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OSSIETZKY/899: Der gewöhnliche Rassismus


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 8 vom 9. April 2016

Der gewöhnliche Rassismus

Von Georg Rammer


Rechtsradikale jubeln. Überall sind sie auf dem Vormarsch, in Deutschland wie in ganz Europa. Sie profitieren von einem grassierenden Rassismus, den sie ebenso nutzen wie schüren.

Rassismus ist nicht angeboren. Aber man gewinnt den Eindruck, dass er ansteckend ist. Ältere Herren im Steh-Café, Wartende an der Supermarktkasse und durchaus auch prominente Intellektuelle äußern sich frei rassistisch, als wäre endlich ein Verbot gefallen: Das wird man doch noch sagen dürfen. Radikale Hetze verbreitet sich besonders in den sozialen Medien.

Der Kern des Rassismus ist die Abwertung von Menschen anhand äußerer Merkmale. Ihnen werden in verallgemeinerter Form schädliche Charaktereigenschaften angedichtet. Der "gewöhnliche Rassist" ist ein Mensch, der sich von Ressentiments in eine verächtliche, hasserfüllte Haltung steigert und andere abwertet, ihnen sogar das Menschsein abspricht. Wen sein aggressiver Hass trifft, ist fast beliebig: Juden, Farbige, Moslems, Roma. Denn es geht nicht um Kritik an Fehlern, sondern um "Blitzableiter" für destruktive Gefühle. Deshalb sind Rassisten Fakten und rationalen Argumenten nicht zugänglich. Ein Rassist möchte endlich das Gefühl der Überlegenheit und Macht auskosten in einer Welt, in der er sich ungerecht behandelt und ohnmächtig fühlt. Seine menschenfeindliche Einstellung, seine von Ressentiments vergifteten Gefühle sind für die Adressaten lebensgefährlich.

Rohe rassistische Gewalt wütet in Deutschland und Europa. Was gibt ihr Auftrieb? Flüchtlinge sind nur die Opfer, nicht die Ursache. Am besten "gedeiht" der Rassismus auf dem Boden von Entwertung, Angst und Ohnmacht. So erlebten etwa Hunderttausende BürgerInnen der DDR nach der Übernahme durch die BRD nicht nur einen finanziellen Einbruch, sondern auch einen sozialen Abstieg und vor allem: eine Entwertung ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Existenz. Nichts, was vorher war, fand Anerkennung, im Gegenteil. In vergleichbarer Weise schuf die Agenda-Politik der rot-grünen Regierung mit Hartz-Gesetzen, Niedriglöhnen, der Liquidierung sozialer Schutzrechte et cetera in breiten Teilen der Bevölkerung - bei Arbeitslosen und "Hartz IV"-EmpfängerInnen sowieso - eine kollektive Unsicherheit und eine Entwertung von Lebensgeschichten.

Aber das rechtfertigt selbstverständlich nicht die Brutalität und den Hass der Rassisten. Rassismus zeichnet sich durch totale Empathielosigkeit aus. Für die Aufwertung der eigenen Person konstruiert ein Rassist Menschen unterschiedlicher Wertigkeit; die "Minderwertigen" erklärt er für rechtlos, gibt sie bildlich oder real zum Abschuss frei. Seine Ressentiments erwachsen aus dem Gefühl des Verrats an seinen Bedürfnissen. Aber seine Wut richtet sich nicht gegen den Verursacher seiner Probleme, der ihn selbst als wertlos behandelt; vielmehr gegen Schwache. Da kommen ihm die Massen von Flüchtlingen gerade recht, um die angestaute Angst und Enttäuschung rauszulassen. Endlich dürfen Rassisten ihre Angst zeigen, ohne als Versager zu gelten - endlich eine Gelegenheit zur Rebellion nach dem Motto: Wir zeigen es denen da oben, wir sind das Volk! Und siehe da: Sie haben Erfolg. Die Politik spurt bei der Umsetzung ihrer Forderungen. Endlich können sie Zusammenhalt, Anerkennung und Solidarität in der Gruppe genießen: Wir Deutsche müssen unsere Kultur, unsere Werte verteidigen - welche sie auch immer sein mögen. Rassismus ist hier der letzte Rettungsanker, sich als stark zu erleben und die Kontrolle über das eigene Leben zu behalten. Auch mit Gewalt und rechtem Terror.

Die Fassungslosigkeit über die Bilder aus Tröglitz und Lübbenau und unzähligen anderen Orten rechten Terrors lässt ganz vergessen, dass es eine nicht minder menschenfeindliche Form von Rassismus gibt, die nicht von grölenden, alkoholisierten Rechten verkörpert wird. Dieser Rassismus entsteht nicht auf dem Boden von Ressentiments und Hass, dieser Rassist macht sich auch nicht die Hände schmutzig. Er wirkt kultiviert, einflussreich und gebildet; er zählt sich zur Elite. Er bekommt ein breites Forum in Talkshows, in der FAZ, der Welt, der Zeit oder im Cicero. Er ist nicht so primitiv, die Ungleichwertigkeit von Menschen an Hautfarbe, Religion oder Ethnie festzumachen; gleichwohl ist sie handlungsleitende Grundlage seiner Aktionen.

Wenn seit 1989 Entscheidungen dieser politisch-wirtschaftlichen Elite weltweit 250-300 Millionen Menschen durch Hunger zum Opfer gefallen sind - mehr als in allen Kriegen des 20. Jahrhunderts zusammen -, wenn durch ihre wirtschaftlich und strategisch motivierten Kriege 60 Millionen Menschen in die Flucht getrieben wurden, wenn nach Evi Hartmann ("Wir Sklavenhalter" in Blätter, 4/16) 19 Millionen Menschen in Unternehmen Sklavenarbeit leisten müssen, dann entspricht das alles sicher nicht dem antirassistischen Impuls der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Was erwartet aber die Menschen, die dem Fiasko in ihren Ländern entfliehen wollen, in Europa? Eine Kultur des Abschiebens und gewaltsamen Abwehrens mit NATO-Kriegsschiffen, Internierungslagern, diskriminierenden Asylpaketen und Stacheldraht. Nach welchen "Werten"? Mit welchem Recht? Wo und von wem Menschen geboren werden, ist ein existenzieller Zufall, und Deutscher oder Europäer zu sein, ist an sich kein Verdienst. "Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand." In der EU gilt dieser Menschenrechtsartikel nicht. Aber Afghanistan ist ein sicherer Staat, und der türkische Ministerpräsident ein ehrenwerter Demokrat.

Das ist struktureller Rassismus. Diese Elite ist nicht von einem Hass auf Afrikaner oder Asiaten getrieben, sondern von einer unmenschlichen, asozialen Gleichgültigkeit. Auf den gewöhnlichen Rassisten schauen sie mit Verachtung herab; ihre eigene Art der Menschenverachtung ist weitaus effektiver. Und sie strafen die Opfer der Politik mit Verachtung, denn diese sind für die intellektuelle "Elite" unnützes Menschenmaterial, das den Gewinnern zur Last fällt - und seit dem SPD-Politiker Müntefering wissen wir: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.

Politiker wie Wolfgang Clement, Roland Koch, Guido Westerwelle oder intellektuelle Medienlieblinge wie Peter Sloterdijk, Gunnar Heinsohn und natürlich Thilo Sarrazin, den Millionen durch den Kauf seines Buches würdigten, taten sich immer wieder als "Sozial-Rassisten" hervor. Die Verlierer des kapitalistischen Verwertungswettbewerbs waren für sie generell Schmarotzer, die aus dem gesunden Volkskörper eliminiert werden müssten: Wir haben ja "einen Teil von Menschen, etwa 20 Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, 20 Prozent leben von Hartz IV und Transfereinkommen ... Dieser Teil muss sich auswachsen" (Sarrazin in Lettre International, Okt. 2009). Die verächtlichen, abwertenden Äußerungen sind übrigens auch geeignet, von bestehenden sozialen Konflikten abzulenken.

Der strukturelle Rassismus zeigt sich also nicht bloß als "racial profiling" (wenn etwa Sicherheitskräfte gezielt ethnisch "Andersartige" kontrollieren und schikanieren) oder als diskriminierende Behandlung von Flüchtlingen aus dem "Westbalkan" - gemeint sind selbstverständlich Roma, aber man will schließlich nicht als Rassist dastehen. Die verächtliche Haltung dieser "Elite" deutet auf eine innige Verbindung zwischen Rassismus und Ausbeutung hin. Die Erfahrung zeigt: Ausbeutung und wirtschaftliche Verwertung des Menschen sind eng mit Rassismus verzahnt. Man kann Menschen einfach besser und mit reinerem Gewissen ausbeuten, wenn sie minderwertig sind, wenn ihnen Rechte ebenso abgesprochen werden wie Gefühle. Kapitalismus kennt eben weder Moral noch Empathie. Der wirtschaftliche Reichtum der westlichen Wertegemeinschaft basiert auf der langen Tradition der Sklavenarbeit.

Die Partei AfD ist dabei, den "gewöhnlichen Rassismus" der Pegida und der Kleinbürger mit dem strukturellen Rassismus der Elite zu verbinden. Es ist kein Zufall, dass ihr Wirtschaftsprogramm marktradikal ist, also objektiv gegen die Interessen der meisten ihrer WählerInnen gerichtet; dennoch wählen die Partei nicht nur Angehörige der bürgerlichen Mitte, sondern auch Arbeitslose und "Hartz IV"-Empfänger. Die AfD findet nicht aufgrund ihres Programms viel Zustimmung, sondern weil sie Ressentiments zu kanalisieren und zu radikalisieren vermag. Das können Politiker der Regierungsparteien auch: Horst Seehofer findet bei AfD-Anhängern mehr Zustimmung als die Parteichefin Petry. Wie scheinheilig und halbherzig der staatliche Antirassismus vorgeht, vermag ein kleines Beispiel aus Karlsruhe zu illustrieren. Dort fanden "Wochen gegen Rassismus" statt; in diesen Zeitraum fiel auch die Landtagswahl. Die Stadtverwaltung ordnete an, Plakate für die antirassistischen Wochen in der Nähe von Wahllokalen abzuhängen. Begründung: Rechtsgerichtete Parteien werben für die Ausgrenzung von Minderheiten. Das Gebot der strikten Neutralität bei Wahlen gebiete es dringend, Banner und Plakate unverzüglich abzuhängen.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Neunzehnter Jahrgang, Nr. 8 vom 9. April 2016, Seite 266-269
Herausgeber: Matthias Biskupek, Daniela Dahn, Dr. Rolf Gössner,
Ulla Jelpke, Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo, Jürgen Krause (Korrektor)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2016

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