formen fortgesetzt. Das steht auf einem anderen Blatt. Nur dies sei noch gesagt: Je mehr heute die sozialen Gegensätze durch das Krisengeschehen aufbrechen und sich zuspitzen, um so mehr gewinnt diese Linke an "Gebrauchswert" für das kapitalistische System, um zu verhindern, daß sich ein wirklich oppositionelles oder gar revolutionäres Subjekt herausbildet. Insofern zeigt sich eine solche Linke als eine konterrevolutionäre Kraft in Permanenz. In dieser Sicht könnte dieser Partei eine länger historische Dauer beschieden sein, die früher oder später in eine "Wiedervereinigung" mit der originären SPD einmünden könnte, wenn sich deren Erosionsprozeß fortsetzt und in ihr sich eine gewisse "linke" Radikalisierung bemerkbar macht. Hierfür sind bereits die Weichen gestellt Dies läßt sich insgesamt dokumentarisch politisch-ideologisch nachweisen. Für die jetzige Linkspartei würde dann sicherlich endgültig das Sterbeglöckchen läuten. Der weitere Geschichtsverlauf hält sicherlich Überraschungen bereit.

Sechstens. Die bisherigen Feststellungen haben das gegenwärtige Profil und den Platz der Partei DIE LINKE in historisch-retrospektiver Sicht offengelegt. Mir scheint, daß diese Evolution nunmehr in ihre abschließende Phase eingetreten ist, die ein solch evidentes Bild zeichnet, welches zugleich die Inhärenz einer Voraussage über die Hauptrichtung der gegenwärtigen Entwicklung dieser Partei vermittelt. Auf der politisch-ideologischen Agenda dieser Partei im Großen Wahljahr 2009 steht nunmehr die endgültige Entsorgung der DDR, die zu einer Fußnote der Geschichte abgewertet werden soll. Diese Degradation läßt sich an vielen Fakten verdeutlichen. Verweise möchte ich hier nur auf eine Beratung, die Sachsens "Linke" kürzlich in Dresden (28. März 2009) in Form von 20 Thesen Aber das Ende der DDR und den Herbst 1989 abhielt. Sie legte die Hintergründe dieses programmatischen Diskurses in der sächsischen Linkspartei in einer erbitterten kontrovers geführten Polemik offen.[3] Dieses Papier ist eine Schande. Es übernimmt die Sprache und die Begriffe aus dem Vokabular des Klassengegners, es koppelt sich von der historischen Dialektik der Geschichtsbetrachtung ab und ersetzt die Existenz der DDR als die größte Errungenschaft der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung durch deren Kriminalisierung. Es kann deshalb keinerlei Ansatzpunkte bieten, die DDR ernsthaft als Erfahrungsobjekt zukünftiger sozialistischer Gesellschaftsgestaltung zu untersuchen und zu bewerten - geschweige denn, Anregungen und Erkenntnisse für den Weg des Ausbruchs aus dem kapitalistischen System zu vermitteln.

Nachschlag. Die Hintergründe dieses "programmatischen Diskurses" hat m. E. die junge Welt "aufgedeckt". Wolfgang Gerhard, ehemaliger Bundesvorsitzender der FDB und jetziger Vorstandchef der parteinahen Friedrich-Naumann-Stiftung, beklagt in einem Gespräch mit der jungen Welt (2. April 2009): "Wir müssen diesen Trend umkehren", daß fast jeder zweite Ostbürger dem Sozialismus noch eine Chance geben würde. Tatsachen sind: In den neuen Bundesländern sprachen sich (2007) 57 Prozent dafür aus, daß der Sozialismus eine gute Idee sei, sie nur schlecht umgesetzt wurde; in den alten Bundesländern meinen dies gegenwärtig 45 Prozent. Das Idealbild des Sozialismus hat also das Ende des frühen Sozialismus in Europa bemerkenswert unbeschadet überstanden. Tatsache ist natürlich auch, daß selbst in der gegenwärtigen Krise, die faktisch das neoliberale Modell ins Schwanken bringt, die herrschenden Eliten noch einigermaßen fest im Sattel sitzen und trotz schlechter Erfahrungen die Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland der Bundesrepublik weiterhin die Stange halten, also sich in ihr recht und schlecht eingerichtet haben. Aber schon der "Zauberklang des Sozialismus" (FAZ) treibt den Herrschenden den Angstschweiß auf die Stirn - wäre dieser "Klang" doch für eine wirklich linke Partei ein guter Nährboden über einen künftigen zeitgemäßen Sozialismus nachzudenken und einen historisch sicherlich langfristigen Wege des Ausbruchs aus dem kapitalistischen System zu skizzieren. Und dies soll durch den Lügenberg, den gegenwärtig verstärkt das herrschende Gesellschaftssystem über die DDR verbreitet, kaschiert werden. Das Weitere kann man nun in der jungen Welt vom 1. April im Feuilleton des bereits zitierten Beitrags von Jim Knopf zur Dresdner Beratung lesen. Die Korrelation zwischen beiden Veröffentlichung ist offensichtlich. Abheben möchte ich hier nur noch einmal das Auftreten von Dieter Klein auf dieser Beratung, der als "Ausputzer des Podiums" im Auftrag des Parteivorstandes das Schlußwort hielt, worüber auch die junge Welt berichtete. Hier wäre ein persönliches Nachwort erforderlich, da ich in jahrelangen Polemiken mit Klein, der zum engeren Kreis der programmatischen Vordenker der PDS gehörte, das meiste seines "Schrifttums" gründlich gelesen habe. Eine knappe Kostprobe.

Am 10. Februar 1997 wurde Klein von der Humboldt-Universität zu Berlin in Ehren verabschiedet. Er war einer der wenigen DDR-Gesellschaftswissenschaftler, die sich während der Konterrevolution als Hochschullehrer zu behaupten vermochten. In Kleins Abschiedsvorlesung befinden sich (u.a.) folgende Sätze: Es galt zu lernen "daß hyperkomplexe Zusammenhänge nur im Zusammenwirken unterschiedlicher Theorieansätze adäquat zu bearbeiten sind." Solche sind vor allem zu suchen bzw. tangieren Ansätze bei Anthony Giddens, Adam Smith, John Maynard Keynes, Rolf Dahrendorf, Josef Schumpeter, Wolfgang Zapf, Jürgen Habermas, Fritz Scharpf, Peter Kratzenstein, Helmuth Wiesenthal, Max Weber, Claus Offens, Talcott Parson. Auch Marxens Lehre kommt nebenbei zum Zuge, da in ihr "trotz ihrer unbezweifelbar reduktionistisch-ökonomistischen Züge keineswegs nur von unausweichlicher Unterwerfung unter objektiven Zwängen die Rede" ist. In dieser Sicht erkundet Klein seit Jahr und Tag unentwegt "mögliche und wünschenswerte Entwicklungskorridore zu einer freien, sozial gerechten und nachhaltigen Entwicklung... Denn: 'Wo keine Vision ist, wird das Volk wüst und leer' (Salomo; Sprüche 29.18)". Von hier aus führte der visionäre Weg Kleins über die Moderne zum Modernen Sozialismus und da dieser im Kapitalismus selbst beginnen sollte logischerweise zum "Sozialismus als Tagesaufgabe"; hierzu hat sich ein ganzes Literaturkompendium entwickelt, das schon mit seiner Geburt in die Versenkung des historischen Orkus gehörte. Gegenwärtig arbeitet Klein - so auch sein Beitrag in Dresden - am "Konsequenten Realismus" der Linken in der Krise des Kapitalismus. Er sucht in dieser Sicht nach "Neuen" Auswegen aus dem Kapitalismus.

Abschließend. Frank Flegel meint mit Recht, daß die "sogenannte" Kommunistische Plattform "systematisch als das entzaubert wurde, was objektiv sie von Anbeginn an war - ein linkes Feigenblatt einer Partei auf dem Weg in die Sozialdemokratie...". Ich habe in meinem genannten Buch "Eine Partei gibt sich auf" im Januar 2004 der Frage "'Was tun?' Marxisten in der PDS" ein ganzes Kapitel gewidmet. In gebotener Kürze: Die marxistische Linke in der PDS insgesamt hat eine historische Niederlage erlitten; sie hat die Annahme des Chemnitzer Programm nicht verhindern können. Sie konnte zwar den Deformationsprozeß der PDS verlangsamen, hat aber selbst entscheidende Fehler begangen und insofern objektiv mitgeholfen, dem Modernen Sozialismus Tür und Tor zu öffnen. Vor allem die KPF hat den Prozeß der Deformation und Degradation der PDS taktisch-politisch mit illusionären Hoffnungen verbunden und so den Vormarsch des Modernen Sozialismus total unterschätzt. Noch heute verficht sie die Illusion, "die Verankerung der gesellschaftlichen Alternative zum kapitalistischen Gesellschaftssystem in einem zukünftigen Programm der Linkspartei zu gewährleisten."[4] Die KPF wurde den Reformsozialisten untergeordnet; sie wurde absorbiert, paralysiert. Die marxistische Linke in dieser Partei insgesamt wurde nach und nach in die Rolle gedrängt, als Feigenblatt der sozialreformistischen Parteiführung zu fungieren. Sie hat weder ausreichend an einer zeitgemäßen theoretischen Sozialismuskonzeption gearbeitet noch genügend den historisch langfristigen Weg des Ausbruchs aus dem kapitalistischen System erkundet. Diese dringlichen Anliegen wurden von den marxistischen Linken bedauerlicherweise bis heute auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben und damit faktisch abgeschrieben.[5] Auch wurde versäumt, einen grundlegenden politisch-organisatorisch und strategisch-theoretischen (programmatischen) Ansatz als "Notnagel" für einen Ausbruch aus der (geschilderten) Quadratur des Kreises zu formieren. Die gegenwärtigen Nachhutgefechte der marxistischen Linke, die sie in der Partei DIE LINKE so oder so früher oder später zu einem "Ende" bringen muß, stehen unter keinem guten Stern. Es wird also Zeit, mit der linken Tarnung dieser Partei durch die marxistische Linke Schluß zu machen; notwendig ist es, langfristig die Gestaltungsformung einer massenwirksamen marxistischen Partei ins Visier zu nehmen. Allerdings darf in diesem Zusammenhang auch nicht verschwiegen werden, daß die diffuse Situation in der kommunistischen Formation in Deutschland dazu beigetragen hat, daß sich so eine prekäre Dichotomie überhaupt herausbilden konnte. In der marxistischen Linke in der Partei DIE LINKE gibt es viele Genossen, die ich persönlich schätze und die sich ernsthaft bemühen, dem Feigenblatt "Pluralismus" in der PDL Paroli zu bieten, die sich vom jetzigen programmatischen Torso dieser Partei eindeutig distanzieren und die sich bemühen, die marxistische Theoriearbeit gezielt in den Dienst der Rekonstruktion der deutschen marxistischen Linken stellen. Auch deshalb wäre es ein ernsthafter linksradikaler Fehler, diese Mitstreiter als Nichtmarxisten, Antikommunisten und Konterrevolutionäre usw. zu beschimpfen. Klartext ist natürlich angesagt, aber auch Geduld, Sachlichkeit und gelegentlich auch einmal die Alternative, seine eigene Meinung zu bezweifeln und sich den Kriterien einer wissenschaftlichen Debatte zu stellen. Eine solche Zusammenarbeit sollte sich auf dem Boden und im Rahmen der Gestaltung eines marxistischen Aktionsprogramms (Aktionseinheit) mit "Linken im weiten Sinne des Wortes" vollziehen, was auch Anknüpfungspunkte für gemeinsames antikapitalistisches Handeln involviert. Doch dieser Fragenkomplex steht auf einem anderen Blatt, das hier nicht beschrieben werden kann.

Ingo Wagner, Leipzig

Anmerkungen:

[3] Siehe: Jim Knopf "Ein paar Sichelschnitte", Rolle rückwärts, aber wohin? In Dresden beriet die Linkspartei 20 Thesen zum "Herbst 89", junge Welt, Mittwoch, 1. April 2009.
[4] junge Welt, Freitag 24. April 2009, S. 7. KPF beriet Schwerpunkte.
[5] Es gibt natürlich Ausnahmen, die leider zu wenig Resonanz fanden. Sie können aber nur in anderen Zusammenhängen vorgestellt werden.

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Mathias Meyers: Vom Lob des Falschen

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Heinz W. Hammer: Leserbrief in "Theorie und Praxis"

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Leserbrief erschienen in "Theorie und Praxis" Heft Nr. 17,
herausgegeben vom Arbeitskreis Sozialismus in Wissenschaft und Politik,
wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Wahlaufruf zur Europawahl: Die EU ist die Wahl des Kapitals

Arbeiter, Selbständige, Handwerker, Kleinbauern, Frauen, Jugendliche, wir sprechen zu euch kurz vor den Europawahlen 2009.

Arbeiter und Kleinbauern, Gewerkschafter, Aktivisten der Friedensbewegung, der Frauenbewegung und der Jugendbewegung für demokratische Rechte, Volksfreiheiten und internationale Solidarität, Aktivisten der Bewegungen gegen die Verträge von EU und NATO - wir teilen die Vision einer Gesellschaft ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, ohne Armut, soziale Ungerechtigkeit und imperialistische Kriege. Wir vereinigen uns in dieser Kampagne für ein Europa des Wohlstandes für alle, des Friedens, der sozialen und demokratischen Rechte, für ein Europa, das nichts mit der EU des Kapitals und des Krieges zu tun hat. (...) Erwartet keine Lösungen von der EU, die Teil des Problems ist, sie hat nur Lösungen, die allein der Oligarchie nützen.

Die EU ist die Wahl des Kapitals. Sie fördert Maßnahmen zugunsten der Monopole, der Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Mit dem Lissabon-Vertrag wurden ihre Charakteristika als eines imperialistischen ökonomischen, politischen und militärischen Blocks - Rüstung, autoritärer Staat und dessen Repression - gestärkt gegen die Interessen der Arbeiter und der Völker.

Im Namen von "Modernisierung", "Wettbewerbsfähigkeit", von "Unternehmen" und "Flexsecurity" werden die Angriffe auf die Arbeiter- und Gewerkschaftsrechte intensiviert.

Das Streikrecht wird ebenso untergraben wie andere Freiheiten der Gewerkschaften. Unter dem Vorwand der Krise und für die Sicherung der Profitabilität des Kapitals werden Arbeitswoche verlängert und Löhne verkürzt. Die Zukunft für Arbeiter lautet: Arbeit ohne Rechte bis zum Tod, eine Alptraumlandschaft für Arbeitsrecht wird geschaffen, mit einem Anstieg der Arbeitsstunden pro Tag und einer 65-Stunden-Woche - einhergehend mit Unterbeschäftigung, Arbeitslosigkeit und Existenzunsicherheit, mit Schlägen gegen Löhne und Renten, mit einem Anstieg des Renteneintrittsalters, mit der Aufteilung von Arbeitszeit in aktive und nicht-aktive, Preiserhöhungen und Vervielfachung von Arbeitsunfällen.

Dazu gehören die Übergabe des Bildungswesens, des Gesundheits- und des Sozialsystems an das Großkapital, das Verschwinden der Klein- und Mittelbauern zugunsten der Großbauern und Monopole, der Anstieg staatlicher Repression, der Aufstieg von Antikommunismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Die ersten Opfer intensivierter Ausbeutung und wachsender Repression sind Jugendliche, Frauen und Arbeiter-Migranten.

Die Europäische Union ist eine Säule der neuen imperialistischen Ordnung, der kapitalistischen Globalisierung. Sie unterstützt das Massaker an den Palästinensern durch Israel. Sie hat Anteil an den aggressiven Plänen gegen ganze Völker, besonders gegen die Länder des Mittelmeerraums, Afrikas, des Mittleren Ostens und Lateinamerikas. Sie hat Anteil am Rüstungswettlauf, der Installierung des "Anti-Raketen-Schilds", der Wiederkehr des Dogmas vom atomaren Erstschlag. Sie steht in einer Linie mit den USA und der NATO. Militarismus ist integraler Bestandteil ihrer Struktur. (...)

Die Rechte der Arbeiter haben nichts gemein mit der Vollendung eines einheitlichen Binnenmarktes, der Beschleunigung der Lissabon-Strategie, der Bolkestein-Direktive, der "Flexicurity" oder Lohnbegrenzungen. (...) Es gibt Alternativen für die Völker. (...) Die Sackgassen, die Gegensätze, die im Kontext der Krise akuter werden, die Schwierigkeiten, denen sich die EU gegenübersieht, sind Elemente, deren sich die Völker bewußt werden sollten.

Es ist zum Nutzen der Arbeiter, wenn die derzeitige Volksopposition gegen die antisoziale und inhumane Politik der EU gestärkt wird. (...)

Kämpft mit uns für:

Angemessene unbefristete Arbeit bei vollen Rechten, echten Anstieg von Löhnen und Renten.
Herrschaft der Völker über die Quellen ihres Reichtums und der strategischen Sektoren der Volkswirtschaften ihrer Länder.
Kostenlose öffentliche Gesundheitsversorgung und Sozialsysteme, Senkung des Renteneintrittsalters, bessere kostenlose öffentliche Bildung für alle.
Volle Rechte für Migranten-Arbeiter.
Unterstützung für Klein- und Mittelbauern und Nahrungssicherheit, einen wirklichen Schutz der Umwelt, die derzeit dem Profit des Großkapitals geopfert wird.
Das Recht jedes Volkes, sich seinen eigenen Entwicklungsweg zu wählen, einschließlich des Rechts auf Loslösung von den vielfältigen Abhängigkeiten im Rahmen von EU und NATO und auf die sozialistische Option.
Frieden, den Abzug aller US-NATO-Militärbasen und die Auflösung der NATO, gegen die "Partnerschaft für den Frieden" und die Euro-Armee. Keine Teilnahme an imperialistischen Kriegen und Interventionen!
Solidarität mit allen kämpfenden Völkern, einen unabhängigen palästinensischen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt, eine gerechte Lösung des Zypern-Problems, die Verteidigung des sozialistischen Kuba und die Abschaffung der gemeinsamen Position der EU ihm gegenüber.

Stimmt für die Aktivisten, die wir in jedem Land unterstützen. Schwächt die Kräfte, die Kräfte, die die EU unterstützen und verteidigen. Gewinnt selbst an Macht.

Nein zur EU der Monopole und des Militarismus - Für ein Europa des Wohlstandes für die Völker, des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit, demokratischer Rechte und der Sozialismus.

Die 21 unterzeichnenden Parteien[8]:
Partei der Arbeit Belgiens (PTB), KP Britannien, KP Bulgarien, Partei der bulgarischen Kommunisten, KP Dänemark, KP Estland, KP Griechenland, Ungarische Kommunistische Arbeiterpartei, KP Irland, Arbeiterpartei Irland, Sozialistische Partei Lettland, Sozialistische Partei Litauen, KP Luxemburg, KP Malta, Neue KP Niederlande, KP Polen, Portugiesische KP, Rumänische KP, KP Slowakei, KP der Völker Spaniens, KP Schweden

Anmerkung
[8] Siehe hierzu auch das Dokument von Leo Mayer

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ZK der KP Ungarns: Rückzug aus der Partei der Europäischen Linken (EL)

Resolution des Zentralkomitees der Ungarischen Kommunistischen Arbeiterpartei:

Das ZK der Ungarischen Kommunistischen Arbeiterpartei hat an seiner Sitzung vom 25. April beschlossen, die European Left Party (ELP) zu verlassen und per 1. Mai ihren Austritt gemäß Artikel 6 des Statuts der ELP zu erklären.

Die Ungarische Kommunistische Arbeiterpartei ist eines der Gründungsmitglieder der European Left. Unsere Partei hatte von Anfang an einige grundsätzliche Vorbehalte betreffend die Generallinie der ELP.

Wir waren nicht einverstanden mit der Einschätzung, welche die ELP von der Vergangenheit der europäischen sozialistischen Staaten einschließlich Ungarns abgibt. Wir sind überzeugt, dass die sozialistischen Länder in den Jahrzehnten des Sozialismus großartige Resultate im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben erreicht haben. Diese Periode wird als eine der erfolgreichsten Perioden in die nationale Geschichte der früher sozialistischen Länder eingehen. Wir können nicht leugnen, dass es dabei zu Fehlern und Irrtümern kam, aber wir werden es nie zulassen, dass diese Jahre unter dem Begriff des reinen "Stalinismus" charakterisiert werden und widersetzen uns allen Versuchen, diese Periode zu unterschlagen.

Wir waren nicht einverstanden mit der allgemeinen Philosophie der ELP, welche eine Anzahl von wichtigen und großen Parteien von der Mitgliedschaft ausschloss und die ELP in eine Partei der Europäischen Union verwandelte.

Wir waren nicht einverstanden mit der praktischen Politik der ELP, welche sich nur auf die Probleme der westeuropäischen Länder, die Belange der Europäischen Union konzentriert und den realen Problemen der mittel- und osteuropäischen Länder keine Aufmerksamkeit schenkt.

Wir widersetzten uns der politischen Linie der ELP, welche darin besteht, Parteien in die ELP einzuladen, welche nichts mit kommunistischen Ideen gemein haben und in einigen Fällen sogar Feinde des Kommunismus sind.

Wir opponierten der Praxis, dass der politische Kurs der ELP in ihren Grundzügen einseitig von den im Europäischen Parlament vertretenen Parteien beschlossen wird.

Wir waren nicht einverstanden mit der neuen politischen Linie, die durch die Resolutionen des zweiten Kongresses im November 2007 festgelegt wurde. Unsere Partei war die einzige Partei, die am Kongress nicht für diese Dokumente stimmte. Wir sind überzeugt, dass wir keine "neue europäische politische Kultur" brauchen. Was wir brauchen, ist ein sehr konsequenter Kampf gegen den Kapitalismus, für die Rechte der arbeitenden Massen. Wir sollten den Kapitalismus nicht nur kritisieren, sondern den Alltag des Kampfes der Arbeiter organisieren.

Wir wollen den Kapitalismus liquidieren; die Europäische Linkspartei will ihn verbessern. Wir stehen auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus, der Theorie und Praxis des Klassenkampfs, den Grundsätzen des proletarischen Internationalismus. Die Europäische Linkspartei steht leider auf dem Boden des Reformismus. Die European Left bekämpft den Kapitalismus nur mit Phrasen, aber in der Praxis hilft sie, das "demokratische" Image der Europäischen Union, des europäischen Parlaments und des kapitalistischen Systems ganz allgemein zu stärken.

Wir haben versucht, diese Prozesse zu beeinflussen und zu verändern, müssen aber einsehen, dass dies unmöglich ist. Die politische Linie der meisten Mitgliedsparteien der ELP und der Kurs der ELP selbst gehen in eine Richtung, welche die elementaren Interessen der Arbeiterklasse und der internationalen kommunistischen Bewegung verletzt.

Wir haben die Positionen anderer kommunistischer Parteien in Erwägung gezogen. Wir stimmen der Feststellung zu, dass die Europäische Linkspartei innerhalb der internationalen Linken eine negative Rolle spielt. Mit unserem Beispiel wollen wir auch anderen Parteien den Austritt aus der ELP erleichtern. Wir wollen allen klar machen, was die ELP wirklich ist.

Wir denken, dass Revisionismus und Opportunismus heute die größten Gefahren darstellen, die die kommunistische Bewegung bedrohen. Es ist schlecht, dass wir arm sind und kein Geld haben. Aber wir werden schlicht alles verlieren, wenn wir unsere klare ideologische Überzeugung, den Marxismus-Leninismus, aufgeben.

Wir werden weiterhin an den internationalen Treffen der Kommunistischen und Arbeiterparteien teilnehmen, und unser Bestes geben, um den kommunistischen Pol nach den Grundsätzen des proletarischen Internationalismus zu stärken. Wir werden unsere bilateralen Beziehungen mit den kommunistischen Parteien festigen. Wir setzen unseren Kampf gegen den Kapitalismus auf marxistisch-leninistischer Basis fort.

Unsere Entscheidung beruht auch auf den Realitäten in Ungarn. Die Lage in Ungarn befindet sich in Veränderung. Die Bevölkerung hat schon 20 Jahre unter dem Kapitalismus verbracht und eine Menge an konkreten Erfahrungen gesammelt. Nach 20 Jahren verstehen die meisten, was kapitalistische Ausbeutung, Arbeitslosigkeit und soziale Ungerechtigkeit bedeuten. Auf der anderen Seite wissen sie zu schätzen, dass es die Ungarische Kommunistische Arbeiterpartei gibt, die immer zu ihnen gehalten und für ihre Interessen gekämpft hat. Das ist das moralische und politische Kapital, von dem wir in kommenden Kämpfen zehren können. Die ungarische Regierung versucht, die aktuelle Krise auf Kosten der werktätigen Massen zu lösen. Löhne und Pensionen werden eingefroren; öffentliche Ausgaben werden zusammengestrichen. Anstatt die Lage der werktätigen Massen zu verbessern, schafft diese Politik ihnen neue Schwierigkeiten. Die Bevölkerung erwarten von uns Kommunisten, dass wir klare Haltungen einnehmen und konsequente Kämpfe führen. Das ist es, was wir tun sollten.

Budapest, 25. April 2009, Zentralkomitee der Ungarischen Kommunistischen Arbeiterpartei

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Leo Mayer: Referat bei der 6. Tagung des PV der DKP am 16./17. Mai 09 in Berlin - Auszüge

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Gerhard Feldbauer: Zu den "notwendigen Vorbemerkungen" Frank Flegels

Lieber Frank! Zu Deinen "notwendigen Vorbemerkungen" zu meinem Beitrag in Heft 2/09 halte ich folgende Erwiderung für angebracht:

Erstens: Wie mir ein Leser von "offensiv" sagte, wird damit von Dir/Euch versucht, dem Leser vorzugeben, wie er meinen Beitrag zu sehen, zu werten hat. Das sehe ich auch so.

Zweitens: Deine Einschätzung, ich hätte bei der Wertung der Haltung von Klaus Steiniger und Positionen der Zeitschrift bzw. der Rotfuchsgruppen sowie der Rolle von einigen Vorstandsmitgliedern und des Vereins als Ganzes "keinerlei Unterscheidung" gemacht, entspricht, beginnend mit der Überschrift, schlicht nicht dem Inhalt des Beitrages.

Drittens: Falsch ist auch Deine Bemerkung, meine "Einschätzung der DKP als Partei (möge) zwar der Gefühlswelt vieler Genossinnen und Genossen entsprechen...", sei aber "fern der Realitäten". Du hast die theoretischen Begründungen, die ich dazu anführe, übersehen oder ignorierst sie einfach. Bereits in meinem Beitrag "Wie zur Einheit der Kommunisten kommen? Rat bei den Klassikern suchen" (offensiv, 10/08) habe ich als Grundlage einer Wertung der gegenwärtigen Programmatik der DKP u.a. als Kriterium auf Marx' Kritik am Gothaer Programm aufmerksam gemacht. Das nachzulesen müsste zwangsläufig zu einer Korrektur der so theoretisch nicht akzeptablen Einschätzung der DKP als einer "revisionistischen Partei" durch den "offensiv"-Vorstand führen. Im selben Beitrag habe ich u.a. auch auf Lenins Vorgehen auf der Zimmerwalder Konferenz im September 1915 und der im April 1916 in Kienthal verwiesen. Ich habe nicht den Eindruck, dass das nachgelesen wurde. Im Zusammenhang mit einem Beitrag über Gramscis Kampf um die Umwandlung der Sozialistischen Partei in Italien in eine revolutionäre Partei des Proletariats für "junge Welt" ("Bildet und bewegt Euch", 16./17. Mai 2009) habe ich gerade Lenins Arbeiten in diesen Jahren nochmals nachgelesen. Lenin ging u. a. einen Kompromiss mit den Zentristen ein. Im Lichte dieser Erkenntnisse der Klassiker halte ich auch die "Kommunistische Initiative" in der vorgelegten konzeptionellen Form als einen nicht die gegenwärtigen Realitäten in unserer kommunistischen Bewegung berücksichtigenden Vorstoß. Ich habe auch auf die italienischen Kommunisten verwiesen, deren Vorgehen auch oder gerade in der Situation, in der sie von schweren Schicksalsschlägen heimgesucht werden, Erfahrungen vermitteln kann. Interessiert Euch das nicht?

Nebenbei bemerkt halte ich das Vorgehen gegenüber der DKP auch nicht mit § 3 der Vereinssatzung vereinbar, in dem es heißt: "Der Verein entfaltet seine Tätigkeit nach dem Prinzip der gegenseitigen Achtung und der Solidarität sowohl zwischen den Vereinsmitgliedern als auch gegenüber Personen und Organisationen mit verwandter Zielsetzung im In- und Ausland." Die gegenüber der DKP (als Organisation als auch gegenüber ihren Mitgliedern/Personen) bezogene Haltung halte ich auch mit den Zielen und Aufgaben des Vereins insgesamt (§ 1 und 2) nicht vereinbar.

Gerhard Feldbauer, Poppenhausen

Raute

Thomas Waldeck: Momentaufnahme zur Krise - und zum Zustand der kommunistischen Bewegung in Deutschland

Alt-Bekanntes neu gesehen

Die Thesen von Eva Niemeyer (offen-siv, 2/09) sollen hier aufgegriffen werden, um der Orientierung weiter Raum zu geben. Bekanntlich ist die Gesellschaft ökonomisch geprägt durch ihre Konsumtion auf Basis antagonistischer Verteilungsverhältnisse und den Widerspruch zwischen den Bedingungen, unter denen Mehrwert produziert und realisiert wird. Es kommt zum Ausgleich des gestörten Gleichgewichts in Form der Krise, mit dem Ergebnis, dass ein Teil des Kapitals ganz oder teilweise brachliegt und der andre Teil durch den Druck des unbeschäftigten oder halbbeschäftigten Kapitals sich zu niedrer Profitrate verwertet.

In diesem Zusammenhang kann die moderne Bankokratie, eine Grundlage des Imperialismus, angemerkt werden, deren enorme Ausdehnung über die Ausdehnung der öffentlichen Schuld ein gut Teil beitrug, dem heutigen Proletarier die Augen zu öffnen - für den Charakter der Herrschaft über ihn. Er sieht deutlich das Steigen der Bankaktien als unfehlbaren Gradmesser der Akkumulation der Staatsschuld. Er sieht fast schon ebenso die Oberflächlichkeit der politischen Ökonomie an der Oberflächlichkeit der Politik. Dabei kann man ihm heute noch das Symptom der Wechselperioden; Kontraktion und Expansion des Kredits, einreden als deren Ursache - was desto emsiger geschieht. Aber der faule Zauber beginnt ihm sichtbar zu werden nicht als irgendein Phantom der Übertreibung oder Aufblähung des Kapitalismus, sondern als dessen ureigenes oberflächliches Wesen. Er ahnt zumindest, dass jener mehr oder minder zufällig bei den US-amerikanischen Subprime-Krediten[10] und deren Umwandlung in Asset-Backed-Securities[11] auf dem internationalen Finanzmarkt hervor trat. Und diese Ahnung wird verstärkt, da er nicht das kleinste Anzeichen für eine irgendwie geartete Lösung der Frage wie anders?, innerhalb dieser Systemgrenzen sieht.

Die seit Jahrzehnten[12] akkumulierten Kapitalmassen drängten sich nach immer verquasteren Formen der Spekulation, bedingt durch die ständige Abnahme der lebendigen Arbeit, wodurch die Profitrate immer weniger den steigenden Erwartungen entsprach.[13] Die Verquastheit dieser dunstigen Blasen diente zugleich einer gewissen Popularisierung der Sache, indem Anlagen dem verbürgerlichten Proletarier abgesogen wurden und ihm nun gesagt werden kann: Wir haben eben alle Pech gehabt. Der Staat trug dieses Spiel nach Kräften samt Derivaten-Handel[14] ebenso wie Hedge-Fonds[15] (2004 in der BRD zugelassen), ignorierte Private Equity-Engagements[16] - die jedes "Volkswirtschafts"-Geschwätz ad absurdum führten.

Man frage nun, was die aktuell krisengemäße Verwertbarkeit des Kapitals erfordert, und bleibt die Machtstellung der Kapitalisten unangerührt, - oder zunächst: Wie entwickelt sich der Staat?

Der Staat als Organ der herrschenden Klasse

"Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentliche kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben. Aber auf der Spitze schlägt es um. Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht die Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung."[17]

Deutlich erkennen wir zunächst die Tendenz des Staates zur 'Verwirklichung'. Überlegungen zur Verstaatlichung von Banken oder großer Fahrzeugkonzerne sind jetzt nicht rotes Tuch und linksextremer Populismus, sondern zeigen das Prinzip; Privatisierung der Gewinne zugunsten der Bourgeoisie, Vergesellschaftung der Verluste - ebenfalls zu deren Gunsten.

So wurde beim Anti-Krisen-Paket der G 20 in London zwar versucht, eine große Menge politischer Luft zu verschnüren, zweitens aber die Zündschnur genauer zu justieren, um das System mit größerer Sicherheit in die Luft zu jagen, wobei man Knoten darein knüpft. Da gab es neben den branchenbezognen Konsumfragmenten das Anziehen der imperialistisch-neokolonialistischen Fessel in Form einer Aufstockung der "Entwicklungshilfe", es gab die Posse der "Steueroasen", die überall auf der Welt, nur nicht etwa in Berlin gesucht wurden und es gab eine "Verschuldungsbremse"[18] - denn jeder Staat wacht im Auftrag der Imperialisten eifersüchtig über die gesamtkapitalistische Verwirklichung des andern. Direkt verstaatlicht werden Negativsaldi wie über die "Bad Banks", ein Rettungsschirm für den Schrott der Bourgeoisie, der beim Proletariat entsorgt wird.

Angemerkt sei, dass der gesamte "Altersvorsorgerummel" von vor fünf Jahren mitsamt Generationenvertragslüge und Alterspyramide nach aktuellen Meldungen entzaubert ist. Die Kampagne entpuppt sich öffentlich als Geschäft von gestern und Krücke des Kapitals von heut und morgen, denn während ungeschminkt in den Medien gesagt wird: Das könnt ihr vergessen! - zahlen die Deutschen (unerfreut) weiter ein.

Im selben Moment sieht man im Innern einen "entschieden neuen Kurs"[19]. Die Rigidität des Staates nimmt sichtbar zu. Wir sehen die Erweiterung der Geheimdienst-Kompetenzen, sowie deren grundgesetzlich verbotene Verzahnung untereinander sowie mit den Polizeibehörden und Konzernapparaten sowie den grundgesetzwidrigen Einsatz der Bundeswehr im Innern. Attac warnt vor Zensur im Internet.[20] Die Aussage Bundesinnenminister Schäubles, dass der Kapitalismus möglicherweise gefährlicher sei als der internationale Terrorismus[21], belegt, was Schäuble über den internationalen Terrorismus denkt und dadurch, dass alle unter dessen Bemäntelung vorgenommenen Eingriffe in die grundgesetzlichen Rechte sich gegen das deutsche Proletariat wenden.

Dem tun Scheinkonzessionen der Regierung keinen Abbruch: "Man kann nicht stark genug betonen, daß das System der Scheinkonzessionen und einiger scheinbar wichtiger, der öffentlichen Meinung 'entgegenkommender' Schritte allen Regierungen unserer Zeit in Fleisch und Blut übergegangen ist..." - so Lenin 1901.[22]

Wird aus dieser Krise des Systems eine Krise der Machtverhältnisse?

Der fortgeschrittene Arbeiter (oder Arbeitslose) sieht das Problem in seiner Wirkung und überlegt wenig, ob es sich um eine "Krise des Finanzmarkt"- oder "Turbokapitalismus" handelt oder des Neoliberalismus[23] oder wie sonst man die Sache verkehren kann, sondern fragt: WIE nützt der Fortbestand des Kapitalismus? Und tatsächlich niemand kann ihm diese Frage beantworten. Also bleibt ihm nur die Frage: Nützt dieser? Und nach allem, was er weiß und sieht, muss er das verneinen.

Wer die Massenkundgebung-Demonstrationen der Gewerkschaften im Frühjahr in Berlin unter diesem Blickwinkel beurteilt[24], wer die Kommentare der Arbeiter in den Betrieben, sogar der Angestellten in den Geschäften, hört und dabei ihr tatsächliches Verhalten sieht, hört und sieht: So weiter wie bisher will die Arbeiterklasse, wollen die unteren Schichten nicht, sie wollen aber noch nicht den Arm aufheben - weil die Führung fehlt. Sie verharren noch im Traum von Selbstreinigungskräften, der Möglichkeit andrer märchenhafter Erscheinung. Zweitrangig ist allerdings, ob eine bedrückende Lage oder bedrückende Aussicht die Systemfrage in den Vordergrund rücken, denn eine UNGEWÖHNLICHE Verschlechterung der Lage ist in jedem Fall dabei.

Der Klassengegensatz verschärft sich. Die Polarisierung geht schnell voran. Durch die bourgeoise Moral fehlgeleitete Klassen-Energie schlägt sich in rasant zunehmendem Neonazi-Terror nieder.[25] Die Gewerkschaftsführer sind ernstlich in Sorge um den Kapitalismus und hängen glühendrote Warnlampen für ihre Herren auf.[26] Die Gewerkschaften melden erfreut Eintrittswellen von Jugendlichen. Organisationen wie DGB- oder ver.di-Jugend füllen sich mit Leben. Indes entgegnet ver.di-Chef Bsirske einer Petition von -zig Betriebsräten großer Zeitungsbetriebe, "den Generalstreik nicht nur anzudenken, sondern konkret vorzubereiten" in ver.di-publik: "Die Schreihälse, die stets nach dem Generalstreik rufen, können ja in ihrem Betrieb anfangen."[27]

Zwei Jahrzehnte kaum unterbrochener Anpassung an die Machtverhältnisse haben die PDS-PDL fest (mit dem leicht nach links tendierenden WASG-Stamm) auf der gegnerischen Seite der Barrikade verwurzelt. Ihr Wählerpotential ist absehbar ausgeschöpft, denn die Unterschiede zwischen ihr und der SPD verschwimmen. Sie sagt, nicht geschlossen, aber sowohl in ihrer Politik in den Ländern und Kommunen als auch in wesentlichen Erklärungen: Kapitalismus muss sein.

Nun definiert Lenin die revolutionäre Situation so:

"1. Für die herrschenden Klassen ist es unmöglich, ihre Herrschaft unverändert aufrecht zu erhalten; die eine oder andere Krise der 'oberen Schichten', eine Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riß entstehen läßt, durch den sich die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen Bahn bricht.

2. Die Not und das Elend der unterdrückten Klassen verschärfen sich über das gewöhnliche Maß hinaus.

3. Infolge der erwähnten Ursachen steigert sich erheblich die Aktivität der Massen, die sich in der 'friedlichen' Epoche ruhig ausplündern lassen, in stürmischen Zeiten dagegen sowohl durch die ganze Krisensituation als auch durch die 'oberen Schichten' selbst zu selbständigem historischen Handeln gedrängt werden." (Hvbg. i. O.)[28]

Man kann die heutige Lage in Hinblick auf die politische Anteilnahme der beherrschten Klassen und ihre revolutionäre Potenz mit der Lage des beginnenden 20. Jahrhunderts in Rußland insofern für vergleichbar halten[29].

Lenin sagt im Jahr 1900 (1901): "Es fehlt uns an Organisation. Die Arbeitermasse ist bereits in Bewegung und ist bereit, den sozialistischen Führern zu folgen, dem "Generalstab" ist es aber noch nicht gelungen, eine starke Kerntruppe zu organisieren, die alle vorhandenen Kräfte der klassenbewussten Arbeiter richtig verteilt und die (...) Organisation der Sache (...) sichert... Diese Organisation muß eine revolutionäre Organisation sein..., sie muß aus Menschen bestehen, die die Aufgaben der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung ganz klar erkennen und zum beharrlichen Kampf gegen das gegenwärtige politische Regime entschlossen sind, sie muß die sozialistischen Erkenntnisse und die revolutionären Erfahrungen ... aus den Lehren vieler Jahrzehnte ... vereinigen mit der Kenntnis des Arbeitermilieus und mit der den fortgeschrittenen Arbeitern eigenen Fähigkeit, unter den Massen zu agitieren und sie zu führen." (Hvbg. i. O.)[30]

Zudem sehen wir eine unsichere Regierung, wenn auch bei weitem noch keine politische Krise, keine, "die an die Grundlagen der Staatsordnung und das Fundament des Gebäudes"[31] rührt. Zugleich verschleißt die Krisen-Chronifizierung die Toleranz des Proletariats in Form der "Politikmüdigkeit", indem sie öfter drastisch in einzelnen Momenten hervor tritt. 1908 sagt Lenin mit Blick auf eine Lage, die vergleichbar (während einer längeren Periode) unserer vorausging und immer noch besteht: "Oder bedeutet die 'völlige Gleichgültigkeit der Massen' keine Gleichgültigkeit gegenüber der Politik des Zarismus überhaupt? Das heißt, sind die Massen, die gegenüber den Vorgängen in der Duma gleichgültig sind, vielleicht gegenüber einer der Frage von Straßendemonstrationen, neuen Streiks, des Aufstands, der Frage des innerparteilichen Lebens der revolutionären Parteien überhaupt und der Sozialdemokratie im besonderen nicht gleichgültig? ... Denn nur 'parlamentarische Kretins' des Menschewismus, die vor den Erfahrungen der Tätigkeit Marx', Lassalles und Liebknechts in revolutionären Perioden heuchlerisch die Augen schließen, können überhaupt und immer, ohne Rücksicht auf die konkreten Bedingungen der revolutionären Situation für die Beteiligung an jeglicher Vertretungskörperschaft sein. ...

Ein lebhaftes Interesse der Massen für die Politik würde bedeuten, daß die objektiven Bedingungen für eine heranreifende Krise vorhanden sind, d.h. würde bedeuten, daß ein gewisser Aufschwung bereits zu verzeichnen sei und daß sich die Stimmung der Massen, bei einem bestimmten Grad dieses Aufschwungs zwangsläufig in einer Massenaktion niederschlüge."[32]

Im selben Jahr weist Lenin auf die Notwendigkeit hin, nicht nur die Aktionslinie der einzelnen Klasse zu beachten, sondern die Formen ihres Kampfes und alles andere als undialektisch zurück.[33] Diese Formen sind aber derzeit die als unzureichend empfundenen gelegentlichen Großdemonstrationen. Vor allem aber sind diese von den assimilierten Gewerkschaftsführungen koordiniert, schlagen sich also noch nicht unmittelbar als direkter Ausdruck der Massenstimmung nieder.

Konsequenz ist also die Erhöhung des Drucks auf die Gewerkschaftsführungen, auch durch von diesen unabhängige Kundgebungen, zur schrittweisen Verstetigung der Straßen-Proteste, etwa nach der Regel: "Wir zahlen nicht für eure Krise - 3" usw.

Die deutschen Kommunisten

Kommen wir zu den deutschen Kommunisten. Sie haben an mechanischer Stärke gravierend verloren. Sie haben nicht nur eine Schlacht, sondern einen Feldzug verloren, aber sie haben auch ganz wesentlich gewonnen, an Kenntnissen des realen Klassenkampfes und dadurch an Bewußtheit. Sie blicken auf einen Schatz an Erfahrung, größer denn je und auf die Gewißheit; eine Gesellschaft ohne Krisen ist möglich. Und sie haben die Ursachen der Fehlentwicklungen, die in deren Rückschlag mündeten, vor Augen. Die theoretische Bearbeitung der Ursachen der vollzogenen Konterrevolution von 89/90 ist im Wesentlichen abgeschlossen. Der Zeitenbruch zeigt sich als Endpunkt eines Prozesses, der in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann. Nun steht der politisch-ideologischen Klärung der kommunistischen Bewegung nur noch wenig im Weg.

Zwangsläufig verstärkt sich diese Sortierung, sowohl durch die theoretische Bereinigung vom revisionistischen Unrat wie durch die gesellschaftliche Polarisierung. Nun gibt es eine Kommunistische Initiative in der BRD, welche diese Prozesse zwar zunächst nicht beschleunigt, allerdings die organisatorische Konsequenz aus dem heillosen Durcheinander und einen faktischen Schluss-Strich unter die Zersplitterung zu ziehen beginnt.

Zugleich erzwingen die hervortretenden antirevisionistischen Tendenzen Reibungen mit den rechtsopportunistischen Beharrungskräften quer durch DKP und andere.

Nicht nur im Osten Deutschlands bilden rudimentär vorhandenes Klassenbewusstsein und politisch-ökonomische Grunderkenntnisse oft die Basis neuer Motivation und Tat. Für Etliche beginnt eine Suche, vielleicht schon die zweite oder dritte. Betrachten wir den Älteren. Er kann parallel zur Revisionismusforschung gründlich Einblick nehmen in die aktuellen Formen und Ausprägungen des "klassischen" Opportunismus.[34] Er kann mit Abscheu wiedererkennen den vollendeten Rechtsopportunismus der Sozialdemokratie um Scheidemann, ausgehend von der "Revision" des Marxismus durch Bernstein, in der im Sauseschritt vollzogenen Anpassung von Gysi mit Hilfe von Brie. Diese wirken fast wie Abziehbilder der andern, allerdings vor allem in der Theorie, in der Praxis können sie sich dies interessanterweise nicht vollständig leisten.

Zwar sinkt der faulig schimmernde Stern der PDS-PDL noch nicht, aber sein Steigen (soweit man überhaupt davon reden kann) ist dem bereits verspürten und weiter abzusehenden Verfall der "sozialen Marktwirtschaft" auch nicht angemessen.

Er konnte wiedererkennen den Zentrismus der USPD[35], den innerhalb der "PDL" die KPF und als eigne Organisation die DKP übernommen hat, deren Führung so offenherzig sich der "PDL" permanent zu Füßen wirft, dass es vielen Kommunisten innerhalb der DKP unheimlich wurde, so dass deshalb IN der DKP der Luxus eines eignen zentristischen Flügels zu beobachten ist; jene Gruppe um Hans Heinz Holz, die "T&P" herausgibt. Denn bei jedem neuerlichen Kotau gegenüber der Linkspartei wurde die Notwendigkeit spürbarer, diesen Unzufriedenen eine organisatorische Plattform zu bieten. Schweigen wir davon, wie jämmerlich diese "Kommunistische Plattform" der DKP, stets wenn es zum Schwur kam, in die Knie ging und Freund und Feind der "Einheit der Partei" opferte.

So sehr wie uns dabei die aufrechte Haltung einzelner Genossen mit Hochachtung erfüllt, so fest steht; diese Plattformen erfüllen objektiv eine Klassenaufgabe der Bourgeoisie indem sie als kommunistische Bewegung auftreten, aber als zerfahrene, unklare, die keine gesellschaftliche, sondern die Aussichtslosigkeit der kommunistischen Bewegung dem Volk vor Augen führt. Die Prozesse bei KPD u. KPD (B) spiegeln dies ebenfalls wieder.

Auch der weit genug fortgeschrittene Student, Arbeiter oder Arbeitslose sucht die Klassenkraft und findet dieselbe zerklüftete Landschaft, ein Hügelchen wirft dem andern vor, es sei ein Hügelchen. Nun ist dieser Zustand für jedes einzelne Hügelchen unbefriedigend und es erklärt, man SELBST habe den Anspruch, die kommunistische Bewegung zu repräsentieren, mit anderen Worten: Es geht ums REPRÄSENTIEREN, nicht um die kommunistische Bewegung, anders ausgedrückt; es geht ihnen um DKP oder KPD oder KPF, nicht aber um die KOMMUNISTISCHE Partei.

Avantgarde-Bewusstsein ist mehr als Klassenbewusstsein, aber für die kommunistische Partei Voraussetzung. Fehlendes Avantgarde-Bewusstsein führt zum Fehlen der Führung und dadurch zum Fehlen der Partei. Die Parteien verschwinden mechanisch, durch persönliche Auseinandersetzungen und Neutralisieren der Kräfte, durch Mitgliederverluste, Spaltungen.

Es fehlt an Lenins Parteikonzept. Und es fehlt die Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen, dies einzugestehen. Der Suchende erkennt das schnell, weil er die konkreten Auswirkungen sieht. Er will mitwirken an gesellschaftlicher Veränderung.

Die KPF sagt: Sozialismus muss sein, aber gemeinsam mit dem GEGNER ebendieses Sozialismus. Die DKP sagt ihm (wenn auch zumeist indirekt): Sozialismus können wir derzeit nicht als Ziel benennen.

Die KPD sagt: Sozialismus!, HANDELT aber in der Praxis dagegen, indem sie sich spaltet.

Die Kommunistische Initiative ist nur eine Vorform der revolutionären marxistisch-leninistischen Partei. Diese wächst nicht durch Proklamationen sondern durch die Einsicht und deshalb stellt die KI derzeit keine organisatorischen Ansprüche.

Was wird GEGEN die KI gesagt?

Man sagt, es fehle an bekannten Personen, die Vertrauen genießen. Das ist falsch, denn Dr. Dr. Kurt Gossweiler (dem u. a. die genaue Untersuchung des modernen Revisionismus oblag) ist ebensowenig ein Unbekannter wie Prof. Hans Fischer, Prof. Erich Buchholz, die Herausgeber von offen-siv (zu denen auch ein Peter Hacks gehörte). Zudem hat eine solche Marketingüberlegung mit der KI-Ausrichtung nichts zu tun. Die KI hat die Aufgabe, diejenigen, die genug Bewusstsein entwickelt haben, zusammen zu fassen; also diejenigen, welche selbst die Zerfahrenheit der Kommunisten erkannt haben und ein strukturelles Defizit in der kommunistischen Organisations-Landschaft erkennen und DESHALB die Notwendigkeit sehen, sich zu organisieren. Sie müssen gleichermaßen und gemeinsam an der Entwicklung der KI arbeiten. Man sagt; Antirevisionismus sei keine produktive Grundlage. Wir entgegnen: Der moderne Revisionismus hat den schwersten Rückschlag der Arbeiterbewegung ausgelöst und deren erfolgreichen Kampfes um soziale Standards, der kommunistischen Lehre und Bewegung, des realen Sozialismus - einer Weltmacht -, der Emanzipation und des Fortschritts der gesamten Menschheit, wie des Friedens auf der Welt.

Die Erkenntnis der Schädlichkeit des modernen Revisionismus ist deshalb das aktuell wesentliche Ergebnis der Analyse unserer Zeit.

Die KI wendet sich ausdrücklich an Genossen, die das erkannt haben, WEIL der moderne Revisionismus mit der vollzogenen Konterrevolution nicht vorbei ist, sondern fröhliche Urständ feiert, dem Gegner dient (und wenn es nach diesem geht, ewig dienen wird), stets neue Pflöcke gegen die obigen einzuschlagen.

Nur - diese Unrast der Krise, diese Krise für allen kleinbürgerlich-beschaulichen Dunst, sagt etwas anderes aus.

Thomas Waldeck, Cottbus

Anmerkungen

[10] US-amerikanische hochriskante Baukredite

[11] Kredit-Forderungspakete von Banken bei eigens dafür gegründeten Gesellschaften

[12] (insbesondere mit dem Wegfall der realsozialistischen Staaten, welche den Verteilungsgegensatz und damit die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus einschränkten)

[13] Hier werden bewusst entgegengesetzt wirkende Faktoren vernachlässigt, wie Arbeitsintensivierung u. Arbeitszeitverlängerung, die positiv auf die Profitrate wirken. Auch die Krise selbst bewirkt durch Stockung der Produktion das Brachliegen eines Teils der Arbeiterklasse u. damit die Senkung des Arbeitslohnes.

[14] Wetten auf Kursentwicklungen

[15] Fonds, die auf Risiko spekulieren

[16] Sogenannte Heuschrecken, die renditeträchtige nichtbörsennotierte Unternehmen kurzfristig kaufen

[17] (Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEAW Bd. V, Seite 469)

[18] Die "Verschuldungsbremse" gibt es schon bei den "Maastricht-Kriterien"; diente dort aber als sozialpolitische Bremse.

[19] "Sogar Petitionen der Semstwos um Genehmigung irgendwelcher privater Tagungen wurden ohne viel Umstände abgelehnt, und es kam sogar so weit, daß auf Beschwerde des Gouverneurs über "systematische Opposition" eines Semstwos das Semstwoamt durch eine Regierungskommission ersetzt und die Mitglieder des Semstwoamts auf administrativem Wege verbannt wurden." (1901) Lenin, W. Bd. 5, S. 49

[20] ("...Familienministerin Frau von der Leyen wurde aus 'an Internetsperren interessierten Kreisen' suggeriert, dass es ein zunehmendes Problem der Verbreitung kinderpornografischer Inhalte im Internet gibt und dass eine regelrechte Kinderpornoindustrie entstanden ist und zum Schutz der Kinder dringend etwas unternommen werden muss. Sie hat das Thema auf die politische Tagesordnung gehoben und unter Mithilfe der Verfechter geistiger Eigentumsrechte medialen Druck auf die Provider organisiert und diese haben sich nun mehrheitlich bereit erklärt, Sperren zu implementieren. Diese sind so wie geplant (noch) leicht umgehbar und daher wirkungslos für die Menschen, die wissen, was sie wo suchen. Dennoch stellen bereits diese ersten Sperren eine Gefahr für die Meinungsfreiheit dar. Die aktuelle Gesetzgebungsplanung sieht vor, dass das BKA allein die Sperrliste kennt und es gibt keine Vereinbarungen zu Aufsicht und Nachverfolgung, richterlicher/juristischer Kontrolle, Benachrichtigung der Seiteneigentümer oder darüber, parallel das Löschen der Inhalte über die Provider zu eskalieren, was in der Regeln zu schnellen Erfolgen führt. Nur kleine Änderungen der Gesetzgebung können dazu führen, dass zukünftig auch andere unliebsame "gesellschaftlich nicht gewünschte" Inhalte nicht mehr gefunden bzw. ohne Hürden aufgerufen werden können. Die Botschaft lautet: Wehret den Anfängen." - Rundschreiben von Attac, Mai 2009)

[21] Antwort Schäubles auf die so formulierte Frage eines Journalisten der Stuttgarter Zeitung: "Da ist was dran."

[22] Lenin, Werke Bd. 5, S. 47

[23] z.B.: "Die Weltwirtschaftskrise ist eine Krise des Marktradikalismus" DGB-Kapitalismuskongress, Mai 2009

[24] Erkennbar etliche Hunderttausend demonstrierten rauhe Kampfatmosphäre in fast endlosen Zügen auf zwei Routen. Überall in Berlin sah man am 16. Mai rote Fahnen, Kappen, große Schilder. Es gab etliche Forderungen nach einem Systemwechsel und "Generalstreik". Diese Demonstration, welche die Gewerkschaftsführung als Ventil für notwendig erkannt hatte - denn weitere Konzepte gibt es weder bei DGB noch ver.di - wurde eine Volkskundgebung. Seriöse Zahlen gibt es unter obwaltenden Umständen nicht. Eindrucksvoll jedoch für den Teilnehmer, mit welch verkrampfter Scham die Haupt-Nachrichten des Establishments die Volkskundgebung auf wenige Sekunden Sendezeit herabfälschten und die Tageszeitungen das Ereignis tw. ganz umgingen.

[25] Die Zunahme der tätlichen Angriffe aus diesem Lager betrug bereits 2008 etwa 30 Prozent.

[26] "Es besteht eindeutig die Gefahr einer Systemkrise": DGB-Publikation "Umdenken, gegenlenken"

[27] Erschienen im 2. Halbjahr 2008 - Veröffentlicht wurde allerdings nur die Antwort, ohne dass sie als solche erkennbar war.

[28] Lenin Werke Bd. 21, S. 206

[29] Das geht allerdings nur schlaglichtgemäß, da die (wechselnden) Tempi der Entwicklungsprozesse aufgrund aller Bedingungen stark abweichen.

[30] Lenin Werke Bd. 4, S. 358, 359

[31] Lenin Werke Bd. 19, S. 212

[32] Lenin Werke Bd. 15, S. 293

[33] Lenin Werke Bd. 15, S. 44

[34] (Linksopport.: Radikalismus u. Sektierertum, Rechtsopprt.: Reformismus u. Revisionismus)

[35] Man kann KPF und DKP als USPD beschreiben in der politischen Rolle der damaligen Partei - im Versöhnungsversuch gegnerischer Klassenposition - unter dem Hinweis; jene war aus eigener, jäher Bewegung entstanden; nämlich aus der scharf rechts verführten Sozialdemokratie heraus, die DKP hat eine allmähliche Rolle rückwärts unter Führung revisionistischer Politik in den sozialistischen Staaten vollzogen. Dieser Grund, warum man insbesondere von ihr nichts mehr erwarten kann, wiegt schwer. Zuerst müsste diese Tendenz gestoppt werden, bevor man die Richtung umkehren kann. Die Mitgliedschaft der DKP hat sich eben mehr als zwanzig Jahre lang als unfähig dazu erwiesen.

Raute

DER POLITISCHE ISLAM

Margarete Pfliegner: "Politischer Islam" - kritischer Beitrag zur offen-siv-Ausgabe März-April 2009

Seit einiger Zeit verfolge ich mit großem Interesse die "Zeitschrift für Sozialismus und Frieden". Ich fühle mich ermutigt durch die kompromisslose Linie des Blattes. Den Herausgebern und Autoren ist dafür zu danken, dass sie dem Zeitgeist trotzen und sich auf den Marxismus-Leninismus als wissenschaftliche Weltanschauung berufen und dafür, dass sie thematisch viele heiße Eisen anpacken.

Die letzte Nummer wendet sich nun gleichzeitig mehreren wichtigen Themenbereichen zu. Damit erscheint sie unfokussiert, aber vor allem inhaltlich nicht nur heterogen, sondern widersprüchlich. Begründet wird der sehr unterschiedliche, ja widersprüchliche Charakter der veröffentlichen Beiträge mit einer gewünschten Debatte. Eine solche anzuregen ist in der Tat wünschenswert und zwar bezogen auf alle angesprochenen inhaltlichen Schwerpunkte, als da wären: Quo vadis China? Bedeutung der KKE Thesen für eine neue Notwendige kommunistische (Welt-)bewegung? Welchen Umgang pflegen die zersplitterten sozialistischen Strömungen im Lande miteinander, Stichwort "Rotfuchs", welcher wäre der Sache dienlich? Wie gelangen wir zu einer dringend erforderlichen nennenswerten Solidarität mit Palästina und den Völkern, die derzeit unter Besatzungsregimen leiden?

Dazu schiene mir aber denn doch eine erhellende redaktionelle Notiz erforderlich. Das Niveau einer Debatte wird maßgeblich bestimmt durch den Informiertheitsgrad und den argumentativ-rationalen Inhalt der zur Verfügung gestellten Beiträge. Fraglos gibt es wieder viele gute Beiträge in der Zeitschrift, aber eben auch fragwürdige, nicht ebenbürtige. Zur Klarstellung meiner Einwände einige Überlegungen zum Themenschwerpunkt Nahost/Solidarität mit Palästina. Begrüßenswert ist in diesem Zusammenhang der Abdruck des Interviews von Michel Collon mit Mohamed Hassan. Erschreckend dagegen die Abbestellungsmeldung auf Grund des Artikels von Chaled Meschaal in der vorigen Nummer, die leider ein erhebliches Maß von Unkenntnis über den Charakter der Hamas zum Ausdruck bringt. Mit dem Abdruck des zweiten Heftbeitrag von Franz Siklosi "Probleme kommunistischen Handelns innerhalb neoliberaler Hegemonie" wird trotz anders lautendem Titel auf das Thema "politischer Islam" Bezug genommen und auf das Interview mit Mohamed Hassan über die Hamas geantwortet. Mit dem Abdruck dieses Artikels wird das sonstige Niveau der offen-siv in meinen Augen unterschritten. Der Artikel von F. Siklosi kommt zwar mit großem begrifflichem, sich marxistisch verkleidendem Brimborium daher, lässt dann aber sehr schnell die antiislamische Katze aus dem Sack. So wird ausgeführt: "Der Imperialismus hat sich weltweit mit den reaktionärsten Elementen gegen den Sozialismus verbündet. Nun da die Sowjetunion nicht mehr existiert, wenden sich diese Elemente gegen ihre ehemaligen Förderer."

Unschwer zu erkennen ist, dass mit den "reaktionärsten Elementen" die Taliban gemeint sind. Diese Koranschüler, die in Afghanistan anhand US-amerikanischer Koranvarianten gezüchtet wurden, sind eine genuine Kreatur des Imperialismus, keine Verbündeten, auch wenn sich die Zauberlehrlinge nicht immer im Sinne des Meisters gebärden. Wenn man diese Tatsache unterschlägt, bläst man ins vom zitierten Meister gewünschte Horn der Islamfeindlichkeit. Nach der weitgehend erfolgreichen Zerstörung des Weltkommunismus auf allen Ebenen erschien den Feinden des Humanismus der Islam, als letzte kohärente Weltanschauung, als eine zu zerstörende. Handelt es sich doch um eine Denkrichtung und ein zivilisationsstiftendes Kulturvermächtnis, das zumindest in der Theorie und dem Kerngehalt seiner heiligen Texte gemäß, der Gerechtigkeit und dem friedlichen, toleranten Zusammenleben der Völker verpflichtet ist. Dass die Islamisten aller Herren Länder, wie die Fundamentalisten aller Couleur, frauenfeindlich sind und vor Terrormethoden nicht zurückschrecken, sollte eher die Frage nach Ursachen und Gründen für das Entstehen dieser Phänomene aufwerfen. Auch die aggressive Re-Christianisierung oder etwa das Erstarken des Hindu-Nationalismus gehören genau wie das Auftauchen des Islamismus analysiert und zwar im Kontext der neuen Globalstrategien des Imperialismus.

Weit entfernt von solchem Denkansatz behauptet Siklosi auf S. 15 der oben zitierten offen-siv Ausgabe, dass der Islam keinesfalls den Platz der Sowjetunion eingenommen hätte. Er wendet sich also lautstark gegen eine These, die er vorher selbst anklingen lässt. Eine so plumpe Analogie ist natürlich auch falsch. In Mainstream-Manier fährt Siklosi dann fort vom "islamischen Terroristen" zu reden, wohlgemerkt von islamischen, nicht von islamistischen, also fundamentalistischen Missbrauchern der Botschaft Mohammeds. Solche Rede arbeitet aber den Besatzungsregimen zu, die ja jeden Widerstand gegen ihr Regime als "islamischen Terror" verunglimpfen (siehe dazu die Einsätze der von General Stanley McChrystal befehligten Spezialeinheit JSOC, der jetzt zum Oberbefehlshaber in Afghanistan ernannt werden soll, laut JW vom 19.05.09). Es folgen bei Siklosi weitere Sätze, bei denen sich zumindest mir die Nackenhaare sträuben, weil sie nicht nur vorurteilsbehaftet und arrogant daher kommen, sondern darüber hinaus ein erschreckendes Maß an Unkenntnis und begrifflicher Verwirrung zum Ausdruck bringen. Die von den "islamischen Terroristen abgeschlachteten Kommunisten" verweisen natürlich in das Reich der derzeit als Zentrum des Bösen abgestempelten Islamischen Republik Iran. Bereits das Sprachniveau lässt auf eine verdächtige Nähe zur Bildzeitung schließen. In der Sache handelt es sich um tausendfach reproduzierte, klischierte Anwürfe gegen die Islamische Republik. Dass während der - auf den Sturz des terroristischen Schahregimes (von US-Gnaden) im Jahre 1979 - folgenden Revolutionswirren auch Kommunisten und andere aufrechte Demokraten zu Opfern wurden, soll und kann hier gar nicht bestritten werden. Ähnliches gilt schließlich für alle revolutionären Umwälzungen überall auf der Erde und ist meist dem Terror der Gegenrevolution ursächlich geschuldet. Auf alle Fälle versteht es sich - vor allem für Marxisten - von selbst, dass die jeweils näheren Umstände genau zu eruieren sind - unter Berücksichtigung der historischen Gegebenheiten. Dazu gehört im von Revolutionswirren geschüttelten Iran etwa ein von den USA angeschobener Krieg seitens des Irak, in dem die "Mujahedin", wie auch schon in Afghanistan, eine ungute Rolle spielten, ja sich sogar teilweise als Kommunisten tarnten. Hilfreiche Lektüre hierzu die Autobiografie der Richterin und Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi "Mein Leben". Dessen ungeachtet wird jeder Humanist sich willkürlichen Gewaltakten mit aller Entschiedenheit entgegenstellen, will er oder sie nicht an Glaubwürdigkeit einbüßen und an Selbstachtung verlieren.

Zurück zu F. Siklosi, der jetzt in seiner Polemik zu Israel springt: "Wenn der Staat Israel bis zur letzten Monade als imperialistische Macht seziert wird, so kann man dieses Vorgehen auch gegen die Hamas oder Hisbollah verlangen. Von deren Unterstützern aber bekommt man keine Infos über deren Aufbau. Als Kommunisten kann man sich nicht mit Rackets solidarisieren, die zurück ins Mittelalter wollen".

Gegen wen richtet Soklosi seine billige Polemik? Wer "seziert den Staat Israel bis auf die letzte Monade" und vor allem, was soll das heißen? Der Staat Israel muss dringend einer kritischen Prüfung unterzogen werden und darf nicht länger als sakrosankt gelten, will man ihm und seinen Bürgern sowie denen, die unter sein Besatzungsregime gezwungen sind, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Kritik am sich selbst exklusiv als "jüdisch" definierenden Staat kommt ja zum Glück zunehmend aus den eigenen Reihen. So etwa vom israelischen Historiker Ilan Pappe in dessen Buch "Die ethnische Säuberung Palästinas" (dt. 5. Auflage 2008 engl. 2006). Hinzuweisen ist weiter auf Kritiker wie Felicitas Langer, Ruven Moskovitz, Moshe Zuckermann, Uri Avnery oder etwa auf die Stimmen von US-amerikanischer Seite, wie die von Noam Chomsky (in den "Zeitfragen" vom 9.2.09), von Joel Kovel "Overcoming Zionism - Creating a single democratic State in Israel/Palestine", veröffentlicht in Kanada 2007. Auch die wichtigen Publikationen des US-amerikanischen Historikers Norman Finkelstein, dessen Mutter das Warschauer Ghetto überlebte und dessen Vater aus Auschwitz entkam, müssen gehört werden. Die Familie wurde in mehrfacher Hinsicht zu Opfern des Völkermordes an den Europäischen Juden, daher sind seine Recherchen besonders ernstzunehmende Beiträge zur Kritik des völkerrechtswidrigen Vorgehens Israels. Finkelstein zufolge wird der Holocaust für Unrechtshandlungen am palästinesischen Volk instrumentalisiert. Dafür wird er perfider Weise als "selfhating Jew" ausgegrenzt, ja es wird ihm sogar das Etikett "Holcaust-Leugner" verpasst, was nicht hinnehmbar ist. Nicht nur seine Familiengeschichte, sein daraus folgendes humanitäres Engagement, sondern vor allem seine Redlichkeit als Wissenschaflter wird damit diffamiert.

Aber auch die Schrift des US-Amerikaners palästinensischer Herkunft, Ali Abunima, "One Country", New York 2006, bedarf der Würdigung. Kovel und Chomsky haben übrigens beide jüdische Wurzeln. Kovel ist Psychoanalytiker und Chomsky Sprachwissenschaftler, Abunima ist Journalist. Will Siklosi diesen Kritikern ihr gutes Recht streitig machen oder kennt er ihre Beiträge einfach nicht? Der geforderten kritischen Würdigung müssen sich natürlich sowohl Hamas als auch Hisbollah wie ausnahmslos alle Akteure gleichermaßen stellen, auch die kollaborierende Autonomiebehörde im Westjordanland. Die laufend erfolgende verleumderische Darstellung ist nämlich keine solche kritische Würdigung. Eine solidarische Kritik muss berücksichtigen, dass es sich um Widerstandsbewegungen zur Verteidigung von Völkern handelt, die unter permanenter Kriegs- bzw. Boykottbedrohung leben. Die Partner unserer Solidarität können nur jene sein, die das Vertrauen ihrer Landsleute genießen. Wir sind in einer schlechten Position, den Opfern vorzuschreiben, auf welche Weise sie sich zu wehren haben, vor allem solange die Solidaritätsbewegung bei uns zu Hause vor sich hin schwächelt, ja kaum existent ist.

Eine sachliche Analyse zu verschiedenen Aspekten der Hamas legt etwa Ivesa Lübben vom Averroes Institut für Wissenschaftliche Islamforschung vor (http://www.scribd.com/doc/111996736/ Ivesa-Luebben-Warum-Der-Waffenstillstand-Scheitern-Musste). Dort ist allerdings von keinen "Rackets" die Rede, die ins Mittelalter wollen. Auch auf Helga Baumgartens Buch "Hamas", München 2006 sei hingewiesen.

In einer Flugschrift der Baseler und Grazer Palästina-Solidarität vom April des Jahres heißt es zur Hamas: "Wir teilen nicht die konservativ-religiöse Weltanschauung der Hamas ... Dennoch treten wir dafür ein, dass die Hamas wie alle palästinensischen Widerstandsorganisationen von den Terrorlisten der USA und Europas gestrichen und ohne Vorbedingung als Verhandlungspartner anerkannt werden." Eine solche Forderung wird zurecht auch in der offen-siv zur Unterstützung vorgeschlagen.

Die englische Vokabel "rackets", mit der Siklosi die Hamasanhänger tituliert, bedeutet übrigens (Tennis-)Schläger. Wozu benutzt der Autor die mit "Schläger" konnotierende Vokabel?? Es kommt aber noch schlimmer, es wird im nächsten Satz die völlig unsinnige, ja bösartige Behauptung aufgestellt, dass "aus Gaza jeder aufgeklärte Mensch nach dem Wahlsieg der Hamas geflüchtet" sei. Spätestens hier drängt sich die Frage auf, woher der Autor die Informationen für seine Unterstellungen bezieht. Weiß er wirklich nicht, dass Gaza das derzeit größte Freiluftgefängnis ist, aus dem es kein Entkommen gibt und das nicht erst seit den Bombardements im Januar 09? Weiß er nicht, dass der 360 qkm umfassende Küstenstreifen, in dem 1,5 Millionen Menschen, davon 2/3 Flüchtlinge leben, nach allen Seiten abgeriegelt ist, strengstens bewacht von den israelischen Besatzern, die den Streifen nach Belieben bombardieren, dabei weißen Phosphor einsetzen und andere geächtete Waffen? Weiß er nicht, dass Gaza eines der dichtest beisiedelten Gebiete der Erde ist und die Kassamraketen symbolische Waffen der Hilflosen sind? Diese ungenauen Raketen verwenden Menschen, die einem unsäglichen täglichen Terror ausgesetzt, die aufs engste zusammengepfercht, dahinvegetieren auf Grund des Boykotts durch Israel, was sie aber nicht widerstandslos hinzunehmen bereit sind, weder die Frauen, noch die Männer.

Der Absatz, in dem in "orientalistischer Manier" (Eduard Said) dem palästinesischen Widerstand in Gaza das Attribut "fortschrittlich" entzogen wird, schließt mit einem weiteren Sprung und einer weiteren arroganten Unterstellung "Die fortschrittlichen Afghanen sind schon vor dem Abzug der Sowjetunion nach Europa emigriert". Was hat der palästinensische Widerstand zunächst mit dem des afghanischen Volkes zu tun, das allerdings ebenfalls gegen eine illegale Besatzungsmacht kämpft, möchte man den Autor fragen? Vielleicht aber dann doch mehr als der Mann und viele sich kritisch dünkende Kritiker ertragen können: Widerstand gegen eine Besatzungsmacht ist überall auf der Erde durch das Völkerrecht abgedeckt, nicht aber ein unprovozierter Krieg und dazu noch ein mit international geächteten Waffen gegen eine wehrlose Zivilbevölkerung geführter.

Meine Frage an die Herausgeber: Was hat ein solch hanebüchen uninformierter Text in einer Zeitschrift wie offen-siv zu suchen, die mit Hilfe von Spenden und ehrenamtlich, um der Sache der Menschrechte willen, produziert wird? Vielleicht den, eine Debatte wirklich fundierter Natur anzustoßen. Nur dann wäre ein solcher Beitrag hilfreich.

Allerdings ist auch der anspruchsvollere Text von Thomas Waldeck einer Kritik zu unterziehen, ist er doch nicht frei von wenig hilfreichen "Orientalismen", wenn er etwa über die Unklarheiten des "Herrn Ajmadinejad" räsonniert. Sein Ton ist unhöflich und erinnert an den Umgangston jener Kräfte, die während der Antirassismuskonferenz der UNO im April die Rede des Staatsmanns gestört und boykottiert haben. Zweitens ist die Äußerung ein Zeichen seiner eigenen Unklarheit, denn inzwischen dürfte bekannt sein, dass der iranische Präsident die ihm unterlegte Holocaustleugnung weder wörtlich noch sinngemäß getätigt hat, noch je die Auslöschung Israels von der Landkarte gefordert hat, worauf ja die "Unklarheiten" anspielen.

Die Debatte, die dringend geführt werden muß, gehört auf eine andere Ebene, geht es doch um die Organisierung des Widerstands gegen eine menschenverachtende, ja rassistische Besatzungspolitik im Orient.

Es geht um die Opposition gegen Krieg und Besatzung im Irak, in Afghanistan, in Palästina, gegen eine fortgesetzte Kriegsdrohung gegen den Iran, gegen permanente Einmischungsversuche im Sudan und anderswo in Afrika, gegen die Schaffung immer neuer Kriegsherde unter dem fadenscheinigen Vorwand der Sicherung von Menschenrechten. Es klingt wie Asche, wenn immer wieder daran erinnert werden muss, dass es in Wahrheit um Geostrategie und Rohstoffsicherung geht, um die Verewigung von Kriegen im Interesse des weltweiten militarisch-industriellen Komplexes. Es müssen aber alte Wahrheiten wieder ins Gedächtnis gerufen werden, so die, dass Imperialismus und Krieg Zwillingsschwestern sind. Der Barbarei ein Ende machen, ob im Nahen oder im Fernen Osten oder in Afrika können wir aber nur, wenn wir aufhören in sektiererischen Kategorien zu denken, wenn wir aufhören damit, den herbeigeredeten "Zusammenprall der Zivilisationen" (Huntington) mitzumachen und stattdessen Respekt einüben gegenüber außereuropäischen Zivilisationen. Wir müssen uns den verordneten Feindbildern verweigern: Nicht das Judentum, nicht der Islam, nicht die Hindus oder die Religionen sind zu verurteilen, sondern jene Kräfte, die sich ihrer zur Verschleierung ihrer sehr irdischen Ziele bedienen.

Weil eine objektivierende Debatte, die den Westen beleuchtet, verhindert werden musste, wurden kürzlich Kräfte des globalen Nordens gegen die Antirassismuskonferenz in Genf mobilisiert. Das im Hauruck-Verfahren vorfristig verabschiedete Abschlussdokument der Durban-Nachfolgekonferenz ist nicht nur in Bezug auf aktuelle rassistische Kriege und darauf folgende Besatzungsregime völlig nichtssagend. Es ist aber dennoch oder gerade deswegen im Interesse der Verteidigung von Völkerrecht und Menschenwürde in der größeren Nahost-Region dringend geboten, auch in Deutschland eine Kampagne anzustoßen, die anderen Ländern längst läuft und die da lautet BDS / Boykott-Divestment-Sanktionen. Es geht darum, öffentlichen Druck auszuüben für eine Änderung der Politik gegenüber Israel. Infragezustellen ist dabei auch das Assozierungsabkommen zwischen der EU und dem Staat Israel (2008). Bereits 100 Organisationen fordern europaweit dessen Rücknahme.

Endziel der Forderungskette muss der Abbruch der diplomatischen Beziehungen sein - im Falle einer Nichtbeendigung des Besatzungsregimes und der Blockade von Gaza. Die Kampagne muss, will sie ihr menschrechtlich gebotenes Ziel erreichen, von Charakter und Umfang her an jene gegenüber dem Apartheidstaat Südafrika anknüpfen.

Dem üblicherweise zu erwartenden Antisemitismusvorwurf ist "offen-siv" zu begegnen.

Margarete Pfliegner, Berlin

Raute

Michael Opperskalski: Klassenkämpfe heute - eine Analyse zur Rolle des politischen Islam

"Gott ändert nichts am Schicksal eines Volkes, solange das Volk sich nicht selbst geändert hat" (Koran, Sure 13/11)

Seit dem Sieg der antiimperialistischen iranischen Volksrevolution 1979 hält die Diskussion um die Rolle des Islam als politischer Katalysator gesellschaftlicher Prozesse an, hat in den letzten Jahren sogar an Intensität und Brisanz zugenommen. Dies um so mehr, da der Sieg der "islamischen Revolution" im Iran Bewegungen des politischen Islam in der gesamten Region ermutigt und gestärkt hatte. Betrachten wir Entwicklungen im Libanon, Irak oder den Golfstaaten so wird zudem deutlich, dass der geostrategische Einfluss des Iran als Regionalmacht seit der nordamerikanischen Aggression gegen den Irak im Jahr 2003 deutlich zugenommen hat.

Es geht also - zusammengefasst - um die Rolle des politischen Islam im Rahmen nationaler Klassenkämpfe wie auch in regionalen und internationalen antiimperialistischen Kämpfen. Dieser Aufsatz soll einige, wichtige Anregungen zur Verwissenschaftlichung der Diskussionen unter den Linken, insbesondere der Kommunisten, liefern. Das hat sehr gute Gründe...

Auch Linke und sogar solche, die sich selber als Kommunisten verstehen, argumentieren bezüglich der Rolle des politischen Islam in den antiimperialistischen Kampfes objektiv analog imperialistischer Positionen und Desinformationen. Dies konnte man sogar in der "offen-siv" (Nr. 2/09) nachlesen: "Seitdem sich der Kapitalismus historisch durchgesetzt hat, wird dieser von Links und Rechts bekämpft. Die Kommunisten erkennen seine dialektische Entwicklung und wollen die positiven Errungenschaften übernehmen, um zum Sozialismus voranzuschreiten. Und es gibt die Gegenaufklärung. Sie besteht aus Feinden des Lebens. Sie wollen die Uhr bis zum Mittelalter zurückdrehen", schreibt der Autor Franz Siklosi in einem Schlüsselsatz, der zwar sehr verklausuliert ist, aber dennoch in der Gesamtbetrachtung seines Artikels aufgelöst wird. Für ihn sind nämlich die "Feinde des Lebens" nicht die Barbaren des Imperialismus, sondern unterschiedslos und undifferenziert, damit unmarxistisch, alle Vertreter des politischen Islam. Siklosi verklausuliert, wohl weil er sich selber als "linker" Kritiker der DKP versteht. Vertreter der DKP-Führung sind da wesentlich offener und direkter, gehen aber im Kern von der gleichen Ausgangsposition aus: "Nein, wir wollen und können mit einer Schwarz-Weiß-Darstellung dessen, was im Irak vorgeht, nicht dienen. (...) Im Irak kämpfen zwei terroristische Zentren, der imperialistische Block unter Führung der USA und der politische Islamismus, um Herrschaft und Einfluss. Sie tun dies auf dem Rücken des irakischen Volkes", schreibt die Wochenzeitung der DKP, UZ, im Namen der Redaktion am 19.11.04 und denunziert gleich wenige Zeilen weiter jene, die diese Weltsicht nicht teilen als "Linkssektierer" sowie die "geistige Allianz von 'Ultralinken' und religiös Wahnsinnigen". Wo solche Positionen vertreten werden, darf Robert Steigerwald ganz offensichtlich nicht fehlen, wenn er diese Positionierung quasi ideologisch "absichert": "Ende Januar hat sich in Beirut (siehe dazu ausführlich: "offen-siv", Nr.2/09, d.Verf.) ein eigenartiges Bündnis zusammengeschoben, über das österreichische 'Antiimperialisten' im Internet berichten. Unter der Überschrift: 'Islamische und linke Antiimperialisten vereinigen sich' steht da u.a.: 'Der stellvertretende Generalsekretär der Hizbollah, Scheich Naim Kassem, drückte in der Eröffnungssitzung den gemeinsamen Geist aus: Es existieren heute lediglich zwei Blöcke in dieser Welt. Der des US-Imperialismus und seiner Alliierten und auf der Gegenseite der Widerstand ungeachtet seiner ideologischen, kulturellen oder religiösen Verwurzelung. Der Widerstand muss vereint gegen seinen gemeinsamen Feind auftreten und dies ist nur möglich, indem seine Vielfältigkeit respektiert wird.' Dieses Treffen wurde von den 'Antiimperialisten' euphorisch als Signal begrüßt, Schritte zu einer breiten internationalen 'antiimperialistischen Front' zu gehen. Wie ist so etwas einzuschätzen? Wie sollten sich Marxisten in einer solchen Situation verhalten? Der Sachverhalt ist: Leute, die sich als 'Linke' bezeichnen, gehen hier mit Vertretern reaktionärer Kräfte zusammen. Die Klassenfrage bleibt wie die reaktionären Gesellschaftsvorstellungen dieser Islamisten völlig unbeachtet." Ähnliche Positionierungen lassen sich auch bei anderen DKP-Führungsvertretern leicht finden. Inhaltlich jedoch unterscheiden sich die zitierten Einschätzungen des politischen Islam durch die DKP kaum - und selbst die Wortwahl riecht nach Identität - von den Ideologen und Propagandisten des Imperialismus - von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", hinter der ja angeblich immer ein kluger Kopf steckt, bis hin zu den üblich Verdächtigen der "Bild-Zeitung.

Es handelt sich aber wohl nicht um Eintagsfliegen einzelner Funktionäre, sondern ganz offensichtlich um die Einschätzung der DKP als Partei - auch wenn es Genossinnen und Genossen gibt, die diese Einschätzung nicht teilen und kritisieren. Das sind dann wohl auch Genossinnen und Genossen, die von den DKP-Offiziellen in Anführungsstrichen geschrieben werden, weil man wohl ganz offensichtlich all jenen, die die zitierten Einschätzungen nicht teilen können, ihre linken, marxistischen oder marxistisch-leninistischen Grundpositionen in Frage stellen, sie "verdächtig" machen möchte.

Da sich Robert Steigerwald selber wohl auf der Höhe theoretischer Einschätzung sieht und von den fernen Höhen dieses Elfenbeinturms scheinbar sehr prinzipiell, aber wohl eher platt-demagogisch, die Klassenfrage stellt, sei in an dieser Stelle gefragt, ob dieser Turm so hoch ist, dass er nicht mehr erkennen kann oder will, dass die DKP fern davon ist, bei der Partei Die Linke jede Art von Klassenfrage zu stellen...

Die DKP geht jedoch noch einen Schritt weiter. Die zitierten Positionen führen sie objektiv weg von prinzipiellen Positionen des Antiimperialismus. Dies ist belegbar, schaut man sich die strategische Unterstützung für die so genannte "Irakische Kommunistische Partei" an, die zu einer Quislingsorganisation des US-Imperialismus verkommen ist. Schon kurz nach der zionistisch-israelischen Aggression gegen den Libanon 2006 forderte die DKP im Namen ihres Vorsitzenden eine Beendigung des Aggressionskrieges auf Basis der schon in den ersten Kriegsstunden öffentlich gewordenen UN-"Lösungsvorschlägen". Diese "Lösungen" sollten darauf abzielen, die imperialistischen Kriegsziele am Verhandlungstisch durchzusetzen: eine Entwaffnung des Widerstandes und eine imperialistisch-zionistische Dominanz über das Zedernlandes. Ganz offensichtlich hat sich die DKP der Erkenntnis verschlossen, dass von der UN nichts anderes als ein Instrument des Imperialismus übrig geblieben ist und wenn auch nur als zahnloser Tiger. Als Gaza zerbombt wurde verweigerte sich die DKP einer prinzipiellen Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand und machte u.a. die Hamas faktisch für die zionistische Aggression verantwortlich, während sich die Marxisten der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) Seite an Seite mit Kämpfern der Hamas, des Islamischen Djihad und anderer Palästinenserorganisation sich mit der Waffe in der Hand den zionistischen Aggressoren in den Weg stellten. All dies ist beweis- und belegbar, nachzulesen in Publikationen der DKP, auch im Internet. Und diese Liste könnte noch hinsichtlich anderer antiimperialistischer Kämpfe verlängert werden...

Tatsache scheint mir deshalb zu sein: die notwendige Diskussion über Grundsatzfragen der Bündnispolitik und damit auch über die Rolle des politischen Islam muss geführt werden, besonders auch in der "offen-siv". In die "offen-siv"-Diskussion "passen" jedoch keine Beiträge à la Siklosi, weil sie objektiv verhindern, dass diese Diskussionen auf marxistischer Basis geführt werden.

Rückblende

Nähern wir uns nach diesen einführenden Worten nun der Thematik. Doch leisten wir uns zunächst eine kleine historische Rückblende. Die Klischees, die in den bürgerlichen Medien - nicht nur - der Bundesrepublik über den politischen Islam nach dem Sieg der antiimperialistischen Volksrevolution im Iran in den schwärzesten Farben gezeichnet wurden, sind inzwischen gängig, wurden faktisch zur Blaupause für ähnliche Propagandabilder zum Beispiel aktuell zur Hizbollah im Libanon oder der Hamas in Palästina; Islam bedeute, so hieß es 1979, "Zurück ins Mittelalter", "Fanatiker der Macht" und vor allem die unkontrollierte Bedrohung "unserer Ölquellen im Mittleren und Nahen Osten". Der "greise Fanatiker Chomeini" wurde deshalb schon 1979 schon zum Alibi für Benzinpreiserhöhungen.

Für den indischen "Islamforscher" Dr. Surindar Suri ging die Bedrohung sogar noch tiefer: "Die Fragen, die sich aus der islamischen Revolution in Iran ergeben, reichen über die Zukunft dieses Landes weit hinaus. In der Tat steht nichts Geringeres auf dem Spiel als die künftige Gestaltung unserer Zivilisation". (1) [36] Zbigniew Brzezinski, Ex-Sicherheitsberater der USA, umriss das Problem mit strategischen Gesichtspunkten: "Entlang der Küsten des Indischen Ozeans erstreckt sich bogenförmig eine Krisenzone mit zerbrechlichen sozialen und politischen Strukturen in einer Region, die für uns von vitaler Bedeutung ist, und der Zerstückelung droht. Es besteht die Gefahr, dass das daraus folgende politische Chaos Elementen zugute kommt, die unseren Werten feindlich gesonnen sind, mit unseren Gegnern aber sympathisieren."(2)

Ich glaube, bereits mit diesen Zitaten aus der unmittelbaren Phase nach dem Sieg der antiimperialistischen Volksrevolution im Iran wird deutlich, dass es den imperialistischen Strategen bei der Einschätzung der viel diskutierten "Renaissance des Islam" weniger um die Einschätzung dieser Religion geht, als um die Eindämmung zutage getretener Potenzen, die der Herrschaft des Imperialismus in dieser Region gefährlich werden könnten. John Laffin bestätigte diese Aussage sehr offen: "Würde sich islamisches Verhalten auf religiöse Aktivitäten beschränken, egal wie begünstigend das ausfallen mag, so könnte man dies tolerieren. Ich muss aber nochmals betonen, dass der Islam nicht nur eine Religion ist." (3) Und hier zieht sich nun der imperialistische rote Faden von 1979 ins dreißig Jahre spätere 2009, allerdings vor dem Hintergrund der "Zeitenwende" der siegreichen Konterrevolution in den sozialistischen Ländern Europas sowie der daraus folgernd vom Imperialismus deklarierten so genannten "Neuen Weltordnung" der imperialistischen Barbarei.

Der 11. September als weiter "Einschnitt"

Seit dem 11. September 2001 scheint eine neue Epoche angebrochen zu sein, die angeblich von einer internationalen Bedrohung durch den Terrorismus gekennzeichnet wird. Bombenanschläge in Indonesien, Tschetschenien oder Europa, Selbstmordattentate im Nahen Osten - das alles sind blutig durch die Medien geisternde Horrorszenarien, die angeblich gegen uns alle gerichtet sind. Hat sich also eine "extremistische islamistische Internationale" gegen die "westliche Zivilisation" verschworen?

"Ja !" - schreien uns als Antwort die einflussreichsten Politiker, westliche Geheimdienstvertreter und Journalisten entgegen. Schenkt man ihnen Glauben, so steht die Welt nach dem Ende des so genannten "Kalten Krieges" vor einer neuen, vielleicht noch gefährlicheren Herausforderung, einer "islamistischen Bedrohung": fanatisch motiviert, bestens organisiert, materiell ausgezeichnet ausgestattet und mit einer wachsenden Zahl von zu allem entschlossenen Kämpfern. Diese Bedrohung trägt auch einen Namen: Al-Qaida.

Der bekannte nordamerikanische Politologe und einflussreiche Stratege Samuel P. Huntington spricht in diesem Zusammenhang schon seit längerem, also noch weit vor dem 11. September 2001 (!), vom "Kampf der Kulturen" und schlussfolgert: "Ohne die Vorherrschaft der USA wird es auf der Welt mehr Gewalt und Unordnung und weniger Demokratie und wirtschaftliches Wachstum geben, als es unter dem überragenden Einfluss der Vereinigten Staaten auf die Gestaltung der internationalen Politik der Fall ist. Die Fortdauer der amerikanischen Vorherrschaft ist sowohl für das Wohlergehen und die Sicherheit der Amerikaner als auch für die Zukunft von Freiheit, Demokratie, freier Marktwirtschaft und internationaler Ordnung in der Welt von zentraler Bedeutung." (3) Die Anschläge vom 11. September 2001 auf das Pentagon und das World Trade Center sollten in dieser Hinsicht "zur Zeitenwende" werden; hatte sich das strategische Konzept der nordamerikanischen globalen Dominanz nach dem Ende des so genannten "Kalten Krieges" und des Verschwindens bzw. der Zerschlagung der Sowjetunion vom Ende der 80er, dem Beginn der 90er Jahre an immer deutlichere Konturen angenommen, so ist es seit dem 11. September 2001 zum Dogma nordamerikanischer Politik auf strategischem, politischem, ökonomischen und militärischem Gebiet geworden. Nicht nur die Angriffskriege gegen Jugoslawien und den Irak sind blutige Belege hierfür...

Der 11. September sollte zum Fanal werden.

Wir alle werden uns noch an die ersten, schrecklichen Bilder von den einstürzenden Zwillingstürmen des World Trade Center in New York am 11. September 2001 erinnern. Es dauerte weniger als eine Stunde, als die ersten "Verantwortlichen" für den Terror-Anschlag medial ausgemacht waren: die Palästinenser, ganz konkret: die "Demokratische Front zur Befreiung Palästinas" (DFLP). Dieser Medienballon platzte jedoch recht bald und es blieben für einige Zeit noch "die Palästinenser" - extremistische natürlich, was auch immer das heißen mag - übrig. Doch nur wenige Stunden nach dem Anschlag schien der tatsächliche Verantwortliche ausgemacht: Osama bin Laden, medial international zur weltweiten Bedrohung aufgeblasen.

Nachdem die Kriegsherren in Washington wochenlang handfeste Beweise für die Verantwortung Osama bin Ladens an den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon der internationalen Öffentlichkeit schuldig blieben, erschien plötzlich alles klar: ein ca. 40 Minuten langes Video flimmerte weltweit über die Bildschirme und der mit Bomben und Granaten gejagte "Terroristenchef" plaudert in trauter Runde mit einigen Anhängern über wirres Zeug, mystische Bilder und beschreibt anscheinend prahlend seine organisierende Rolle bei den terroristischen Angriffen in den USA. Damit wurde dann die von den USA initiierte und geführte "Kampagne gegen den internationalen Terrorismus" legitimiert und mit ihr natürlich auch die eingesetzten Mittel - von international geächteten Streubomben bis zur systematischen Zerstörung eines ohnehin bereits kaputten und bitterarmen Landes - gerechtfertigt. Jeder, der in dieser Atmosphäre hinterfragt oder gar nicht alles für bare Münze nimmt, was ihm vom Pentagon und den Medien vorgesetzt wird, gerät in die Gefahr, zum "Osama-Freund" abgestempelt zu werden.

Bereits der nordamerikanisch geführte Golfkrieg gegen den Irak 1991 und der Krieg gegen Jugoslawien belegten anschaulich, dass das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist. Umso intensiver läuft die westliche Desinformationsmaschinerie, um die "Kampagne gegen den internationalen Terrorismus" ständig zu ölen und auf weitere Ziele auszuweiten. Wie weltweit sich US-Operationen erstrecken könnten, belegte zuletzt ein Artikel in der International Herald Tribune vom 4. Dezember 2001, der - gestützt auf Informationen aus Regierungskreisen - ausführt, dass die US-Strategen planten, gegen "Al-Qaida Schläferzellen in mehr als 60 Ländern" vorzugehen, wenn erst einmal die wichtigsten Militäroperationen in Afghanistan beendet seien. Die Zeitung unterstreicht diese Aussage auch durch ein Zitat des stellvertretenden nordamerikanischen Verteidigungsministers Paul Wolfowitz: "Wenn wir die Al Qaida in Afghanistan eliminiert haben, dann haben wir immer noch eine Menge zu tun." Im Gespräch waren zu diesem Zeitpunkt bereits (!) und ganz offen von den Falken in Washington zu Markte getragen - wie auch immer geartete - Angriffe auf den Libanon, Libyen, den Irak, Syrien und den Iran; entsprechende Planungen sowie Diskussionen halten bis heute an. Ganz oben auf der Prioritätenliste Washingtons stand jedoch der Irak und der Sturz der irakischen Regierung mit der Zielsetzung, ein pro-amerikanisches Regime in Bagdad einzusetzen. Dies wurde dann auch im Frühjahr 2003 vollzogen, wobei die US-Amerikaner angesichts des wachsenden Widerstandes des irakischen Volkes mit der Einsetzung und vor allem Verankerung einer Marionettenregierung zunehmende Schwierigkeiten haben.

An eindeutig manipulierten Vorwänden, einen US-Angriff auf den Irak international legitimiert erscheinen zu lassen, wurde daher seit Jahren, verstärkt jedoch seit den Terrorangriffen vom 11. September 2001, eifrig gebastelt. Einige Beispiele hierfür sind der "Anthrax-Skandal" in den USA sowie die Versuche, den Irak mit der Al-Qaida bin Ladens sowie den Attentätern vom 11. September in Verbindung zu bringen. Mitte Oktober 2001, also bereits sehr kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center und Pentagon (!), melden die Medien in groß aufgemachten Schlagzeilen, dass es Verbindungen zwischen dem Auftreten von Anthrax-(Milzbrand)-Fällen und den Organisatoren der Anschläge gäbe: "Milzbrand-Spur deutet auf Todespiloten - Verbindungen zwischen dem Todesfall in Florida und zwei der Kamikaze-Flieger aufgedeckt." (4) Bin Laden und seine Leute schienen also der biologischen Kriegsführung gegen die USA fähig. Quellen für diese Horrornachrichten: FBI und Geheimdienst- sowie Regierungskreise in den USA. Und schon wurden Milzbrand-Verbindungen in den Irak gesponnen: "Während der frühere CIA-Direktor Woolsey und der ehemalige Leiter des UN-Programms, Butler, nicht ausschließen wollen, dass die in den Vereinigten Staaten ausgebrachten Milzbranderreger aus dem Irak stammen, wies der stellvertretende irakische Ministerpräsident Tariq Asis die Vorwürfe zurück." (5) Doch recht bald hat sich dieser Medienrenner als lahme Desinformationsente entpuppt. Inzwischen gilt als ausgemacht, dass die Milzbrand-Anschläge "hausgemacht" sind. Greenpeace-Deutschland meldete am 29. November 2001 als Vorabinformation eines Artikels des Organisationsmagazins, dass die todbringenden Anthrax-Sporen aus US-Labors stammten. (6) "US-Biowaffenexperte der Milzbrand-Attentate verdächtigt - Experten gehen davon aus, dass mit den Anschlägen Geld für die Forschung erpresst werden sollte." (7) Angesichts dieser Entwicklung blieb auch dem FBI, das zunächst Spuren in Richtung Al-Qaida und Irak legen wollte, nichts anderes übrig, als vorsichtig zurückzurudern, ohne vollends das Gesicht zu verlieren: "Das FBI hat immer noch keine heiße Spur. (...) Die Mitarbeiter des amerikanischen Bundeskriminalamtes FBI suchen mittlerweile verzweifelt selbst nach kleinsten Hinweisen, die auf mögliche Attentäter deuten könnten." (8) Auch in dieser Meldung steckt bereits wieder eine organisierte und erneut geheimdienstlich gelenkte Desinformation der nordamerikanischen und internationalen Öffentlichkeit: wenn die manipulierten Berichte, die den Irak und Al-Qaida in Verbindung mit den Milzbrand-Anschlägen bringen sollten, schon kläglich platzen, dann muss ein angeblich emsiges Unvermögen des FBI herhalten, die wahren Hintergründe zu verschleiern: das ausufernde Programm für biologische Kriegsführung in den USA!

Während die Milzbrand-Story so langsam abstarb, legten US-Geheimdienste und Desinformationsstrategen bereits eine weitere Spur in Richtung Bagdad im verzweifelten Bemühen, einen Vorwand für den herbeigesehnten Angriff auf das Land am Euphrat und Tigris zu konstruieren. "Am Dienstag gingen die westlichen Geheimdienste in die mediale Offensive und ließen verlauten, Bagdad sei 'wahrscheinlich' in die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon 'verwickelt'. Nicht nur das: Auch hinter den Milzbrandattacken in den Vereinigten Staaten 'könnte' der Irak stehen. Diese 'sehr ernst zu nehmende Vermutung' eines 'hohen CIA-Beamten' durfte gestern die deutsche Nachrichtenagentur dpa verbreiten. Sie sekundierte damit Associated Press." (9) Unterstützt wurden die "Vermutungen" streuenden US-Geheimdienste durch Medienberichte und Verlautbarungen aus Regierungskreisen - einschließlich eindeutiger Stellungnahmen des tschechischen Premiers Zeman (!!) - in der Tschechischen Republik, nach denen sich ein in Prag unter diplomatischer Tarnung stationierter irakischer Geheimdienstagent mehrfach mit dem Attentäter Mohammad Atta getroffen hätte. Zeman führte dabei sogar aus, dass der irakische Geheimdienstbeamte und Atta einen gemeinsam Anschlag auf die Zentrale des Senders Radio Free Europe geplant hätten. (10) Tschechische Medien und Politikerkreise sind für ihre ausgezeichneten Beziehungen zum nordamerikanischen Geheimdienst CIA bekannt. Die Hauptstadt Tschechiens, Prag, dient der CIA als wichtige Operationsbasis in Osteuropa, der von der CIA jahrelang finanzierte und bis heute beeinflusste Desinformationssender Radio Free Europa hat seit einigen Jahren seine Zentrale in der tschechischen Hauptstadt.

Bereits relativ kurz, nachdem sie gelegt wurde, hat sich auch diese "irakische Spur" als übles Gebräu aus der US-Geheimdienstküche erwiesen. Selbst bürgerliche Medien mussten die ganze Geschichte, die sie eins selber herausposaunten, bereits kleinlaut in Zweifel ziehen. (11) Wie hatte man uns als Kinder immer wieder gewarnt: "Wer dreimal lügt, dem glaubt man nicht!"

Und dennoch: obwohl die geheimdienstlich inszenierte Spur von Bagdad zu Al-Qaida bereits mehrfach als Lügenmärchen geplatzt ist, wird ihr wiederholt medial Leben eingehaucht, um den Angriffskrieg gegen den Irak und die anhaltende völkerrechtswidrige Besetzung des Landes im Rahmen des "internationalen Kampfes gegen den Terrorismus" zu rechtfertigen. (12) Und das, obwohl die Bush-Administration inzwischen offiziell zugeben musste, dass die "Terrorbedrohung durch den Irak" aus der Luft gegriffen war und ist: "US-Präsident George W. Bush hat einem Zeitungsbericht zufolge in einer im Oktober Hinweise des US-Geheimdienstes auf mögliche Verbindungen zwischen dem Irak und der Terrororganisation Al-Qaida übertrieben. In einer Verschlusssache des Geheimdienstes sei in vorsichtigen Worten von möglichen Verbindungen die Rede gewesen, berichtete die Washington Post. Zugleich sei aber in dem Geheimdienstbericht, der zum Zeitpunkt von Bushs Rede von Regierungsbeamten eingesehen worden sei, vor der Glaubwürdigkeit mancher Hinweise gewarnt worden.(12) "Bevor es andere tun, beweist nun George W. Bush, dass seine Kriegsgründe gegen Irak erlogen waren. Man habe keine Hinweise auf eine Verwicklung des irakischen Präsidenten Saddam Hussein in Terrorattacken gegen die USA. Der US-Präsident widersprach damit am Mittwochabend (Ortszeit) der in den USA vorherrschenden Ansicht, dass Iraks Ex-Diktator etwas mit den Anschlägen in New York und Washington zu tun habe. 'Wir haben keine Belege für die Verwicklung Saddam.' Bushs Sprecher hatte zuvor ausdrücklich betont, es gebe eine lange Geschichte zwischen dem Regime Saddams und dem Terrorismus, der von Al-Qaida getragen werde. Dieses Terrornetzwerk wird für die Attacken am 11.9.2001 in New York und Washington verantwortlich gemacht. Der Präsident, so heißt es nun, habe stets nur erklärt, dass der 11. September deutlich mache, wie wichtig es sei, 'den neuen Bedrohungen' präventiv zu begegnen. Nur in diesem Zusammenhang habe er betont, dass Saddam Hussein keine Möglichkeiten gegeben werden dürfe, Massenvernichtungswaffen an Terroristen zu liefern. Doch auch diese irakischen Massenvernichtungswaffen waren offenbar eine Erfindung Washingtons." (13)

Desinformation hat Methode und auch Tradition

Von Washington geheimdienstlich gesteuerte Desinformationen hatten immer wieder Methode. Viele der Mechanismen, Strukturen und Strategien waren in dieser Hinsicht bereits während des so genannten "Kalten Krieges" entstanden, waren systematisch ausgebaut worden und wurden in die so genannte "Neue Weltordnung" übernommen. Sie sollten zum einen Vorwände für Kriege und Interventionen liefern, nach Möglichkeit für deren öffentliche Unterstützung werben und zugleich die wahren Motive und Hintergründe verschleiern. So ist es eben auch bei der "Kampagne gegen den internationalen Terrorismus".

Das Ziel, eine öffentliche und weltweite Unterstützung für den von den USA geführten Krieg gegen Afghanistan, den Irak sowie mögliche andere Ziele, so den Iran zum Beispiel, herbei zu schreiben und medial abzusichern liegt inzwischen recht deutlich auf der Hand. Die hier beschriebenen Fälle sind nur als einige Beispiele, wenn auch gravierende, herausgegriffen. Sie belegen jedoch recht anschaulich die geheimdienstlich gesteuerte und/oder aufbereitete Desinformation als integraler Bestandteil der so genannten "Neuen Weltordnung".

Die umfassenden und langfristig angelegten geostrategischen und ökonomischen Ziele der USA in der Region Zentral-Asiens, die mehr als Öl und Pipelines zum Transport desselben beinhalten, sollen hinter dem Schleier der "Kampagne gegen den internationalen Terrorismus" versteckt werden.(14) Den Tausenden von Toten im World Trade Center und dem Pentagon zum Trotz haben die US-Strategen bisher entsprechend diesen Zielen von den Anschlägen profitiert.

Also: wer steckt nun hinter dem Gespenst "Al Qaida"?

Wenden wir uns zunächst einmal dem Zentrum des angeblichen Übels zu: Afghanistan. Dieses Land wurde u.a. auch deshalb zerbombt, um die Infrastruktur des "Terrornetzwerkes Al-Qaida" zu zerschlagen. Angeblich habe diese Organisation Dutzende von Ausbildungslagern am Hindukush unterhalten, in denen "Terroristen" für Anschläge in den USA, Europa und anderswo ausgebildet worden seien. Inzwischen wurden in einigen dieser Zentren Unterlagen gefunden, die Aufschluss über die dort durchgeführten Ausbildungsprogramme geben: "Al Qaida bildete tausende Soldaten aus - Die Terrororganisation Al Qaida des Extremisten Osama bin Laden hat nach einem Bericht der New York Times in großen Stil Soldaten ausgebildet. Das gehe aus Dokumenten hervor, die amerikanische Militärs und Reporter der Zeitung in dem Land gefunden haben. Bisher waren amerikanische Experten davon ausgegangen, dass in den Lagern lediglich Terroristen für Anschläge gegen westliche Ziele trainiert worden waren. Die geheimen Lagepläne und Notizbücher belegten jedoch, dass die Kämpfer in den so genannten Dschihad-Schulen eine militärische Grundausbildung erhielten. (...) Seit 1996 seien in den Stützpunkten 20000 Kämpfer der Taliban und Al-Qaida für den Krieg gegen die Nordallianz ausgebildet worden. Sie lernten den Umgang mit verschiedenen Waffen und trainierten unterschiedliche Gefechtsszenarien, berichtet das Blatt. (...) Erstaunt seien die Experten auch von der Qualität des Schulungsmaterials gewesen (...), da in verschiedenen Camps die gleichen Lehrmaterialien gefunden wurden. In den Unterlagen gab es keine Hinweise, dass Al-Qaida über Massenvernichtungswaffen verfügt." (15) Die medial zu Horrorstories aufgeblasen "Terroristencamps" schrumpfen also real zu mehr oder weniger "normalen" Ausbildungslagern für die Taliban-Soldaten zusammen. Und auch die Internationalität der Ausbilder lässt sich viel einfacher und realistischer erklären, als es in den zahllosen Medienberichten ausgewalzt wird, die inzwischen zu so einem bedrohlichen Dickicht angewachsen sind, dass sie kaum mehr zu durchschauen ist.

Fakt ist jedoch, dass praktisch alle zu Al-Qaida gerechneten Organisationen wie Personen über "Afghanistanerfahrungen" verfügen, also entweder an der Seite der afghanischem Mudjahedin in den 70er und 80er Jahren gegen die Regierung in Kabul und die sie - auch mit starken Truppenverbänden - unterstützende Sowjetunion gekämpft hatten oder aber sich später im Land am Hindukush aufgehalten hatten. Der überwiegende Großteil der internationalen Taliban-Helfer rekrutiert sich vor allem aus Algerien und Ägypten sowie aus Tschetschenien und anderen islamisch geprägten Republiken der ehemaligen Sowjetunion sowie aus Pakistan. Algerier und Ägypter strömten aus zwei Gründen nach Afghanistan: zum einen war ab Mitte der 90er Jahre ihr Plan gescheitert, ihre Heimatländer zu "islamischen Republiken" ihrer (tatsächlich faschistischen) Vorstellungen zu bomben, zum anderen entsprach das Gesellschaftsmodell der Taliban eben diesen, ihren Vorstellungen. Was liegt also näher, aus der Region des Nahen Ostens nach Kabul zu pilgern, um ihren Brüdern im Geiste aktiv unter die Arme zu greifen? Die anderen Nationalitäten - vor allem Pakistaner und Islamisten aus ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus - sind im wesentlichen Strandgut sowie Aktivposten der jahrelangen CIA-Destabilisierungen der gesamten Region.(16)

Und hier berühren wir den eigentlichen Kern des Problems. Der nordamerikanische Geheimdienst CIA hat - mit aktiver Unterstützung seines israelischen Partnerdienstes MOSSAD - bereits seit Beginn der 70er Jahre im Nahen und Mittleren Osten sowie in Asien die Bildung "islamistischer Terrororganisationen" gefördert, initiiert und unterstützt, um diese gegen den damaligen Hauptfeind, die Sowjetunion, einzusetzen, aber auch, um in Washington ungeliebte Regierungen oder Befreiungsbewegungen wie die PLO sowie andere progressive Kräfte der Region aktiv zu destabilisieren. Die in der US-Botschaft in Teheran gefundenen und später veröffentlichten CIA-Dokumente belegen z.B., dass der nordamerikanische Geheimdienst 1978 nach Möglichkeiten suchte, um mit Hilfe von kontrollierten "islamischen Fundamentalisten" die anti-monarchistische Bewegung im Iran zu zersplittern und auf diese Weise das faschistische Schah-Regime zu stützen; nach dem Sieg der iranischen Revolution schuf die CIA die "islamistische Terror-Truppe Forghan", um mit gezielten Mordanschlägen der Revolutionsbewegung "die Köpfe wegzuschießen".(17)

Die Wurzeln reichen weit zurück

Einen entscheidenden Höhe- und Entwicklungspunkt erreichte diese strategische Konzeption des Aufbaus von im Interesse der USA operierenden und einsetzbaren "islamistischen Contra-Truppen und Organisationen" sicherlich mit dem Krieg in Afghanistan, den die USA von Beginn an - und mit Erfolg (!) - zu einem Krieg gegen die Sowjetunion eskalierten. "Bereits 1980, kurz nachdem sowjetische Truppen in Afghanistan eingefallen waren, um ein ihr sympathisches linkes Regime zu stützen, hatte Präsident Jimmy Carter das erste - und für lange Zeit einzige - Papier unterzeichnet, das in einer geheimen Direktive, die vom Gesetz in den USA vorgeschrieben wird, Anweisung gab, geheime Operationen zu beginnen. Dies behaupten verschiedene westliche Quellen, die dieses Dokument kennen. Der Eckstein dieses Programms war, dass die Vereinigten Staaten, über die CIA, Gelder und Waffen für die Rebellen zur Verfügung stellen würden, dass die Verantwortung für die tagtäglichen Operationen und geheimen Kontakte mit den Mudjahedin jedoch dem pakistanischen Geheimdienst (Pakistani Inter-Services Intelligence Agency, ISI) übertragen würde. Saudi Arabien sagte finanzielle Unterstützung für die Mudjahedin zu und sandte sie direkt zum ISI. China verkaufte Waffen an die CIA und gab eine kleinere Anzahl direkt den Pakistanis, aber der Umfang und die Rolle Chinas war eines der bestgehüteten Geheimnise während des geheimen Krieges. Alles in allem gaben die Vereinigten Staaten in den achtziger Jahren mehr als 2 Milliarden US-Dollar an Waffen und finanzieller Unterstützung an die Mudjahedin aus. Dies war das umfangreichste Programm an geheimen Aktionen seit dem Zweiten Weltkrieg. Vor allem von der chinesischen Regierung kaufte die CIA Gewehre, Raketenwerfer und leichte SA-7 Anti-Flugzeugraketen, um sie nach Pakistan zu schicken. (...) Der Umfang war beeindruckend - 10.000 Tonnen alleine im Jahr 1983, so berichtet General Yousaf, aber trotzdem nur ein Bruchteil von dem, was in den kommenden Jahren noch geliefert werden sollte. (...) Im Oktober 1984 landete ein besonders ausgerüstetes Flugzeug des Typs Starlifter C-141 in Islamabad, Pakistan. An Bord befand sich kein geringerer als der Dirktor der CIA, William Casey. Dies war der Beginn eines Geheimbesuch, der zum Ziel hatte, eine Strategie im Krieg gegen die Sowjetunion in Afghanistan zu entwickeln. Mit Hubschraubern besuchte Casey drei geheime Ausbildungslager der afghanischen Mudjahedin in der Nähe der afghanischen Grenze, wo er die Mudjahedin in der Nähe der afghanischen Grenze im Umgang mit schweren Waffen und bei der Herstellung von Bomben beobachtete, die mit Hilfe von der CIA geliefertem Plastiksprengstoff und Zündern zusammengebaut wurden. Während seines Besuches überraschte Casey seine pakistanischen Gastgeber mit dem Vorschlag, den afghanischen Krieg ins feindliche Gebiet, d.h. in die Sowjetunion auszudehnen. Herr Casey sollte subversive Propagandamaterialien über Afghanistan in die angrenzenden, südlichen und mehrheitlich muslimischen Sowjetrepubliken schmuggeln. Die Pakistanis stimmten diesem Vorschlag zu und schon bald lieferte die CIA tausende Exemplare des Koran (...) - das wissen pakistanische und westliche Diplomaten zu berichten. 'Wir können der Sowjetunion großen Schaden zufügen!', sagte Casey während des Treffens mit den Pakistanis, berichtete der damals anwesende General Mohamed Yousaf. Der Besuch von Herrn Casey war laut verantwortlichen westlichen Stellen das Vorspiel für eine geheime Entscheidung der Reagan-Administration vom März 1985, den Krieg in Afghanistan zu verschärfen (...)."(18)

Pakistan als Aufmarschgebiet

Pakistan wurde zu einem Aufmarschgebiet für die von den USA ausgebildeten und ausgerüsteten Mudjahedin - in ihrem Charakter nichts anderes als vom imperialistischen Geheimdiensten kontrollierte, geschaffene und ausgerüstete Terroristen - und zur Drehscheibe verschiedenster und umfangreicher Operationen. "Um die massive militärische Unterstützung für die afghanischen Mudjahedin vom pakistanischen Territorium aus zu organisieren, wurde der diplomatische Apparat der USA in Pakistan militarisiert. So hat zum Beispiel eine Reihe von Personal der US-Botschaft Kriegserfahrung während der US-Aggression in Vietnam gemacht (...). Daher kann man zurecht behaupten, dass jeder Besuch einer dieser US-'Diplomaten' bei einer der verschiedenen Militärbasen der afghanischen Mudjahedin nichts anderes ist als eine professionelle militärische und/oder geheimdienstliche Mission, um den Gebrauch von Waffen zu inspizieren und zu überwachen, die von den USA geliefert werden. Diese Militärlager liegen in Warsak, Nuskhi, Quetta, Peshawar, Miram Schah, Kachi-Garhi, Dir, Pishin, Terry-Manghal, Jelam Khan, Dagbesud und Raghani - um nur einige der wichtigsten zu nennen. (...) Peshawar ist besonders wichtig für die CIA, zum einen wegen der Nähe der Stadt zur afghanischen Grenze und zum Kyber-Pass als Einfallstor in dieses Land, zum anderen weil Peshawar als Zentrum der verschiedenen Mudjahedin-Gruppen dient. Wegen dieser Bedeutung wurde eine zweite CIA-Basis unter Dr. Louis Dupree und seiner Frau Nancy Hatch aufgebaut. Er arbeitet unter der Tarnung eines Archäologieprofessors der Universität von Pennsylvania und ist als Afghanistan-Experte bekannt. 1978 war Dupree aus Kabul wegen seiner Verwicklung in einen Putschversuch ausgewiesen worden und seitdem sinnt er auf Rache. Der US-Vizekonsul und Mitarbeiter der USIS, Richard E. Hoagland (Telefon: 41463) und Herr Omar Malikyar der Voice of America zeichnen verantwortlich für zahlreiche anti-afghanische Propaganda- und Desinformationskampagnen. Diese zwei sind im wahrsten Sinne des Wortes Spezialisten in psychologischer Kriegführung! Richard Hoagland ist zugleich Direktor des Amerika-Zentrums, einem Nest der Korruption, in dem alkoholische Getränke ausgeschenkt werden und indem Mudjahedin um Unterstützung betteln. Zu den regelmäßigen Gästen des Amerika-Zentrums gehören der pakistanische Brigadegeneral Fahimullah Khattak und ein gewisser Rasul Amin, der dem so genannten Verband der Schriftsteller des Freien Afghanistan/WUFA vorsteht, einer Gruppe, die unter der Ägide der USA ins Leben gerufen wurde." (19)

Instrumente der CIA

Der pakistanische Militärgeheimdienst ISI wurde zum Instrument der CIA, über den logistische und materielle Unterstützung für die afghanischen "islamischen Terroristen" lief. "'Die Beziehungen zwischen der CIA und dem ISI (Pakistans militärischer Geheimdienst) entwickelte sich sehr eng nach dem Sturz Bhuttos und 'General' Zias (Zia Ul Haq, d. Verf.) Machtübernahme und der Installierung des Militärregimes.' (...) Während fast der gesamten Zeit des afghanischen Krieges war Pakistan wesentlich aggressiver anti-sowjetisch als selbst die Vereinigten Staaten. Bereits kurz nachdem die Sowjets 1980 in Afghanistan einmarschiert waren, beauftragte Zia (Ul Haq) seinen ISI-Chef, die sowjetischen zentral-asiatischen Staaten zu destabilisieren. Die CIA stimmte diesen Planungen erst im Oktober 1984 zu. (...) Beide, Pakistan wie die USA, wählten bezüglich Afghanistan den Weg des Betrugs mit einer oberflächlichen Bekundung für eine Verhandlungslösung, während sie im Hintergrund darüber übereinstimmten, dass die militärische Eskalation der beste Weg sei." (20) "Mit Unterstützung der CIA und massiver US-amerikanischer Waffenhilfe hatte sich der pakistanische ISI 'in eine parallele Struktur entwickelt, die eine enorme Macht über die pakistanische Regierung entfaltete.' Das ISI-Personal umfasste Militär- und Geheimdienstoffiziere, Bürokraten, under-cover-Agenten, Informanten - insbesondere eine geschätzte Zahl von 150.000." (21) Im Rahmen ihres umfangreichen Ausbildungsprogramms für die Mudjahedin lag ein Schwerpunkt auch auf einer klaren ideologischen Orientierung. Dementsprechend wurden von CIA und ISI Materialien ausgearbeitet und verbreitet, Koranschulen aufgebaut und/oder unterstützt, bei deren Inhalten es sich um eine extrem vulgäre Zuspitzung von plattesten Versatzstücken aus islamistischem, antikommunistischen und nationalistisch-chauvinistischem Gedankengut handelt. Das erklärt, warum viele anerkannte islamische Religionsgelehrte diese religiös verbrämten ideologischen Positionen als mit dem Islam unvereinbar oder aber zumindest als dessen Verfälschung bezeichnen. "Das von der CIA gesponserte Guerilla-Training hatte Islam-Kurse als integralen Bestandteil: 'Die vorherrschenden Themen waren, dass der Islam eine komplette sozio-politische Ideologie ist, dass der Islam durch die atheistischen sowjetischen Truppen verletzt würde und dass die islamischen Menschen Afghanistans durch den Sturz der linken, von Moskau eingesetzten Regierung (in Kabul, d. Verf.) ihre Unabhängigkeit wiedererlangen würden'."(22)

Aus dieser Zeit reichen auch die engen Kontakte des nordamerikanischen Geheimdienstes zu Osama bin Laden, der für den Krieg Washingtons tausende arabische Kämpfer rekrutierte und mobilisierte. "Von der CIA und dem pakistanischen 'militärischen Geheimdienst' ISI (Inter Services Intelligence) ermutigt, der den afghanischen Djihad in einen globalen Krieg aller islamischen Staaten gegen die Sowjetunion verwandeln wollte, nahmen ungefähr 35.000 moslemische Radikale aus 40 islamischen Ländern zwischen 1982 und 1992 am afghanischen Krieg teil. Mehrere Zehntausende kamen, um in den pakistanischen Madrasahs (Koranschulen, d. Verf.) zu studieren. Alles in allem wurden mehr als 100.000 moslemische Radikale direkt durch den afghanischen Djihad beeinflusst."(23)

Über Pakistan baute die CIA mit Finanzhilfe aus Saudi-Arabien auch die Taliban auf, die Afghanistan schließlich im Auftrag der USA "stabilisieren" sollten, als das Land in den 90er Jahren im Chaos rivalisierender Mudjahedin-Banden zu versinken drohte. Auch hier spielte Osama bin Laden wiederum eine Schlüsselrolle. Erst, als die Taliban nicht so funktionierten, wie es die Strategen in Washington geplant hatten, wurden sie fallen gelassen. US-Realpolitik eben, die sich ausschließlich an geostrategischen und ökonomischen Interessen orientiert. Heute kämpfen diese Taliban deshalb - neben anderen - gegen diejenigen, die sie einst schufen, organisierten, unterstützen und die heute, in Koalition mit anderen imperialistischen Mächten, zu imperialistischen Besatzern ihres Landes wurde. Sie fügen ihnen in diesem Kampf strategische Verluste zu und schwächen damit strategisch den Imperialismus. Daher richtet sich ihr Kampf in dieser historischen Situation objektiv gegen den Imperialismus, ohne mit progressiven, revolutionären oder national-demokratischen Gesellschaftsvorstellungen verbunden zu sein, weil sich der grundsätzliche Charakter der Taliban ja nicht verändert hat. Der aktuelle "Fall Afghanistan" ist ein Beispiel dafür, dass unter ganz bestimmten Umständen, die historisch, ökonomisch, politisch und/oder geostrategisch definiert werden müssen, sich objektiv antiimperialistische Positionen eines Regimes oder der objektiv antiimperialistische Charakter eines Kampfes nicht notwendigerweise von den gesellschaftspolitischen Zielsetzungen ihrer Träger her definieren lassen.

Noch heute ist Pakistan eine Drehscheibe für zahlreiche vom Imperialismus als "islamistische Terroristen" charakterisierte Elemente, die die Region des Kaukasus, also die ehemaligen "islamischen Republiken" des Sowjetunion destabilisieren. Und wieder geht es um Rohstoffe und geostrategische Planungen im Rahmen der so genannten "Neuen Weltordnung", in der die USA den weltweiten Hegemon zu spielen suchen. Das erklärt, warum das ungeheure logistische Netz des "nordamerikanischen Djihad", das CIA und ISI während des Krieges in Afghanistan aufgebaut hatten, nach dem Abzug der Sowjetunion aus Afghanistan und dem "offiziellen" Ende des "Kalten Krieges" von beiden Sponsoren aufrecht erhalten wurde. "Was den Krieg in Tschetschenien betrifft, so wurden die wichtigsten Rebellenführer, Shamil Bassayev und Al Khattab, in Lagern in Afghanistan und Pakistan ausgebildet, die von der CIA gesponsert werden. Folgt man Yossef Bodansky, dem Direktor des 'US Task Force on Terrorism and Unconventional Warfare', dann wurde der Krieg in Tschetschenien auf einem geheimen Treffen der Hizbollah International 1996 in Mogadischu (Somalia) geplant. Teilnehmer dieses Treffens waren Osama bin Laden sowie hochrangige iranische und pakistanische Geheimdienstoffiziere. In diesem Zusammenhang geht die Verwicklung des ISI in Tschetschenien 'weit über die Lieferung von Waffen und Know-how an die Tschetschenen hinaus: der ISI und seine radikalen islamischen Hilfstruppen sind derzeit diejenigen, die den Krieg bestimmen'." (24) Osama bin Laden und die von Afghanistan, vor allem jedoch Pakistan, ausgehenden logistischen Strukturen waren jedoch zudem den Strategen in Washington und ihrer CIA dabei behilflich, Jugoslawien zu destabilisieren und den Bürgerkrieg in diesem Land anzuheizen. "Das bedeutet mit anderen Worten, dass der Islamische Staat der Taliban (als er noch den geostrategischen und langfristigen ökonomischen Interessen der USA nutze, d. Verf.), unterstützt von Pakistans militärischem Geheimdienst ISI, der wiederum von der CIA kontrolliert wird, im Wesentlichen den US-amerikanischen geopolitischen Interessen diente. Der Drogenhandel des Goldenen Dreiecks wurde zudem dazu genutzt, die islamische Armee Bosniens zu Beginn der 90er Jahre zu finanzieren und auszurüsten. Das gleiche gilt für die 'Kosovo Befreiungsarmee' (KLA/UCK). In den letzten Monaten gab es Indizien dafür, dass Söldner der Mudjahedin in den Reihen der UCK in Mazedonien kämpften."(25)

Damit ist das, was "Al Qaida" genannt wird, im wesentlichen nichts anderes als Operationsmasse sowie Strandgut von Sonderoperationen des nordamerikanischen Geheimdienstes, unterstützt von den Freunden des israelischen MOSSAD, aber auch anderer westlicher Dienste.(26)

Dieser "Al-Qaida"-Exkurs sollte die Ambivalenz des politischen Islam aufzeigen, die es gerade für Linke so oft so schwer zu machen scheint, ihn richtig einschätzen zu können. Da ist jene Form des politischen Islam, der als Al Qaida oder - wie in Saudi-Arabien - staatlich organisiert, als Instrument des Imperialismus wirkt, da kann es in bestimmten (historischen) Situationen Kräfte des politischen Islam (siehe u.a. Taliban) geben, deren Agieren objektiv gegen einen Imperialismus oder den Imperialismus als "Gesamtsystem" - und wenn auch nur in einem Aspekt - gerichtet ist und dann gibt es eben auch Kräfte des politischen Islam, die über den Antiimperialismus hinaus revolutionäre - fast in ihrer gesamten Bandbreite - Positionen vertreten können. Hinzu kommt, dass sich entsprechende Polarisierungen, Zuspitzungen, Auseinandersetzungen, Differenzierungen, Klärungsprozesse gerade in den Jahren nach dem Sieg der Konterrevolution in den sozialistischen Ländern und der Etablierung der imperialistischen so genannten "Neuen Weltordnung" sehr schnell und dynamisch entwickelt haben und weiterhin entwickeln. Dies ist nichts anderes als harter Klassenkampf, wenn er sich auch als Ausdrucksform und zudem in aller Widersprüchlichkeit im Rahmen des politischen Islam bewegt...

Zu den "Wurzeln"

"Wenn der Islam in Klassenkämpfen der Gegenwart eine Belebung erfährt, so liegt die Möglichkeit hierzu in seinem Wesen begründet. Er besitzt eine ausgesprochen politisch-soziale Dimension, die sich für die tatsächliche oder illusionäre Bewältigung von Problemen, die die Eigenstaatlichkeit bereit hält, aktivieren lässt." (27) Zum Verständnis ist es daher notwendig, einiges zur Entstehungsgeschichte und dem gesellschaftlichen Kontext der "Geburt" des Islam zu sagen.

Der Ursprung des Islam liegt geografisch auf der arabischen Halbinsel mit der Handelsstadt Mekka als Mittelpunkt. Vor allem der gesamte Nord-Süd-Handel wurde auf der ehemaligen "Weihrauchstraße" abgewickelt und hatte in Mekka seinen Umschlagplatz. Die soziale Organisation in dieser historischen Phase waren Stämme, die in den Oasen Ackerbau und Viehzucht, an der Küste Fischfang und in der Wüste Handel und Fernhandel trieben. Auf religiösen Gebiet vorherrschend war der Polytheismus bzw. Polydämonismus (28).

Es bildete sich mit der Zeit eine Oberschicht von Kaufleuten und Finanzmanagern ("Wucherer") heraus, die Arbeitsteilung unter den Stämmen führte zu einer ungleichen Entwicklung dieser. Beide Tendenzen bewirkten die langsame Auflösung des Stammescharakters der Gesellschaft, der traditionellen Stammesverbänden. Die kleineren Stämme oder die ärmeren Sippen in Mekka versuchten, sich schließlich sogar gegen die Dominanz der koreischitischen Stämme der Mahzdum und der Umaya zur Wehr zu setzen und schlossen sich zeitweilig unter der Führung der Banu Hasim zur "Tugendliga" (Hilf al-Fudul) zusammen.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass mit dem Auflösen der traditionellen gesellschaftlichen Organisationen der Stämme und Sippen einherging die Entwicklung sozialer Spannungen und Auseinandersetzungen; dies waren Gegenbewegungen gegen die Vorherrschaft der reichen Stämme, die Macht der reichen Stammesfürsten und Kaufleute, gegen die ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen, gegen Feindschaften, Blutrache etc.

Als der Begründer des Islam, Mohammad, um 570 n. Chr. geboren wurde, wurde er Zeuge dieser gesellschaftlichen Prozesse. Mohammad war Mitglied einer armen Sippe des mekkanischen Stammes der Hasim. Er wurde sehr früh Vollwaise. Mit 25 Jahren heiratete er eine wohlhabende Witwe. Er nahm an Handelsreisen bis nach Syrien teil und lernte so die monotheistischen Religionen des Judentums und des Christentums kennen.

Als Mitglied einer armen Sippe stand er parteiisch auf Seite jener gesellschaftlichen Kräfte, die sich damals gegen die Vor machtstellung der reichen Stammesfürsten und Kaufleute auflehnten. Gleichzeitig erfuhr er, dass die Symbole der altarabischen Götzenverehrung skrupellos als Rechtfertigungs- und Bereicherungsquelle der sich herausbildenden feudalen Oberschicht benutzt wurden. Die monotheistischen Religionen, die er kennen gelernt hatte, wurden den neuen Anforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung auf der arabischen Halbinsel nicht gerecht. Die neue Religion, der Islam, den er schuf, sollte zum einen den Forderungen der armen Sippen und Stämme nach Gerechtigkeit (und damit teilweise der Zurückentwicklung der gesellschaftlichen Entwicklung auf die Ebene der "Stammesgesellschaft") nachkommen, zum anderen war die Schaffung einer islamischen Bewegung gegen die "ungläubigen reichen Stammesfürsten und Kaufleute" zur Erringung der Macht notwendig. Damit zielte diese Bewegung ab auf die Schaffung eines starken zentralen islamischen Staats- oder Stammesgebildes.

Vor diesem Hintergrund ist der Islam von Anfang an ambivalent "angelegt", zum einen in seinem Anspruch der Schaffung von sozialer und politischer Gerechtigkeit auf Erden für die Armen und Unterdrückten, zum anderen als Rechtfertigung für islamische Herrschaft.

Träger der neuen Religion

Träger der neuen Religion waren zunächst die armen Sippen und Stämme oder Personen, die sich in Auseinandersetzung mit den mächtigen reichen Cliquen standen. Für die Armen und Unterdrückten dieser Zeit war die neue Religion Mohammads Hoffnung und Mittel zugleich, gegen die weltliche Unterdrückung anzugehen.

Die mekkanische Oberschicht mit der Sippe der Mahzum an der Spitze wandte sich dagegen mit Nachdruck gegen den sich ausbreitenden Islam und seine Anhänger. Der ökonomische und physische Druck wurde schließlich so groß, dass Mohammad und seine Anhänger aus Mekka fliehen mußten. Er ging nach Yatrib, dem späteren Medina, nach erfolglosen Bemühungen, in der Nachbarstadt Ta'if Anhänger zu gewinnen.

In Medina entwickelte sich die erste Urform der islamischen Gemeinde, der "Umma", ein Übergang von den bisherigen Stammesbindungen zu einem neuen Gemeinwesen, dass zwar die gentilen Strukturen beließ, die religiösen Bindungen und Gebote jedoch höher stellte und wesentlich zentralistischer war als eine bloße Gemeinschaft von Stämmen und Sippen. Die gesellschaftlichen Forderungen und Ansprüche des Islam sollten zudem bewirken, dass die negativen Ansätze der sich auf der arabischen Halbinsel herausbildenden Feudalgesellschaft vermieden wurden. Mohammads Ziel war es, von Medina aus, seine islamische Bewegung zu entwickeln, die Stämme und Sippen zu einen, um das reiche Mekka und seine herrschende Clique in die Knie zu zwingen und zurückzukehren. Mekka sollte der erste große Sieg der neuen Religion werden und zugleich Ausgangspunkt für die - wenn es not wendig wurde gewaltsame - Missionierung der Welt. In dieser Zeit des gewaltsamen Kampfes gegen Mekka entstand auch der islamische Begriff des "Djihad", des "heiligen Krieges", in dem zu sterben die hohe Pflicht und Ehre eines jeden Moslems ist. Wer im "heiligen Krieg" für den Islam als Märtyrer fällt, ist unsterblich und kommt ohne göttliches Gericht ins Paradies.

Anfang 630 n. Chr. wurde der letzte Widerstand gebrochen. Mekka war zum Zentrum des Islam geworden. Von nun an richteten sich die "Energien, die im Zerfallsprozess der patriarchalischen Stammesgesellschaft frei wurden" (29) nach außen. Noch zu Lebzeiten Mohammads wurde Byzanz angegriffen (624 n. Chr.). Der Siegeszug des Islam in Asien und Afrika sucht in der Geschichte seinesgleichen. Trotz der Zerklüftung im Inneren des gewaltigen Weltreiches war sein Vordringen unaufhaltsam. Dort, wo er erfolgreich war, stieß die Islam auf ähnliche gesellschaftliche Verhältnisse, die sein Entstehen begünstigt hatten. 711 eroberten die Mauren Spanien, 1453 die Osmanen Konstantinopel, 1529 stießen sie bis Wien vor. Die Türkei, Syrien, Mesepotamien, Arabien und Ägypten wurden zu Hochburgen dieser revo lutionären Religion. Zugleich wurde das Vordringen des Islam bis nach Europa aber auch mehr als zum Synonym für gesellschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritt, der durchaus in Konsequenz gesellschaftliche Entwicklungsprozesse im so genannten Abendland frei setzte. Dies im Einzelnen an dieser Stelle nachzuzeichnen ist nicht die Aufgabe dieses Aufsatzes.

Die soziale Basis des frühen Islam war zum einen die Bewegung der kleineren und mittleren Händler und vor allem die armen Stämme und Sippen, so auch die Beduinen. "Der Islam ist eine auf Orientalen, speziell auf Araber zugeschnittene Religion, also einerseits auf handels- und gewerbetreibende Städter, andererseits auf nomadisierende Beduinen."(30)

Die neue Religion betrachtete sich als Fortsetzerin und Vollenderin der jüdischen und christlichen Religionen; dies gilt im Kern bis heute Die Glaubensquellen des Islam sind der Koran (als Wort Gottes) und die als fast gleichwertig geltende Überlieferung (Hadith) vom Reden und Handeln des Propheten (Sunna). Das Schicksal des Menschen ist von Allah bestimmt: "Es gibt keinen Gott außer Gott" war der Schlachtruf der Moslems in ihren Feldzügen gegen Mekka und andere "Ungläubige". Damit ist der Islam eine monotheistische Religion.

Die ideologischen Grundlagen der neuen Religion waren einfach: Wer zum Islam kommen wollte, musste als Glaubensbekenntnis Allah als einzigen Gott anerkennen, dessen Prophet Mohammad ist (sahada). Jeder Moslem hat Grundpflichten zu erfüllen, so:

das Bekenntnis zur Einheit Gottes und zur Prophetenschaft Mohammads
das fünfmalige tägliche Gebet (salat)
das Geben von Almosen an Bedürftige (sakat; später die Grundlage der Besteuerung)
das Fasten untertags (Saum) im Monat Ramadan
die Wallfahrt (Haddsch) nach Mekka, wenigstens einmal im Leben, wenn gesundheitlich und finanziell möglich

Auf diesen Pfeilern ruhend, sei es für den Islam möglich, Gerechtigkeit auf Erden zu schaffen. In diesem Zusammenhang ist Mohammads Appell an die sittliche Verantwortung der Reichen und Mächtigen zu verstehen, für die Armen und Unterdrückten der Gesellschaft einzustehen und ihnen zu helfen. Dafür hätten sie sich vor dem Gericht Gottes zu verantworten.

Noch zu Lebzeiten Mohammads, vor allem jedoch nach seinen Tod, war der Islam mächtig geworden; es war ein riesiges islamische Reich entstanden. Der Machtantritt des Islam als Ideologie der Herrschenden, die fortwährenden sozialen Ungerechtigkeiten in der sich entwickelnden Feudalgesellschaft auf der arabischen Halbinsel auf der anderen Seite, waren letztendlich Grundlage für die auftretenden Spannungen und Abspaltungen innerhalb der islamischen Bewegung; schließlich war der Islam ja angetreten, Gerechtigkeit auf Erden zu schaffen. Sowohl die Herrschenden des islamischen Reiches beriefen sich auf die Religion des Propheten, als auch jene, die auf Veränderungen hofften. So kam es schließlich zur Abspaltung der Charidschiten (Auszügler) und später der Anhänger Alis (Schiiten). Bis heute halten die Auseinandersetzung innerhalb der islamischen Bewegung um den "wahren Islam" an.

Festzuhalten bleibt also folgendes: Die Entstehungsgeschichte des Islam, seine Ansprüche und Inhalte sind nur vor dem Hintergrund der historisch-gesellschaftlichen Prozesse seiner Geburtszeit zu verstehen. Die arabische Halbinsel befand sich damals im Aufbruch von der gentilen Stammes- und Sippengesellschaft zur nächsten Formation, dem Feudalismus. Das war verbunden mit starken sozialen und gesellschaftlichen Spannungen: zum einen entwickelte sich die Clique der Feudalen recht schnell, zum anderen wehrten sich die armen Sippen und Stämme gegen diesen Prozess, der ihnen die existenzielle Basis beraubte. So entwickelten sich Forderungen nach einen "gesellschaftlichen Zurück" zu jener scheinbar harmonischeren Zeit der Gentilgesellschaft. Weiter stand die Notwendigkeit einer stärkeren Zentralgewalt objektiv auf der Tagesordnung.

All diesen Elementen versuchte die neue Religion Mohammads, der Islam, Rechnung zu tragen. "Der Islam war sowohl Ausdruck des gesellschaftlichen Fortschritts als auch Reaktion auf ihn. Er begleitete und förderte die damaligen politischen und sozialen Prozesse, indem er in besonderer Form Ideen, Haltungen und Beziehungen der bisherigen Stammesverhältnisse selektierte, sie modifizierte und mit Neuem kombinierte. Seinen Entstehungsbedingungen entsprachen seine betonte Ausrichtung auf das Kollektiv und seine anfangs nur geringe Individualisierung. Im Gegensatz zum Christentum war er aufs engste mit der Herausbildung und Ausbreitung eines neuen Staates verbunden, dessen politische und rechtliche Fundamente er sakralisierte. Der Begründer des Islam, Mohammad, war sogleich Prophet und Staatsmann (...) Diese stark aufs Diesseits gerichteten Bemühungen waren untrennbar mit dem tiefen Glauben an die Allmacht Gottes und die Abhängigkeit des Menschen von ihm sowie mit eschatologischen Vorstellungen verknüpft."(31)

Dominierende Weltanschauung in Asien, dem Nahen Osten und Afrika

Der Islam formte Gesellschaften und war in seinem Anspruch Gesellschaft. Damit ist Islam und Politik eine untrennbare Einheit. Der Islam wurde in den folgenden Jahrhunderten zur dominierenden Weltanschauung in Asien und Afrika. Dabei hatte er entscheidenden Anteil an der Auflösung der überkommenen Gentilordnungen und war somit in die Entwicklung der Klassengesellschaften involviert. Die Herrschenden beriefen und berufen sich auf ihn zur Rechtfertigung der Unterdrückung der Werktätigen, die Unterdrückten ihrerseits sehen in ihm das Mittel und den Weg ihre Befreiung. Diese Ambivalenz kennzeichnet das Wesen der Religion Mohammads sein ihrer Entstehung.

Der Islam "besitzt eine ausgesprochen politisch-soziale Dimension, die sich für tatsächliche oder illusionäre Bewältigung von Problemen, die die Eigenstaatlichkeit bereit hält, aktivieren lässt!"(9)

Renaissance des Islam?

Heute wird sehr viel von der "Renaissance des Islam" oder der "Re-Islamisierung" gesprochen. Diese setzt jedoch eine Ent-Islamisierung voraus. Sicherlich, mit dem Vordringen kapitalistischer Verhältnisse mit all ihren Begleiterscheinungen im arabischen Raum hat sich so eine Tendenz entwickelt, insbesondere innerhalb des Kleinbürgertums und besonders auch bei der nationalen und kompradoren Bourgeoisie; betroffen davon war jedoch nur ein kleiner Kreis von Menschen. Für die Masse der "einfachen" Muslime hat die Religion bis heute kaum an Bedeutung eingebüßt, selbst wenn man im Laufe der Jahrhunderte Modifizierungen registrieren kann. Gleichzeitig hoffen viele gläubige Muslims mit ihrer Religion auf grundlegende soziale Änderungen.

Derzeit gibt es etwa 600 Millionen Anhänger der Religion Mohammads, die besonders in sogenannten Entwicklungsländern leben. Allein diese geografische Dominanz und natürlich die quanti tative Ausbreitung machen den Islam zu einem Faktor, mit dem zu rechnen ist, im gesellschaftlich positiven wie negativen. Seinen Ursprung nach ist der Islam arabisch; er entstand - wie oben ausgeführt - im 7. Jhrd. auf der Arabischen Halbinsel und breitete sich von dort. Die meisten Muslime leben heute in den nichtarabischen Ländern Asiens und Afrikas, vor allem in Iran, Pakistan, Afghanistan, der Türkei, Bangladesh, Malaysia, Indonesien, Indien und in einigen Staaten des subsaharischen Afrika, darunter in Senegal, Mali und Niger. Muslime, wenn auch als Minderheiten, leben auch in West-Europa. Hier sind sie Teil der jeweiligen nationalen Arbeiterklasse. Ihre Gemeinde in der BRD hat allein mehr als 1,5 Mio. Anhänger. Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Muslimen ist in den südlichen Republiken der ehemaligen UdSSR beheimatet.

Trotzdem haben der Nahe Osten und Nordafrika zentrale Bedeutung behalten. Hier entstand der Islam und durchlebte seine Blütezeit. Hier liegen die "heiligen Städten", vor allem Mekka, wohin jeder gläubige Moslem mindestens einmal im Leben gepilgert sein muss. Während der jährlichen Pilgerreisen treffen sich in Saudi-Arabien Hunderttausende von Muslime, was ihnen ein Gefühl der Macht, Zusammengehörigkeit und internationalen Verbundenheit verleiht. Traditionell arbeiten in diesen Ländern auch die wichtigsten islamischen Bildungsstädten, wie z.B. die Azhar-Universität in Kairo. Besonders bedeutsam ist, das zu den islamischen "Kernländern" Öl exportierende Staaten gehören, in denen der Islam Staatsreligion und Staatsideologie ist, und die dank ihrer ökonomischen Ressourcen größere finanzielle Mittel in die Verbreitung des Islam investieren können. So entstehen auch in zahlreichen westeuropäischen Ländern islamische Kulturzentren und Moscheen, die von Ländern aus arabischen Region finanziert werden. Der Öl- und Rohstoffreichtum sowie ihre geostrategische Lage machen vor allem jedoch die Region des Nahen uns Mittleren Ostens zu einer herausragenden Region für außerregionales Interesse und daher imperialistische Begehrlichkeit.

"Als monotheistische Religion besitzt der Islam nach den Erkenntnissen der marxistisch-leninistischen Religionssoziologie eine bestimmte, als Einheit zu betrachtende Struktur. Sie umfasst neben dem gesellschaftlichen Bewusstsein mit seinen beiden Ebenen, der gesellschaftlichen Ideologie und der gesellschaftlichen Psychologie, auch religiöse Tätigkeit mit kultischen wie außerkultischen Aspekten, religiöse Beziehungen sowie religiöse Organisationen und Institutionen. Als Religion übt der Islam in der Gesellschaft verschiedene Funktionen aus: weltanschauliche, kompensatorisch-illusorische, kommunikative, regulative und integrative. Da nach Karl Marx 'das religiöse Elend in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend' ist, besitzt der Islam auch eine - häufig unterschätzte - protestierende Aufgabe. Alle diese Funktionen wirken gleichzeitig und aufeinander, nicht voneinander isoliert."(32)

Besonders in Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten ist der Islam gesellschaftlich bestimmend. Kennzeichnend für die Staaten dieser Region ist ihre nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende Rückständigkeit hinsichtlich der Entwicklung der Produktivkräften und den daraus resultierenden Folgen und Konsequenzen, z.B. auch und besonders hinsichtlich der Entwicklung der Arbeiterklasse. Diese Rückständigkeit ist Ergebnis kolonialer, halbkolonialer sowie neokolonialer Abhängigkeit dieser Länder und vorhergehender feudaler Ausbeutung. Einige Charakteristika lassen sich - bei allen und gleichzeitig existierenden Unterschiedlichkeiten - herausarbeiten: vorkapitalistische Verhältnisse bestehen noch neben kapitalistischen und halbfeudalen; hinzu kommt der in der Regel hohe Anteil der Bauern an der Bevölkerung, die immer krasser werdenden Unterschiede zwischen Stadt und Land, eine hohe Analphabetenrate und relative Schwäche der Arbeiterklasse.

Ihre staatliche Selbstständigkeit haben diese Länder bereits errungen und sie beschreiten zumeist den kapitalistischen Entwicklungsweg. Andere hatten und/oder haben auf die Überwindung der Ausbeutungsverhältnisse und eine antiimperialistische Entwicklung orientiert. Alle diese gesellschaftlichen Prozesse vollzogen und vollziehen sich in einem sehr kurzen historischen Zeitraum, sie sind konfrontiert mit den internationalen Auseinandersetzung im Rahmen der imperialistischen so genannten Neuen Weltordnung, was die wachsende innerimperialistische Konkurrenz unter den imperialistischen Hauptmächten einschließt. Die Folge des derzeit noch überwiegend eingeschlagenen kapitalistischen Entwicklungs weges sind starke imperialistische Abhängigkeit auf ökonomischen wie ideologischen Gebiet.

Musterbeispiel Iran

Ein Musterbeispiel hierfür war der Iran unter Schah Reza Pahlewi. Der amerikanische Imperialismus beherrschte, plünderte und unterdrückte das Land in enger Komplizenschaft mit den israelischen Zionisten. Der Schah und seine imperialistischen und zionistischen Freunde stellten den Iran als "Insel der Stabilität" dar. Sie hatten sich folgende Aufgaben gestellt:

Der Iran sollte in einen Friedhof des Friedens und der Freiheit verwandelt werden.

Die Atmosphäre des Terrors und der Unterdrückung sollte den Erdölmonopolen und den anderen imperialistischen Multis ermöglichen, Hand in Hand mit der iranischen Kompradorbourgeosie und Großgrundbesitzern die Reichtümer des Landes zügellos auszuplündern.

Die iranische Führung sollte die Rolle eines Vasallen der imperialistischen Mächte übernehmen, und zwar in einer außergewöhnlich wichtigen Region, die rund Zweitrittel des Energiebedarfs der kapitalistischen Welt deckte und amerikanischen, englischen und anderen imperialistischen Erdölmonopolen Dutzende Milliarden Dollar Profit brachte.

Das iranische Schah-Regime sollte die Rolle des Gendarmen in dieser Region spielen. Es war beauftragt, jede revolutionäre bzw. nationale Befreiungsbewegung grausam niederzuschlagen.

Der Iran sollte im Rahmen der imperialistischen antisowjetische Globalstrategie zu einem der wichtigsten politischen und militärischen Stützpunkte gemacht werden. Das Land sollte damit ein bedeutender Bestandteil der antisowjetischen Umkreisungspolitik werden, die, beginnend im Fernen Osten, d.h. Japan und China, über Pakistan und Iran, die Türkei und Griechen land erfasste und bis zu den NATO-Ländern Westeuropas reichte.

Der amerikanische Imperialismus und seine Helfershelfer hatten auf Grund eines langfristigen Programms, das schon im während des Zweiten Weltkrieges in Angriff genommen war,durch die Entsendung von militärischen Beratern für die iranische Armee, für die Gendarmerie und Polizei sowie von Wirtschaftsberatern, durch die Vorbereitung und Beteiligung an der verbrecherischen Zerschlagung der antiimperialistischen Volksbewegung in Aserbaidschan und Kurdistan (1946), durch das Verbot der Tudeh-Partei Irans (1949) und schließlich durch den Militärputsch vom 28. Mordad 1332 (19. August 1953) alle Voraussetzungen für die Verwirklichung ihrer Ziele geschaffen. Als Marionetten des Imperialismus ebneten Mohammad Reza Pahlewi und seine korrupte Familie den Weg.

Mit anderen Worten, der Iran unter der Schah-Despotie wies alle Charakteristika nahezu halbkolonialer imperialistischer Abhängigkeit auf: extreme Rückständigkeit (hoher Analphabetismus, Feudalverhältnisse auf landwirtschaftlichem Gebiet etc), totale politische und ökonomische Abhängigkeit vom US-Imperialismus, Ausbeutung der nationalen Reichtümer, besonders des Erdöls, durch ausländische imperialistische Konzerne, sowie den Versuch, auf den Bajonetten einer brutalen und korrupten Diktatur, den kapitalistischen Entwicklungsweg dem Land aufzupfropfen.

Der Despot bezeichnete sich selbst als "aufgeklärten islamische Herrscher", das unterdrückte iranische Volk ersehnte sich dagegen vielfach im politischen Islam die Errettung aus dem irdischen Joch. Die antiimperialistische Volksevolution gegen den Unterdrücker, wird deshalb von den Vertretern des politischen Islam als "islamische Revolution" bezeichnet.

Tatsache ist: nach dem Sieg der antiimperialistischen Volksrevolution in Iran wuchs der Einfluss des politischen Islam in unterschiedlicher Form an; islamischen Gruppen, Bewegungen und Organisationen in den Ölemiraten (Kuwait, Katar, Bahrain etc.) und in Saudi-Arabien nahmen einen ungeheueren Aufschwung. Auf den Philippinen kämpfte und kämpft die islamische Moro-Befreiungsfront gegen die US-abhängige Diktatur für Unabhängigkeit und Freiheit, innerhalb der Frente Polisario (West-Sahara) und auch der PLO existierten starke revolutionär-islamische Strömungen. Bei den Palästinensern sind inzwischen neben der PLO zwei starke Formationen des politischen Islam, Hamas sowie Islamischer Dschihad, entstanden, die sich die Befreiung Palästinas von israelisch-zionistischer Besatzung zum Ziel gesetzt haben. In zahlreichen Staaten Nordafrikas entstanden revolutionär-islamische Oppositionsbewegungen, andere Staaten dieser Region beschritten über Jahre hinweg unter der Flagge des Islam und des Sozialismus einen antiimperialistischen, national-demokratischen Entwicklungsweg (Algerien, Libyen oder das Ägypten Nassers). Nicht zu vergessen und inzwischen an herausragender Stelle fungiert die libanesische Partei Hizbollah als islamische, revolutionäre und anti-imperialistische Orientierungskraft vor allem, aber nicht nur für Organisationen und Parteien des politischen Islam in der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens. Hizbollah war es 2009 gelungen, die militärtechnologisch überlegene israelisch-zionistische Aggression gegen den Libanon zurückzuschlagen und einen scheinbar unbezwingbaren Feind zu schlagen. Damit erkämpfte Hizbollah einen Sieg, der von regulären arabischen Armeen bisher niemals erkämpft worden war...

Dabei konnten diese Entwicklungen an historische Beispiele anknüpfen, wo Vertreter des politischen Islam herausragende Rollen im antikolonialen, antiimperialistischen und sogar revolutionären Befreiungskämpfen gespielt hatten. Diese Erfahrungen haben sich zum Teil sehr tief in das Bewusstsein der Völker des Nahen und Mittleren Ostens gegraben. An dieser Stelle seien nur zwei bekanntere Beispiele genannt: So führte im Sudan die Armee des Mahdi (Mohammad Ahmed) Ende des 19 Jahrhunderts einen Befreiungskampf gegen den britischen Kolonialismus; dabei gelang es, 1885 Khartoum zu erobern in den Sudan für einige, wenige Jahre zu befreien. Bereits vor dem "Mahdi-Aufstand" hatte sich in Algerien das Volk unter Führung von Emir Abd Al-Khadir ab 1883 gegen die französischen Kolonialisten. Dieser Widerstandskampf konnte sich in breiter Form immerhin über ein Jahrzehnt lang halten und flackerte immer wieder neu auf, bis er sich Ende der 20er/zu Beginn der 30er erneut zu einem breiten Volkswiderstand unter Führung der Nationalen Befreiungsfront (FLN) entwickelte. Der algerische Volkswiderstand hatte in den letzten Jahres vor der Befreiung 1962 den Charakter eines Volkskrieges gegen den französischen Kolonialismus angenommen. Auch die FLN speiste sich aus Quellen des politischen Islam, wobei die Front allerdings bereits faktisch einen Volksfrontcharakter auch mit anderen politischen und ideologischen, auch sozialistischen, politischen Strömungen angenommen hatte. Dies war die Basis nicht nur für die national-demokratische Entwicklungsetappe nach der Befreiung, sondern vielmehr auch für die Öffnung hin zu einem sozialistischen Entwicklungsweg.

Die Verbindung zwischen Freiheitsstreben, antiimperialistisch und islamischen Zielsetzungen (mit teilweise national-demokratischer Orientierung) entnehmen wir auch dem Kommuniqué Nr. 1 des "Revolutionären Kommandorates" in Libyen vom Morgen des 1. September 1969, als die libysche Revolution unter Oberst Muammar AI-Khadafi den korrupten König Idris verjagte:

"Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Allmächtigen,
in Ausübung Deines freien Willens und in Verwirklichung Deiner lang gehegten Hoffnungen, als Antwort auf Deine wiederholten Rufe nach Veränderung und Säuberung, die auf Tatkraft und Entschlossenheit drängen und Umsturz und Gewitter losbrechen lassen, haben Deine Streitkräfte das dekadente, rückständige und reaktionäre Regime gestürzt, dessen Gestank den Geruchssinn betäubt und dessen Anblick uns anekelt. Durch einen einzigen Schlag Deiner furchtlosen Armee gerieten die Götzen ins taumeln und stürzten ....

Libyen wird fortan als eine freie, souveräne Republik gelten und Libysch-Arabische Republik (heute: "Sozialistische Libysche Arabische Volksdjamahiria) heißen, die sich, nach dem Willen Gottes, auf dem Wege zu Freiheit, Einheit und sozialer Gerechtigkeit, zu Tatkraft und Größe erheben wird, die all ihren Söhnen das Recht der Gleichheit sichern und ihnen die Tür zu ehrenvoller und anständiger Arbeit in einer neuen Gesellschaft öffnen wird, in der es keine Gekränkten, Mittellosen, keine Herren, keine Sklaven, sondern nur freie Brüder geben wird, die in eine Gesellschaft leben über die, so Gott will, das Banner des Wohlstandes und der Gleichheit wehen wird."(33)

Herausforderung auch in Saudi-Arabien

Als um die Jahreswende 1979/80 revolutionäre islamische Kräfte die heilige Moschee in Mekka besetzten und damit den Sturz des feudalen Systems in Saudi-Arabien initiieren wollten, fegte es durch die BRD-Medien: nun seien die "religiösen Fanatiker" in dem bis dahin als "stabilen und sicheren Land" gepriesenen Land am Werke. Verschwiegen wurde dabei wohlweislich der antimonarchistische und auf gesellschaftliche Veränderungen abzielende Hintergrund der Aktion.

Eine der stärksten islamischen Widerstandsorganisationen in Saudi-Arabien ist die Gruppe "Assalaf Al Saleh", die in den 60er Jahren gegründet wurde und ihre Anhänger hauptsächlich unter den Studenten, einigen Stämmen und der Nationalgarde sammeln kann. Ihre gesellschaftspolitischen Ziele lassen sich wie folgt umreißen:

Rückkehr zur frühislamischen Tradition der Assalaf AI Saleh, Abbau der Nachahmung "ungläubiger, dekadenter" westlicher Länder

Sturz der Monarchie

Aufbau einer Islamischen Republik

Boykott der Erdöllieferungen an die USA, dem Verursacher der antinationalen Erdölpolitik Saudi-Arabiens und dem Beschützer des Königshauses.(34)

Es lässt sich also festhalten, dass ein Aspekt der "Renaissance des Islam" die Entstehung und Entwicklung antimonarchistischer, antiimperialistischer oder national-demokratischer Gruppen und Bewegungen des politischen Islam im Mittleren und Nahen Osten, wie in Nordafrika ist. Diese Länder verbindet gesellschaftliche Rückständigkeit, sowie ökonomische wie politische Abhängigkeit vom und Ausbeutung durch den Imperialismus.

"Doch die Beseitigung der komplexen Rückständigkeit unter überwiegend kapitalistischen Bedingungen und angesichts andauernder Abhängigkeit vom Imperialismus vor allem auf ökonomischen, aber auch auf ideologischem Gebiet zeitigt ebenfalls Folgen, die günstigen Nährboden für die Religion und ihre Reaktivierung bieten. Zehntausende stehen oft unvorbereitet, unzureichend orientiert und organisiert Aufgaben bisher unbekannten Ausmaßes gegenüber. Sie empfinden plötzlich Unsicherheit, Angst gegenüber dieser Dynamik. Also suchen sie Halt im Vertrauten, scheinbar unberührbaren und sicheren, nämlich im Islam. Er ist für sie - unter dem Einfluss nationalistischer und idealistischer Propaganda - aufs engste mit großen und ruhmvollen Ereignissen ihrer Vergangenheit verbunden, hat danach in ihrer Geschichte zur Fortschritten auf verschiedenen Gebieten geführt. Warum sollte er also jetzt nicht erneut Garantien bieten, dass mit seiner Hilfe und auf seiner Basis anstehende Aufgaben erfolgreich, zu bewältigen sind?"(35)

Gerade kleinbürgerliche und bourgeoise Kräfte sehen daher im Islam eine Ideologie, mit der sie gesellschaftlichen Fortschritt, Gleichheit und Unabhängigkeit quasi göttlich fixieren können. Aufgrund seiner Ambivalenz lässt sich der Islam, besonders durch seine Interpretationen, hierfür sehr gut verwenden.

Daher führt die Berufung auf islamisches Gedankengut nicht unbedingt in eine Scheinwelt, lässt die Menschen nicht unweigerlich in Lethargie und Hoffen auf ein überirdisches "Paradies" verfallen; im Gegenteil, unter den gesellschaftlichen Bedingungen der alle Bereiche umfassenden Rückständigkeit und Abhängigkeit vom Imperialismus, kann der Islam durchaus aktivierend und neue Potenzen erschließend werden.

Um die Inhalte und Ziele der islamischen Lehre wird seit Jahrhunderten heftig und eifrig diskutiert. Der Islam ist interpretierbar. Seine Ideologen versuchten und versuchen stets, ihn auf die gesellschaftlichen Notwendigkeiten umzuformen, ihn den aktuellen Erfordernissen anzupassen. Zugute kommt ihnen dabei die Ambivalenz der islamischen Lehre. Ergebnis dieser "internen Auseinandersetzungen" sind zahlreiche Abspaltungen und Sektengründungen, die sich alle als Vertreter des "wahren, reinen Islam" verstehen.

"Die Materialität und historische Konkretheit der Belange, um die in Religion gekämpft wird, geht - das hängt mit ihrer Spezifik zusammen - in der religiösen Vermittlung weitgehend oder ganz verloren. Klassenkampf kann dadurch als Glaubenskrieg oder Dogmenstreit auftreten. Nicht selten hinterlässt er neue Glaubensrichtungen oder Sekten, die, sich gegenüber den Beweggründen ihres Ursprunges verselbstständigend, ein Eigenleben gewinnen. Die Spezifik in der religiösen Vermittlung gesellschaftlicher Belange wird auch deutlich, wenn der Ajatollah Chomeini den Kampf, den die Muslims in Iran gegen das Schah-Regime und die imperialistische Präsenz im Lande führten, versteht als 'Anstrengungen, unternommen für den Islam'. Niemand, meint er, werde sein Blut vergießen, um billigere Wohnungsmieten oder eine Umgestaltung der Landwirtschaft zu erreichen. 'Sie haben alle gesehen, wie alle Schichten, Männer, Frauen, Jugendliche auf die Straße strömten, auf die Dächer stiegen, sich in den Gassen und Vierteln versammelten, überall. Ein Ruf erscholl: Wir wollen den Islam. Es ist für den Islam, dass man sein Leben opfern kann."(36)

Man kann davon ausgehen, das die Millionenmassen "einfacher" Muslims die theologischen Diskussionen "ihrer" Gelehrten weder verfolgen, noch nachvollziehen können. Für sie manifestiert sich das Bekenntnis zu ihrer Religion hauptsächlich in der strengen Einhaltung der Gesetze des Islam. Und mit ihrer Religion verbinden sie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die islamischen Gelehrten können jedoch als akzeptierte und verehrte "Führerpersönlichkeiten" eine wichtige Orientierungsrolle innerhalb der islamischen Gesellschaften spielen.

Wer prägt also islamische Theorien? "Unter den heutigen Bedingungen sind es vor allem Angehörige der Intelligenz, die in ihrer Mehrheit den städtischen Zwischenschichten entstammen, häufig kleinbürgerliche Interessen vertreten, sich jedoch auch feudalen und bourgeoisen Kräften verdingen. Ihre fortgeschrit tensten, im allgemeinen zahlenmäßig nicht sehr großen Teile können sich auch revolutionären Strömungen anschließen und sie, wenigstens zeitweise, begleiten und sogar mitbestimmen." (37) Diese Theoretiker und islamischen Gelehrten können im wesentlichen in drei Hauptgruppen untergliedert werden: die "Ulema" (geistlicher Rat, Gesellschaft), die islamischen Literaten und die Politiker. Oft sind jedoch mehrere der erwähnten Gruppen zutreffend.

Die erste Gruppe, die "Ulema", die islamischen Theologen, Schrift- und Rechtsgelehrten, kann als die der traditionellen islamischen Intelligenz verstanden werden. Sie verfügt über die seit Jahrhunderten gewachsenen Bildungsstrukturen und betrachtet sich als Hüter der überlieferten islamischen Ideologie. Als solche beanspruchen sie auch eine Art rechtlich-ethischer Kontrollfunktion gegenüber der politischen Macht und gegenüber den islamischen Literaten und Politikern. Dabei können "neue Interpretationen" von ihnen verworfen oder für gut geheißen werden.

Die zweite Gruppe, die islamischen Literaten, verbinden zumeist auf eine sehr persönliche Weise traditionelle islamische Ideologie mit persönlichen Erfahrungen und gesellschaftlichen Zielsetzungen und Erfordernissen. Dabei verknüpfen sie eklektizistisch den Islam mit bürgerlichen Ideologien und sogar mit sozialistischem Gedankengut. Das kann bis zur Vertretung eines so genannten "islamischen Sozialismus" führen.

Die dritte Gruppe, die Politiker, verfügen in der Regel nicht über eine gründliche religiöse Ausbildung, sind aber gezwungen, zu religiösen Fragen in ihrer islamischen Gesellschaft Stellung zu nehmen. Welchen Platz der Islam in ihren Vorstellungen einnimmt, bestimmen objektive und subjektive Faktoren. Grundsätzlich wollen alle, die sich im Namen des Propheten äußern, Massen ansprechen und mobilisieren. Dabei kann man jedoch favorisierte Zielgruppen erkennen: die Bauern, Frauen und Jugendliche.

Mann kann also sagen, das der Islam - wie kaum eine andere Religion - äußerlich zwar recht einheitlich aussieht, innerlich jedoch eine Vielzahl von Ideen, Vorstellungen und Zielsetzungen miteinander konkurrieren. Das betrifft insbesondere und damit zugleich die Strömungen, Organisationen und Parteien des politischen Islam. Diese Heterogenität ist damit in Konsequenz zugleich Ausdruck der jeweiligen Situation des Klassenkampfes, kann gar in äußerlicher Form sein Ausdruck sein oder werden.

"Diese einheitlichen Lehren mit ihren Implikationen und Konsequenzen können jedoch nicht Divergenzen innerhalb des Islam verbergen, die historisch als Reaktion auf veränderte soziale, politische und ideologische Zustände geboren sind. Ihre exakte Unterscheidung wird durch den Mangel an straffen Organisationsformen im Islam und durch die fehlende Zentralisierung bedeutend erschwert."(38) Als Reaktion hierauf lässt sich deshalb sehr oft eine Tendenz zur Machtmonopolisierung durch eine Strömung, Tendenz, Gruppe oder Partei des politischen Islam erklären.

Aus den verschiedenen Komponenten (Stellung des politischen Islam in einem Land, Ideologie und Rolle der Führungskräfte und bedeutender Persönlichkeiten in einem Land, Haltung verschiedener Regime zum Islam, die Haltung der islamischen Geistlichkeit zu gesellschaftlichen Veränderungen, gesellschaftspolitischer Entwicklungsstand eines Landes etc.) ergibt sich eine Vielfalt von Vorstellungen, die gesondert, in der Regel auf ein Land orientiert, untersucht werden müssen.

Antikolonialistische Traditionen des politischen Islam im Iran

Islamische Opposition gegen Diktatur und Kolonialismus hat in Iran Tradition. In der jüngeren Geschichte reicht ihr Beginn zurück bis in den Ausklang des 19. Jahrhunderts. Bekannt wurde zu dieser Zeit der islamische Gelehrte Dschamal ad Din, der die These von der Unvereinbarkeit absolutistischer Herrschaftsform und islamischer Lehre entwarf und in den arabischen Ländern wie im damaligen Persien großen Anklang fand. Dschamal ad Din publizierte zahlreiche Zeitungsartikel, Broschüren und Aufsätze, in denen er die sozioökonomischen und politischen Missstände der islamischen Länder analysierte und die herrschende feudale Repression und Ungerechtigkeit, sowie koloniale Ausbeutung und Unterdrückung, als mit der Lehre des Islam unvereinbar erklärte. Einer seiner Anhänger erschoss 1896 den persischen Feudal-Herrscher Nasr ed Din Schah, dessen Verschwendungssucht und ausschweifender Lebensstil bis nach Europa traurige Berühmtheit erlangte.

Einer seiner bedeutendsten Schüler war der 1905 in Ägypten gestorbene Mohammad Abdu. Wenn seine Lehre auch hauptsächlich in den nordafrikanischen Ländern Verbreitung fand und dort Einfluss auf die antikolonialistischen Befreiungsbewegungen nahm, so vermitteln doch seine Theorien wie das Werk ad Dins die antimonarchistische und antikolonialistische Tradition der islamischen Bewegung Irans.

Schließlich muss in diesem Zusammenhang der Dichter und Philosoph Mohammad Eghbal (1877-1938) erwähnt werden. Er stammt aus Sialkut/Pakistan, studierte in Lahore und an der Universität Cambridge/England Philosophie und erwarb 1908 mit einer Arbeit über die Entwicklung der Philosophie in Iran an der Universität München den Doktorgrad. 1928 wurde er zum Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung für den Pundjab gewählt und nahm vier Jahre später an der Versammlung zur Konstituierung der Verfassung für das damalige englische Kolonialreich Indien teil. Auch Eghbals Werk durchzieht der Versuch, islamische Prinzipien mit antikolonialistischen und antimonarchistischen Zielsetzungen zu verknüpfen.

Diese progressiven islamischen Theoretiker hatten einen wichtigen Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung der sogenannten "Tabakbewegung" (um 1890), die sich gegen den Ausverkauf des iranischen Tabakmonopols vor allem an die englischen Kolonialisten wandte. Einer der Köpfe dieser Bewegung war Ajatollah Mirza Schirazi. Die "Tabakbewegung" wurde zur Initialzündung für eine Volksrevolution - die erste in Persiens Geschichte -, die 1906 - unter Führung der progressiven iranischen Geistlichkeit - die erste iranische Verfassung mit bürgerlichen Freiheitsrechten in Form einer konstitutionellen Monarchie gegen den erbitterten Widerstand der absolutistischen Herrscherclique durchkämpfte.

Als 1925 der Vater des 1979 gestürzten Schah, Reza Khan, putschte und die blutige Pahlawi-Dynastie errichtete, gehörten wiederum Geistliche und Vertreter des politischen Islam - neben anderen antidiktatorischen Kräften - zu den konsequentesten Kämpfern gegen die Diktatur. Die islamische Opposition stand damals unter Führung von Ajatollah Modarres, den Reza Khan erst verbannte und später im Exil ermorden ließ.

Als Reza Khan verjagt war, entwickelte sich nach 1945 erneut eine Volksbewegung mit antikolonialistischem und national-demokratischen Charakter. Kernpositionen dieser Bewegung war damals, neben dem Erhalt und dem Ausbau bürgerlich-demokratischer Freiheiten und Rechte, die Forderung nach Nationalisierung der iranischen Rohstoffe, besonders der Erdölförderung- und Verarbeitung, die sich bis dahin, unter dem Scheffeln ungeheurer Gewinnen, in englischen Händen befand, ein Musterbeispiel für die imperialistische Ausplünderung der Rohstoffe eines Landes. Eine der führenden Persönlichkeiten dieser Bewegung war Dr. Mossadegh, der, demokratisch zum Premier gewählt, 1951 das iranische Erdöl verstaatlichte. 1953 wurde die Regierung des Dr. Mossadegh mit koordinierender Hilfe des amerikanischen Geheimdienstes CIA hinweggefegt.

Kräfte des politischen Islam in Iran spielten sowohl in der nationaldemokratischen Bewegung unter Dr. Mossadegh, als auch in der antidiktatorischen Bewegung gegen das Schah-Regime eine bedeutende Rolle.

Als wichtigste islamische Persönlichkeiten des Widerstandes gegen das faschistische Schah-Regime sind vor allem zu nennen: der islamische Theoretiker Dr. Ali Schariati, Ajatollah Taleghani und Ajatollah Chomeini.

Schariati wurde am 1934 in dem iranischen Dorf Masinan geboren. Nach Abschluss seines Studiums der Literatur an der Universität Maschad ging er nach Frankreich, wo er den Doktortitel im Fach Soziologie erwarb. Nach dem CIA-Putsch 1953 und dem Sturz Mossadeghs schloss er sich der "Nationalen Widerstandsbewegung" an. 1957 wurden er, sein Vater, sowie 14 weitere Mitglieder des Komitees der "Nationalen Widerstandsbewegung" vom Schah-Regime eingekerkert, nach sechs Monaten jedoch wieder freigelassen.

Während seines Studiums in Frankreich engagierte er sich in den iranischen Studentenorganisationen, die vom Ausland aus gegen das Schah-Regime arbeiteten. Zugleich gründete er mit Freunden die "Befreiungsbewegung Iran". Im Mai 1965 kehrte er in den Iran zurück, wurde kurzzeitig verhaftet und schließlich als Sprachlehrer in einem abgelegenen Dorf bei Mashad eingestellt. Auch hier setzte er seine antidiktatorische Tätigkeit fort.

In seinen Vorlesungen und Aufsätzen, die vervielfältigt und illegal im ganzen Land verbreitet wurden, beschäftigt er sich mit der "Erneuerung des Islam", mit der "Säuberung der islamischen Lehre und des islamisch-iranischen Kulturerbes von dekadenten Einflüssen".

Er diskutierte in seinen philosophischen Abhandlungen über das Wesen des Menschen und prangerte die kapitalistische Selbstentfremdung des Menschen und der Gesellschaft durch das System des Kapitalismus an. Er entwickelt in seinen Werken, wie der Kapitalismus das Kulturgut der so genannten "Dritten Welt" zerstört und wie diesen Völkern eine "dekadente kulturelle Entartung" aufgezwungen wird. Am Beispiel seines Landes, des Iran, warnt er vor der Zerstörung des "einheimischen islamischen Kulturerbes". Sein Ziel war es, den "wahren Islam" von allen "Entartungen" zu lösen und ihn als "Waffe zur Befreiung der Menschen" einzusetzen. 1972 schließlich wurde Schariati erneut verhaftet, auf internationalen Druck jedoch wieder freigelassen. Da ihm nun jede Arbeit in Iran unmöglich gemacht wurde, ging Schariati nach England,um dort sein praktisches, vor allem jedoch theoretisches Werk fortzusetzen. Dort kam er am 19. Juni 1977 unter mysteriösen Umständen ums Leben, von Schergen des terroristischen Schah-Geheimdienstes SAVAK in Kooperation mit der CIA ermordet.

Eine weitere herausragende Persönlichkeit des antidiktatorischen Widerstandes war der nach dem Sieg der Revolution leider viel zu früh verstorbene Ajatollah Taleghani, der bereits in den Aufstandsbewegungen von 1963 gegen das Schah-Regime eine bedeutende Rolle spielte. Nach der blutigen Niederschlagung dieser Volksbewegung warf man ihn für 15 Jahre ins Gefängnis, wo er bis zum Sieg der Revolution Zelle an Zelle mit Kommunisten und anderen Revolutionären saß. Von ihm stammt die Aussage, dass Marxisten und Muslime zwar unterschiedliche Wege gingen, jedoch in der Bekämpfung von Imperialismus, Ausbeutung und Rassismus ähnliche Ziele hätten.(39)

Auf die politische Entwicklung des Iran nach dem Sieg der antiimperialistischen Volksrevolution 1979 kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, da dies den Rahmen dieses Aufsatzes sowohl inhaltlich wie auch vom Umfang her sprengen würde. Diese Entwicklungen können nur umfassend analysiert werden, wenn man den Rahmen der Untersuchung der Rolle des politischen Islam im Iran, einschließlich einer umfassenderen Darstellung seiner Widersprüchlichkeiten auch und besonders vor dem Hintergrund der sehr dynamischen und für die Region herausragenden Entwicklung der Produktivkräfte, verlässt und die Betrachtung wie auch Analyse deutlich um ökonomische, gesellschaftspolitische, geostrategische Veränderungen vor dem Hintergrund der alle Bereiche umfassenden, anhaltenden imperialistischen Einmischungen und Destabilisierungen ausweitet. So wie die antiimperialistische Volksrevolution im Iran 1979 auch hinsichtlich der Rolle des politischen Islam katalysatorischen Charakter hatte, so war diese Revolution wie auch die Entwicklung des Landes seither wie ein "strategisches Laboratorium" für die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens. Die Wichtigkeit einer umfassenden Analyse der Entwicklung des Landes lässt daher auf eine entsprechende Kraftanstrengung der "offen-siv" in der Zukunft hoffen. Im Rahmen dieses Aufsatzes konnten lediglich einige Aspekte und zudem verkürzt und beschränkt auf einige Elemente der Rolle des politischen Islam in Iran dargestellt werden, um den Gesamtzusammenhang der Untersuchung erklärlicher zu machen, sowohl in seiner Bedeutung als auch mit seinen Charakteristika.

Ein erstes Fazit

"Renaissance des Islam" bedeutet also eine quantitative und qualitative Belebung islamischer politischer Potenzen besonders in den Regionen des Nahen und Mittleren Ostens, Nordafrikas und Asiens.

Das bedeutet für die Befreiungskämpfe der Völker zweierlei. Zum einen die Aktivierung reaktionärer Vertreter des politischen Islam durch den Imperialismus sowie die Stützung entsprechender pro-imperialistischer Regime (z.B. Saudi-Arabien).

Zum anderen sind mit der "Renaissance des Islam" jedoch auch revolutionäre, antiimperialistische und national-demokratische Potenzen freigeworden. Wenn man die anti-imperialistischen, revolutionären oder sogar in der Tendenz national-demokratischen Kräfte des politischen Islam kritisiert, sollte man als Kommunist jedoch der Leninschen Forderung gedenken, dass man "den revolutionär-demokratischen Kern" dieser Konzeptionen des politischen Islam "sorgfältig herausheben, bewahren und weiterentwickeln" (40) muss.

"Renaissance des Islam" mit und in seinen (kurz angerissenen) Facetten ist also in der Region des Nahen und Mittleren Ostens, Afrikas und Asiens in seinem tatsächlichen Inhalt nichts anderes als sich verschärfender Klassenkampf auf jeweils nationaler, aber auch regionaler Ebene mit unmittelbaren internationalen Implikationen.

Nach dem Sieg der Konterrevolution in den sozialistischen Ländern, deren Basis und Hintergrund die dynamische, aber zugleich auch widersprüchliche Entwicklung des Revisionismus in der kommunistischen Weltbewegung besonders nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 war, entwickeln sich diese gesellschaftlichen Prozesse jedoch unter den imperialistischen Bedingungen der so genannten "Neuen Weltordnung" und diese können hinsichtlich der Rolle der Kommunisten aus marxistisch-leninistischer Sicht nur folgendermaßen kurz zusammengefasst und für die Region des Nahen und Mittleren Ostens "zugeschnitten" werden:

Bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Irak, Iran, Sudan) war es der kommunistischen Bewegung nicht gelungen, tatsächlichen und damit entscheidenden Masseneinfluss weit über das Kleinbürgertum, Teile der nationalen Bourgeoisie sowie der kleinbürgerlichen Intelligenz hinaus zu erlangen;

Die Ausbreitung des Revisionismus in der kommunistischen Weltbewegung, die natürlich auch vor kommunistischen Parteien und Bewegungen in der Region des Nahen und Mittleren Ostens nicht haltmachte und dort sogar zum Teil groteske Züge annahm wie auch extrem sektiererische Einschätzungen (zum Teil als Reaktionen hieraus) und daraus abgeleitete Handlungen, haben dort, wo Kommunisten Einfluss hatten, diesen erodiert und seit dem Sieg der Konterrevolution in den sozialistischen Ländern zum großen Teil implodieren lassen;

Der offene Verrat der so genannten "Irakischen Kommunistischen Partei" (sowie ihrer regionalen Unterstützer, wobei hier als Beispiel nur die so genannte "Jordanische Kommunistische Partei" genannt werden kann), in dem diese Partei zur kollaborierenden Marionette des US-Imperialismus verkam, hat für die kommunistische Bewegung in der Region einen Schaden angerichtet, dessen Tiefe auch längerfristig verheerend ist. Deshalb ist es für die Marxisten-Leninisten auf internationaler Ebene Aufgabe und Herausforderung zugleich, diese offenen Verräter zu isolieren und klar, deutlich und auch in der Region des Nahen und Mittleren Ostens wahrnehmbar zu bekämpfen!

Was "unsere" Diskussionen in der imperialistischen BRD betrifft, so seien die nachfolgenden Auszüge eines Interviews mit dem Führungsmitglied der libanesischen Hizbollah, Dr. Ali Fayyad, den Steigerwalds und Siklosis mit dicken Lettern ins Stammbuch geschrieben (das gesamte Interview ist nachzulesen in: "offen-siv", November/Dezember 2007):

"Als Allererstes verstehen wir uns als eine nationale Befreiungsbewegung mit dem Ziel, unsere von Israel besetzten Gebiete zu befreien. Wir sind eine Befreiungsbewegung, die versucht, den Libanon gegen die israelischen Aggressionen, unter den wir seit mehr als 50 Jahren leiden, zu verteidigen. Wir sind eine Bewegung des nationalen Widerstandes und der Befreiung, mit einer zuallererst menschlich-humanistischen und in zweiter Linie auch nationalen und religiösen Dimension. (...) Alles in allem sind wir also eine nationale Befreiungsbewegung mit humanistischem, arabischem und islamischem Charakter. (...)

Die Marxisten hier im Libanon sind unsere Verbündeten. Die KP Libanons ist unsere Verbündete. Die Linke generell ist unsere Verbündete. Wir haben unterschiedliche Ideologien, wir haben unsere Überzeugungen und sie ihre, da gibt es Differenzen, aber heute ist das in unserem Land eine völlig unwesentliche Frage. Für uns gilt heute die prinzipielle Frage: Bist Du für oder gegen die Amerikaner? Bist Du an der Seite der Unterdrückten dieser Erde oder nicht? Bekämpfst Du die "Neue Weltordnung" oder nicht? Willst du die fortschreitende Spaltung der Welt in Arm und Reich bekämpfen oder nicht? (...)

Als Hassan Nasrallah (Generalsekretär von Hizbollah, d. Verf.) vor mehr als einer Million Menschen von Hugo Chavez sprach, bezeichnete er den Präsidenten Venezuelas als 'Bruder Chavez'. Wir wissen, dass dieser Mann uns sehr nahe steht, dass er ein Weggenosse ist. Es ist so, als gäbe es zwischen ihm und uns schon eine lange Geschichte gemeinsamer Kämpfe, als wäre sein Gewehr das unsere. Wir lieben ihn, wir respektieren ihn und wir sind davon überzeugt, dass wir unsere Beziehungen zu einer Qualität entwickeln können, die ein Modell sein kann für die Beziehungen der antiimperialistischen Linken und dem politischen Islam."

Auf dieser politischen Basis, nur wesentlich detaillierter (nachzulesen in "offen-siv", März/April 2009), vor allem auch was im Kern national-demokratische ökonomische Fragen betrifft (die Klassenfrage, Kollege Steigerwald!), wurde zugleich in Zusammenarbeit und auch unter Federführung von Hizbollah das gemeinsame Aktionsprogramm von Beirut als weiterer Schritt einer strategischen, antiimperialistischen, revolutionären Zusammenarbeit zwischen antiimperialistischen Linkskräften und Vertretern des politischen Islam im Januar 2009 entwickelt. Weitere politische wie auch konkrete Schritte sollen folgen ...

Der fortschrittliche ägyptische Wissenschaftler M. Amin al-Alam die Herausforderung treffend formuliert: "Unsere Schlacht in der arabischen Welt geht nicht um Allah, sondern muss im Grunde genommen gegen den Satan geführt werden, gegen den Satan der Unwissenheit, der Rückständigkeit, der Ausbeutung, des Imperialismus und des Zionismus (...) Dafür müssen sich alle nationalen und fortschrittlichen arabischen Kräfte ohne Unterschied ihrer geistigen und ideologischen Haltungen vereinen und treffen!"(41)

Michael Opperskalski, Köln

Anmerkungen:

(1) Surindar Suri, Religion und Revolution in Asien, Europa-Archiv' Folge 2/1980

(2) zit. nach John Laffin, Islam - Weltbedrohung durch Fanatismus, München 1980, s. 20 ff

(3) Samuel P. Huntington: "Why International Primary Matters", International Security, Frühjahr 1993, Seite 83 Süddeutsche Zeitung, 16-10-2001

(4) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27-10-2001

(5) Greenpeace Online, 29-11-2001

(6) Süddeutsche Zeitung, 29-11-2001; siehe auch: Express (Köln), 29-11-2001

(7) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5-12-2001

(8) junge Welt, 24-10-2001

(10) Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8-11-2001; International Herald Tribune, 13-11-2001 vgl. dazu u.a.: "Saddams Verbindungen zu Osama Bin Laden", Süddeutsche Zeitung", 4-12-2003" Bush übertrieb Terrorbedrohung durch den Irak", Süddeutsche Zeitung, 26-6-03

(11) "Polit-Schizos im Weißen Haus - Bush: Keine Beweise für Terror-Verwicklungen von Saddam Hussein", Neues Deutschland, 19-9-2003; vgl. aber u.a. auch: "Keine Verantwortung Iraks für 9/11", die tageszeitung 19-9-03, "Bush says 'no evidence' ties Saddam to 9/11 attacks", International Herald Tribune 19-9-03

(12) siehe ausführlich: GEHEIM-Magazin, Nr. 3/2001

(13) zit. Nach: "Süddeutsche Zeitung", 19.3.2002; vgl. auch ausführlich: "The New York Times", Internet-Ausgabe, 18.3.2002, "International Herald Tribune", 18.3.2002, ebenda, 19.3.2002

(14) vgl. dazu ausführlich: GEHEIM, Nr. 2 & 3 & 4, 2002 sowie 1/2003

(15) vgl. dazu ausführlich: Opperskalski, Neuberger: CIA im Iran, 1982, Lamuv-Verlag aus: International Herald Tribune (IHT), 21-7-1992, zit. Aus: GEHEIM, Nr.1/1993. An dieser Stelle sei jedoch noch ausdrücklich hinzugefügt, dass die CIA-Verbindungen - einschließlich umfangreicher materieller und logistischer Unterstützung - zu afghanischen islamistischen Terroristen sich bereits bis Mitte der 70er Jahre zurückverfolgen lassen, also noch bevor (!) 1978 in Kabul eine revolutionäre Regierung an die Macht gekommen war. Nutznießer dieser Unterstützer war schon damals ein gewisser Gulbuddin Hekmatjar, der nach Pakistan geflohen war und dort seine Islamische Partei Afghanistans aufbaute, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die republikanische Regierung Daud in Afghanistan zu stürzen. Diese "alten" Beziehungen machen es sicherlich verständlich, warum Hekmatjar und seine terroristische Gruppierungen ab 1978 Hauptempfänger der CIA-Unterstützung für die afghanischen Mudjahedin wurde

(16) Hdji Abdullah Khan: "Pakistan im Griff der CIA", GEHEIM, Nr. 2/1990

(17) siehe: Diego Cordovez und Selig Harrison: "Out of Afghanistan: The Inside Story of the Soviet Withdrawl", Oxford University Press, New York 1995; siehe auch: die Besprechung dieses Buches in International Press Service, 22-8-1995. Zit. nach: GEHEIM, Nr. 3/2001: "Osama bin Laden - Der gelehrige Schüler der USA" von Michael Choussudovsky

(18) GEHEIM, Nr. 3/2001: "Osama bin Laden - Der gelehrige Schüler der USA" von Michael Choussudovsky

(19) GEHEIM, Nr. 3/2001: "Osama bin Laden - Der gelehrige Schüler der USA" von Michael Choussudovsky Ahmed Rashid: "The Taliban: Exporting Extremism", Foreign Affairs, November-Dezember 1999

(20) GEHEIM, Nr. 3/2001: "Osama bin Laden - Der gelehrige Schüler der USA" von Michael Choussudovsky

(21) ebenda

(22) vgl. dazu ausführlicher: GEHEIM, Nr. 4/2001 sowie Nr. 1 bis 4/2002, Nr. 1/2003

(23) GEHEIM, Nr. 3/2001: "Osama bin Laden - Der gelehrige Schüler der USA" von Michael Choussudovsky

(24) GEHEIM, Nr. 3/2001: "Osama bin Laden - Der gelehrige Schüler der USA" von Michael Choussudovsky

(25) Ahmed Rashid: "The Taliban: Exporting Extremism", Foreign Affairs, November-Dezember 1999

(26) GEHEIM, Nr. 3/2001: "Osama bin Laden - Der gelehrige Schüler der USA" von Michael Choussudovsky

(27) Martin Robbe u.a.: "Aufbruchstimmung im Islam: Fluch oder Krisenbewältigung?" "Afrika, Asien, Lateinamerika" - im folgenden AAL genannt - Heft 2/80

(28) vgI.:Preißler, Holger: "Arabien zwischen Byzanz und Persien", in: "Geschichte der Araber", Berlin (DDR) 1971

(29) Hottinger, A.: "Die Araber", Zürich 1960, S. 86

(30) Marx, Engels: Werke, MEW, Bd. 22, Berlin (DDR)

(31) Preissler, Holger, "Der Islam im Nahen Osten und die gesellschaftlichen Prozesse der Gegenwart" in AAL 6/80

(32) Robbe, Martin u.a.: "Aufbruchstimmung im Islam..." in AAL 2/80

(33) Preissler Holger: "Der Islam im Nahen Osten..." in: AAL 6/80

(34) zit. nach: Fakten und Daten über die Jamahiria, herausgegeben vom Volksbüro/Bonn der SLA-Volksjamahiria, S. 11ff.

(35) vgl. "Antiimperialistisches Informationsbulletin (AlB)", Marburg Heft 7/8-80

(36) Preissler, Holger, Der Islam im Nahen Osten..." in: AAL 6/80

(37) Robbe, Martin u.a.: "Aufbruchstimmung im Islam ..." in: AAL 2/80

(38) Preissler, Holger: "Der Islam im Nahe Osten" in: AAL 6/80

(39) ebenda

(40) W.I. Lenin: "Demokratie und Volkstümlertum in China", in: Werke, Bd, 18, S. 158

(41) Preissler, Holger: "Der Islam im Nahen Osten", in: AAL 6/80

Raute

ZUR GESCHICHTE GRIECHENLANDS

Reinhold Schramm: Griechenland zwischen Bürgerkrieg und Diktatur

Historische Erinnerung - auch zur Gegenwart.

Im Dezember 1944 entschied sich in Athen das politische Schicksal Griechenlands für die nächsten Jahrzehnte und es wurden die Weichen gestellt für eine Entwicklung, die im Militärputsch des 21. April 1967 ihr vorläufiges Ende fand. Britische Fallschirmjäger, unterstützt von Flugzeugen der Royal Air Force schlugen im Dezember 1944 unter der Führung von General Scobie einen Aufstand der ELAS, der Partisanen-Verbände der Nationalen Befreiungsfront EAM nieder. EAM und ELAS beherrschten beim Abzug der deutschen Truppen nahezu ganz Griechenland. Die unter der gemeinsamen Führung der Kommunisten und einiger sozialistischer Politiker stehende EAM war während der deutschen Besatzungszeit zum stärksten politischen Faktor des Landes geworden, denn der König und die meisten bürgerlichen Politiker Griechenlands waren beim Einmarsch der Deutschen außer Landes gegangen. Während sich das griechische Bürgertum gegenüber der Besatzung größtenteils passiv verhielt oder sogar zur Kollaboration neigte, leisteten Arbeiter und Bauern dem Eindringling erbitterten Widerstand. EAM und ELAS fiel dabei die unbestrittene Führungsrolle zu; die später entstandenen Résistance-Organisationen EDES und EKKA blieben vergleichsweise unbedeutend[37]. Es war das politische Ziel der EAM, die Rückkehr des Königs nach Griechenland und die Wiederherstellung der Macht der bürgerlichen Oligarchie zu verhindern. Die EAM wusste sich dabei mit der Mehrheit des griechischen Volkes einig, zumal Krone und Bürgertum durch ihre Verantwortung für die Metaxas-Diktatur (1936-1940) kompromittiert waren.

Weltpolitische Faktoren verhinderten jedoch den längst überfälligen radikalen Wandel der griechischen Gesellschaft. In einem Geheimabkommen über die Aufteilung der Balkanländer in Einflußsphären, das Stalin und Churchill im Oktober 1944 getroffen hatten, war Griechenland den Engländern zugesprochen worden[38]. Die bewaffnete Intervention der Engländer und der Terror der faschistischen Banden des Kollaborateurs Georgios Grivas ebneten der Restauration der Monarchie und der Wiedereinsetzung des bürgerlichen Establishments in seine alten Herrschaftspositionen den Weg. Wahlen im März 1946 und ein Plebiszit über die Zukunft der Monarchie im September des gleichen Jahres brachten die von der Schutzmacht England gewünschten Ergebnisse (da die politische Linke Wahlen und Plebiszit aus Protest gegen den Terror boykottierte): Einen klaren Sieg der Konservativen und eine Mehrheit von 69 % für die Rückkehr von König Georg.

Unter völliger Fehleinschätzung der tatsächlichen Machtverhältnisse begannen die Kommunisten unter der (...) Führung von Zachariadis, nachdem die Rechte sich politisch und militärisch längst wieder etabliert hatte, eine neue bewaffnete Auseinandersetzung, über deren Ausgang von vornherein kein Zweifel bestehen konnte. Zwar wurden die Guerillas von den angrenzenden sozialistischen Ländern mit Waffen versorgt (von Jugoslawien nur bis zu Titos Austritt aus dem Kominform), doch gleichzeitig erhielten die griechischen Regierungstruppen seit März 1947, dem Zeitpunkt der Verkündung der Truman-Doktrin, umfangreiche Militärhilfe von den USA. Das Ergebnis des dreijährigen Kampfes war ein verwüstetes Land und eine totale Diskreditierung der politischen Linken, die bis heute in einem hysterischen Antikommunismus in der Armee und weiten Kreisen des griechischen Bürgertums weiter besteht.

Mit der Verkündung der Truman-Doktrin lösten die USA Großbritannien in der Rolle als Schutzmacht Griechenlands (Großbritannien konnte dieser Rolle aus wirtschaftlichen Gründen nicht länger gerecht werden) ab. Sie haben diese Rolle bis heute beibehalten. In sehr unsentimentaler Weise formulierte damals Walter Lippman die Motive für die Verkündung der Truman-Doktrin: "We have selected Turkey and Greece not because they are especially in need of relief, not because they are shining exemples of democracy and the four freedoms, but because they are the strategic gateway to the Black Sea and the heart of the Soviet Union."[39] Im Oktober 1951 trat Griechenland der NATO bei.

In den ersten Jahren nach Verkündung der Truman-Doktrin scheuten sich die USA nicht, ihre Wünsche bezüglich der griechischen Innenpolitik durch offene Interventionen durchzusetzen. Die amerikanische Botschaft in Athen entschied über die Termine der Abhaltung von Wahlen und über die zur Anwendung kommenden Wahlsysteme. Die Drohung mit der Einstellung der Wirtschaftshilfe pflegte auszureichen, um den Widerstand griechischer Politiker gegen die fremde Bevormundung zu brechen. In den letzten Jahren bedienten sich die USA subtilerer Methoden, sie behielten jedoch ihren Einfluss "in this delicate game of guiding the politics of an ally", wie die New York Times kürzlich formulierte "for in the byzantine world of Greek poltics, American diplomates and CIA agents often play as important a role as the Greek politicians themselves".[40]

Nachdem in der Zeit bis zum Jahre 1952, in der die USA die Kräfte der liberalen Mitte (d. h. die zersplitterten Nachfolgeparteien der Liberalen Partei des Vorkriegspolitikers Eleftherios Venizelos) unterstützten, die gewünschte innenpolitische Stabilität sich nicht herstellen ließ - General Plastiras, der Führer der stärksten der Mittelparteien der nationalen progressiven Zentrumsunion (EPEK), brachte es nicht zur Bildung einer langlebigen Regierung -, wurde der rechtsstehende Bürgerkriegsgeneral Papagos zum Favoriten auserkoren. Er erhielt bei den Wahlen von 1952, dank vorheriger Einführung des Mehrheitswahlrechts, 247 der 300 Sitze des griechischen Parlaments bei einem Stimmenanteil von weniger als 50 %. Bis 1963 regierte die Rechte ununterbrochen. Nach Papagos Tod im Jahre 1955 trat Konstantin Karamanlis seine Nachfolge an, und seine Partei, die Nationalradikale Union (ERE), gewann durch Wahlrechtsmanipulationen und rücksichtslosen Einsatz des gesamten Staatsapparates sowie des Militärs die drei folgenden Wahlen[41].

Die Ära Papagos-Karamanlis findet bei zahlreichen Beobachtern als eine Phase der politischen und wirtschaftlichen Stabilität eine positive Beurteilung. Tatsächlich wurde in diesen Jahren eine beachtliche Wiederaufbauarbeit geleistet, in der Hauptsache jedoch nur auf dem Gebiet der Infrastruktur. Gleichzeitig ist eine weitgehende Stagnation der Industrialisierung zu beobachten; der Beitrag des verarbeitenden Gewerbes zum Nationaleinkommen blieb zwischen 1954 und 1962 nahezu unverändert[42]. Der Anteil der Industrie an der Gesamtausfuhr Griechenlands nahm nur geringfügig zu[43]. Gleichzeitig verstärkte sich die monopolitische Struktur der griechischen Wirtschaft; Großkonzerne wie Esso-Pappas und Pechiney konnten sich dank der von der Regierung Karamanlis gewährten großzügigen Vertragsbedingungen, die von der Opposition zu Recht als neokolonialistisch gekennzeichnet wurden, die absolute Vorherrschaft in der chemischen, erdölverarbeitenden, Aluminium- und Stahlindustrie sichern. Das Problem der hohen Arbeitslosigkeit blieb ungelöst. Der Export von Arbeitskräften, der in die Hunderttausende ging, vermochte zwar durch die Rücküberweisungen zu einem der wichtigsten Posten der Zahlungsbilanz zu werden, verewigte aber gleichzeitig die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes.

Das Karamanlis-Regime stand im Zeichen wachsender Unterdrückung jeder Opposition. Die völlige Vernachlässigung der sozialen Probleme bedingte eine steigende Unzufriedenheit weiter Bevölkerungskreise. Man glaubte jedoch zunächst den Unwillen der arbeitenden Bevölkerung nicht fürchten zu müssen. Auf dem Lande beherrschten die nationalen Sicherheitsbrigaden (TEA), aus der Bürgerkriegszeit übriggebliebene bewaffnete Zivilmilizen das Feld, unterdrückten jede Opposition und indoktrinierte die bäuerliche Bevölkerung im Sinne eines primitiven Antikommunismus. In den Städten bildeten sich in Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden sog. "halbstaatliche Organisationen" (parakratikes organossis), Terrorgruppen, die besonders bei Wahlkämpfen zum Einsatz kamen. Eine dieser rechtsradikalen Organisationen, die von einem ehemaligen Kollaborateur der Hitler-Besatzung geleitet wurde, führte im Jahre 1963 in Thessaloniki den Mord an den Abgeordneten Grigorios Lambrakis aus. Der Unterdrückung diente außerdem ein umfangreiches Paket von Ausnahmegesetzen, teils aus dem Bürgerkrieg, teils noch aus der Metaxas-Diktatur (1936 bis 1940) stammend, die die Opposition wegen ihrer Unvereinbarkeit mit der geltenden Verfassung häufig als Parasyntagma, als Nebenverfassung bezeichnete[44]. Die Ausnahmegesetzgebung lieferte den nach Auffassung der zuständigen Sicherheitspolizeibehörde nicht "nationalgesinnten" Bürger einem lückenlosen System der administrativen Verfolgung und wirtschaftlichen Repressionen aus. Die Art der Repressionsmaßnahmen reichte von der Verweigerung eines Reisepasses oder Führerscheins bis zur sog. "administrativen Deportierung", d. h. der Einweisung in ein Internierungslager, ohne dass es dazu eines Gerichtsurteils bedurft hätte. Das "Gesinnungszeugnis" (pistopiitikon phronimation), ausgestellt vom zuständigen Polizeirevier, nahm einen festen Platz im Alltag des Griechen ein. Die Ausnahmegesetzgebung war ursprünglich nur zur Unterdrückung der Kommunisten gedacht, doch wurde von den Behörden die Bezeichnung Kommunist häufig großzügig ausgelegt, besonders auf dem Lande, wo das Lesen einer liberalen Zeitung den Leser bereits kompromittierte.

Nach den Wahlen von 1961, die im Zeichen systematischer Fälschungen und des Terrors standen, sammelte sich die Opposition in den städtischen Zentren zum Widerstand. Es gelang dem alten Liberalen Georg Papandreau, die zersplitterten Gruppen der Mitte unter seiner Führung zu sammeln. Seine Partei, die bürgerliche Zentrumspartei, begann den "unnachgiebigen Kampf" (anendotos agonas); mit Streiks und Massendemonstrationen sollte die Regierung Karamanlis zum Rücktritt gezwungen werden. Unterstützt wurde der Kampf von der Vereinigten Demokratischen Linken (EDA); Papandreou lehnte jedoch die politische Zusammenarbeit ab und verkündete den "Zweifrontenkrieg".

Die EDA war im Jahr 1951 als Folge des Verbots der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) entstanden, war allerdings nicht als einfache Nachfolge- oder Ersatzorganisation der KKE zu verstehen. Gegründet als eine Koalition nichtkommunistischer Linksgruppen, wurde die EDA zum Sammelbecken der gesamten griechischen Linken, von den Kommunisten bis hin zu gemäßigten Sozialisten, Gewerkschaftlern und anderen Linksdemokraten, die sich keiner der bürgerlichen Parteien anschließen wollten. Eine sozialdemokratische Partei mit einer nennenswerten Massenbasis hat es in Griechenland nie gegeben; die Geschichte der griechischen Arbeiterbewegung fällt im wesentlichen mit der Geschichte des KKE zusammen.[45] Einen großen Teil der Kader der EDA stellten ehemalige Widerstandskämpfer verschiedener politischer Provenienz, die aufgrund der wohl in ganz Europa einmaligen offiziellen Diffamierung der Résistance verbittert waren.

Auf der politischen Bühne Griechenlands war die EDA als straff geführte moderne Massenpartei den Honoratiorenparteien des bürgerlichen Lagers, die noch immer die wesentlichen Merkmale ihrer Entstehung nach der neugriechischen Staatsgründung im vorigen Jahrhundert trugen, in vieler Hinsicht überlegen, zumindest bei Einhaltung der parlamentarischen Spielregeln. Die an der Macht befindliche griechische Rechte hielt es allerdings angesichts des ihr zur Verfügung stehenden Machtapparates nicht für nötig, sich mit der Opposition, eingeschlossen die Zentrumsunion, im Rahmen dieser Spielregeln auseinanderzusetzen. Sie konnte auf zwei mächtige Bundesgenossen zählen: Krone und Armee. Im Gegensatz zur ERE machte die Zentrumsunion in den letzten Jahren eine Wandlung durch. Mit dem Auftreten Andreas Papandreou, des Sohnes von Georg Papandreou, einem international renommierten Nationalökonomen der neoliberalen amerikanischen Schule, der jahrelang an amerikanischen Universitäten als Professor gewirkt hatte, begann sich die Partei in Organisationen und Programmatik langsam zu modernisieren, gegen den heftigen Widerstand des älteren Parteiestablishments.

Im Frühjahr 1963 erreichte der Kampf gegen das Karamanlis-Regime seinen Höhepunkt. Als im Mai 1963 der Abgeordnete Grigorios Lambrakis, Dozent für Gynäkologie an der Universität Athen und Führer der griechischen Atomwaffengegner, anlässlich einer Friedenskundgebung in Thessaloniki von rechtsradikalen Terroristen ermordet wurde, war das Ende der Karamanlis-Ära gekommen. Anlässlich einer geringfügigen Auseinandersetzung mit König Paul trat Karamanlis kurze Zeit nach der Lambrakis-Affäre zurück. Im Herbst des gleichen Jahres durchgeführte Wahlen brachten eine eindeutige Mehrheit für die Zentrumsunion, die aber für die Regierungsbildung nicht ausreichte. Ein Angebot parlamentarischer Unterstützung durch die EDA lehnte Papandreou ab; die dadurch erforderlich werdenden Neuwahlen im Februar 1964 brachten der Zentrumsunion einen Stimmenanteil von 53 %, eine Stimmenmehrheit, wie es sie in der neugriechischen Geschichte kaum je gegeben hat.

Unter der Regierung Papandreou begann eine - wenn auch nur kurze - Periode der innenpolitischen Liberalisierung. Gleichzeitig wurden umfangreiche Reformen auf wirtschafts-, sozial- und bildungspolitischem Gebiet eingeleitet. Andreas Papandreou entwarf ein Wirtschaftsprogramm, das Planifikation und Privatinitiative miteinander zu verbinden trachtete[46]. Eine verstärkte Industrialisierung sollte Hand in Hand gehen mit einer Umverteilung des Nationaleinkommens, um die Kaufkraft insbesondere der bäuerlichen Bevölkerung zu erhöhen. Schließlich wurde eine gewisse Kontrolle der Wirtschaftstätigkeit der ausländischen Monopole in Griechenland in Aussicht genommen. Die Demokratisierung des Staatsapparates, die Unterwerfung der Armee, die zu einem Staat im Staate geworden war, unter die gewählte politische Führung und die Einschränkung der Macht der Krone sollten langfristig die innenpolitische Anomalie beenden und ein stabiles parlamentarisches System in Griechenland etablieren.

Der Widerstand der Gegner jeder politischen und wirtschaftlich-sozialen Reform in Griechenland sollte sich jedoch als stärker erweisen. Die Regierung Papandreou scheiterte bereits bei dem Versuch, den Staatsapparat unter Kontrolle zu bekommen. Seit 1936, dem beginn der Metaxas-Diktatur, hatte in Griechenland fast ununterbrochen die politische Rechte geherrscht, und der in der Metaxas-Ära von allen fortschrittlichen Kräften "gesäuberte" Staatsapparat behielt bis zum Regierungsantritt Papandreous seine nahezu unveränderte personelle Struktur bei. Ministerialbürokratie, Polizei, Gendarmerie und Armee wurden weitgehend von den Anhängern der Rechten beherrscht; zu einem großen Teil verloren nicht einmal die Kollaborateure der deutschen Besatzung ihre Positionen, ein in ganz Europa einmaliges Phänomen. Selbst in den, seit eh und je vom Staat weitgehend kontrollierten Gewerkschaften herrschte ein Mann, der unter Metaxas zu Amt und Würden gekommen war.

Der Versuch, in Griechenland ein funktionierendes parlamentarisches System westeuropäischen Zuschnitts zu begründen, lief sowohl den Interessen der privilegierten Finanzoligarchie als auch denen der Krone zuwider. Beide mußten um eine Schwächung ihrer Machtstellung fürchten, wie sie sich nur in der semi-feudalen Struktur einer patriarchalischen griechischen Gesellschaft aufrechterhalten ließ. Die Krone hatte es um so leichter, die reformistischen Bestrebungen der Regierung Papandreou wirksam zu bekämpfen, als die Zentrumsunion selbst, alles andere als eine homogene Partei, zu einem großen Teil aus Abgeordneten der alten Politikergeneration bestand, die die Interessen der Finanzoligarchie vertraten und deren politische Zukunft von dem alten, auf Protektion und Nepotismus begründeten System abhängig war. Die zunehmend deutlicher werdenden Bemühungen der Regierung Papandreou um eine Politik der nationalen Emanzipation und der Zurückdrängung des politischen und wirtschaftlichen Einflusses der ausländischen Mächte (wobei an eine Politik des Neutralismus oder an einen Austritt aus der NATO nicht im entferntesten gedacht war) rief jene politische Kräfte in den USA auf den Plan, für die es eine unerträgliche Vorstellung war, Griechenland aus der politischen Entmündigung zu entlassen. Die Behandlung des Zypernkonflikts durch die Regierung Papandreou, die sich im Gegensatz zu Karamanlis in dieser für die Südostflanke der NATO so prekären Frage den amerikanischen Lösungsvorstellungen zu widersetzen versuchte, mußte den zusätzlichen Unwillen des State Department hervorrufen. So war dann auch der Sturz dieser Regierung nur eine Frage der Zeit. Unmittelbarer Anlass wurde die sogenannte Aspida-Affaire, eine angebliche linke Offiziersverschwörung, von der es immer zweifelhafter wird, ob es sie überhaupt gegeben hat[47]. Das Gerücht von der Existenz einer Gruppe linker Offiziere, die zusammen mit Andreas Papandreou die Macht in der Armee übernehmen, den König stürzen und eine nasseristische Diktatur in Griechenland errichten wollten, wurde Anfang 1965 von Georgios Grivas lanciert, der damals die zypriotische Nationalgarde, ein nicht der zypriotischen Regierung unterstehendes Kontingent der griechischen Armee, kommandierte. Grivas erhoffte sich von einem Sturz der Regierung Papandreou eine Stärkung der eigenen Position gegenüber seinem Feinde Makarios. Das einzige Beweisstück, das im Laufe der spektakulären Aspida-Affäre auftauchte, war ein maschinenschriftlicher Text ohne Unterschrift, der sog. Aspida-Eid. Aber die Krone (nach dem Tode König Pauls, kurz nach Papandreous Regierungsantritt, hatte Konstantin II. den Thron bestiegen) wie auch die politischen Gegner der beiden Papandreou in der Zentrumsunion ergriffen nur zu gern die Gelegenheit zu ihrem Sturz, der dann auch im Juli 1965 erfolgte.

Der vom Königshof inszenierte Sturz des Führers der Mehrheitspartei war ein offener Verfassungsbruch, der eine parlamentarische Dauerkrise einleitete und den eigentlichen Auftakt zum Putsch des 21. April 1967 darstellte. Es gelang zunächst, durch Abgeordnetenkauf Papandreous absolute Mehrheit im Parlament zu brechen, nicht aber, die Zentrumsunion insgesamt zu spalten. Um Neuwahlen zu vermeiden, die Papandreou mit Sicherheit wieder einen klaren Sieg gebracht hätten, wurden mehrere aufeinander folgende Versuche zur Regierungsbildung unter Ausschluss der Zentrumsunion unternommen. Erst im September gelang es dem Führer der Fraktion der inzwischen 48 "abtrünnigen" (der griechische Volksmund pflegte sie Apostaten zu nennen) Zentrumsabgeordneten, Stephan Stephananopoulos, mit einem Duldungsvotum der ERE eine Regierung zu bilden, die bis zum Dezember 1966 am Ruder blieb. Ihr zunehmender Autoritätsschwund führte zu Korruption und Misswirtschaft bisher nicht gekannten Ausmaßes. Sie war ständigen Pressionen des Hofes und der ERE ausgesetzt und mußte Schritt für Schritt die unter Papandreou getroffenen Liberalisierungsmaßnahmen rückgängig machen, während gleichzeitig der Ruf nach Neuwahlen immer stärker wurde. Massendemonstrationen, die durch brutalen Polizeieinsatz unterdrückt wurden, waren an der Tagesordnung. Es zeigte sich, dass die Regierung Stephanopoulos kein Ausweg aus der Krise und dem Wunsch der breiten Masse des griechischen Volkes nach Neuwahlen nachgegeben werden mußte. Dazu gab es nur eine einzige Alternative: die Diktatur.

Es soll an dieser Stelle nicht versucht werden, das verwirrende Spiel hinter den Kulissen während der letzten Monate vor dem Putsch zu analysieren.[48] Während offiziell die Vorbereitungen für die Wahlen getroffen wurden - zunächst von der Übergangsregierung Paraskevopoulos, nach deren Rücktritt durch den Führer der ERE, Kanellopoulos -, bereiteten sich im Hintergrund zwei verschiedene Gruppen auf die Machtübernahme durch den Staatsstreich vor - der König mit den ihm ergebenen Generälen und die Junta der Obersten um Georgios Papadopoulos und Nikolaos Makarezos, die ihre Pläne schneller und konsequenter zu verwirklichen verstand.

Das griechische Volk hatte nach der Mataxas-Diktatur, der deutschen Besatzung, dem Bürgerkrieg und dem Karamanlis-Regime in den Jahren 1963-1965 nur eine kurze Zeit der beginnenden Demokratisierung erlebt. Am 21. April 1967 mußte es für den Versuch der innenpolitischen und nationalen Emanzipation mit dem völligen Verlust seiner Freiheit bezahlen.

Der Putsch des 21. April 1967 in Griechenland

Die Technik des Putsches, der am 21. April 1967 in einem nächtlichen Handstreich in Griechenland die parlamentarische Ordnung beseitigte und eine faschistisches Militärregime etablierte, darf auch über den Fall dieses kleinen Landes hinaus Interesse beanspruchen - wurde der Putsch doch mit einem technischen Instrumentarium durchgeführt, wie es auch in anderen NATO-Ländern, zumindest in den Schubladen, zur Verfügung steht. In Griechenland wurde der Umsturz mit Hilfe des NATO-Planes "Prometheus" praktisch ausgeführt und unter Anwendung der Notstandsverfassung "legalisiert". Der offizielle Zweck des "Prometheus"-Planes war, wie die New York Times am 3. Mai 1967 berichtete, im Falle eines Krieges mit einem kommunistischen Land "schnellstens die kommunistischen Führer zu verhaften, um Subversionsarbeit im Untergrund zu verhindern, und die Schlüsselpositionen in Verwaltungs- und Kommunikationszentren zu besetzen, um Sabotageakte abzuwehren..." Wie die New York Times weiter ausführt, stammte die letzte Variante dieses Planes aus dem Jahre 1956. Die Vermutung, dass in den Generalstäben auch anderer NATO-Länder ähnliche Pläne existieren, wurde kürzlich durch die Veröffentlichungen der norwegischen Zeitung "Orientierung" bestätigt (vgl. Berliner Extradienst v. 20.3.1968), die in den Besitz geheimer NATO-Dokumente gekommen ist, die Richtlinien für USA-Interventionen in NATO-Mitgliedsstaaten im Falle des Krisen- oder Ausnahmezustandes enthalten.

Eine ideale Ergänzung des "Prometheus"-Planes war für die Putschisten das juristische Instrumentarium der griechischen Notstandsverfassung. Die Suspendierung der Grundrechtsartikel der griechischen Verfassung und die Inkraftsetzung des aus dem Jahre 1912 stammenden Gesetzes über den Belagerungszustand, die der griechische Militärsender am 21. April in Form eines königlichen Dekretes pausenlos verkündete, geschahen unter Berufung auf Artikel 91 der griechischen Verfassung, und die Notstandsaktion der Obersten erhielt auf diese Weise einen Anschein der Legalität, der zum Gelingen des Unternehmens wesentlich beitrug. Dass das königliche Dekret weder vom König noch vom amtierenden Ministerpräsidenten Kanellopouos unterzeichnet worden war, stellte sich erst zu einem Zeitpunkt heraus, als die Junta bereits uneingeschränkt im Besitz der Macht war. Natürlich enthielt auch die griechische Notstandsverfassung Klauseln zu Absicherung gegen einen Missbrauch. Wie hoch der Wert solcher Absicherungen allerdings einzuschätzen ist, das hat sich am griechischen Beispiel exemplarisch gezeigt. Innerhalb von 10 Tagen nach Verkündung des Ausnahmezustandes hätte das griechische Parlament über Aufrechterhaltung oder Aufhebung der Notstandsmaßnahmen entscheiden müssen. 10 Tage nach dem 21. April befand sich aber bereits der größte Teil der griechischen Abgeordneten in Gefängnissen und Internierungslagern oder stand unter Hausarest. In der Annahme, dass der größte Teil der griechischen Bevölkerung den Wortlaut der Verfassung ja doch nicht kennen würde, ließ die Junta in den ersten nach dem Putsch erscheinenden zensierten Zeitungen zwar das königliche Dekret über die Verkündung des Belagerungszustandes sowie sämtliche aufgrund dieses Dekrets aufgehobenen Verfassungsartikel im vollen Wortlaut abdrucken, nicht aber den Artikel 91. So fiel es zunächst auch nicht auf, dass sich unter den suspendierten Verfassungsartikeln im Widerspruch zu Artikel 91 auch der Artikel 18 befand, der die Todesstrafe für politische Verbrechen und die Folter für abgeschafft erklärt. Dieser Schönheitsfehler wurde später von den Juristen der Junta korrigiert, was allerdings die Junta nicht daran hintern konnte, die Folter zu einer festen Einrichtung zu machen.

Um die Bevölkerung Griechenlands und die Weltöffentlichkeit über ihre langfristigen Ziele hinwegzutäuschen, ließ die Junta die Stelle des Ministerpräsidenten zunächst von dem obersten griechischen Staatsanwalt Kollias (dem auch die Rolle zufiel, das griechische Volk am 21. April über die Gründe des Putsches aufzuklären) besetzen; auch andere Ministersessel wurden von hohen Justizbeamten des Landes eingenommen. Erst am 13. Dezember 1967, nach dem gescheiterten "Gegenputsch" König Konstantins wurde Kollias entlassen und der Chef der Junta, Georgios Papadopoulos, ernannte sich auch nominell zum Regierungschef.

Die Anpassung vieler hoher Vertreter der griechischen Justiz an die Wünsche der neuen Machthaber vollzog sich ebenso reibungslos wie diejenige der 3. Gewalt nach der Machtergreifung 1933 (dies gilt auch für die meisten der griechischen Rechtsgelehrten an den Universitäten Athen und Thessaloniki). Demokratische Richter und Staatsanwälte, die sich weigerten, den Unrechtsstaat zu sanktionieren, wurden aus ihrem Amt gejagt, während die anderen der ordnungsliebenden Junta den gesetzestechnischen Apparat für ihre weitere Arbeit lieferten. Bereits am 5. Mai 1967 wurde ein Verfassungsakt über die "Ausübung der Verfassungs- und Gesetzgebungsgewalt" erlassen, der der Junta für alle weitere Gesetzgebungsarbeit als Grundlage diente.

Reinhold Schramm, Berlin

Anmerkungen

[37] Vergl. hierzu das grundlegende Werk über die griechische Widerstandsbewegung von André Kédros, La résistance grecque (1940-1944). Le combat d'un peuple pour sa liberté, Paris 1967.

[38] Vergl. hierzu Xydis, Stephan G., The Secret Anglo-Soviet Agreement on the Balkans of October 1944, Journal of Central European Affairs XV (1965), S. 248 ff.

[39] New York Herald Tribune, 1.4.1947.

[40] New York Times, 10.9.1967.

[41] Die beste Darstellung der innenpolitischen Situation in Griechenland nach dem 2. Weltkrieg, insbesondere für die Aera Karamanlis, ist Jean Meynaud, Les forces politiques en Grèce, Montreal 1965.

[42] Er betrug durchschnittlich 18 %, dagegen in Jugoslawien im Jahre 1962 40 %. Vergl. Pesmazoglou, Joannis S., Wirtschaftsbeziehungen Griechenlands mit dem Ausland, Vergleiche und Probleme, in: Deutsch-Südosteuropäische Wirtschaftsprobleme, Südosteuropa-Jahrbuch, 6. Band, München 1966, S. 58.

[43] Er stieg zwischen 1955 und 1962 von 7 auf 11 %. a.a.O., S. 56.

[44] Vergl. Zur Frage der Ausnahmegesetze Dagtoglu, P., Die Verfassungsentwicklung in Griechenland von der Einführung der geltenden Verfassung bis zum Tode König Pauls, ein Rückblick: 1952-1964, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, N. F. 14 (1965), S. 381 ff.

[45] Die bisher einzige Geschichte des KKE ist Kousoulas, G. D.; Revolution and Defeat. The Story of the Greek Communist Party, London 1965.

[46] Zum Wirtschaftsprogramm Andreas Papandreous vergl. Rousseas, Stephan, The Death of a democracy, New York 1967.

[47] Zu den Hintergründen der Aspida-Affaire vergl. Rousseas, a.a.O., S. 25 f. u. S. 227-268.

[48] Die vorläufig beste Analyse der Ereignisse seit dem Sturz Papandreous lieferte Jean Meynaud mit seiner Studie: Rapport sur l'abolition de la démocratie en Grèce, Montreal 1967.

Raute

DISKUSSION ZUR POLITISCHEN ÖKONOMIE DES SOZIALISMUS

Hermann Jacobs: Wäre ein Arbeitszertifikat ein Geldsurrogat?

Über eine Marx-Auslegung von Wolfgang Hoss und wie man bereits mit dem realen Geld des Sozialismus erwidern kann

Wolfgang Hoss verspricht im Titel seines Beitrages in "offen-siv" 10/08 zwar eine "Stellungnahme zur Abhandlung von Hermann Jacobs 'Die Theorie von der sozialistischen Warenproduktion. Ein verhängnisvoller Irrtum', Sonderheft offen-siv 8/08" - was er dann aber doch nicht macht; ich konnte keine Stellungnahme entdecken. Stattdessen startet er einen erneuten Versuch, seine schon mehrfach geäußerte - und in "offen-siv" auch behandelte - Auffassung zu belegen, dass sehr wohl die Warenproduktion aufgehoben werden müsse (in einer ersten Phase des Kommunismus, also in der Sozialismus benannten Periode), aber Markt und Geld erhalten bleiben sollten/müssen - was ich z.B. als einen Widerspruch in adjecto (in sich selber) aufgefasst habe. Er beruft sich dieses Mal auf Marx Meinung, dass in eben einer solchen ersten Phase des Kommunismus doch Arbeits(zeit)zertifikate ausgestellt werden sollen. Marx hatte (Gothaer Programmkritik) gesagt: "Er (der Arbeiter, J.) erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gesellschaftlichen Fonds) und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln so viel heraus, als gleich viel Arbeit kostet".

Und das, Arbeitszertifikat, folgert Hoss, sei doch Erhalt von Geld und Markt:

"Die von manchen Theoretikern vertretene Ansicht, dass im Sozialismus nicht nur die Warenproduktion, sondern auch das Geld und der Markt aufgehoben werden müssen, stimmt nicht mit Marxens Ansicht überein, jedenfalls nicht in vollem Umfang.

Marx forderte nicht die Abschaffung des Geldes im Sozialismus, also in der ersten postkapitalistischen Ordnung, sondern es sollten Geldsurrogate (Arbeitszertifikate) eingeführt werden.

Es finden sich in Marxens Werk auch keine Aussagen, dass der Markt, speziell der Konsumgütermarkt, im Sozialismus abzuschaffen sei.

Nach Marx sollte der Lohn statt in gewöhnlichem Geld (!?, J.) in Arbeitszertifikaten gezahlt werden, und die Arbeiter und Angestellten sollten diese Arbeitszertifikate gegen Konsumgüter tauschen und damit ihre Existenzmittel auf dem Markt nach freien eigenen Entscheidungen (!, J.) kaufen. Es ist in Marxens Sozialismustheorie (erste postkapitalistische Ordnung) daher undenkbar, den Konsumgütermarkt abzuschaffen. Wo sonst als auf dem Markt (Markthallen, Kaufhäuser, Wochenmärkten usw.) sollten die Arbeiter und Angestellten ihre Konsumgüter kaufen? Am allgemeinen Prinzip des Güterkaufs ändert sich natürlich nichts, wenn das Geld, mit dem gezahlt wird, seine Form ändert".

Hoss Frage ist natürlich hypothetisch, denn einen Sozialismus mit Arbeitszeitzertifikaten hat es nicht gegeben, er blieb stattdessen beim Geld ... oder "Geld" (wir haben auf die Besonderheiten dieses Geldes hingewiesen). Aber wir wollen die Frage dennoch verfolgen, indem wir uns einmal tiefer in den Marxschen Vorschlag hineindenken: Was sind, was wären Arbeitszertifikate? Aber zunächst: Was ist "gewöhnliches Geld", und was sind "Geldsurrogate"? Nun, gewöhnliches Geld ist metallisches Geld, Gold und Silber zum Beispiel, und ein Geldsurrogat wäre das Gold und Silber ablösende Papiergeld. Ein Surrogat ist ein Ersatz, aber es hat dieselbe Funktion wie das Medium, das es ersetzt. Und was nun diese Funktion, das ist Geld in einem gesellschaftlichen Verständnis. Und da gibt es, seit Marx, nur eines noch: Geld ist die Form des Tauschwertes, d.h. des zum Gegenstand erhobenen Wertes/Arbeitsaufwandes der Arbeit.

Gleicht nun ein Zertifikat über die Arbeit einer Ware, die ihren Arbeitsaufwand/Wert ausdrückt, oder ist ein Zertifikat gleich einem Geld, das diesen Wert zur Erscheinung bringt; könnte es gar in der Form seines Scheines das Goldsurrogat Papiergeld ersetzen, d.h. könnte es ein Surrogat für das Surrogat geben? Nein, überhaupt nicht; es ist ja ein an die Person gebundener Schein über eine Arbeitsleistung, die er auch unmittelbar "ausdrückt" in Konsumtionsmitteln, d.h. gar nicht in der "schielenden Weise" (Engels) der Gegenständlichkeit einer anderen Arbeit, die erst den Begriff rein von Arbeit an sich erfüllt. Das Zertifikat würde auch nicht gesellschaftlich gehandelt werden, sondern ebenso, wie es unmittelbar die Arbeit bescheinigt, kann man mit ihm unmittelbar "aus den gesellschaftlichen Konsumtionsfonds" soviel an ... ja, was nun: "Konsumtionsmittel herausziehen", oder "Arbeitszeit herausziehen"? Hier ist natürlich eine Frage offen. Marx sagt nur: "soviel herausziehen, als gleichviel Arbeit kostet". Es sind wohl Konsumtionsmittel gemeint, die eine Zeitform besitzen müssen. Auf alle Fälle: Indem der Schein eingelöst worden, ist er erloschen. Wieso ist das Geld oder Geldersatz, das durch die Gesellschaft wandert, zirkuliert, und mal diesem, mal jenem als Erscheinungsform für den Arbeitsaufwand dient?

Wolfgang Hoss will nur aus dem Umstand, dass da irgendetwas, was auf Arbeit bezogen ist, gewechselt wird in Gegenstände, die produziert worden sind, folgern können, dass Markt und Geld noch erhalten sind. Wir sind aber auf eine ganz andere ökonomische Beziehung gestoßen. Arbeit wird unmittelbar anerkannt - das hebt die Wertform der Ware von gesellschaftlich durchschnittlicher, allgemein gleichgesetzter Arbeit auf. Und unmittelbare Umsetzbarkeit der unmittelbar gesellschaftlichen Arbeit in Konsumtionsmittel machte das Geld gleich ganz überflüssig; der Arbeitsschein besäße ja auch unmittelbar die Funktion des Geldes, er kann unmittelbar kaufen ohne eine andere Gestalt annehmen zu müssen, lieber Wolfgang Hoss. Und wo ist dann noch ein Markt? Ich sehe nur, dass ein Arbeitszertifikat die Ware, das Geld, den Markt in einem zusammenfallenden Schlag aufheben würde, nicht aber nur die Ware, und Geld und Markt nicht.

Theoretisch geht es um die Frage, ob ein direktes Maß für die Arbeit - das Arbeitszertifikat wäre ein solches - es noch mit gesellschaftlich gleichgesetzter, also warenproduzierender Arbeit zu tun hätte und ob das direkte Maß des indirekten Maßes Geld noch bedürfte. Wenn nicht, hieße das, den Austausch der Ware zum Geld, dem indirekten Maß für Arbeit, aufzuheben. Diese Frage ist vielfach diskutiert worden - nachdem erst einmal erkannt worden war, dass im Geld Arbeit gemessen wird bzw. Geld sogar eine bestimmte Erscheinungsform der Arbeit ist -, von Marx aber immer negativ beantwortet worden, allerdings für die Ökonomie von Privateigentümern an der Arbeit.

Nun zur offenen Frage bei Marx: Wie der Arbeiter zur Zeit kommt, wissen wir, aber wie die Produkte zu eben dieser Zeit? So dass Zeit im Arbeiter gegen Zeit im Produkt "die Hände wechseln". Marx sagt es uns nicht, und ich gestehe, dass ich es auch nicht wüsste. Man kann Arbeitszeit auf unmittelbare Weise oder auf eine gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Weise ermitteln. Also, welche Zeitform hätte gegolten? Die, nach der der Wert der Ware ermittelt worden und die - als der Tauschwert - im Geld nur eine Erscheinung findet? Nur wenn das Produkt, das produziert, nicht wenn der Arbeiter, der gearbeitet, auf den Markt getragen wird, erhält das Produkt eine Wertform, d.h. eine Zeitform.

Aber diesen Weg des Produkts zur Zeit oder zu einem Zeitnamen hat Wolfgang Hoss gar nicht behandelt - wie nicht sein berühmter Vorgänger.

Nun ist es zu dieser Situation im real existierenden Sozialismus gar nicht gekommen. Aber hätte es dazu kommen können? Man sieht auf jeden Fall, dass die Marxsche Idee noch nicht ganz ausgereift war. Da ist noch vieles offen, und wer sich hier theoretisch betätigen will, der soll es tun.

Beim Produkt weiß man noch nicht, wie es zu seinem Zeitnamen kommt, aber beim Arbeiter weiß man es. Aber bereits hier macht Marx auf einen großen Unterschied aufmerksam:

"Das gleiche Recht ist hier (d.h. in einem unterstellten Sozialismus mit Arbeitszertifikaten, J.) daher immer noch dem Prinzip nach das bürgerliche Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen". Warum nicht? Er fährt fort: "... während der Austausch von Äquivalenten beim Warenaustausch nur im Durchschnitt, nicht für den einzelnen Fall existiert".

Während Hoss aus seinem Arbeitszertifikat eine Fortsetzung des Vergangenen, Geld und Markt, folgert, unterstellt Marx für seinen Arbeitsschein eine Revolution im Verhältnis zur Arbeit! Muß man nicht, wenn man sich auf Marx beruft, sich auf den ganzen Marx berufen?

Weil Arbeitszeit Maß des Anteils, deshalb noch immer bürgerliches Recht, weil aber andere Bestimmung der Arbeitszeit - Anerkennung für den einzelnen Fall, nicht mehr für den Durchschnitt (der einzelnen Fälle), deshalb sozialisierte, sozialistische Form dieses Rechts. Worauf beruht dieser Unterschied? Auch Wolfgang Hoss hätte ihn markieren müssen: Auf der Aufhebung des privaten Eigentums zur Arbeit und des Übergangs zum gemeinschaftlichen Eigentum an der Arbeit. Damit wird bzw. kann Arbeitszeit nicht mehr in einem unmittelbaren Verhältnis zu einer besonderen Form der konkreten Arbeit gemessen werden (auf solchen unmittelbaren Beziehungen beruht ja die Durchschnittsform der Arbeitszeit). Ohne Wechsel im Eigentumsverhältnis, ohne Ausdehnung dieses Verhältnisses von der besonderen (einer betrieblichen) Arbeit auf die Gesamtarbeit wäre der Wechsel in der Anerkennung der Form der Arbeitszeit nicht denkbar, nicht erklärbar.

Wolfgang Hoss hätte sich den Vorgriff auf eine Marxsche Hypothese, die so im realen Sozialismus nicht eingetroffen ist, sparen können: Er geht von ihr aus, landet aber nicht bei ihr, d.h. landet nicht bei ihrer revolutionären Konsequenz.

Es soll uns aber ein Nutzen gewesen sein, auf Schwachstellen dieser Hypothese aufmerksam geworden zu sein. Es ist nur die persönliche Auffassung von Wolfgang Hoss, dass eine bloße Bescheinigung über Arbeitszeit dasselbe wäre wie Geld und sein Wechsel in Konsumtionsmittel dasselbe wäre wie ein Markt. Das wäre noch weniger der Fall als beim realen Geld, wie es im Sozialismus erhalten geblieben, vermutet sein könnte. Das erhalten gebliebene Geld (Geldsurrogat Papiergeld) in realen Sozialismen sieht wenigstens noch wie "gewöhnliches Geld", und die Kaufhallen, Geschäfte etc. wie "gewöhnlicher Markt" aus. Wobei wir immer darauf hingewiesen haben, dass dies auch nicht stimmt.

Worauf müssen wir unsere Aufmerksamkeit richten, wenn wir gesellschaftliche Verhältnisse oder Veränderungen des Sozialismus begreifen wollen? Darauf, was sich im Verhältnis zur Arbeit ändert bzw. ändern kann, wenn das Eigentumsverhältnis ändert. Und darauf, wie sich die Veränderung im Eigentumsverhältnis als Veränderung im Verhältnis zum Geld, seinem Mechanismus auswirkt.[49] Das ist dann die Erklärung. Aber wenn wir die erste Seite ganz auslassen, und nur die Form nehmen, Geld, wie es im Portemonnaie erscheint, und Markt, wohin wir das Geld tragen, dann hat sich auf den ersten Blick ja nichts gegenüber einer Warenproduktion, und hier insbesondere kapitalistischen, geändert, also alles in Ordnung, Verhältnisse wie gehabt? Dann sehen wir den Wald vor Bäumen nicht. Dann macht auch das Diskutieren keinen Sinn. Man ist ja festgelegt auf Formen als Erscheinungen von schon bekannten Inhalten. Man sieht dann einen Historismus - den von früher, aber erkennt keinen neuen, den von heute und morgen.

Das dauernde Diskutieren über die Warenproduktion im Sozialismus ist im Grunde langweilig, solange nur Auffassungen von der Sache gegenübergestellt werden, man aber reale Veränderungen im Verhalten nicht zur Kenntnis, nicht zur Grundlage der Debatte nimmt.

Die Arbeit wird - in einer ersten Phase des Kommunismus - in ihrer unmittelbaren, individuellen Notwendigkeit anerkannt, nicht in ihrer gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen, wie bei der Warenproduktion.[50] Dadurch entfällt, dass die Arbeit in den unterdurchschnittlich produzierenden Betrieben eine geringere Anerkennung erfährt, und in den überdurchschnittlich produzierenden Betrieben eine Überanerkennung. Alle Arbeit wird (und folglich Arbeiter werden) gleichermaßen anerkannt, wie verschieden ihre (in jeweiligen Arbeitsstätten konkret objektiv notwendige) Produktivkraft ausfällt. D.h. jede Arbeit wird in einem gemeinsamen Eigentumsverhältnis zur Arbeit geleistet. Man arbeitet "wie in einem großen gesellschaftlichen Betrieb", nicht wie in tausend kleinen verschiedenen.

Was bedeutet das aber? Dass die Arbeit des Einzelnen nur noch von der Gesellschaft, der Einheit aller Arbeitenden anerkannt werden kann, nicht mehr von den "einzelnen" Produzenten, Betrieben etc. und untereinander.

Wie geschieht/geschah das nun in den sozialistischen Betrieben konkret? Nun, dadurch, dass für gleichermaßen geleistete Arbeitszeit - die Gleichheit wird an der Gleichheit der Arbeitszeit bestimmt, und keinem Unterschied sonst[51] - der gleiche Lohn ausgezahlt wurde (gestaffelt nach Lohngruppen, aber in der Lohngruppe (möglichst) gleich). Die Anerkennung der Arbeitszeit, d.h. das Messen der Zeit, fand im Betrieb statt und kann nur dort stattfinden, die Anerkennung durch den Lohn aber erfolgt/erfolgte durch eine entsprechende von der Gesellschaft ausgezahlte Geldmenge, die zum Kauf nun der begehrten Konsumgüter berechtigte, ganz "nach freier, eigener Entscheidung", wie Hoss wünschte.[52] Was auf der einen Seite, der der Arbeiter, "Geld" war, war auf der anderen Seite, der der "Waren", Preis. Von dieser Seite her, der Seite der Erscheinung her, waren Geld und Preis kompatibel, "äquivalent". Der Unterschied, ja Gegensatz, spielte sich "in "aller Stille ab". Warum erschien der Gegensatz in der Stille nicht? Weil es nicht zum Marxschen Arbeitszertifikat kam, sondern man bei der Lohnpraxis blieb, wie sie vom Kapitalismus entwickelt worden. Lohn, also Geldmenge (wie groß sich diese bestimmte, ist ja eine andere Frage), gab es im Kapitalismus für geleistete Arbeitszeit unter Einhaltung der konkret notwendigen ökonomischen Parameter, und wie sich diese im gesellschaftlichen Verhältnis bestimmten, blieb ganz Angelegenheit des kapitalistischen Unternehmens. Schon im Kapitalismus gibt es diese beiden Zeitbezüge in der Arbeit, dem Lohn lag der innere Zeitbezug zugrunde, und der äußere dem Kapitalisten.

Man muß sich für den Sozialismus jetzt nur dieses Verhältnis ausgedehnt bis auf einen "Gesamtbetrieb", d.h. ein gesellschaftliches Eigentum an aller Arbeit denken, und dann haben wir das Verhältnis bestimmt. Der Gesamtbetrieb des Sozialismus produziert alle Gebrauchswerte, er muß also zu keinem Äußeren mehr tauschen, und dies unter Bedingung, dass er eine gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Form der Arbeit und Arbeitszeit annimmt. Ein Gesamtbetrieb - und eine Gesellschaft ohne Privateigentum ist eine solche - besitzt schon jeden Gebrauchswert, der in seinem Rahmen produziert wird, er muß also nicht austauschen, sondern er tauscht, wenn er "tauscht", nur noch nach innen, d.h. er bringt Gebrauchswerte an den Mann (Betrieb oder Individuum), deren sie bedürfen. Unter dieser Bedingung verwandelt aber das Geld, das gesamte Geld, einzig in ein Kaufmittel, und hört damit auf, Erscheinungsform von Arbeitszeit zu sein.

Lieber Wolfgang Hoss, erkenne!

Wenn Wolfgang Hoss dies gesellschaftliche Geld auch Geld und die Kaufhallen, in denen es in Konsumgütern realisiert wurde, auch Markt nennt, so ist dies sein persönlicher Glaube. Ich sehe nur, dass dem Marxschen Gedanken, ein Arbeitszertifikat an die Stelle wirklichen Geldes zu setzen, dem Inhalt nach - nur nicht der Form nach - in der realen Praxis des Sozialismus entsprochen worden ist. Man kann diese Veränderung in seiner Form erzwingen, man kann das Geld zwingen!

Wir sprechen vom Geld im Sozialismus nicht mehr als Geld, und zwar nicht aus dem Grund, dass man mit Geld nicht Güter kaufen kann wie im schönsten Kapitalismus, wie in einer schönsten Warenproduktion. Nein, das kann man, das wird man bis in den tieferen Kommunismus hinein können. Dass man mit Geld Waren kaufen kann, stört überhaupt nicht, stört den Kommunismus nicht im geringsten. Und dieser Kauf, als Markt verstanden, stört auch nicht. Was den Kommunismus stören würde, ist, dass man mit Waren kaufen muß, und zwar Geld! Wolfgang Hoss und auch die anderen Kritiker der "Warenproduktion im Sozialismus" laborieren theoretisch immer noch (trotz Marx - leider) am Verständnis des Prinzips der Warenproduktion herum: Indem man mit der produzierten Ware Geld kauft, kauft man seine Arbeit ein zweites Mal; man kauft noch einmal, was man schon hat! Man kauft seine Arbeit in ihrer abstrakten Form (da man sie in ihrer konkreten Form nicht mehr selber konsumiert!). Denn dass man arbeitet, ist noch kein Besitz der Arbeit! Und unter dem Gesichtspunkt, dass man einen Gebrauchswert geschaffen hat, der für andere, gesellschaftliche Konsumenten bestimmt ist, schafft man auch noch keinen Besitz. Nur wenn man im Moment der Weggabe des Produkts als Gebrauchswert einen Besitz verlangt, den man behält, schafft man Besitz, ist man Eigentum, Eigentümer seiner Arbeit. Dieser Besitz ist also unser vielgerühmter Wert. Und mit dem geht man dann einkaufen...

Im Kommunismus eignet man seine Arbeit nicht an - man eignet nur (!) nach dem Maß seiner Arbeit an, deshalb muß sie gemessen werden, in einer unmittelbaren Form, aber was man aneignet, sind Güter.

Unsere Kritiker begreifen die einfache Wahrheit nicht, dass der Wert, angeeignet in der Form des Geldes, eine Eigentumskategorie ist. Im Geld hat Eigentum eine Erscheinungsform, aber Eigentum in Besonderheit, als eigenes, verschieden vom Eigentum anderer. Gegenstand dieses besonderen privaten Eigentums ist der Wert, und Geld seine Form, in der es zu besitzen ist. Indem man also aus der Form der Ware, die man unmittelbar produziert hat, in die Form des Geldes wechselt, die man nur durch Austausch erwirbt, wechselt man in die ganz bestimmte historische Form des Eigentums, die die Warenproduktion charakterisiert. Anders als in der abstrakten des Geldes ist Eigentum in einer Produktionsweise, die durch gesellschaftliche Aneignung der Gebrauchswerte gekennzeichnet ist, nicht konstituierbar. Markierung des Eigentums ist in einer Produktion gesellschaftlicher Gebrauchsgüter ohne Markierung der Wertform nicht denkbar. Geld hat damit eine bestimmte Funktion - die Form des Tauschwertes (des eingetauschten Wertes, des als Gebrauchswert erschienenen, also des zum Gegenstand erhobenen Wertes (der eigenen Arbeit) zu sein, und Markt ist nichts als die Beziehung des hie Warenbesitzers und dort Geldbesitzers, die beiden Rollen zu tauschen. Markt ist eine Beziehung, in der Eigentum markiert wird, in der der Warenbesitzer aktiv ist, und der Geldbesitzer passiv. In diesem Gegensatz von Ware und Geld sind bereits alle zukünftigen gesellschaftlichen Gegensätze von Warenproduktion und assoziierter Produktionsweise enthalten bzw. kündigt sich der Gegensatz in seiner vom Inneren her zu entwickelnden Evolution an, d.h. beantwortet sich die Frage, warum sich das Geld historisch länger erhält als die Ware. Aber dieses Längererhalten ist an eine Reduktion seiner Funktion gebunden.

Hoss übersieht die aktive Seite des Warenbesitzers oder -verkäufers, oder setzt die des Geldbesitzers oder Warenkäufers mit dieser gleich. Aber der Käufer der Ware realisiert gar kein Wertverhältnis, d.h. aktives Aneignungsverhältnis in Bezug auf seine Arbeit, er realisiert ein Verhältnis zum Gebrauchswert; er kauft "nur die Ware", oder "Ware". Die Anführungszeichen deshalb, weil sich im real existierenden Sozialismus, also in der realisierten Planwirtschaft, das doppelseitige Verhältnis (bei dem der "Andere" nur eine Erscheinung des "Einen" ist, also nichts Eigenes ist) auf ein einseitiges reduziert hat. Die Planwirtschaft, wo sie Geld ist, realisiert nur ein Verhältnis/Interesse auf den Gebrauchswert. Dies gilt, auch wenn sie die Geldform nutzt. Insofern ist jede Planwirtschaft kommunistisch - auch eine solche, die mit Geld operiert. Dieses Verhältnis nur zum Gebrauchswert resp. Bedarf auf ihn herauszuheben, zu verselbstständigen gegen das des Warenverkäufers, der ein Eigentumsinteresse auf seine Arbeit realisiert, ist die ganze Kunst der Umkehrung vom Kapitalismus zum Kommunismus.

Was hat der reale Sozialismus getan? Er hat das Geld auf eine reine Kauffunktion reduziert, und indem er das tat, hat er die Wertform der Ware und die Tauschwertform des Geldes aufgehoben! D.h. hat er Geld und Markt dem klassischen Begriff nach aufgehoben. Mit Geld wird nur noch gekauft, im Geld aber wird nicht mehr ein Arbeitswert ausgedrückt, dadurch hat das Geld als Erscheinung des Wertes der Ware, als die Tauschwertform des Geldes geendet, damit hat das Geld geendet. Ein solches Geld, das keine Wertbewegungen mehr aktiv ausdrückt, erfüllt den Gedanken des Marxschen Arbeitszertifikates viel besser als ein Arbeitszertifikat, dem man eine Zeitform, also die Form eines Stundenzettels hätte geben müssen. Dasselbe gilt für den Markt. Von einem Geld, das nur in einer Kauffunktion existiert, hat man dasselbe zu denken wie von einem Arbeitszertifikat, das nur in Konsummittel umgesetzt werden kann/soll. Obwohl die Marxsche Form den Sozialismus nicht erreicht zu haben scheint, hat ihn doch der Marxsche Inhalt erreicht. Und der Markt, soweit er verstanden als der Realisator des Wertes, verschwindet indem eine solche Funktion nicht mehr in Bezug auf das Geld ausgeübt wird, und dadurch erscheint das Geld in seiner Funktion, in der es in Waren, die es kauft, "verschwindet", "erlischt" (Marx). Diesen Markt, wie den anderen Markt als einen solchen zu benennen, also gerade dadurch vom Unterschied abzusehen, dass man ihn nicht erkennt, ist - geschenkt. Oder ist ein persönliches Problem.

Marx hätte sich den Gedanken vom Arbeitszertifikat, das an die Stelle des Geldes treten soll, sparen können. Auch er (!) hätte nur zu erkennen gehabt, dass die Lohnform Geld bereits in dieser Funktion, nur noch Waren zu kaufen, nur noch aus Waren abgeleitet zu sein (aus Preisen abgeleitet zu sein), erscheint. Die Geschichte (oder Evolution) der Warenproduktion ist also bereits so weit entwickelt worden, dass sie Aneignungsverhältnisse zum Geld schöpfte, die nicht mehr Arbeitsleistungen realisierten, sondern Warenleistungen. Du kriegst soviel Geld, als für Dich Waren (Güter, Gebrauchswerte) geleistet worden sind. Das Geld muß von der anderen Seite der Wertform, von der Seite der Geldform her aufgerollt werden.

Worein tauscht - in der echten Warenproduktion - denn das Geld, wenn die Ware, genauer ihr Wert, in Geld tauscht? Also Tausch mal von der anderen Seite, der des Geldes betrachtet. Marx sagt es: es wechselt den Gebrauchswert. Das Geld in seiner Bewegung oder Bestimmung realisiert keinen Wert, und ein Verständnis von Markt, auf dem Werte realisiert werden, sollte sich doch von einem Verständnis von Markt unterscheiden, in dem es nur noch um die Realisierung von Gebrauchswerten geht. Gebrauchswerte zu realisieren, also Waren zu realisieren, die für einen produziert worden sind, ist eine andere Bestimmung von Produzenten! Sie ist eine Bestimmung von Produzenten durch die Gesellschaft, ökonomisch gesprochen: durch den Konsumenten. Wir haben im Kommunismus das Primat des Konsumenten an die Stelle des Primats des Produzenten zu setzen, denn ein Primat des Produzenten gibt es ökonomisch gesehen eigentlich nicht (es ist ja auch nur ein Eigentumsprimat); der gesellschaftliche Produzent produziert immer für andere. Wo also ist der Wille des gesellschaftlichen Konsumenten über den Produzenten gesetzt? Wo und wie bekommt dieser Wille, dass der Produzent für den Konsumenten zu produzieren hat, einen Willen vorangesetzt? (Oder weiß der Produzent das besser, ohne dass er das Wissen des Konsumenten weiß?)

Wer die Bestimmung zur Aneignung der Arbeit Anderer besitzt (sein eigen nennt) - und unter der Bedingung der Aneignung von Gebrauchswerten besitzt man sie -, kann nicht mehr die Bestimmung haben, sich selbst anzueignen oder eine gesellschaftliche Form der "eigenen Aneignung" zu praktizieren. Was soll das? Doppelform der Aneignung? Warum, wenn die des Gebrauchswertes unmittelbar gilt. Gäbe es nicht diesen Unterschied der beiden Formen der Aneignung, könnte es keine Negation der Warenproduktion, d.h. keinen Kommunismus geben. Aber: Weil es diesen Unterschied bereits in der Warenproduktion - wenn sie entwickelt gesellschaftlichen Charakter annimmt - gibt, ist er auch ihren Kategorien immanent; in der Doppeldeutigkeit der Kategorien der Warenproduktion erscheint der Kommunismus. Also, gäbe es nicht den Doppelcharakter der Aneignung (von abstrakter des Wertes und proportionaler des Gebrauchswertes) bereits in der Warenproduktion selbst, hätte der Kommunismus keine objektive Ursache. Man könnte ihn machen, aber muß ihn nicht machen müssen. Aber man sollte ihn machen, sonst verliert die Menschheit den Mut zu einer historischen Perspektive der höchsten Art.

Hermann Jacobs, Berlin

Anmerkungen

[49] Ich hatte schon in mehreren Arbeiten darauf hingewiesen, dass sich dieser Wechsel so auswirkt, dass 1. die individuellen Wertwechsel nicht mehr in Preiswechseln erscheinen, diese bleiben also tendenziell Festpreise, dass 2. die Summenbildung von Geld- und Preismenge mit der Summe der Produkte in der Arbeit wächst, und dass sich 3. auf der Basis fester Preise im Einzelnen eine Kostensenkung und darauf folgend eine Gewinnmaximierung mit der Steigerung der individuellen Produktivität ergibt. Diese drei Dinge sind den Geldmechanismen der Warenproduktion entgegengesetzt und verlangen eine zur Warenproduktion entgegengesetzte Erklärung in der Theorie - der man sich aber seitens der Kritiker dieser neuen Praxis verweigert.

[50] Das geschieht ganz ohne nennenswerte Form, d.h. beim Zeitlöhner ist es die real im Betrieb verbrachte Arbeitszeit, und beim Stücklöhner auch, nur dass hier eben die Zeit, die man geleistet hatte, nach den Zeitvorgaben, die für einzelne Arbeitsstücke vorgegeben waren, Stückzeitform erhielt (kleine Übererfüllungen waren erlaubt). Hatte man den Zeitnachweis erbracht, bekam man dafür Geld, und mit diesem Geld ging man zu den gesellschaftlichen Konsumtionsfonds und zog damit soviel Konsumgüter heraus als ... "gleichviel Geld kosteten". So war es wirklich.

[51] Die Unterschiede in der Produktion ihrer Konkretheit nach gehen zu Lasten der Gesellschaft, der Gesamtarbeit Aller, sind Aneignungsverhältnis Aller.

[52] Warum er das so besonders hervorhebt, wird an einer anderen Stelle klar. Hoss fordert zusätzlich zum Markt für Konsumgüter auch einen Markt in Produktionsmitteln. Warum meint er, oder könnte er meinen, dass es diesen Markt im Realsozialismus nicht gab? Nun, auch die Betriebe erhielten Geldmengen zum Kauf ihrer Produktionsmittel, aber es waren, und nun im Unterschied zum Geld in der Hand der Konsumenten individueller Güter, diese Geldmengen an den Kauf schon fest bestimmter Produktionsmittel gebunden, es war also, auf den ersten Blick, kein "freier, eigenbestimmter Kauf"? Oder doch? Die Bestimmung zum Bedarf auf den Gebrauchswert des Produktionsmittels lag auf jeden Fall vor, und ein individueller Ratschluss für den Kauf gerade dieses Mittels hätte sich vom gesellschaftlichen Ratschluss (sprich Planvorgabe) nicht viel unterschieden, denke ich mal. Aber Hoss versteht unter Markt individuelle Freiheit beim Kauf, weil er eben selbstständige ökonomische Subjekte unterstellt, und deshalb respektiert er den geplanten Produktionsmittelmarkt nicht als einen solchen - so erkläre ich mir ihn. Also doch: Warenproduktion muß "freie Warenproduktion" sein, um eine solche zu sein.

Raute

BUCHBESPRECHUNG

Norbert Müller: Rezension des Buches von Sarah Wagenknecht: Wahnsinn mit Methode - Finanzcrash und Weltwirtschaft

Spätestens mit der durch ihre Fehlspekulationen am US-Immobilienmarkt ins Straucheln gekommene Mittelstandsbank IKB, die Sachsen-, West- und Bayern-LB ist die sogenannte Finanzkrise im Fokus der Öffentlichkeit. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind in der jüngsten Vergangenheit zahlreiche Artikel und Fachbücher über die Machenschaften des Finanzkapitals aus der bürgerlichen, linksdemokratischen und sozialistischen Perspektive veröffentlicht worden. Eine mittlerweile viel beachtete Publikation wurde von der Europaabgeordneten und dem KPF-Mitglied Sarah Wagenknecht mit dem Titel "Wahnsinn mit Methode" 2008 auf dem Markt gebracht. Die Europaabgeordnete der Linken diskutiert hier den globalen Finanzcrash und prangert die Auswüchse des Kapitalismus an.

Mit einfachen Worten, einem flüssigen und leicht verständlichen Stil vermittelt Wagenknecht für jeden - auch nicht ökonomisch vorgebildeten - Interessierten elementare Informationen und komplexe Zusammenhänge über das Wesen des Finanzkapitals. Auf Grundlage ihrer umfangreichen ökonomischen Kenntnisse gelingt es der Autorin, die Struktur und die Funktionen der internationalen Finanzmärkte sowie die Wechselwirkungen zwischen den "Akteuren" des Finanzkapitals u.a. mit Hilfe zahlreicher, vereinfachter Rechenbeispiele zu analysieren.

Im Detail beschreibt Wagenknecht die Ursache-Wirkungs-Kette von der (allerdings millionenfachen) Vergabe nicht abgesicherter Familiendarlehn für Immobilien, den durch Kreditgeschäfte aufgeblähten US-Immobilienmarkt bis zum Finanzcrash mit ihren Auswirkungen auf die Realwirtschaft. Als eine der treibenden Kräfte des wuchernden Immobilien- und Finanzmarktes identifiziert die Autorin die "Hebelwirkung" der fremd-, d.h. kreditfinanzierter Geschäfte, mit dessen Hilfe gegenüber dem eigenen vorgeschossenen Kapital Maximalprofite ergaunert werden können. Mit dem Wachstum der Finanzgeschäfte "auf Pump" auf allen Ebenen des Finanzmarktes ist eine weitere Teilbranche des Kapitalsektors eng verknüpft: es geht um die "Neuverpackung" von Krediten und deren, wiederum durch Kredite finanzierten Weiterverkauf. Waren noch vor etwa drei Jahrzehnten fremdfinanzierte Finanzgeschäfte weitgehend durch das Eigenkapital gedeckt, so sind in der Gegenwart Finanzgeschäfte mit einem Fremdkapital-Eigenkapital-Verhältnis von 20 durchaus branchenüblich.

Wagenknecht betont den spekulativen Charakter vieler Finanzgeschäfte, bei denen, in Erwartung einer ganz konkret vermuteten Entwicklung, Kapitalien angelegt werden. Die Autorin mutmaßt, dass ein großer Teil des weltweit geschätzten Finanzvermögens in Höhe von 167 Bill. $ (≈ 350 % aller weltweit produzierten Güter und Dienstleistungen) spekulativ angelegt ist. Die Voraussetzung für ein derartiges Explodieren der Spekulationsgeschäfte sei ihrer Einschätzung nach auf die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte in der jüngeren Vergangenheit zu suchen. Die Aussicht auf horrende Profite sind wiederum Bedingungen, bei denen grundsätzlich alle Waren zu Spekulationsobjekten werden und sich aufgrund der daraus resultierenden Angebots- und Nachfragedynamik zu Spekulationsblasen entwickeln können. Die Aufnahme von Krediten für das Finanzkapital und die Spekulanten ist für Spekulationsgeschäfte profitabel, wenn die Gewinnerwartungen eines Finanzgeschäftes größer als die Kosten für deren Kreditaufnahme sind. Dieses Prinzip lässt sich nur unter der Voraussetzung einer fortgesetzten Investierung von Eigen- und Fremdkapital durch Spekulationswillige nach dem Schneeballsystem realisieren.

Als Triebfeder der aktuellen Krise (wie auch jeder anderen Krise) benennt Wagenknecht die Überakkumulation von Kapital aus der kapitalistischen Warenproduktion, welches zu einem bestimmten Zeitpunkt in den bisherigen Kapitalverwertungsbereichen nicht genug Profit abwirft. Damit sich das Kapital reproduziert und erfolgreich verwertet, wurde Kapital in die hochriskante Vergabe von Krediten zur Immobilienfinanzierung sowie dem spekulativen Handel mit Immobilenkrediten investiert. Die Jagd nach dem Profit zwingt die Fonds und Investmentbanken, sich bei Strafe ihres eigenen Unterganges am Spekulieren zu beteiligen. Beispielhaft erwähnt Wagenknecht das Scheitern von Investmentbanken und Fonds am Kapitalmarkt, die sich nicht aktiv an den Spekulationen in der New Economy beteiligten. Der Finanzmarkt implodierte, weil seine Basis in der Realökonomie weggebrochen ist und dem, durch Spekulation entstandenen (fiktiven) Kapital eine materielle Entsprechung fehlte. Letztendlich - und das gibt Wagenknecht zu bedenken - sind die Überakkumulationskrisen auf den kapitalistischen Grundwiderspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der privaten Aneignung des Mehrwertes zurückzuführen. Um ein Kollabieren des Finanzkapitals und der kapitalistischen Realökonomie zu verhindern, bittet der Staat in Anlehnung an die kapitalistische Maxime, Gewinne werden privatisiert und Verluste sozialisiert, die lohnabhängig Beschäftigten zur Kasse und zur künstlichen Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktion.

Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass Wagenknecht eine auf der Marx'schen Krisentheorie gestützte analytisch saubere Analyse über die Funktionsweise der internationalen Finanzmärkten verfasste. Wer beim Studium der Lektüre allerdings erhofft, analog zur marxistischen Analyse eine marxistische Lösung der Überakkumulationskrise und zur zukünftigen Verhinderung derselben sucht, wird leider (vielleicht aber auch nicht leider - vergegenwärtigt man sich der Parteimitgliedschaft unserer Autorin in der reformistischen Partei "Die Linke") enttäuscht.

"Eine vernünftige Strategie wäre dagegen", so Wagenknecht, "das Kasinospiel mit Aktienwerten und Arbeitsplätzen durch staatliche Mehrheitsbeteiligungen an den großen, volkswirtschaftlich entscheidenden Unternehmen zu beenden, allerdings nicht nur als Überbrückungshilfe in Krisenzeiten, sondern auch zur Sozialisierung der Gewinne und vor allem mit dem Ziel, die Prioritäten der Unternehmensführung von einer blinden Profitorientierung in Richtung volkswirtschaftlich vernünftiger Investitionen, sicherer Arbeitsplätze und ausreichender Mitspracherechte der Beschäftigten zu verschieben" (158).

Um kapitalistische Überproduktions- und Überakkumulationskrisen zu bekämpfen und zukünftig zu verhindern, so lehrt uns Karl Marx, benötigt es die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise und die Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum. Strategien wie sie von der Autorin vorgeschlagen werden - und das sollte sie als "bekennende" Marxistin wissen - zeichnen sich durch die Abkehr und Verfälschung der marxistischen Weltanschauung aus; sie sind reformistisch und führen in den politischen Opportunismus. Wenn Wagenknecht ihre vermeintlich marxistische Lösungsstrategie nun für sich behalten würde - so wäre dies die eine Sache. Eine andere Sache ist, wenn Wagenknecht ihre Weisheiten zur Krisenbewältigung als eine marxistische Antwort verkaufen will. In der Bevölkerung wird durch die Verlautbarung "marxistischer" Lösungen auf Krisen à la Wagenknecht das falsche Bewusstsein genährt, nach denen regulierende Gesetze, staatliche Kontrollen und/oder Beteiligungen an großen Konzernen, kapitalistische Krisen bewältigt werden und zukünftig die ärgsten Auswüchse des Kapitalismus vermieden werden können. Obwohl die Autorin in ihrer Analyse richtig die unauflösbaren Widersprüche zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung als Ursachen der kapitalistischen Krisen und deren Charakter als Oberflächenphänomene benennt - und das ist vermutlich ihr persönlicher Widerspruch - suggeriert sie ihren Lesern, als seien kapitalistische Krisen auch mit Existenz des unauflösbaren Widerspruches der kapitalistischen Produktion beherrsch- und kontrollierbar. Ihrer Haltung nach sind kapitalistische Krisen offensichtlich nur eine Frage der Mehrheitsverhältnisse in den Aufsichtsräten und den Gesellschafterversammlungen kapitalistischer Unternehmen. In Anlehnung an ihre Lösungsstrategie zur Vermeidung kapitalistischer Krisen stellt die private Aneignung von lediglich 49 % des gesellschaftlich produzierten Mehrwertes in einem Unternehmen mit staatlicher Beteiligung für Wagenknecht offensichtlich kein Problem mehr dar und garantiert die Verhinderung zukünftiger Überproduktions- und Überakkumulationskrisen. Eine Begründung dieser These bleibt sie dem Leser in ihrem Buch leider schuldig. Auf die ebenfalls durch Mehrheitsbeteiligungen in Unternehmen nicht in Frage gestellte Klassenherrschaft des Kapitals wird hier nicht eingegangen.

Als Marxist sollte man sich vorsehen, in (nicht nur) Krisen Lösungsstrategien innerhalb des durch den Kapitalismus vorgegebenen Rahmens zu entwickeln. Dieses Politikverständnis ist antimarxistisch und damit revisionistisch, denn sie zielen auf die Rettung der kapitalistischen Produktionsweise ab. Noch einmal: Die Voraussetzung für die Überwindung aller gesellschaftlichen Widersprüche liegt in der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise selbst.

Abschließend sei noch erwähnt, dass Wagenknecht den Begriff der Spekulation in ihrem Buch sehr eng definiert und ihn weitgehend auf die spekulativen Börsen- resp. Finanzgeschäfte reduziert. Die marxistische Lehre entlarvt dagegen bereits jegliche Produktion von Waren für den Markt als einen spekulativen Akt. Unter kapitalistischen Produktionsbedingungen ist die Produktion von Waren an eine konkrete Zukunftserwartung geknüpft, denn die Waren werden in der Hoffnung ihres Absatzes produziert. Erst auf dem Markt entscheidet sich, ob sich für die hergestellten Waren ein Käufer findet oder nicht. Auch der Lohnarbeiter tritt - allerdings nicht aus Gründen der Profitmaximierung - als Spekulant auf, denn er hofft, dass ihn der Kapitalist nach der monatlichen Lohnarbeit bezahlt und auch zukünftig bezahlen wird/kann. Jede ökonomische Handlung ist im Kapitalismus daher an eine konkrete Zukunftserwartung geknüpft und insofern ist jede Art ökonomischen Handelns auch mit einer Spekulation verbunden.

Norbert Müller, Göttingen

Raute

Redaktion offen-siv: Nachdrucke von Werken Kurt Gossweilers im Ausland:

Sowjetunion

1) Krisis burshuasnoj istoriografii faschisma, in: Jeshegodnik germanskoj istorii 1974, Moskau 1975, S. 316-337. (Die bürgerliche Faschismus-Geschichtsschreibung in der Krise, in: Jahrbuch für deutsche Geschichte 1974, Moskau 1975.

2) Reichswer i obrasowanie nazistskoj partii, in: Jeshegodnik germanskoj istorii 1977, Moskau 1978, S.108-128. (Die Reichswehr und die Bildung der Nazi-Partei, in: Jahrbuch für deutsche Geschichte 1977, Moskau 1978.

USA

Kurt Gossweiler, Economy and Politics in the Destruction of the Weimar Republic, in: Radical Perspectives on the Rise of Fascism in Gernany, 1919-19456, edited by Michael N. Dobkowski & Isidor Walliman, Monthly Review Press, New York, 1989, S.150-171. (Ökonomie und Politik bei der Zerstörung der Weimarer Republik).

Japan

1) Kurt Gossweiler, Großbanken, Industriemonopole, Staat. Ökonomie und Politik des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1914-1932

Ins Japanische übersetzt von Prof. Dr. Kazuo Kumagai, (gest. 1978), erschienen 1976 in Tokio.

2) Kurt Gosweiler, Gegenwärtiger Faschismus und das Finanzkapital Sammelband mit Artikeln aus meinen "Aufsätzen zum Faschismus", übersetzt von Kazuo Kumagai, Tokio 1977.

3) Kurt Gossweiler, Die Rolle der 'amerikanischen Fraktion' der deutschen Monopolbourgeoisie in der Weimarer Republik und im faschistischen Deutschland. In: Meiji Business Review, September 1975, Tokio, Nr. 1, S. 123-136, übersetzt von Kazuo Kumagai.

Belgien

1) Kurt Gossweiler, Erreurs et succèss de l'édification socialiste: points forts et faibleses dans la lutte contre le revisionisme. (Irrtümer und Erfolge beim sozialistischen Aufbau: Stärken und Schwächen im Kampf gegen den Revisionismus. In: L' EFFONDREMENT DE L' UNION SOVIÉTIQUE: CAUSES ET LECONS. EPO-Verlag Brüssel, 1998, S. 65-96. Vortrag, gehalten auf dem Internationalen Mai-Seminar der Partei der Arbeit Belgiens, Mai 1993.

Dieser Artikel "Erreurs et succès..." ist von der PTB, der Partei der Arbeit Belgiens, noch zweimal veröffentlicht worden: Zum ersten Mal in: Etudes Marxistes Nr. 19/1993, S. 37-52. (Dieses Heft bringt die Vorträge, die auf dem Mai-Seminar 1993 gehalten wurden, darunter auch das von Karl-Edurad von Schnitzler gehaltene Referat "La RDA au sein de l'histoire de l'Allemagne" (die DDR in der Geschichte Deutschlands.) Zum zweiten Mal wurde mein Artikel veröffentlicht in dem ebenfalls von der PTB herausgegebenen englischsprachigen Band: "The Collapse of socialism in the Soviet Union: causes and lessons." Brüssel, 1. Mai 1996.

2) Kurt Gossweiler, Classe ouvrière et fascisme, (Arbeiterklasse und Faschismus), in: Etudes marxistes, Avril-juin 2000, Nr. 50, EPO Verlag, S. 29-50 (Aus: Aufsätze zum Faschismus, Pahl-Rugenstein Verlag Köln, 1988, Bd. II, S. 439-467).

3) Kurt Gossweiler, L' èconomie allemande en 1933-1934: de la crise mondiale au redressement grace à un rèarmement intensif (Der Übergang von der Weltwirtschaftskrise zur Rüstungskonjunktur in Deutschland 1933 bis 1934) in: Etudes marxistes, 2006, Nr. 75, S. 67-128. Aus: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1968, Teil II, Akademie-Verlag Berlin, DDR, S. 55-116.

4) Kurt Gossweiler, Hitler - L' IRRÉSISTIBLE ASCENSION? Essais sur le fascisme. Éditions Aden, Brüssel, 2006. Mit Vorwort von Prof. Annie Lacroix-Riz: Pourqoi faut-il lire ou relire Kurt Gossweiler? (Kurt Gossweiler, Hitler - der unaufhaltsame Aufstieg? Der Band enthält 6 Artikel aus dem bei Pahl-Rugenstein, Köln, 1988 erschienenen Band: "Aufsätze zum Faschismus".

5) Kurt Gossweiler, Hitler - een onstuitbare opgang? Opstellen over het fascisme. EPO Verlag, 2006. (Übersetzung des in französischer Sprache unter 4) dargestellten Bandes ins Niederländische.)

Tschechische Republik

1) Kurt Gossweiler, John Maynard Keynes - Rádce pro nás a nàse Poblémy?, in: TEORETICKÉ SESITY, Nr.. 3, 2001, S. 16-25. Kurt Gossweiler, J.M. Keynes, ein Ratgeber für uns und unsere Probleme? (Aus: Weißenseer Blätter, Berlin, Heft 4/1996, s. a. "Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie", Heft 9, Aspekte der Ökonomie, Bielefeld 1997, S. 45-57.

2) Kurt Gossweiler, "Röhmuv Puc", ktery se nikdy nekonal. In: G1. Zeitschrift, Nr. 9/2005, S. 17-28. Kurt Gossweiler, Der Röhm-Putsch, der keiner war. (In: Junge Welt, 29. und 30. Juni 2004)

3) Proláseni Kurta Gossweilera K jeho vystoupeni z PDS - Erklärung Kurt Gossweilers zu seinem Austritt aus der PDS. In: Názory samosprávny Klub komunistu, Rocnik 11/2002, Nr. 1, aus: "Offensiv" 6/2001

Italien

1) Kurt Gossweiler, Il revisionismo, affossatore del socialismo (Kurt Gossweiler, Der Revisionimus - der Totengräber des Sozialismus) in: Problemi della transizione al socialismo in URSS, Verlag La Citta del Sole, Neapel, 2004, 315-342. (Probleme des Übergangs des Sozialismus in der UdSSR)

2) Kurt Gossweiler, La (ir)resistibile ascesa al potere di Hitler. (Buch), Zambon-Verlag, Frankfurt/M.-Verona 2009. (Übersetzung des in Belgien erschienenen französischsprachigen Buches (Nr. 4 der unter "Belgien" stehenden Bücher d. Liste II.).

Griechenland

1) Kurt Gossweiler, Der "moderne Revisionismus" und die Niederlage des Sozialismus. (Ins Griechische übersetzt von Thanasis Georgiou aus: "Weißenseer Blätter" 4/1992, S. 46-57, veröffentlicht in: "Zemata Sozialismoj Problematismoj - Synchronos Anateoretismos & Antepanastase", Verlag Sychrene Epoche, Athen, 1994, S. 13-93. In diesen gleichen Band ist auf den Seiten 61-101 aufgenommen mein Artikel

2) "Die vielen Schalen der Zwiebel Gorbatschow", übernommen aus dem Sonderdruck vom Februar 1993 der Kommunistischen Arbeiter-Zeitung (KAZ), München.

3) John Maynard Keynes - ein Ratgeber für uns und unsere Probleme? (S. Tschechische Republik, Ziffer 1). In: "Kommonistiki Epitheorisi" 5/1998, S. 48-60.

Indien

Kurt Gossweiler, Economy and Politics in the Destruction of the Weimar Republic. (Übernommen aus dem unter "USA" aufgeführten Buch). in: Resistible Rise. A Fascism Reader, edited by Margit Köves and Shaswati Mazumdar, Left Word Books, New Delhi, October 2005, S. 115-139.

Red. Offen-siv, Hannover

Raute

Frank Flegel: Über die Probleme des Herrn Haug (jW, 27./28.5.09)

Da druckte die junge Welt zunächst einen recht guten und umfangreichen Aufsatz von Hans Heinz Holz über Lenins "Materialismus und Empiriokritizismus" (13./14.5.09), eine Sache, für die man ihr dankbar sein muss, um dann alles umzuschmeißen, indem sie Wolfgang Fritz Haug vier komplette Seiten für seinen Historisierungs-, Subjektivierungs-, und Relativierungs-Unsinn zur Verfügung stellt.

Ich zitiere einige illustrierende Sätze des Kollegen Haug:

"Bei aller Würdigung Lenins ist es unerlässlich, einen nüchternen Blick auch auf die Schwächen seines Ansatzes von 1909 zu werfen. Ein Kerngedanke kommt in Lenins Satz zum Ausdruck: 'Die Materie ist eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität'. (LW 14, S. 124) Wittich hat angemerkt, dass dies 'ein semantisch recht querer Satz' ist. Wem käme es etwa in den Sinn, die 'objektive Realität' der gegenwärtigen Kapitalismuskrise philosophisch als 'Materie' zu bezeichnen. ... Doch sich so am Wortlaut festzuklammern, brächte Lenins 'Methode diesem oder jenem Buchstaben bei ihm zum Opfer'. (jW, 28.5.09) ...

Nüchtern gesehen ist das Verhältnis des praktisch und theoretisch agierende Lenin zu Kant viel komplexer, als es bei Holz den Anschein hat. Dadurch, dass wir das Ziel der absoluten Wahrheit verfolgen, sind wir noch lange nicht am Ziel. Absolut unwahr aber wäre es, würden wir die Subjektunabhängigkeit der Wahrheit ausrufen. Das hätte einzig Sinn, wäre damit die Unabhängigkeit vom je einzelnen Subjekt gemeint und seine Verweisung auf die Gemeinschaft wissenschaftlicher Subjekte gemeint. Den 'subjektiven' Anteil schlechthin loswerden zu wollen, wäre herabgesunkener und sedimentierter Gottesglaube, wie Gramsci gezeigt hat. Was wir objektiv nennen, ist die kulturell vereinigte Subjektivität. Und diese Subjektivität schwebt nicht in der Luft des Geistes, sondern ist eingebettet ins Geflecht materieller gesellschaftlicher Praxen. (jW, 27.5.09) ...

Das 'Subjekt' aber hat in der irdischen Gestalt des tätigen Individuums die metaphysische Hinterwelt verlassen und interagiert als selber sinnlich-gegenständliches Wesen mit den anderen Seienden. Wechselwirkung ist der Begriff, mit dem Marx diese 'dynamische Ontologie der Relation', wie Etienne Balibar gesagt hat, artikuliert."

Das soll erstmal genügen.

Mein Vater war Lagerarbeiter, meine Mutter Näherin. Ich war 10 Jahre alt, als mein Vater wegen der Folgen seiner Arbeit 1963 Frühinvalide wurde. Sein Rücken war kaputt, er hatte mehrere Bauchbrüche und sein rechtes Knie wollte nicht mehr funktionieren - eine Folge einer Kriegsverwundung. Wir mussten mit 315,- DM monatlich auskommen. Deshalb ging ich schon in frühen Jahren neben der Schule arbeiten. Aber darauf komme ich gleich nochmals zurück.

Ich kenne die Ängste meiner Mutter in den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges, ihre hilflosen Hoffnungen, dass Ihr Willi, das war ihr erster und über alles geliebter Mann, aus dem Kaukasus lebend heimkehren möge - und weiß, dass die Katastrophe ihres Lebens die Tatsache war, dass er nicht heimkehrte. Ich kenne die Erzählungen meines Vaters aus dem Krieg, den er seine schönste Zeit nannte, obwohl er einen Unterschenkendurchschuss kurz unter dem Knie und einen Kiefer-, Jochbein- und Schädelbasisbruch erlitt nach einem Angriff auf seine FLAK-Station. Aber es gab für ein Kommissbrot eine Frau, und als Besatzungssoldat war er mehr wert als vorher in seiner Berufssituation, die er als Pferdeknecht angefangen hatte, dann Laufbursche war, zwischendurch Hausdiener, dann Lagerarbeiter. Leider hat er seine wahren Feinde nie erkannt. Dementsprechend war er weder ein guter Ehemann noch ein guter Vater.

Ich erzähle das alles wegen des Begriffs der Wahrheit. In proletarischen Verhältnissen erfährt man die nämlich ganz ohne Wolfgang Fritz Haug und dessen Schwierigkeiten mit derselben. Das Leben meiner Eltern war direkt bestimmt vom deutschen Imperialismus und die sich durch diesen ergebenden Verhältnisse. Die Macht der Verhältnisse und deren Unmenschlichkeit waren Tatsachen, die ich sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen habe.

Aber auch im Kleinen und direkt Persönlichen verhält es sich ähnlich. Ich erwähnte schon, dass ich früh in der Jugend bereits arbeiten ging. In der Nachbarschaft des kleinen Siedlerhäuschens, in dem wir wohnten - das Haus hatte meine Mutter mit ihrem ersten Mann Stein für Stein selbst aufgebaut - gab es eine Unternehmerfamilie, Papierfabrik, Buchdruck und Rotationsdruck, Geschäftsbücher, Formulare usw. Dort arbeitete ich in den Schulferien im Rollenlager und an der Papierpresse, und es waren nicht selten Überstunden angesagt, je nach Geschäftslage. Mehrfach sah ich, von der Arbeit kommend, den Besitzer der Firma in seinem Garten sich im Liegestuhl räkelnd. Da ist es mir ziemlich egal, ob es "absolut unwahr" wäre, wenn wir die "Subjektunabhängigkeit der Wahrheit ausrufen" oder nicht, ob daraus "sedimentierter Gottesglaube" würde und ob das, "was wir objektiv nennen", nur "die kulturell vereinigte Subjektivität" oder irgendetwas anderes ist. Denn unabhängig von diesen philosophischen Höhenflügen war damals unmittelbar deutlich: Das ist Ausbeutung. Und auch Subjekt und Objekt waren klar: während ich arbeitete, ruhte sich der Nachbar aus und wurde dabei reich. Lieber Kollege Haug, das war so wahr, wahrer geht's nicht.

Und der Vorteil der Marxschen Theorie, die ich später das Glück hatte kennen zu lernen, war, dass sie in allen ihren Bereichen, also sowohl der Philosophie/Erkenntnistheorie wie auch der Ökonomie, der Geschichtswissenschaft und natürlich der Politik mir diese unmittelbar gewonnenen Wahrheiten als wissenschaftlich wahr bestätigte, indem sie die Zusammenhänge und Hintergründe aufdeckte und mir zu einem Systemdenken verhalf - und nicht versuchte, mir genau das auszureden mittels Subjektivierung und Relativierung. Die Marxsche Theorie verstärkte nicht die Zweifel an der Erkenntnis, sondern die Zweifel an den kapitalistischen Verhältnissen. Der Kollege Haug unternimmt den Versuch, uns zum Gegenteil zu motivieren.

Kurz zur Geschichtlichkeit von Wahrheit: Das Wertgesetz, die Mehrwerttheorie, das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, die marxistische Krisentheorie usw., ebenso Lenins Imperialismustheorie oder das von Stalin so bezeichnete Gesetz der ungleichen Entwicklung der kapitalistischen Länder sind natürlich "so historisch wie ihr Gegenstand" (Marx). Solange aber der Gegenstand noch da ist, gelten auch dessen Gesetze. Innerhalb der historischen Spanne einer Gesellschaftsformation, heute also der des Kapitalismus, ist mit der "Geschichtlichkeit von Wahrheit" (Haug) kein Blumentopf zu gewinnen; - außer man sucht den der faulenden Sumpfblüten des Revisionismus. Denn was kommt dabei heraus, wenn man die "notwendige Historizität von (philosophischen) Wahrheiten, also auch denen Lenins" (jW, red. Einleitung des Haug-Artikels, 27.5.09) behauptet, wenn man einfordert, "die Verwandlung und jetzige Krise des Kapitalismus, die neuen Konflikte und möglichen Akteure, die völlig neue Situierung" (Haug in jW, 27.5.09) abzuarbeiten?

Man achte auf die Worte: 1.) "Notwendige Historizität von Wahrheiten" = Es gibt nichts Allgemeingültiges über den Kapitalismus = aus Wahrheit der Erkenntnis wird deren Beliebigkeit; 2.) "Historizität auch der Wahrheiten Lenin" = Lenin ist kein Klassiker = es gibt nichts Allgemeingültiges über die sozialistische Revolution und den Aufbau der proletarischen Staatsmacht als Ausgangspunkt des Aufbaus des Sozialismus; 3.) "neue Konflikte" = wir haben neue Konflikte, also andere als die zwischen Lohnarbeit und Kapital, also andere als Klassenkämpfe, denn das waren die alten Konflikte = der Abschied vom Proletariat schimmert bereits durchs Unterholz; 4.) "mögliche Akteure" = es gibt mögliche Akteure, also unterschiedliche, das Proletariat ist nicht mehr die Hauptkraft der sozialistischen Revolution, sondern eine unter vielen möglichen anderen = Abschied von der Klassenbindung (sagte ich nicht gerade, dass der Abschied vom Proletariat durchs Unterholz schimmert?); 5.) "völlig neue Situierung" = nach 1989 und mit der Wirtschaftskrise ist die Situation, pardon: die "Situierung" nicht nur neu, sondern sogar "völlig" neu = unser marxistisch-leninistisches wissenschaftliches Instrumentarium reicht nicht mehr aus und muss natürlich kritisch hinterfragt werden.

Wie nennt man solche Theorieabrissbirnen wie die eben hier vorgeführte? Revisionismus.

Zum Begriff Revisionismus abschließend Haug, der sich darüber beklagt, dass der "ewig wissende Holz" den "ewig suchenden Haug ... aus dem Marxismus hinauszubugsieren" versucht. "Wo freilich Holz noch ganz auf die stalinistischen Kampfbegriffe setzt - denn das Wort "Revisionismus" kann nicht mehr jungfräulich, sprich: vorstalinistisch gedacht werden - hört der Spaß auf. Da haben wir sie wieder vor uns: Die absurde, weil verabsolutierende, aus der Zeit reißende Anhimmlung der 'unerbittlichen proletarischen Schärfe der Klassiker', die konsequent ausblendet, wie verheerend sich diese Tradition in der Linken im 20. Jahrhundert ausgewirkt hat." (Haug, in jW, 27.5.09)

Kurze Zusammenfassung: Wer "Revisionismus" sagt ist Stalinist und unterliegt dem Bannstrahl, ansonsten darf es keine "Klassiker" geben, keine "Schärfe", und erst recht keine "proletarische". Und die einzige Kraft, die im 20. Jahrhundert der Welt eine andere Entwicklungsrichtung eröffnete als die imperialistische, nämlich die kommunistische Partei, die kommunistische Internationale und das sozialistische Weltsystem als Ergebnis des Sieges der Sowjetunion über den Hitlerfaschismus, hat sich "verheerend" ausgewirkt.

Prima, Herr Haug, aber ansonsten sind wir Marxist, nicht wahr?

Man kann Hans Heinz Holz nur vollstens dabei unterstützen, den "ewig suchenden Haug" aus dem Marxismus "hinauszubugsieren". Der "ewig suchende Haug" bringt nämlich absolut nichts Neues, er tischt uns nur die alten Kamellen sowohl des klassischen Revisionismus, der die Sozialistische Internationale zerstört hat, als auch des modernen Revisionismus, der das sozialistische Weltsystem zerstört hat, in neuem Gewande inzwischen mindestens zum siebenundzwanzigsten Male wieder auf. Man vergleiche die Positionen und Parolen Bernsteins, Kautskys, des Eurokommunismus, des Prager Frühling und Gorbatschows mit den Phrasen des Herrn Haug - und man sieht, wohin er gehört.

Der Revisionismus und die Sozialdemokratie werden auch als "Agentur der Bourgeoisie in den Reihen der Arbeiterklasse" bezeichnet. Warum überlässt die "junge Welt" einem der prominentesten Vertreter dieser Agentur vier komplette Druckseiten? Wer soll etwas davon lernen? Wem soll das helfen? Für wen soll das gut sein?

Frank Flegel, Hannover

Raute

ABSCHIED VON HANS WAUER

Anna C. Heinrich, Kurt Gossweiler, Frank Flegel: Abschied von Hans Wauer

Anna C. Heinrich und Frank Flegel:

Hans Wauer begegnete uns zum ersten Mal bei unserer Veranstaltung zum 50. Jahrestag der Gründung der DDR, die wir damals in Berlin-Karlshorst durchführten. Wir kamen ins Gespräch und verabredeten die gegenseitige Zusendung von Informationsmaterialien und unseren Publikationen.

Für einige Zeit blieb es dabei. Als uns im November 2002 die Kommunistische Plattform der PDS Hannover die Herausgeberschaft kündigte und wir ein neues Herausgebergremium gründeten, trafen wir Hans Wauer zufällig und doch eigentlich auch zwangsläufig bei der LLL-Demonstration im Januar 2003 in Berlin. Wir sprachen über die Lage und er zögerte keinen Augenblick damit, uns seine Mitgliedschaft in dem neu gebildeten Gremium anzubieten. Natürlich nahmen wir sein Angebot gern an. So gehört er nach unseren Gründungsmitgliedern, die wir hin und wieder im Impressum nennen, zu den ersten, die zu uns stießen. Er nahm mit Rat und Tat, mit Energie und Engagement an allen Sitzungen unseres Herausgebergremiums teil. Dafür gilt ihm unser Dank.

Weiterer Dank gebührt ihm für die von ihm angestoßene und angeleitete Publikationstätigkeit der beiden Schriftenreihen, nämlich zunächst der der KPD, dann der der KPD(B). Besonders erwähnenswert ist hier neben einer Fülle interessanter Nachdrucke aus der kommunistischen Literatur und Quellen von Zeitzeugen die Herausgabe grundlegender Arbeiten von Kurt Gossweiler und Ulrich Huar. Bei beiden Autoren entwickelte sich eine fruchtbare Kooperation zwischen Hans Wauer und uns, so druckte er wichtige Arbeiten von Kurt Gossweiler, die bei uns erschienen waren, nach, und die von Ulrich Huar verfasste Publikationsreihe: "Stalins Beiträge zur Theorie des Marxismus-Leninismus" veröffentlichten wir in Kooperation miteinander. Die zuvor - wie eben beschrieben - erschienenen Schriften Ulrich Huars zum Beitrag Stalins zur marxistisch-leninistischen Militärtheorie verlegte Hans Wauer als faktenreiches Buch. Zu beiden Autoren, zu Kurt Gossweiler wie zu Ulrich Huar, unterhielt Hans Wauer freundschaftliche Beziehungen.

Im Jahr 2005 begannen wir, zugegebenermaßen ein Wagnis, unser marxistisch-leninistisches Fernstudium. Wie sein Naturell war, hielt sich Hans Wauer nicht lange mit Bedenken auf, sondern teilte uns mit, dass er zwar nicht zu großartiger finanzieller Hilfe in der Lage sei, die Kapazitäten der Druckmaschine aber gern in den Dienst der guten Sache stellen wolle. Und so druckte er die Schulungshefte für unser Fernstudium, pro Teilnehmer sieben an der Zahl, kostenlos für alle drei bisher stattgefundenen Durchgänge - im Ganzen zweimal 50 und einmal 60 Sätze, also 1120 Exemplare! Das hat uns ungemein geholfen, denn unsere Fernstudenten sind jung und nicht sehr reich. Ihnen die Materialien kostenlos übergeben zu können, damit die Teilnahmegebühr für das zweijährige Fernstudium ausgesprochen niedrig halten zu können, ist sein Verdienst. Wir danken ihm herzlich dafür.

Ab der zweiten Hälfte des Jahres 2008 verschlechterte sich Hans Wauers Gesundheitszustand merklich und in 2009 hielt ihn die Krankheit fast gänzlich davon ab, noch an politischen Prozessen teilnehmen.

Hans Wauer wurde 83 Jahre alt. Er starb in der Nacht vom 28. zum 29. April 2009. Wir gedenken seiner in Dankbarkeit.

Kurt Gossweiler:

Meine erste Begegnung mit Hans Wauer fand im Ausland statt, in Brüssel, auf dem Mai-Seminar der Partei der Arbeit Belgiens im Jahr 1993. Unsere erste Unterhaltung wurde von ihm eröffnet mit einer massiven Kritik an Ausführungen, die ich als Referent als Antwort auf eine Anfrage eines belgischen Genossen gegeben hatte.

Ich hatte als zweiter Teilnehmer aus der DDR gesprochen. Der DDR-Redner vor mir war "Kled", Karl Eduard von Schnitzler, der an der Konferenz gemeinsam mit seiner Frau Marta Raffael teilnahm, und vor mir zur Rolle der DDR in der deutschen Geschichte gesprochen hatte. Ich war gebeten worden, über den Kampf gegen den Revisionismus in der DDR, seine Stärken und Schwächen, zu sprechen - im Kern also über die Ursachen des Unterganges unseres Staates. In der anschließenden Diskussion fragte ein Zuhörer, weshalb dieser Untergang nicht mit dem Einsatz unseres Machtapparates verhindert worden wäre.

Meine Antwort, kurz zusammengefasst, war:

1. Das hätte den Untergang nicht verhindert, denn Gorbatschow hatte die DDR schon an die BRD verkauft, das Ende der DDR war in Moskau beschlossen worden.

2. Wir hätten die Waffen nicht gegen einen fremden Eindringling eingesetzt, auch nicht gegen einen konterrevolutionären bewaffneten Aufstand, sondern gegen die eigene Bevölkerung, gegen Demonstranten, unter denen sich nicht wenige - darunter sogar prominente Parteimitglieder, - wie z.B. auf der Kundgebung am 4. November auf dem Alexanderplatz - befanden.

3. Der Einsatz bewaffneter Kräfte hätte also nur der Konterrevolution genützt, weil er ihr noch das Argument in die Hand gegeben hätte, das "SED-Regime" sei nicht davor zurückgeschreckt, sich gegen das Volk durch ein Blutbad an der Macht zu halten.

Dem Frager hatte diese Antwort offenbar eingeleuchtet. Nicht jedoch einem anderen Zuhörer. Der meldete sich und stellte sich vor als "Hans Wauer, Deutschland."

Er widersprach mir ziemlich erregt und meinte, man hätte unbedingt die Konterrevolution durch den Einsatz bewaffneter Kräfte niederwerfen müssen.

In der Pause kamen wir ins persönliche Gespräch. Dabei stellten wir beide fest, dass wir - von unserem Streitpunkt einmal abgesehen - in allen Fragen übereinstimmten, vor allem in der Einschätzung der Rolle des Revisionismus, des XX. Parteitages der KPdSU, Chruschtschows und Gorbatschows.

Dabei erfuhr ich, dass er zur Führung der 1990 in der noch bestehenden DDR gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands gehörte, die eine eigene Zeitung - "Die Rote Fahne" und eine eigene Schriftenreihe zur Verbreitung marxistisch-leninistischer Kenntnisse und Einschätzungen herausgab.

Er bot mir an, in diese Schriftenreihe auch Artikel von mir aufzunehmen. Dieses Angebot nahm ich natürlich gerne an, hatte ich doch durch den Sieg der Konterrevolution zunächst einmal alle Publikationsmöglichkeiten verloren. Die Zeitschriften, die mir bisher als Faschismusforscher dazu zur Verfügung gestanden hatten - Die "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" (ZfG) und "Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung" (BzG) waren nun fest verschlossen für die Aufdeckung des konterrevolutionären Charakters und die radikale Verurteilungen der revisionistischen Politik nicht nur Gorbatschows, sondern bereits Chruschtschows und des XX. Parteitages. Das gleiche galt auch für die Publikationsorgane der Deutschen Kommunistische Partei (DKP).

Allerdings hatte sich mir unerwartet eine neue Möglichkeit erschlossen, Artikel dieser als "stalinistisch" abgestempelten und in Acht und Bann getanen Richtung zu veröffentlichen - in den "Weißenseer Blättern", die unter dem Titel den Vermerk trugen: "Herausgegeben im Auftrag des Weißenseer Arbeitskreises (Kirchliche Bruderschaft in Berlin-Brandenburg)".

In Wirklichkeit waren zu dieser Zeit die Weißenseer Blätter das mutige und in ganz Deutschland einzigartige Werk des Theologen-Ehepaars Hanfried Müller und Rosemarie Müller-Streisand.

Der erste Artikel von mir ist dort schon 1991 veröffentlicht worden. ("Hatte der Sozialismus nach 1945 keine Chance?)

Eine zweite Zeitschrift gab es noch nach 1990, in der ich mich zu Wort melden konnte: es sind das die "Mitteilungen" der Kommunistischen Plattform der PDS. Sie waren allerdings offen nur für kritische Bemerkungen von mir gegen die Auslassungen von Gysi, Brie und anderen, die auf die Sozialdemokratisierung der PDS zielen.

Konsequenter Antirevisionismus meinerseits ist dagegen auch in den "Mitteilungen" kritisch be- und verurteilt worden. (Dezember-Heft 1994).

Nun also eröffnete sich mir eine Möglichkeit, durch die Schriftenreihe der KPD meine Arbeiten zur Geschichte der kommunistischen Bewegung und der Sowjetunion und ihrer Zersetzung und Zerstörung durch den Revisionismus einem weiteren Kreis zugänglich zu machen. Dafür war ich Hans Wauer sehr dankbar. Es ergab sich daraus eine dauerhafte vertrauensvolle Zusammenarbeit, die über die Veröffentlichung eigener Arbeiten hinausging und Beratungen über die Aufnahme anderer Arbeiten in das Programm der Reihe und die Beurteilung des einen oder anderen Heftes zum Gegenstand hatte.

Mit Beginn der Zusammenarbeit Hans Wauers mit der Zeitschrift "offen-siv" und seinem Beitritt zum Herausgebergremium, also ab 1999 und nach stärker ab 2003, erhielt meine Beziehung zu ihm noch eine neue Dimension dank der von Anna Heinrich und Frank Flegel geschilderten Kooperation beider Zeitschriften.

Anna und Frank haben dabei auch aufgezeigt, wie fruchtbar diese Kooperation war und wie wertvoll für beide Seiten das initiativreiche Wirken von Hans Wauer. Mir bleibt deshalb nur, mich ihren Worten und ihrem Dank an Hans Wauer anzuschließen.

Hans Wauer wird uns sehr fehlen.

Anna C. Heinrich, Kurt Gossweiler, Frank Flegel

Raute

IMPRESSUM

offen-siv, Zeitschrift für Sozialismus und Frieden

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Quelle:
Offensiv Nr. 3/2009 - Zeitschrift für Sozialismus und Frieden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2009