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OSSIETZKY/1137: Sind wir alle nur Parias?


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 4 vom 18. Februar 2023

Sind wir alle nur Parias?

von Wolfgang Herzberg


Mir ist das Wort "Paria" schon hin und wieder begegnet, aber ich habe mich nicht eingehender mit seiner Bedeutung befasst. Vor kurzem habe ich doch einmal gegoogelt, und da ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: Wir leben in einer hierarchischen Welt von Parias! Wir sind mehrheitlich Parias. Das Wort kommt ursprünglich aus dem Indischen und bezeichnet dort die "niedrigste Kaste". Im übertragenen Sinn aber bedeutet es: Geächtete, außerhalb der Rechtsordnung Stehende, Entrechtete, Außenstehende, wie etwa Juden, Schwarze, Frauen, Schauspieler, Soldaten, aber auch Ausgestoßene, Outsider, Freaks, Minderheiten, Nonkonformisten, Marginalisierte.

Das Wort ist jedoch doppelbödig. Das Verb "parieren" bedeutet einerseits: gehorchen, Folge leisten, sich beugen; anderseits: kämpfen, angreifen, fechten, abwehren, dirigieren.

Nur das Substantiv ist eindeutig negativ besetzt. So könnte man sagen, dass etwa die Verächtlichmachung der DDR, als "totalitärer Unrechtsstaat", als "2. Deutsche Diktatur", als "Stasistaat" usw., dazu beiträgt, Menschen mit einer DDR-Biografie zu "Deutschen zweiter oder dritter Klasse" zu deklassieren, sie also zu Parias der Bundesrepublik zu machen. Besonders krass fiel mir das nach 1990 bei der offiziösen Behandlung des Themas "Juden in der DDR" auf. Obwohl sie in der DDR, nach meinen jahrelangen Recherchen (siehe mein Buch "Jüdisch & Links. Erinnerungen 1921-2021. Zum Kulturerbe der DDR", Berlin, 2022), nach 1945 "den Kern einer linken Parteiintelligenz" bildeten und sich mehrheitlich, pro und kontra, in die schwierige DDR-Geschichte kritisch einmischten, wird dennoch im Mainstream wahrheitswidrig behauptet, dass sie überwiegend unter Antisemitismus zu leiden hatten, nur von marginaler Bedeutung für die DDR-Geschichte waren oder sich überwiegend instrumentalisieren ließen. Merkwürdig dabei ist, dass ich mich in der DDR, trotz meiner Parteilosigkeit und Nonkonformität, nicht als "Ausgestoßener", sondern im Gegenteil als "Geachteter" gefühlt habe. Erst nach 1990 haben sich die meisten von uns, aus jüdischen Familien kommend, plötzlich als Paria empfunden, als "Outsider", als "Geächtete", besonders wenn wir den linken Idealen treu geblieben sind. Ich weiß zugleich, dass es Millionen von nichtjüdischen DDR-Bürgern - Arbeitern, Bauern, Angestellten, Kulturschaffenden - auch so ging, wenn sie ihre Arbeit verloren und sich den kapitalistischen Arbeits- und Wohnverhältnissen, den politischen Verhältnissen, meist schmerzhaft und oft ziemlich ohnmächtig, unterordnen mussten, d. h. zu parieren hatten. Das alles trifft auch auf die überwiegende Mehrheit der westdeutschen Bundesbürger zu, für die Anpassung an diese Verhältnisse längst zur "Normalität" geworden ist.

Aber auch außenpolitisch habe ich, mehr und mehr, die Überzeugung gewonnen, dass die Angehörigen der politischen Klasse hierzulande Parias der US-Regierungen sind und dass der Ampelregierung dabei auch noch das bürgerlich-konservative Lager im Nacken sitzt. So beugen sie sich dem Kriegskurs der in den USA Herrschenden, nicht nur in der Ukraine, sondern schon seit dem Jugoslawienkrieg. Sie begreifen dabei nicht, dass auch die ukrainischen und russischen Herrscher Parias der USA und ihrer Nato-Verbündeten sind, die nach dem Prinzip "Teile und Herrsche" diese Regierungen gegeneinanderhetzen, um ihren eigenen Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Herr Scholz tut dabei so, als ob er hin und wieder zögerlich sei, aber er möchte sich nur mit den USA und den Verbündeten abstimmen, um sich in ihre Kriegsstrategie besser zu integrieren, ihr also untertänig zu folgen! Anstatt selbstbewusst "Nein!" zu dieser Kriegstreiberei zu sagen, um auf eine Verhandlungslösung zu setzen und nicht auf einen illusionären "Siegfrieden" durch immer neue Waffenlieferungen, Tausende Tote auf allen Seiten und endlose Belastungen auch für die deutsche Bevölkerung.

Aber selbst in den USA ist die angeblich demokratische Biden-Regierung ein Paria, weil ihnen auch dort die erzkonservativen und rechten Republikaner im Nacken sitzen, die noch brutaler ihre Kapitalinteressen mit ihrer nationalistischen Ideologie durchsetzen wollen, wie es Trump an der Spitze bereits bewiesen hat.

Leider machen auch die Herrschenden in Israel seit jeher sowohl die jüdischen Israelis und noch mehr die Palästinenser zu Parias. Beide Völker haben sich einem kriegerischen Konfrontationskurs zu beugen, der angeblich Frieden bringen soll, aber, wie in der Ukraine und anderswo, das genaue Gegenteil davon bewirkt.

Dies alles ist keine "Verschwörung", wirft allerdings die Frage auf, wer von dieser Paria-Politik am meisten profitiert. Die Antwort ist klar: Es sind diejenigen, die am Rüstungs- und Energiemarkt besonders gut verdienen, denen ihre Wachstums- und Profit-Raten viel wichtiger sind als die Bekämpfung des weltweiten soziale Elends und der ökologischen Krise.

Aber gibt es einen Ausweg aus diesem globalen, seltsam zwanghaften Phänomen? Ja, denn wie gesagt: Parieren heißt auch fechten, kämpfen, protestieren, abwehren! Es ist der einzige, wenn auch schrecklich zähe Weg, wie die weltweiten Protestbewegungen und sozialen Kämpfe seit dem 19. Jahrhundert eindrucksvoll beweisen: die Bewegungen gegen Armut und Unterdrückung, gegen Fremdenhass, gegen Frauenfeindlichkeit, Klimakrise, gegen den Kapitalismus und gegen seine imperialen Kriege, die alle Völker zu Parias zu kolonialisieren versuchen, um ihnen ihre Gesellschaftsordnung aufzuzwingen.

Doch diese weltweiten Widerstandsbewegungen können nur eine befreiende Wirkung zeigen, wenn sie nicht aus (anarchistischen) Einzelkämpfern bestehen, sondern wenn sich daran, solidarisch, so viele Menschen wie nur irgend möglich beteiligen. Umso mehr Menschen dies tun, umso wirkungsvoller können diese Kämpfe sein, und sie sind nie zu Ende! Denn auch die andere Seite versucht zu parieren, um sich gegen die Einschränkung ihrer Interessen zugunsten des Gemeinwohls massiv zu wehren und ihre Paria-Herrschaft aufrechtzuerhalten. Leider sind sie bisher von übermächtiger Kraft, wenn es uns nicht gelingt, endlich eine starke, solidarische Antikriegsbewegung und eine sozial gerechte Klimarettungsfront zu bilden, die Mensch und Natur aus ihrem Objektstatus befreit und zu Subjekten einer gedeihlichen Entwicklung für alle macht. Nichts weniger als das humane Überleben auf dieser Erde steht dabei auf dem Spiel.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
26. Jahrgang, Nr. 4 vom 18. Februar 2023, S. 132-134
Redaktion: Haus der Demokratie und Menschenrechte
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E-Mail: redaktion@ossietzky.net
Internet: www.ossietzky.net
 
Ossietzky wurde 1997 von Eckart Spoo begründet und erscheint zweiwöchentlich.
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Halbjahresabo 35,- Euro für 12 Hefte frei Haus.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 21. März 2023

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