Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


OSSIETZKY/879: Die Welt ist aus den Fugen


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 23 vom 21. November 2015

Die Welt ist aus den Fugen

Von Ralph Hartmann


Wenn der bundesdeutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die internationale Lage einschätzt, so klingt das alles andere als optimistisch. Zuweilen nimmt er auch Shakespeares Hamlet zu Hilfe. So auch in seiner im September 2014 vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen gehaltenen Rede: "Im Jahre 2014 scheint unsere Welt aus den Fugen geraten. Die Krisen überschlagen sich." Und ein knappes Jahr später, im Juni 2015, überschrieb er seine Rede auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag gleich mit den Worten: "Die Welt ist aus den Fugen geraten."

Wo er Recht hat, hat er Recht, der Minister Steinmeier. Weltweit breiten sich Krisen aus, wachsen Not und Chaos, werden Kriege geführt, wächst die Gefahr globaler militärischer Auseinandersetzungen. Nach dem von den USA und anderen Nato-Staaten unterstützten Staatsstreich in Kiew ist der Kalte Krieg, die Gefahr eines heißen, ja selbst eines atomaren Krieges zurückgekehrt. Der Nahe und Mittlere Osten ist kein Pulverfass mehr, das Fass ist längst explodiert.

Der palästinensisch-israelische Dauerkonflikt, immer wieder verschärft durch die Siedlungspolitik Tel Avivs und die menschenfeindliche Absperrung des Gaza-Streifens, bleibt eine Bedrohung für die so schon destabilisierte Region. Der arabische Frühling ist vor allem infolge der politischen und militärischen Einmischung der USA und ihrer Verbündeten längst zu einem bitterkalten Winter geworden. Gestürzte Diktatoren wurden durch neue ersetzt. In dem von NATO-Staaten bombardierten Libyen herrscht ein grausamer Bürgerkrieg, das Land ist gespalten. Infolge bewaffneter Machtkämpfe, angeheizt von "westlichen Demokratien" und den erzreaktionären Regimen in Saudi-Arabien und in den Golfstaaten, blutet das Land aus tausend Wunden. Im Irak und in Syrien säen terroristische Gruppierungen Tod und Verderben. Der von außen geförderte Islamische Staat (IS) stellt eine Bedrohung für die arabische und die gesamte Welt dar. Die USA bringen die von ihnen gerufenen Geister nicht wieder in die Flasche. Washington und vor allem Moskau versuchen, den IS mit Luftschlägen zurückzudrängen. Das beschwört allerdings die Gefahr von Zusammenstößen und Konflikten zwischen beiden bis an die Zähne mit Kernwaffen gerüsteten Mächten herauf. Gegen den von inneren Machtkämpfen erschütterten Jemen führen Saudi-Arabien und andere Staaten einen völkerrechtswidrigen Luftkrieg, in dem zumeist zivile Ziele attackiert werden. Nach dem teilweisen Abzug der von den USA geführten Invasionstruppen aus Afghanistan verstärken sich die Kämpfe zwischen dem Kabuler Marionettenregime und den Taliban. Im weiten Bogen von Libyen bis Afghanistan haben die USA mit ihrer Politik der skrupellosen Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten, des "regime change" und brutaler Aggressionen weite Teile des Nahen und Mittleren Ostens ins Chaos gestürzt, die größten Flüchtlingsströme seit dem Zweiten Weltkrieg sind eine der Folgen.

Im Ostpazifik verschärfen sich die Territorialkonflikte um Seegebiete und Inseln zwischen China, Taiwan, Japan, Südkorea, Vietnam, Philippinen und Indonesien. Auch hier geht es um militärstrategische Positionen und um Rohstoffe. Der afrikanische Kontinent mit seinen 1,2 Milliarden Menschen ist von dutzenden von Kriegen und innerstaatlichen bewaffneten Konflikten geplagt, in denen radikalislamische Terrorgruppen wie Boko Haram, Ansar al-Scharia und Al-Shabaab eine immer größere Rolle spielen. In der Arktis, in der die Eisdecke immer schneller abschmilzt und enorme Bodenschätze vermutet werden, nehmen die Auseinandersetzungen und militärische Drohgebärden zwischen den Anrainerstaaten in einem raschen Tempo zu.

Die Aufzählung ist unvollständig. Selbst Steinmeier kann sich, wie er in seiner Kirchentagsrede bekannte, "an keine Zeit erinnern, in der internationale Krisen in so großer Zahl an so vielen Orten gleichzeitig auf uns eingestürmt wären wie heute". Er schlussfolgert: "Wegschauen; Nichtstun; sich heraushalten wollen, scheint manchmal eine verlockende Alternative. Aber sie darf es nicht sein, auch aus christlichen Überzeugungen nicht. Denn am Ende: als Christenmenschen tragen wir Verantwortung für unser Handeln genau wie für unser Nichthandeln! Ich finde: Gerade Deutschland muss sich dieser Verantwortung stellen und sich engagieren für den Erhalt und die Stärkung von internationaler Ordnung."

Hier ist der redende Christenmensch zu bescheiden! Die Bundesrepublik hat sich in den letzten Jahrzehnten doch längst dieser Verantwortung bravourös und entschieden gestellt. Es war doch die Bundesrepublik, die sich schamlos in die inneren Angelegenheiten Jugoslawiens einmischte und trotz aller Warnungen, darunter selbst des UNO-Generalsekretärs, mit der übereilten Anerkennung der Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens den schrecklichen Bürgerkrieg befeuerte und ausweitete. Einige Jahre später erfüllten deutsche Tornadopiloten verantwortungsbewusst ihre Aufgabe, beim verbrecherischen Überfall auf Jugoslawien an der Spitze der Angriffsstaffeln zu fliegen. "Wir führ(t)en keinen Krieg" (Bundeskanzler Schröder), aber bombten fleißig mit. Steinmeier höchst persönlich war es, der Belgrad erpresste und entscheidend dazu beitrug, das autonome Gebiet Kosovo aus dem serbischen Staat herauszureißen. Von hohem Verantwortungsbewusstsein zeugte die Teilnahme der Bundesrepublik an der Aggression gegen Afghanistan, galt es doch, unsere Freiheit am Hindukusch zu verteidigen. Am Überfall auf den Irak beteiligte sich die Bundesrepublik nicht. Schließlich standen Bundestagswahlen bevor, aber insgeheim leistete sie vielfältige, vor allem logistische Unterstützung. Kein Geheimnis ist es dagegen, dass die Bundesrepublik drittgrößter Waffenexporteur der Welt ist, darunter in Krisengebiete. Unvergessen ist auch die Rolle der Bundesrepublik beim Staatsstreich in der Ukraine, wo sie in Gestalt von Steinmeiers Vorgänger Westerwelle half, die Lage anzuheizen. Folgerichtig unterstützt sie vasallentreu gegenüber Washington den brandgefährlichen antirussischen NATO-Kurs in der Ukraine-Krise. Besonders hohes Verantwortungsbewusstsein zeigt die schwarz-rosa Regierung, indem sie die im Baltikum stationierten bundesdeutschen Eurofighter mit voller Kriegsbewaffnung, selbstverständlich auch mit weitreichenden Raketen, an Russlands Grenze patrouillieren lässt.

Nein, an Verantwortungsbewusstsein mangelt es der deutschen Außenpolitik nicht. Mit einer derartigen Politik kann die zerrissene Welt nicht wieder, und sei es auch nur Schritt für Schritt, mit festen Fugen miteinander verbunden werden. Auch Steinmeier wird scheitern, so wie Hamlet bei dem Versuch scheiterte, den hinterhältigen Mord an seinem Vater, dem König von Dänemark, zu rächen und die aus den Fugen geratene Welt (bei Shakespeare ist von der "Zeit" die Rede - "The time is out of joint") wieder "herzustellen". Hamlet scheiterte, weil er zögerlich, eben ein Zauderer war. Die deutsche Außenpolitik wird nicht am "Zaudern" scheitern, sondern an der Weigerung, endlich entschlossen und konsequent nicht mit Worten, jedoch mit Taten für Entspannung, Frieden und kollektive Sicherheit einzutreten. Eine solche Wende ist nicht in Sicht, solang vieles faul ist im Staate Bundesrepublik Deutschland.

*

Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Achtzehnter Jahrgang, Nr. 23 vom 21. November 2015, Seite
Herausgeber: Matthias Biskupek, Daniela Dahn, Dr. Rolf Gössner,
Ulla Jelpke, Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo, Jürgen Krause (Korrektor)
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin
Tel. 030/44 717 309, Fax 030/44 717 451
E-Mail: redaktion@ossietzky.net
Internet: www.ossietzky.net oder www.sopos.org/ossietzky
 
Ossietzky erscheint zweiwöchentlich.
Einzelheft 2,80 Euro, Jahresabo 58,- Euro
(Ausland 94,- Euro) für 25 Hefte frei Haus.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang