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OSSIETZKY/1091: Weil der Mensch ein Mensch ist


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 3 vom 8. Februar 2020

Weil der Mensch ein Mensch ist

von Georg Rammer


...erhebt er sich gegen Unterdrückung, Ausbeutung, korrupte Eliten: in Indien, Frankreich, Chile, Irak, Tschechien, Algerien, Libanon. Aber es gibt auch "autoritäre Nationalradikale" (W. Heitmeyer), die nicht für ihre Würde und für Gerechtigkeit kämpfen, sondern ihre Wut abreagieren: durch aggressive Abgrenzung, Hass gegen Feinde und alle, die sie zu solchen erklären. Verrohung nimmt zu, Zusammenhalt schwindet - als Folge einer verrohten Politik? So sehr es Machteliten zu bemänteln suchen: Ziele und Methoden der global vorherrschenden Politik fördern eine desolate gesellschaftliche Stimmung. Das neoliberale Dogma zerstört das soziale Zusammenleben.


Verachtung

Seit Monaten finden in Chile Massenproteste und Straßenkämpfe gegen die krasse Ungleichheit statt. Ein Vergleich der statistischen Maßzahlen fördert Überraschendes zutage: In Deutschland ist die soziale Ungleichheit größer als in Chile, so dass sogar der Internationale Währungsfonds konstatiert: "Deutschland ist eines der Länder mit der höchsten Vermögens- und Einkommens-Ungleichheit der Welt."

Zu wessen Lasten konzentriert sich der Reichtum bei den 0,1%-Oligarchen? Wir wissen es seit Jahrzehnten: Die Zahl von Armut betroffener Menschen wächst in Deutschland und anderswo. Größere Altersarmut ist vorprogrammiert: Auf eine Anfrage der Linkspartei gibt das Bundesministerium bekannt, dass Arbeitnehmer 45 Jahre Vollzeit schuften und dabei pro Stunde 12,63 Euro verdienen müssen, um auf die Grundsicherung im Alter zu kommen. Die Politik verlässt sich auf den Gewöhnungseffekt und unsere Gleichgültigkeit.

Sowohl die ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen als auch die systematisch ausgeblutete Daseinsvorsorge betreffen das Alltagsleben der Menschen, die derzeit über unbezahlbare Wohnungen, krank und arm machende Arbeit oder eine kaputte soziale Infrastruktur klagen. Alle wissen: Ein Krankenhausaufenthalt gefährdet die Gesundheit, denn die Privatisierung zugunsten von Konzernen und die Abrechnung nach Fallpauschalen geht nachweislich zu Lasten des Personals und der Patienten, wie etwa der Dokumentarfilm "Der marktgerechte Patient" eindringlich zeigt.

Der neoliberale Umbau hat es geschafft, die Daseinsvorsorge und die Grundlagen eines sozialen Rechtsstaates zu zerstören. Große Teile der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland wollen diese "Reformen" nicht: In einer Umfrage des Forum New Economy vom Oktober 2019 beklagen 80 Prozent die Privatisierung öffentlicher Leistungen. Schwindenden sozialen Zusammenhalt durch die Ungleichheit kritisieren gar 87 Prozent. Stattdessen wollen 87 Prozent mehr staatliche Investitionen für Klimaschutz, Schulen, Universitäten und Bahn. Gegen die Gerechtigkeitsforderungen der Bevölkerung führt aber die Machtelite ihre bewährte ideologische Waffe ins Feld: Die Reichen haben ihren Besitz und die damit verbundene Macht verdient - die Armen haben versagt. Zu Recht empfinden die Menschen diese Haltung als Verhöhnung, als Verachtung und Abwertung; zur materiellen Benachteiligung kommt die seelische Verletzung. Die Lebenslüge der Profiteure glauben allenfalls sie selber; ihr Klassendünkel zersetzt die Basis friedlichen Zusammenlebens.


Ohnmacht

Der Neoliberalismus konnte den Siegeszug antreten, weil seine scheinwissenschaftlichen Annahmen über Mensch, Wirtschaft und Gesellschaft der Machtelite einen Freibrief ausstellten: "Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig", wie von Hayek, einer der "Väter" des Marktradikalismus, dozierte. Politiker befreiten das Kapital durch Deregulierung und Liberalisierung von allen Fesseln, legitimierten die Enthemmung. Jetzt war (fast) alles erlaubt, was dem Profit diente.

Politiker wie Berlusconi, Trump oder Bolsonaro werden gern als Psychopathen bezeichnet; unzählige der Korruption bezichtigt (Netanjahu, Rajoy, Sarkozy). Vergessen wird: Sie erlangten ihre Macht nur durch die Unterstützung des Kapitals, dessen Interessen sie durchsetzten. Zu Recht empört man sich über kriminelle Machenschaften der Konzerne in Deutschland, etwa beim Maut-, CumEx- und Diesel-Skandal oder den Steuerparadiesen; aber die Empörung über Gesetze, die legale Raubzüge und Enteignungen der Bevölkerung durch Steuervorteile und Privatisierung ermöglichen, bleibt begrenzt. Jegliche Moral und menschliche Empfindung wird durch das Ziel der Profitmaximierung außer Kraft gesetzt. Ein Beispiel: Mindestens neunzehn Suizidfälle und zwölf Selbstmordversuche gingen auf das Konto der Chefs von France Télécom: Nach Privatisierungsmaßnahmen drückte der Konzern die "Sanierung" durch Psychoterror der Beschäftigten durch. Sie sollten "destabilisiert" werden, bis sie "wenn nicht durch die Tür, dann halt durchs Fenster gehen", wie der damalige Chef und Berater von Präsident Sarkozy empfahl (vgl. n-tv.de, 11.7.19).

Konzerne und Banken agieren ohnehin frei von Moral, "Schattenbanken" auch frei von Kontrolle. BlackRock etwa als größter Finanzinvestor der Welt hat eine Verfügungsmacht über knapp sieben Billionen US-Dollar mit Beteiligungen an 17.000 großen Aktiengesellschaften - auch allen DAX-Konzernen. Bei allen großen deutschen Wohnungsbaukonzernen - die fünf größten besitzen über 900.000 Wohnungen - ist BlackRock unter den Hauptaktionären - mit fatalen Folgen für Wohnungssuchende und Mieter. Der Deutschlandchef des Finanzinvestors, Friedrich Merz, CDU, hat Ambitionen auf die Kanzlerschaft. Er betreibt engagiert die Privatisierung der Altersversorgung, im Interesse der Investoren, nicht der RentnerInnen. BlackRock-Chef Larry Fink meint: "Die Welt braucht unsere Führung" (Le Monde diplomatique, Januar 2020).

Viele Menschen fragen aber: Wieso begrenzen die Politiker, die wir dafür bezahlen, nicht die Allmacht dieser gierigen Monster? Wie können sie öffentliches Eigentum verscherbeln? Es hat sich, für alle spürbar, ein abgehobenes totalitäres Machtsystem entwickelt, das auf menschliche Bedürfnisse keine Rücksicht zu nehmen bereit ist. Die Menschen sind auf ihre Rolle als Kunde und Arbeitskraft reduziert und empfangen als Signal der Herrschenden: Ihr seid uns sowas von egal! Man fühlt sich anonymen Ausbeutern ausgeliefert. Die Folgen sind das Gefühl von Ohnmacht und ein umfassender Vertrauensverlust - und auch Wut. Der Konzern-Allmacht steht die Ohnmacht des Souveräns gegenüber.


Fake Reality

Welche Interessen bestimmen die Richtlinien der Politik bei existenziellen Themen wie Daseinsvorsorge, Militarismus und Aufrüstung, Klimakatastrophe und soziale Ungleichheit? Vom intimen Zusammenspiel der Machtelite, ihren Zielen und Methoden soll das Volk nichts erfahren. Durch systematische Beeinflussung der Öffentlichkeit wird die Realität im Sinne der Profiteure umgedeutet. Die US-Regierung ließ sich etwa beraten, wie die Klimakatastrophe durch Diskreditierung wissenschaftlicher Ergebnisse so vernebelt werden kann, dass keine Maßnahmen ergriffen werden müssen - bekannt geworden durch das geleakte Frank-Luntz-Memorandum von 2002. Bei Themen wie Aufrüstung und imperiale Ausdehnung von Einflusszonen sollen Feindbilder die öffentliche Meinung lenken, bis die Geschichte revidiert wird: So bezichtigte die Bundeskanzlerin Russland im Bundestag (27.11.2019), mit seinen Angriffen bis an die Grenze der NATO gekommen zu sein. Ähnliche Verdrehungen und Lügen in Presse und TV beschreiben Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer als "Systematik der Kollaboration der Medien mit der Regierung: Täuschung, Ablenkung vom Wesentlichen, Unvollständigkeit, Verharmlosung."[1]

Der Krieg um die Köpfe wird mit "Narrativen" geführt, also emotionalen Erzählungen, die auf das Unterbewusste zielen: Wirkung statt Wahrheit, Manipulation statt Information. Wenn aber Politik durch die Regierungsparteien als Propaganda betrieben wird, genießt sie eine Glaubwürdigkeit wie Fernseh-Werbung, nämlich gar keine - auch wenn sie dennoch Einstellungen und Gefühle zu beeinflussen vermag. Führende Personen großer Medien gehören auch zum Machtkartell; die engmaschige Vernetzung demokratisch nicht legitimierter Lobby- und Eliteverbände wie Atlantikbrücke oder Bilderberg Meetings wird in einem Schaubild des Swiss Propaganda Research gut sichtbar (vgl. [2]).

So wird eine Fake Reality erzeugt, in der Verpflichtung zu Wahrhaftigkeit nach Maßgabe der Eliten-Interessen gepflegt wird. Die Manipulation dringt durch den technischen Fortschritt in alle Lebensbereiche, um Gedanken, Gefühle und Entscheidungen zu beeinflussen. Wie die Massen nach dem Willen der Eliten zu kontrollieren und zu steuern sind, hatte Edward Bernays in "Propaganda" schon 1928 beschrieben: "Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft. Wer die ungesehenen Gesellschaftsmechanismen manipuliert, bildet eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist." (zit. n. Wikipedia) Bei dieser Manipulation der Meinungen spielten alle Parteien, die in den letzten Jahrzehnten die marktradikale Politik bestimmt haben, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Entgegen Artikel 21 Grundgesetz, wonach Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, wussten sie ihre Meinungsmacht zu monopolisieren.

Viele Menschen verlieren die Orientierung. Die Konfusion ist beabsichtigt: Menschen lassen sich so besser lenken. Durch die Allgegenwart von Manipulation wird die Grundlage verlässlicher Kommunikation zerstört, Wahrheit wird beliebig. Die Folge: seelische Destabilisierung und Realitätsverlust. Und es bleibt nicht bei der kognitiven Verwirrung. Denn schon Kleinkinder lernen, dass Gefühle nicht dem Aufbau sicherer Beziehungen dienen, sondern der Manipulation. Um aber die eigene Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit zu überwinden, wollen manche an die Öffentlichkeit dringen und als stark wahrgenommen werden, möglichst viel Wirkung erzielen. Ein bisschen Macht spüren - was Politiker und skrupellose Banker im Großen praktizieren: Ein Zeuge im CumEx-Prozess sprach von "ein bisschen wie bei Pippi Langstrumpf: Ich mache mir meine Welt so, wie ich sie will".

Ungerechtigkeit, Zerstörung der Daseinsvorsorge, Ohnmacht, Vertrauens- und Realitätsverlust sind menschenfeindlich und wecken destruktive Energien. Wird die Unterwerfung unter diese pathogene Scheinwelt zur Gewohnheit, verliert man die Würde. Man kann sie nicht bewahren, indem man sich besser verwertbar macht. Menschen müssen nicht Opfer bleiben. Auflehnung und Widerstand gegen ein krankmachendes System dienen der Stabilisierung der psychischen Existenz und des sozialen Zusammenlebens. Grundlage für Widerstand ist Sensibilisierung: wahrnehmen, dass die Gesellschaft etwa durch Privatisierung beraubt und entrechtet wird, dass Menschen durch Manipulation in ihrer Würde verletzt werden. Widerstehen heißt auch, sich für die Gewalt zu sensibilisieren, die durch Armut, Flüchtlingsbekämpfung oder Aufrüstung ständig um sich greift. Wir können aus eigener Kraft viel verändern, wenn wir uns zusammentun.


Verweise:
[1] https://www.rubikon.news/artikel/das-lacheln-der-killer
[2] https://swprs.files.wordpress.com/2017/08/netzwerk-medien-deutschland-spr-mt.png

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Dreiundzwanzigster Jahrgang, Nr. 3 vom 8. Februar 2020, S. 82-85
Redaktion: Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin
Tel. 030/44 717 309, Fax 030/44 717 451
E-Mail: redaktion@ossietzky.net
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Ossietzky wurde 1997 von Eckart Spoo begründet und erscheint zweiwöchentlich.
Einzelheft 2,80 Euro, Jahresabo 58,- Euro
(Ausland 94,- Euro) für 25 Hefte frei Haus.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2020

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