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POLITISCHE BERICHTE/139: Zeitschrift für linke Politik 8/10


Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik

Nr. 8 am 29. Juli 2010


INHALT

Aktuell aus Politik und Wirtschaft
Politische Berichte im Internet
Ruhrgebiet nach der Love-Parade - Gescheiterte Marketingstrategie
NRW: Chancen für linke Politik - aber: was will Die Linke?
Hamburger Volksentscheid Primarschule: Ein Ergebnis, das viele Fragen aufwirft
Auslandsnachrichten

Regionales und Gewerkschaftliches
Aktionen ... Initiativen
Köln: Erfolgreicher Auftakt der Bürgerinitiative Einkaufszentrum Helios
Kommunale Politik
Europaparlament: Entschließung zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen
Leiharbeit muss dringend neu reguliert werden
Alternative bei Daimler/Berlin in Not: Keine Argumente
Wirtschaftspresse
Verdi kritisiert "Exzellenzinitiative"
Religionsfreiheit für das Christentum weltweit?

Diskussion und Dokumentation
Diskussion der Linken: Beim Eigentum zu kurz gegriffen
Knecht, Arbeiter und Sozialist
"Pelle, der Eroberer" und sein Dichter Martin Andersen-Nexø
Neuerscheinung: Befindlichkeiten der deutschen Linken

Raute

AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT

Politische Berichte im Internet: www.gnn-verlage.com


Weg zu humanitärem EU-Asylrecht nicht blockieren

Bundestag, 7.7., hav. "Eine Angleichung des Asylrechts innerhalb der EU ist dringend notwendig", erklärt die innenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, Ulla Jelpke, zu Medienberichten über entsprechende Pläne der EU-Kommission. "In Sachen Asylrecht gleicht die EU derzeit einem Flickenteppich. Die Anerkennungsquoten für die gleichen Flüchtlingsgruppen tendieren in manchen Staaten gegen Null, in anderen betragen sie rund 80 Prozent. Die Pläne der EU-Kommission fallen nicht vom Himmel, sondern folgen Zielvereinbarungen, die in den letzten Jahren in den EU-Gremien beschlossen wurden. Die Bundesregierung hat, wenn es um mögliche Verbesserungen beim Asylrecht ging, stets gebremst. Jetzt, wo die Beschlüsse allmählich umgesetzt werden müssen, kündigt sie offenen Widerstand an. Das Asylrecht ist in mehrfacher Hinsicht reformbedürftig. Eine EU-weite Harmonisierung muss insbesondere das entwürdigende Festhalten von Flüchtlingen in den Transitzonen deutscher Flughäfen endlich beenden. Dort werden Menschen, die Asyl suchen, faktisch eingesperrt. Ordentliche Anhörungen und Zugang zu Anwälten sind kaum gewährleistet. Es gibt zudem keine Begründung dafür, Asylsuchende diskriminierenden Sonderregelungen bei Marktzugang und Sozialhilfe zu unterwerfen. Es darf aber nicht übersehen werden, dass auch die EU-Flüchtlingspraxis einer Reform bedarf. Die so genannte Grenzschutzagentur Frontex wirkt faktisch als Migrations-Verhinderungs-Agentur, und die Dublin-II-Verordnung begründet einen EU-weiten Verschiebebahnhof für Flüchtlinge. Bis zu einem humanitären Flüchtlingsrecht ist es also noch ein weiter Weg."


EU braucht zusätzliche Milliarden für Fusionsreaktor

Der Standard, 20.7., hav. Um die Finanzierung des geplanten Kernfusionsreaktors ITER in Südfrankreich nach massiven Kostensteigerungen abdecken zu können, hat die EU-Kommission weitreichende Umschichtungen im EU-Budget vorgeschlagen. Zusätzliche 1,4 Milliarden Euro für das Projekt vonseiten der EU sollen 2012 und 2013 durch ungenutzte Gelder aus dem EU-Haushalt sowie durch Neuverwendung von 460 Millionen Euro aus dem 7. EU-Forschungsrahmenprogramm aufgebracht werden. Dagegen erhebt sich Protest aus dem EU-Parlament. So erklärte die Fraktionsvorsitzende der Grünen Rebecca Harms: "Um 2012 und 2013 die Finanzierungslücken des ITER-Projekts zu stopfen, sollen 1,4 Mrd. Euro umgeleitet werden, die u.a. für Programme für Bildung, Armutsbekämpfung, Innovation, nichtnukleare Forschung, Verkehrs- und Energienetze vorgesehen waren. Die heutige Entscheidung zeigt einmal mehr den Mangel an Demokratie in europäischen Atomentscheidungen. Trotz der gravierenden Auswirkungen auf den EU-Haushalt fiel diese Entscheidung ohne Debatte im Rat, ohne Anhörung des Parlaments und ohne angemessene Information der Öffentlichkeit. In der anstehenden Haushaltsdebatte muss das Parlament eine einseitige Ausrichtung der Forschung auf die Fusionsenergie verhindern."


Die Linke kritisiert Abkommen zwischen der EU und Indien

ND, 7.7., hav. Das geplante EU-Indien-Freihandelsabkommen (EIF) bringt katastrophale Auswirkungen für die ärmeren Bevölkerungsgruppen in Indien mit sich. Die Linksfraktion im Bundestag beschloss einen Antrag, der von der Bundesregierung eine Stellungnahme zu den EIF-Verhandlungen fordert. Die EU-Kommission führt die Verhandlungen mit Indien auf der Grundlage des Verhandlungsmandats, das sich aus der "Global Europe-Competing in the World-Strategie" ableitet. 2006 wurden die Weichen der europäischen Außenhandelspolitik mit dieser von Kritikern als aggressiv bezeichneten Marktöffnungsstrategie neu gestellt. Die EU beugte sich damit dem Druck der mächtigen Industrie- und Handelslobby in Brüssel. "In ihren Liberalisierungsforderungen nimmt die Kommission dabei weder Rücksicht auf die Entwicklungsinteressen breiter Bevölkerungsgruppen in Indien noch auf positive Erfahrungen einer relativ starken Regulierung, die in einigen Sektoren der indischen Volkswirtschaft trotz der Liberalisierung, die in den 90er Jahren eingesetzt hatte, weiterhin besteht", heißt es in der Begründung des Entschließungsantrags. Den letzten Anstoß für die Verabschiedung des Antrags gaben die großen Demonstrationen vom Mai, bei denen Gewerkschaften und Milchbauern in Indien gegen das EIF demonstrierten. Indien ist auch einer der größten Hersteller von Generika und exportiert diese in Entwicklungsländer. Die Produktion dieser Generika sei durch das EIF gefährdet.


Ausländische Direktinvestitionen der EU27

Eurostat, 24.6., hav. Im Jahr 2009 fielen die ausländischen Direktinvestitionen (DI) der EU27 in Drittländer (Abflüsse) um 24%, von 348 Mrd. Euro im Jahr 2008 auf 263 Mrd. im Jahr 2009, während DI aus Drittländern in die EU27 (Zuflüsse) um 12% zunahmen, von 199 Mrd. auf 222 Mrd. Diese Zahlen stammen von Eurostat, dem statistischen Amt der Europäischen Union.

Die USA machten mehr als 40% der Direktinvestitionen in die EU27 aus. Der Hauptbestimmungsort von EU27-Investitionen in Drittländer blieb die USA, obwohl die EU27-Investitionen von 121 Mrd. Euro im Jahr 2008 auf 69 Mrd. im Jahr 2009 fielen. Ebenfalls fielen die Investitionen der EU27 in Russland (von 26 Mrd. auf eine Desinvestition von 1 Mrd.), Kanada (von 8 Mrd. auf 3 Mrd.), Hong Kong (von 6 Mrd. auf 3 Mrd.) und Japan (von 6 Mrd. auf 0,1 Mrd.). Die Investitionen in die Offshore-Finanzzentren (von 39 Mrd. auf 60 Mrd.), in die Schweiz (von 34 Mrd. auf 45 Mrd.) und Brasilien (von einer Desinvestition von 1 Mrd. auf eine Investition von 7 Mrd.) stiegen.

Die USA waren auch die Hauptquelle der Investitionen in die EU27, gestiegen von 50 Mrd. Euro im Jahr 2008 auf 97 Mrd. im Jahr 2009. Investitionen in die EU27 aus den Offshore-Finanzzentren (von 20 Mrd. auf 40 Mrd.) und der Schweiz (von 11 Mrd. auf 32 Mrd.) nahmen ebenfalls zu. Investitionen aus Kanada (von 15 Mrd. auf 11 Mrd.), Brasilien (von 11 Mrd. auf 3 Mrd.) und Japan (von 7 Mrd. auf eine Desinvestition auf 2 Mrd.) nahmen ab. Mit DI-Abflüssen von 112 Mrd. Euro bzw. einem Anteil von 42% am EU27-Gesamtwert war Luxemburg 2009 der größte Investor in Drittländern, gefolgt von dem Vereinigten Königreich (31 Mrd. bzw. 12%) und Frankreich (26 Mrd. bzw. 10%). Der Hauptempfänger von DI-Zuflüssen aus Drittländern war ebenfalls Luxemburg (88 Mrd. bzw. 40% des EU27-Gesamtwerts), vor dem Vereinigten Königreich (34 Mrd. bzw. 15%) und Frankreich (10 Mrd. bzw. 5%).

Raute

Ruhrgebiet nach der Love-Parade - Gescheiterte Marketingstrategie

Einige Tage nach dem schrecklichen Unglück während der Love-Parade in Duisburg wird deutlich, dass zwanzig Menschen sterben mussten, weil sich die Verantwortlichen der Stadt Duisburg über Sicherheitsbedenken und Warnungen hinweg gesetzt haben, die bereits im Vorfeld und auch in der Stadtverwaltung selber thematisiert wurden. Am Sicherheitskonzept wurde gespart, es war dilettantisch und offenkundig sind sogar bestehende Sicherheitsregelungen unterlaufen worden. Generell hatte die Stadtspitze in Duisburg keine Erfahrung und keinen blassen Schimmer, wie sie mit einer Masse von über einer Millionen Menschen umgehen sollen. Es ist ja geradezu wahnwitzig zu glauben, dass ein nur sechzehn Meter breiter, langer und dunkler Tunnel als einziger Zu- und Abgang auf einen ansonsten abgeriegelten Platz für so viele Menschen ausreichen kann. Es zeigt aber noch ein anderes Problem auf: Die Stadtspitze um Oberbürgermeister Sauerland (CDU) ist dieses hohe Risiko eingegangen, um sich im Kulturhauptstadtjahr 2010 zu profilieren. Sie stand unter dem entsprechenden Druck der Ruhr-2010-Macher, der Landesregierung und anderer Kommunalpolitiker im Ruhrgebiet. Selbst die ansonsten so scharfe Kommunalaufsicht hat haushaltsrechtliche Bedenken zurückgestellt, obwohl Duisburg unter Nothaushalt steht und die Kosten für die Love-Parade immerhin rund 800.000 Euro betragen haben. Die Marketingstrategie, das Ruhrgebiet auf eine Eventkultur auszurichten, bei der die schiere Mobilisierung möglichst großer Menschenmassen bereits als Erfolg gefeiert wird, ist damit gescheitert. Als wenn sich das Ruhrgebiet auf diesem Weg zu einer Metropole aufschwingen könnte. Dabei gibt es auch ganz andere, oft auch widersprüchliche Diskussionen darüber, wie sich das Ruhrgebiet weiterentwickeln kann. Diese Strategiediskussionen sind aber nicht öffentlich genug und finden oft, typisch für das Ruhrgebiet, isoliert voneinander statt. Vielleicht zeigt das auf, dass es den einen leitenden Entwicklungsgedanken für das Ruhrgebiet nicht gibt. Es fehlt aber eine Strategie darüber, wie sich die verschiedenen Vorstellungen verbessern und bündeln lassen und in praktische Politik umgesetzt werden können. Im Folgenden zitieren wir aus einer gemeinsamen Presseerklärung der Duisburger Landtagsabgeordneten Anna Conrads und von Marc Mulia, Mitglied im Landesvorstand NRW der Linkspartei.

Thorsten Jannoff


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Linke NRW: Wir fordern Adolf Sauerland und Wolfgang Rabe zum sofortigen Rücktritt auf!

Wir sind bestürzt und trauern um die 19 Toten und die vielen Verletzten des vergangenen Wochenendes. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen und Freundinnen und Freunden der Opfer. Da wir beide in Duisburg-Neudorf unweit des Hauptbahnhofs wohnen, macht es uns besonders betroffen, dass ganz in unserer Nähe auf so schreckliche Weise Menschen verletzt wurden und ums Leben gekommen sind.

Wir kritisieren das Sicherheitskonzept der Love-Parade und machen das an drei konkreten Punkten fest. Erstens fasst das Gelände am alten Güterbahnhof bestenfalls 500.000 TeilnehmerInnen (Planungsdezernent Dressler spricht in der heutigen WAZ selber von nur 250.000 Personen) während von Anfang an mehr als eine Million erwartet wurden. Zweitens war es riskant, die BesucherInnen von beiden Seiten kommend durch den Tunnel auf der Karl-Lehr-Straße auf das Gelände zu führen. Es ist uns unverständlich, warum dieser Weg gewählt wurde, obwohl es einen weitaus einfacheren Weg direkt vom Hauptbahnhof auf das Gelände gibt. Drittens haben die Veranstalter bzw. die Einsatzleitung offenbar nicht angemessen reagiert, als sich abzeichnete, dass es ein großes Gedränge im Tunnel und an der Rampe zum Gelände gab. Vielmehr berichten viele Augenzeugen, dass die Polizei und Ordner hilflos mit ansahen, wie sich die Situation weiter zuspitzte.

Die politische Verantwortung für die Tragödie tragen Oberbürgermeister Adolf Sauerland und Ordnungsdezernent Wolfgang Rabe. Wir fordern deshalb beide zum sofortigen Rücktritt auf. Wir kennen Adolf Sauerland seit über zehn Jahren persönlich und haben Verständnis dafür, dass er sich mit großem Engagement für die Durchführung der Loveparade in Duisburg stark gemacht hat. Wir verstehen auch, dass er von den Ereignissen umso mehr betroffen ist.

Wir haben aber kein Verständnis für den Ablauf der gestrigen Pressekonferenz, bei der die Verantwortlichen den meisten kritischen Fragen ausgewichen sind und vielfach auf die staatsanwaltlichen Ermittlungen verwiesen haben. Eine juristische Aufklärung ist auch uns wichtig, vor der politischen Verantwortung darf sich die Stadtspitze aber nicht drücken."

Raute

Chancen für linke Politik - aber: Was will Die Linke?

NRW: rot-grüne Minderheitsregierung gebildet

Im zweiten Wahlgang wurde am 14. Juli Hannelore Kraft zur Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen gewählt, obwohl Rot-Grün eine Stimme zur absoluten Mehrheit fehlt. Möglich wurde das durch die Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke, denn im zweiten Wahlgang reichte die einfache Mehrheit. Am 15. Juli wurde das neue Kabinett vereidigt, mit insgesamt fünf Ministerinnen und sechs Ministern. Dabei ist auffällig, dass Rot-Grün im Gegensatz zur schwarz-gelben Vorgängerregierung auf ein eigenes Integrationsministerium verzichtet hat. Dieser Bereich ist jetzt dem neuen Minister für Arbeit, Integration und Soziales, Guntram Schneider, dem ehemaligen NRW-DGB-Chef, zugeordnet. Mittlerweile ist Guntram Schneider mit konkreten Vorstellungen zur Integrationspolitik an die Öffentlichkeit getreten. So will er die Bildungs- und die beruflichen Chancen von Migranten verbessern. Bei den NRW-Behörden soll das Prinzip der anonymen Bewerbung durchgesetzt werden, damit anhand der Qualifikation und nicht der Herkunft entschieden wird. Leider hat es Rot-Grün versäumt mit gutem Beispiel vor anzugehen und eine/n Minister/in mit Migrationshintergrund zu benennen. Immerhin ist mit Zülfiye Kaykin eine Staatssekretärin für Integrationspolitik ernannt worden, die sich bei der erfolgreichen gesellschaftlichen Integration der Moschee in Duisburg-Marxloh einen Namen gemacht hat.

Zuvor wurde am 13. Juli mit den Stimmen der linken Fraktion der CDU-Politiker Eckart Uhlenberg zum neuen Landtagspräsidenten gewählt. Die Kandidatin der linken Fraktion, Gunhild Böth, zur eine von vier Vizepräsidentinnen bzw. Vizepräsidenten scheiterte im ersten Wahlgang. Sie erhielt nur 78 Stimmen von 101 möglichen Stimmen von SDP, Grüne und Die Linke. Erst im zweiten Wahlgang und nach Intervention von Hannelore Kraft in den eigenen Reihen wurde Gunhild Böth mit 100 Ja-Stimmen gewählt. Das ehemalige DKP-Mitglied war im Vorfeld durch Äußerungen in einem Zeitungsinterview in die öffentliche Kritik geraten, die als Beschönigung der ehemaligen DDR wahrgenommen worden sind.

Rot-Grüner Koalitionsvertrag bietet Ansatzpunkte für die linke Fraktion

Als Grundlage für die Regierungsbildung haben Parteitage von SPD und Grüne einen gemeinsamen Koalitionsvertrag beschlossen. Der Fraktionssprecher der linken Fraktion, Wolfgang Zimmermann kritisierte, dass dieser Vertrag viele schöne Worte, aber wenig Konkretes enthalten würde. Wegen der Angst vor dem Erstarken der Linken seien viele Punkte aus deren Programm übernommen worden! Die aktuellen Umfragen bieten allerdings keine Hinweise auf ein Erstarken der Linkspartei, dort bewegt sie sich seit Monaten stabil um die sechs Prozent. Bei SPD, Grüne und der Linkspartei haben sich aber durch die Opposition gegen die ehemalige schwarz-gelbe Landesregierung inhaltliche Gemeinsamkeiten herausgebildet. Diese gibt es auch wegen milieubedingter Berührungspunkte und Überschneidungen, beispielsweise im gewerkschaftlich organisierten Teil der Bevölkerung sowie in den Großstädten.

Tatsächlich bietet der rot-grüne Koalitionsvertrag eine Reihe von Ansatzpunkten für linke Politik. So kann die Linksfraktion auf der Grundlage des eigenen Landtagswahlprogramms und dem Beschluss des Landesparteitags vom 22.5.2010 (s. PB Nr. 6) Anträge und Gesetzesinitiativen in Gang bringen, die damit kompatibel sind. Einige Stichworte aus dem Koalitionsvertrag dafür sind: "Gute Arbeit" fördern, das Zurückdrängen von prekärer Beschäftigung, für die Einführung des Mindestlohns, Sonntagschutz, ökologischer und sozialer Umbau der Wirtschafts- und Industriepolitik, Ausbau regenerativer Energie und die damit verbundene Kommunalisierung der Energiepolitik, Demokratisierung und Vereinfachung der Verfahren bei Bürgerbegehren und Volksentscheiden, die Stärkung von Bürger- und Freiheitsrechten und das Anliegen aus Betroffenen Beteiligte zu machen, die Einführung eines Sozialtickets, Bundesratsinitiativen für eine andere Steuerpolitik, Maßnahmen zur Wiederherstellung der finanziellen Handlungsfähigkeit der Kommunen, Einhaltung der Konnexität durch das Land und nicht zuletzt die Schulpolitik. Natürlich beinhaltet der Koalitionsvertrag genug Kritikwürdiges und Mängel, so ist z.B. von einem Entschuldungsfonds für notleidende Kommunen entgegen anders lautender Aussagen im Wahlkampf nicht mehr die Rede, sondern lediglich von Konsolidierungshilfen. Überhaupt scheint der ganze Bereich der Finanzierung mit der heißen Nadel gestrickt zu sein, denn er lässt neben den berechtigte Forderungen an den Bund, wie z.B. die Anhebung der Beteiligung an den Kosten der Unterkunft, eigene Anstrengungen unterbelichtet. Aber es könnte ja die Aufgabe linker Politik sein, bessere Vorschläge zu machen.

Schulreform auf der Kippe?

Dieses zentrale Anliegen rot-grüner Regierungskoalition und der Linkspartei hat nach dem unerwartet hohen Sieg des Volksentscheids gegen die Schulreform in Hamburg einen herben Dämpfer erlitten. Zwar betont die Schulministerin und stellvertretende Ministerpräsidenten, Sylvia Löhrmann (Grüne), dass für NRW ein anderes Modell geplant sei. So sollen die neuen Gemeinschaftsschulen in regionaler Kooperation unter Einbeziehung der Schulen, Eltern, Lehrern und Schülern von den Kommunen freiwillig eingeführt werden können. Aber bereits jetzt formiert sich mit dem Rückenwind aus Hamburg auch dagegen Widerstand insbesondere bei Realschul- und Gymnasialverbänden und dem Philologenverband. Wie das ausgeht ist offen, denn es besteht ja trotzdem ein gesellschaftlicher Bedarf für die geplante integrierte Gemeinschaftsschule mit einem gymnasialen Zweig. In der vergangenen Legislaturperiode haben sich auch CDU-Bürgermeister aus dem ländlichen Raum wegen der dortigen Unterversorgung für eine solche Schule eingesetzt und in den Städten geht das "Hauptschulsterben" wegen der Perspektivlosigkeit für die Schülerinnen und Schüler weiter.

Widerstand kommt auch von der linken Fraktion, die zehn statt sechs Jahre gemeinsames Lernen haben will und die die Freiwilligkeit ablehnt, damit es keine unübersichtliche Schullandschaft gibt. Sie bleibt aber die Antwort schuldig, wie auf dem sensiblen Feld der außerfamiliären Übertragung von Kulturkapital auf den Nachwuchs, in der sich berechtigte Ansprüche und Sorgen von Eltern mit Klassendünkel mischen, durch Zwangsbeglückung von oben etwas erreicht werden kann. Die Erfahrungen aus Hamburg jedenfalls sind andere. Noch vor dem Volksentscheid dort hat Rot-Grün dem NRW-Landtag einen umfangreichen Gesetzesentwurf zur Rückabwicklung der schwarz-gelben Schulpolitik vorgelegt: Abschaffung der Kopfnoten, der verbindlichen Empfehlung der Grundschulen für die Schullaufbahn des Kindes, Rückkehr zum Elternwahlrecht, Wiedereinführung der Schulbezirke sowie die Stärkung der von CDU und FDP beschnittenen Schülermitbestimmung in den Schulkonferenzen. Die linke Fraktion hatte zu einigen dieser Punkte ähnliche Entwürfe eingebracht, die zusammen mit dem rot-grünen Paket allesamt in die Fachausschüsse zur weiteren Beratung verwiesen worden sind. Da in diesen Fragen bei Rot-Grün-Rot weitgehend Einigkeit herrscht, werden diese Gesetze wohl in der 2. Lesung nach der Sommerpause beschlossen werden.

Keine Einigkeit gab es dagegen beim rot-grünen Antrag zur Abschaffung der Studiengebühren zum Wintersemester 2011. Er wurde direkt in die Ausschüsse verwiesen, weil die linke Fraktion einen eigenen Antrag zur Abschaffung bereits für das Wintersemester 2010 gestellt hat und dem rotgrünen Antrag nicht zustimmen wollte. Die neue Wissenschaftsministerin Svenja Schule (SPD) verweist darauf, dass die Abschaffung der Studiengebühren nicht im "Hauruck-Verfahren" vor sich gehen könnte. Es müssten jährlich rund 240 Millionen Euro gegen finanziert werden, die den Hochschulen auch weiterhin zur Verfügung gestellt werden sollen. Die Mittel dafür könnten erst mit dem Etat im Frühjahr 2011 beschlossen werden.

Einigkeit gab es dagegen wieder bei dem rot-grünen Gesetzesentwurf zur Änderung des § 107 der Gemeindeordnung NRW, mit der die von CDU und FDP verschlechterten Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Tätigkeit der Kommunen wieder verbessert werden sollen. Auch der Antrag der linken Fraktion "Residenzpflicht abschaffen" fand eine rot-grün-rote Mehrheit. Die Landesregierung wird darin aufgefordert, alle Möglichkeiten für eine Lockerung der räumlichen Beschränkungen auszuschöpfen, denen Asylbewerber und geduldete Ausländer in NRW unterliegen.

Wo geht die Reise hin und was will Die Linke?

Diese Frage ist schon deshalb schwierig zu beantworten, weil die Gemengelage in Partei und Fraktion selbst für Insider nicht völlig überschaut werden kann. Auf ihrem Sonderparteitag in Bottrop kurz nach Scheitern der Sondierungsgespräche mit SPD und Grünen feierte die Partei sich selbst. Die Erleichterung, spräche mit SPD und Grünen feierte die Partei sich selbst. Die Erleichterung, nicht in die schwierige Lage zu kommen, mit SPD und Grünen eine Regierung bilden zu müssen, war fast mit Händen zu greifen. In der ausführlichen Generaldebatte gingen nur sehr vereinzelt Mitglieder darauf ein, dass die Situation durch die anstehenden Alternativen keineswegs Grund zur Feierlaune sei. Zum damaligen Zeitpunkt war zwischen großer Koalition und kurzfristiger Neuwahl noch alles möglich. Etwaige Fehler und Fehleinschätzungen der Landesverbandsspitze im Wahlkampf, aber auch im Vorfeld und gen der Landesverbandsspitze im Wahlkampf, aber auch im Vorfeld und während der Sondierungsgespräche wurden nicht angesprochen; eine kritische Auswertung der Geschehnisse fand nicht statt.

Minenfeld Landeshaushalt

Nach der Entscheidung von SPD und Grünen eine Minderheitsregierung zu bilden, ergibt sich nun die Situation einer sozusagen geringst möglichen Form der Tolerierung. Vor diesem Hintergrund ist Die Linke keineswegs aus dem Schneider. Sie hat sich für einen Weg entschieden, der ihr jetzt weniger Einfluss bei der legislativen Arbeit bringt und praktisch gar keine, was das operative Regierungsgeschäft angeht.

Auf der anderen Seite hat sie Verantwortung übernommen. Ein Scheitern der Regierung, etwa bei der Verabschiedung eines Haushalts, würde ihr durchaus zu einem gewissen Anteil zugerechnet werden. Insofern kommt alles auf das Verhandlungsgeschick der elf Landtagsabgeordneten und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an, zum einen dem vor der Tür stehenden Haushalt gewissen linke Tupfer zu verpassen, zum anderen auch nicht kompromisslerisch daherzukommen. Ob es gelingen wird, dem Haushalt der rot-grünen Minderheitsregierung zuzustimmen, ist völlig unklar. Wie Die Linke aus einer dann anstehenden Regierungskrise, die leicht in Neuwahlen im Frühjahr 2011 münden könnten, halbwegs unbeschadet hervorgehen könnte, steht ebenfalls in den Sternen.

Mit ihrem Zögern, vorschnell einer Abschaffung der Studiengebühren für das Wintersemester 2011/2010 zuzustimmen, ohne über ein Gesamtpaket zu reden, hat sich die linke Fraktion im Landtag zwar parlamentarisch taktisch möglicherweise nicht unklug verhalten. Sie hat aber ein unübersehbares Vermittlungsproblem in die Öffentlichkeit. Die Defizite in der Öffentlichkeitsarbeit, auch in Richtung auf die Partei, werden vorerst bleiben, bis sich beit, auch in Richtung auf die Partei, werden vorerst bleiben, bis sich die Fraktion genügend Netzwerke aufgebaut hat. Dies könnte ihr zum Verhängnis werden, wenn die Probleme sich bald zu häufen beginnen.

Allerdings steht nicht nur die Fraktion vor gewaltigen Herausforderungen. Die Partei hat durch die Neuwahl des Landesvorstandes auf ihrem Parteitag in Leverkusen den bisherigen Kurs der Landesspitze personell bestätigt. Sechs der acht Mitglieder des Geschäftsführenden Vorstandes gehören der Mehrheitsströmung Antikapitalistische Linke (AKL) an, womit sich eine komfortable Mehrheit ergibt.

Landespartei auf innerparteilichem Isolationskurs

Bisher ist es der Mehrheit des Landesvorstandes gelungen, sich parteiintern gegen die pragmatisch orientierte Mehrheit der Partei in den östlichen Bundesländern als "linkester" Landesverband der Partei zu profilieren. Schon deshalb ist es bisher nicht gelungen, auf Bundesebene zu dem Einfluss zu kommen, der dem inzwischen drittgrößten Landesverband der Linkspartei eigentlich zukäme. Eine Änderung dieses Kurses ist auch nicht dadurch zu erwarten, dass der Fraktionsvorsitzende und ehemalige Landesvorsitzende Wolfgang Zimmermann, der in Leverkusen nicht mehr für die Landesspitze kandidierte, in den Parteivorstand gewählt worden ist.

Dies zeigt sich schon allein daran, dass sich die unabgesprochenen Statements zur Strategie seitens der Spitzen von Bundestagsfraktion und Bundespartei häufen. So stellte Gregor Gysi über die Medien erst kürzlich die Bedingungen, dass Rot-Grün alle Gesetzesvorhaben mit der Linken abstimmen müsse und dass ohne die elf Abgeordneten der Linken von insgesamt 181 nichts gehen dürfe. Kann aber eine solche Abstimmung nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt der Kooperation auf der Tagesordnung stehen, an deren Anfang erst mal Gespräche, erste gemeinsame Projekte und andere vertrauensbildende Maßnahmen zwischen allen Beteiligten stehen müssten? Vielleicht gibt es solche Gespräche aber bereits? Im Einzelnen ist hier vieles unklar. Klar hingegen ist, dass es offenbar eine Differenz gibt zwischen der Bedeutung des NRW-Regierungsprojekts für die Bundespartei und der Kommunikation zwischen Landes- und Bundes-Linke.

Weiter so in der Abgrenzung zu SPD und Grünen?

Nach außen profiliert sich die Landesspitze durch in besonderer Schärfe vorgetragene Abgrenzungsreden gegen SPD und Grüne, die von vielen ehemaligen enttäuschten Mitgliedern dieser Parteien, die inzwischen Mitglieder der Linken sind, durchaus positiv quittiert werden. Die Herausforderung dürfte nun sein, möglicherweise auch durch Annäherung und Kompromiss gekennzeichnete Entscheidungen der Landtagsfraktion in der Partei zu erklären, soll das Tolerierungsprojekt nicht allzu schnell wieder scheitern.

Hierbei wird es einige geben, die fürchten, durch eine allzu staatstragende Haltung von der als fundamentalistisch eingeschätzten Basis abgestraft zu werden. Andere haben gar kein Interesse am Gelingen einer wie auch immer gearteten Regierungsbeteiligung. Sie schätzen die Zukunft der Linken als fudamentaloppositionelle Kraft mit alleinigem Blick auf die protestbereiten VerliererInnen des Kapitalismus als am ehesten vielversprechend ein und wollen deshalb auf Dauer die Rolle der kompromisslosen Protestpartei spielen. Es besteht durchaus die Gefahr, dass es dem Landesvorstand in dieser Zusammensetzung an Kraft fehlen könnte, in der Partei für eine Fortsetzung des Kompromisskurses zu werben. Mehr noch, einige werden dafür sorgen wollen, dass ein politisches Klima entsteht, in dem Abstimmungen mit SDP und Grüne schnell als "Verrat" gebrandmarkt werden.

Andererseits übt der Landesvorstand auch merklichen Druck auf die Führung der Landtagsfraktion aus, einen eher fundamentalistischen Kurs zu verfolgen. Je mehr sich die Fraktion aber im Landtag zurechtfinden wird und, schon um ihr politisches Überleben in den Gremien zu sichern, auf der parlamentarischen Klaviatur zu spielen lernt, desto schwieriger wird es ihr fallen, dem Drängen der Parteiführung zu möglichst kämpferischem Auftreten nachzugeben. So dürften auch Konflikte zwischen Partei und Fraktion nach den personellen Entscheidungen von Leverkusen vorprogrammiert sein.

Dann lieber Neuwahlen?

Viele Klippen also, die umschifft werden müssen, um das Tolerierungsprojekt noch so lange wie möglich am Laufen zu halten. Schach- und Winkelzüge werden notwendig sein, die den Akteuren in Partei und Fraktion viel politische Urteilskraft abverlangen werden. Unausgesprochen bleibt, ob sich einige StrategInnen etwas davon versprechen, die Karre Minderheitsregierung an die Wand fahren zu lassen, etwa um vermeintlich gestärkt aus Neuwahlen herauszukommen. Das wäre eine riskante Strategie, denn die aktuellen Umfragewerte sehen zumindest momentan eine klare Mehrheit für SPD und Grüne. Die Chance als Zünglein an der Waage auch eigene Vorstellungen umzusetzen wäre dann für Die Linke dahin. Schließlich können auch CDU und FDP angesichts der Umfragewerte kein Interesse an Neuwahlen haben, die FDP müsste sogar um den Einzug in den Landtag bangen, obwohl sie derzeit auch noch einen Kurs der Fundamentalopposition verfolgen. Recht baldige Neuwahlen zu vermeiden, scheint also für alle Beteiligten am Besten. Die wären auch für Die Linke in NRW letztlich ein unkalkulierbares Risiko.

Jonas Bens, Thorsten Jannoff


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Linksfraktion außerparlamentarisch beim Bildungsstreik

Raute

Ein Ergebnis, das viele Fragen aufwirft

Nach dem Hamburger Volksentscheid über die Primarschule

Ausgang des Hamburger Volksentscheides über Schulreform ist eine herbe Niederlage, die auch für die Linke grundlegende Fragen aufwirft.

Einige Ergebnisse und ein Interpretationsversuch

Die Beteiligung lag mit 39,3% unter der Wahlbeteiligung bei der letzten Bürgerschaftswahl (63,5%), ist aber für einen Volksentscheid ohne gleichzeitige Wahlen nicht einfach niedrig. Ähnlich wie bei den Wahlen, dennoch bemerkenswert ist die Wahlbeteiligung in den 105 Stadtteilen deutlich unterschiedlich. In Nienstedten z.B., mit einem durchschnittlichen Einkommen je Steuerpflichtigem von 150.008 Euro 2004, lag die Wahlbeteiligung bei 60,3%, in Horn dagegen bei lediglich 25,7%. Hier liegt das durchschnittliche Einkommen bei 19.589 Euro und ist damit das zweitniedrigste in Hamburg. Dort strebt der Anteil der SGBII-Empfänger mit 0,9% gegen null, hier liegt er mit 19,7% weit über dem Landesdurchschnitt. Der Zusammenhang zwischen Wahlbeteiligung und sozialer Situation der Stadtteile lässt sich auch anhand der anderen Parameter (Wohnungsgröße, Erwerbslosenquote, "Ausländeranteil" etc.) durchgängig bestätigen. Die "Financial Times" kommentierte zutreffend: "Die Grafik zur endgültigen Wahlbeteiligung ist nun geradezu ein Sozialatlas der Hansestadt geworden." (1)

Also schlug Reich Arm, setzten die Eigentums- und Bildungseliten ihr Interesse an der Verteidigung ihrer Bildungsprivilegien durch? So einfach ist die Sache leider nicht.

In Horn, um bei den angesprochenen Stadtteilen zu bleiben, leben 37.351 Menschen, in Nienstedten 6.928 - auch bei dem krassen Unterschied in der Wahlbeteiligung hätte "Horn" mit dem höheren quantitativen Gewicht "Nienstedten" schlagen können. Man muss sich die Ergebnisse deshalb genauer ansehen.

Durch den hohen Anteil an Briefwählern sind Aussagen über das Wahlverhalten in den Stadtteilen allerdings nur sehr bedingt möglich. Die folgenden Bemerkungen stützen sich deshalb ausschließlich auf die Urnenabstimmung (64.667 von insgesamt 492.057 Stimmen). Da aber auch bei der Auszählung der Urnenabstimmung die Reformgegner vorne lagen, wenngleich nicht gar so deutlich wie bei den Briefwählern, sollen einige Aussagen doch gewagt werden. (2)

1. Die sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen haben die Primarschule, das längere gemeinsame Lernen, nicht zu ihrer Sache gemacht.

Für diese These spricht zweierlei: erstens die niedrige Wahlbeteiligung in den benachteiligten, sozial bereits sehr weitgehend entmischten Stadtteilen. Zweitens die überraschende Tatsache, dass in den Wahllokalen in diesen Stadtteilen die Gegner oft mehr und manchmal sogar weit mehr Stimmen auf sich vereinen konnten als die Primarschulbefürworter. So stimmten in den vier Wahllokalen in Horn 574 Menschen gegen und nur 370 für längeres gemeinsames Lernen. Ähnliche Ergebnisse gab es beim Urnengang in vergleichbaren Stadtteilen, in Billstedt etwa (945:544), Jenfeld (194:119), Steilshoop (183:169) oder Lurup (380:253). Aber es gibt natürlich auch andere Beispiele wie Veddel (35:77), wenngleich diese eher als Ausnahme erscheinen.

Aufgrund der Tatsache, dass der Großteil der migrantischen Bevölkerung sich in den benachteiligten Stadtteilen konzentriert, gibt es wenig Anhaltspunkte dafür, dass sie grundsätzlich ganz anders gewählt hat und dass, hätten nur alle Migrantinnen und Migranten wählen dürfen (über 200.000 ohne deutschen Pass durften das nicht), der Ausgang des Volksentscheids ein anderer gewesen wäre. Auch Berichte aus dem Wahlkampf bestätigen, dass einerseits das Interesse am Volksentscheid nicht ausgeprägt war und dass andererseits auch nicht selten migrantische Familien Wert darauf legten, dass ihre - für begabt und lernstark gehaltenen - Kinder auf keinen Fall so lange mit den anderen - als faul und schwach angesehenen - Migrantenkindern gemeinsam auf der Schule bleiben sollten. Unabhängig davon ist es eine schlimme Diskriminierung, dass so vielen Menschen in Angelegenheiten, die sie zutiefst angehen, das Stimmrecht verwehrt wird.

2. Obwohl die soziale Triebkraft der Scheuerl-Initiative "Wir wollen lernen" unverkennbar die Behauptung der Privilegien war, ist es eine irrige Annahme, dass "die Eliten" durchgängig gegen die Primarschule gestimmt haben. Im einzigen Wahllokal in Nienstedten gab es ein Ergebnis von 175:89, in der Hafencity z.B. von 82:63. Aus den Wahllokal-Ergebnissen in den einschlägigen Stadtteilen kann man insgesamt eher entnehmen, dass über den Daumen ein Drittel und manchmal mehr für die Primarschule gestimmt haben.

3. Die Primarschule hat die größte (wenngleich wahrscheinlich oft kritische) Zustimmung in sozial stark gemischten, bunten, vielfach von Gentrifizierung betroffenen Stadtteilen gefunden. In St. Georg, St. Pauli, im Schanzenviertel - um die prägnantesten Beispiele zu nennen - liegt die Zahl der (Urnen)Stimmen für längeres gemeinsames Lernen drei- bis viermal so hoch wie die Zahl der Gegner. Ich führe diese Ergebnisse nicht nur auf die z.T. lange Tradition widerständigen Lebens in diesen Stadtteilen zurück, sondern vor allem auch auf die Erfahrungen sozialer und kultureller Vielfalt. Hier liegt längeres gemeinsames Lernen einfach nahe.

4. Insgesamt lassen sich Aussagen der Art: so und so gelagerte soziale Interessen hätten zu einem entsprechend eindeutigen Abstimmungsverhalten so oder so geführt, anhand der vorliegenden Daten nicht belegen. Hier könnten weitere Untersuchungen z.B. Aufschluss darüber schaffen, ob es einen Zusammenhang zwischen Alter, Kindern bzw. die Aussicht auf Kinder und Abstimmverhalten gibt.

Die Urnenergebnisse im Bezirk Wandsbek (höchste Ablehnungsquote der Primarschule) und Eimsbüttel (sehr unterschiedliche Wahllokal-Ergebnisse) lassen darauf schließen, dass das eher (klein-)bürgerliche Mittelschichtenmilieu sich recht eindeutig gegen längeres gemeinsames Lernen verwahrt, während das eher bürgerlich-akademische Milieu sehr gespalten scheint.


Ein Erklärungsversuch

Für das Scheitern der Primarschulinitiative, die von allen Bürgerschaftsparteien, von Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Migrantenorganisationen, der Handwerkskammer unterstützt wurde, gibt es viele Gründe. Jeder Versuch einer Erklärung trifft [nur] einige dieser Gründe. Das Problem, eine hochkomplexe Frage auf eine einfache Ja / Nein-Entscheidung zu reduzieren, die schmerzhafte Kita-Gebühren-Erhöhung, das Hin und Her mit dem Elternwahlrecht, jahrelanges Gebastel an Schulreformen mit den Folgen anhaltender Verunsicherung, Fehler in der Kampagne, Unterschätzung der Initiative "Wir wollen lernen", der Zeitpunkt des Rücktritts des Bürgermeisters, die weiter um sich greifende politische Resignation ­... vieles ist in den letzten Tagen angesprochen worden.

In einer Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hamburg untersucht der Hamburger GEW-Vorsitzende Klaus Bullan auf Grundlage einer von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Auftrag gegebenen Milieustudie Selbstverständnis, Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Motivationen von Eltern in verschiedenen Lebenswelten, die auch beim Volksentscheid zum Tragen kamen: Erhalt von Privilegien, Leistungsehrgeiz, soziale Abgrenzung und erbitterter Kampf um Abstand nach "unten" bzw. Anschluss nach "oben". (3) Dieses Streben nach Abstand bzw. Anschluss dürfte in allen sozialen Milieus in nicht geringem Ausmaß wirksam sein.

Für die Linke ist nicht zuletzt die Frage von Bedeutung, warum der Vorschlag des längeren gemeinsamen Lernens von denjenigen nicht angenommen wurde, für die er, so der Anspruch, den größten Nutzen hätte. Es ist ja unstrittig, dass Hamburg ein Bildungssystem hat, das gnadenlos nach sozialen und kulturellen Gesichtspunkten selektiert.

Ich möchte die Behauptung aufstellen, dass es nicht gelungen ist, mit dem Vorschlag längeren gemeinsamen Lernens als Schritt zu mehr (Bildungs- und damit sozialer) Gerechtigkeit an den Lebenserfahrungen der unteren sozialen Milieus anzuknüpfen.

Zum einen erleben sie eine Benachteiligung und Ausgrenzung ihrer Kinder von frühem Alter an. Die Einführung des Kita-Gutscheins ist erst einige Jahre her. Sie hat den Anspruch auf Kita-Betreuung, damit auf öffentliche Sprachförderung und frühkindliche Bildung für die Kinder von SGB II-Bezieher/innen und vielen Migrantenfamilien reduziert - zugunsten von berufstätigen Eltern und ihren Kindern.

Zum anderen: Die Quote der Erwerbslosen und der SGB II-Bezieher/innen liegt in den armen Quartieren erheblich über dem Stadtdurchschnitt. Das ist der prägnanteste Ausdruck der in Hamburg weit fortgeschrittenen sozialräumlichen Segregation, der sozialen Entmischung der Stadtgesellschaft und der räumlichen Konzentration von sozialen Benachteiligungen. Diese prägt die Perspektiven der jungen Generation in diesen Stadtteilen. Die Erfahrungen ihrer Eltern, Geschwister, Nachbarn, Freunde lehrt sie, dass ihnen der Arbeits- und Ausbildungsmarkt mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder ganz verschlossen bleibt oder ihnen bestenfalls prekäre Positionen zuweist. Unvermeidlich wirkt diese auf Erfahrungen gestützte Lebensperspektive auch auf die Bildungsanstrengungen zurück. Es kann als sicher gelten, dass der größte Teil der über 10% Hamburger Jugendlichen ohne Schulabschluss in den benachteiligten Quartieren lebt. In diesem Jahr übrigens sind die Bedingungen, zum Beispiel einen Ausbildungsplatz zu finden, allein aufgrund des doppelten Abiturjahrgangs schlecht wie nie.

Ohne die Perspektive eines respektablen Lebens, das sich auf eigenes, auskömmliches Einkommen stützt und gesellschaftliche Kooperation und Teilhabe ermöglicht, bleibt das Versprechen von mehr Bildungsgerechtigkeit durch längeres gemeinsames Lernen abstrakt. Hinzu kommt, dass längeres gemeinsames Lernen für zahlreiche Familien in sozial stark entmischten, benachteiligten Stadtteilen vielleicht auch nicht viel Neues verspricht, weil ihre Kinder ohnehin die ganze Schulkarriere hindurch gemeinsam lernen, nur leider eben ganz überwiegend mit Ihresgleichen.

Vom Kopf auf die Füße

Die in den öffentlichen Diskussionen der letzten Tage vielfach geäußerte Auffassung, dass die Linke die sozialen Kräfte, auf die sie sich bezieht, nicht hat mobilisieren können, ist zwar nicht falsch, schiebt aber die Gründe eben diesen Kräften zu. Das führt, befürchte ich, in die nächste Niederlage.

Richtig ist, dass die Partei Die Linke den Schwerpunkt ihrer Kampagne auf die benachteiligten Stadtteile gelegt, hier unzählige Flyer verteilt, Infostände gemacht, etliche, meist schlecht besuchte Veranstaltungen durchgeführt, gegen Ende hin mit viel Einsatz dann das persönliche Gespräch im Wohngebiet gesucht und vielhundertfach geführt hat. Tatsächlich aber haben die Erfahrungen der Bewohnerinnen und Bewohner in der Vorbereitung und Ausarbeitung der Primarschulreform - ein von Grün-Schwarz verantwortetes Projekt, das die Partei Die Linke trotz weitergehender Vorstellungen (Eine Schule für alle) unterstützte - keine Rolle gespielt. Weder wurden die diskriminierenden Folgen des Kita-Gutschein-Systems korrigiert. Noch wurden erkennbare Anstrengungen unternommen für die Sicherung des Übergangs Schule / Beruf. Und: Wenn die Maßnahmen, die jetzt unter dem Stichwort "innere Schulreform" angekündigt werden, tatsächlich jedoch erst noch durchgesetzt werden müssen - Verkleinerung der Klassen, Abschaffung des Büchergelds, intensivere Fortbildung für Lehrkräfte, Verbesserung des Unterrichts durch Individualisierung und kooperative Lernformen, Verbesserung der Sprachförderung, Abschaffung des Sitzenbleibens, die Verringerung des Zensurendrucks usw., die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention, mehr Lehrer, mehr Ressourcen - wenn all diese Maßnahmen in einer Vorbereitungsphase umgesetzt worden wären, hätte die Strukturreform ansetzen können an der Erfahrung realer Verbesserungen für alle. So blieb sie für viele ein unrealistisches Versprechen.

Christiane Schneider


Anmerkungen

1) Siehe dazu die interaktive Karte des Statistikamts Nord:
http://www.statistik-nord.de/daten/datenbanken-und-karten/volksentscheid-2010/

2) Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass die Einzugsbereiche der Abstimmungslokale nicht gänzlich mit den Stadtteilgrenzen übereinstimmen.

3) Eltern und Kinder unter Druck, Beiträge zur Auseinandersetzung um die Primarschule, Hamburger Skripte 20, rls Hamburg


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Stellungnahmen

Die Linke, Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft
Volksentscheid zur Prima(r)schule: Hamburg hat eine historische Chance vergeben

Kurz nach 22 Uhr war es klar: Die Volksinitiative gegen die Primarschule hat das erforderliche Quorum von 247.335 Ja-Stimmen erreicht und damit den Volksentscheid gewonnen. Dazu erklärt die Fraktionsvorsitzende Dora Heyenn:

"Der Versuch, die 6-jährige Primarschule flächendeckend und verbindlich in Hamburg einzuführen, ist gescheitert. Wir sind sehr enttäuscht darüber, dass so wenige Menschen am Volksentscheid teilgenommen haben und von denjenigen, die abgestimmt haben, so viele gegen die Primarschule waren. Die Menschen, für die es besonders wichtig gewesen wäre, konnten wir nicht ausreichend mobilisieren. Wir respektieren das Ergebnis, müssen es jetzt erst einmal gründlich analysieren.

Die Politik des Senats und auch die anhaltenden Gerüchte über den Rücktritt des Bürgermeisters haben es uns nicht leicht gemacht. Es ist uns nicht gelungen genug HamburgerInnen davon zu überzeugen, dass trotz der falsch ausgerichteten Sparpolitik des Senats, z. B. die Erhöhung der Kitagebühren oder die angekündigte Kürzung des Weihnachtsgeldes, sich für die Vorlage der Bürgerschaft auszusprechen. Der Volksinitiative ist es offenkundig gelungen die Widersprüche in der Senatspolitik - hier die die Erhöhung der Kitagebühren, dort die Einführung der Primarschule - auszunutzen und Angst vor vermeintlichem Chaos zu befördern. Vielleicht hat auch die Erfahrung, dass der Volksentscheid zur Privatisierung des LBK vom Senat einfach ignoriert wurde, viele Menschen davon abgehalten ihre Stimme abzugeben. Zudem waren Migranten leider von der Abstimmung ausgeschlossen.

Dies ist umso bedauerlicher, weil hier in Hamburg so eine große Chance verspielt wurde. Hamburg braucht endlich eine Politik aus einem Guss für mehr soziale Gerechtigkeit und auch mehr Chancengleichheit in der Bildung."


Klaus Bullan, Vorsitzender der GEW Hamburg, zum Ausgang des Volksentscheids:

"Die Gegner der Reform haben es also geschafft: Kinder werden auch weiterhin nach der vierten Klasse getrennt. Das ist sozial ungerecht und pädagogisch falsch. Deutschland steht mit dieser Praxis weltweit allein auf weiter Flur. Hamburg hätte als Vorreiterin die Wende weg von der rückwärtsgewandten Schulpolitik hin zu einer modernen Pädagogik machen können. Stattdessen konnte sich nun Walter Scheuerl mit seiner Angstkampagne durchsetzen. Der Sprecher der Initiative "Wir wollen lernen" hatte viel Geld im Hintergrund und hat viele Register der Verunsicherung und der Einschüchterung durch juristische Verfahren gezogen. Immerhin ging es darum, mit Geld und Einfluss eigene Privilegien zu sichern. Dies sollte uns Allen Mahnung dafür sein, dass privilegierte Schichten Volksabstimmungen als eine Möglichkeit der Mitbestimmung mit mehr Macht als andere für ihre Interessen instrumentalisieren können. Sicherlich haben viele ihre Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung - Elbphilharmonie, HSH-Nordbank, Haushaltspolitik, Erhöhung der Elternbeiträge an Kitas, Streichung des Weihnachtsgeldes - im Volksentscheid zum Ausdruck gebracht. Positiv jedoch ist dies: Der Einsatz von Tausenden von Menschen aus Gewerkschaften, Parteien Eltern-, Lehrer- und Schülerverbänden aber auch vielen anderen im Bündnis der Schulverbesserer hat gezeigt, dass die Debatte über die Gerechtigkeit von Schule sich nicht mehr zurückdrehen lässt. Früher oder später führt kein Weg daran vorbei, dass alle Kinder länger als vier Jahre miteinander lernen. Dass es nicht so weitergehen kann wie bisher, haben auch die Pisa-Ergebnisse der letzten Jahre insbesondere in Hamburg gezeigt."

Raute

AUSLANDSNACHRICHTEN

Sieg der IAO für Hausangestellte

Hausangestellte, die für Rechte und Anerkennung auf der Grundlage verbindlicher internationaler Normen kämpfen, haben auf der diesjährigen Arbeitskonferenz der IAO in Genf einen entscheidenden Sieg in der ersten Runde erzielt. Am 4. Juni stimmten 61 Regierungen für ein Übereinkommen und eine ergänzende Empfehlung und 14 nur für eine Empfehlung. Diesem ersten Sieg für die mehreren hundert Millionen Hausangestellten in aller Welt folgten zehn Tage zäher Verhandlungen über vorgeschlagene Änderungen, vor allem von Seiten der Arbeitgebergruppe, die den Geltungsbereich und den Inhalt künftiger Normen deutlich verwässern wollten. Die Arbeitgeber erklärten zwar, den wichtigen Beitrag der Hausangestellten zur Gesamtwirtschaft durchaus anzuerkennen, führten aber typischerweise das Argument ins Feld, dass strenge Normen die Beschäftigungsmöglichkeiten dieser Arbeitnehmergruppe einschränken würden - dem widersprachen eindeutig Regierungsvertreter aus Ländern wie Brasilien, Uruguay und Südafrika, in denen es für Hausangestellte geltende Gesetze und Tarifverträge gibt.

Der Arbeitnehmergruppe und insbesondere den Regierungen afrikanische und lateinamerikanischer Länder sowie Australiens und der USA gelang es nicht nur, die wichtigen Bestimmungen im Entwurf der Schlussfolgerungen beizubehalten, sondern auch mehrere Änderungen vorzunehmen, die den Schutz in wichtigen Bereichen verstärken, darunter beim Mindestalter für die Beschäftigung, Kinderarbeit und Aufgaben und Pflichten privater Arbeitsvermittlungsagenturen.

Obwohl also während dieser ersten Diskussion beträchtliche Fortschritte erzielt werden konnten, verbleiben noch eine Reihe von Problemen für die zweite und abschließende Diskussion im Jahr 2011. Der Grundsatz der Gleichbehandlung von Hausangestellten und Arbeitnehmern in anderen Sektoren in Bezug auf den sozialen Schutz, die Arbeitszeit, den Arbeitsschutz und die Arbeitsaufsicht ist noch lange nicht fest verankert - auch nicht in einigen der reichsten Länder der Welt, darunter den Mitgliedern der Europäischen Union. Halimah Yacob, die Sprecherin der Arbeitnehmergruppe, erklärte im dreigliedrigen IAO-Ausschuss für Hausangestellte, dieser habe die historische Aufgabe, aus dem Schlagwort "menschenwürdige Arbeit für alle" eine Realität für alle Hausangestellten zu machen. Das IDWN und seine Mitglieder werden zu den Verhandlungen im nächsten Jahr besser vorbereitet zurückkehren als je zuvor, um für gleiche Rechte für alle zu kämpfen.
http://cms.iuf.org/


IUL fordert neue Verhandlungen bei Hotelgruppe Accor

Gewerkschaften aus aller Welt haben die in Frankreich beheimatete Accor-Gruppe aufgefordert, unverzüglich Verhandlungen über eine Neuausrichtung des Geltungsbereichs und des Inhalts der mit der IUL 1995 getroffenen internationalen Vereinbarung über Gewerkschaftsrechte aufzunehmen. Die Aufforderung erging von der internationalen Jahrestagung der IUL-Mitgliedgewerkschaften in den Sektoren Gastgewerbe, Tourismus und Catering, die vom 17.-18. Mai in Ankara, Türkei stattfand. Zu Accor gehören die Hotels der Marken Sofitel, Pullman, MGallery, Novotel, Mercure, Suitehotel, Ibis, All Seasons, Etap Hotel/Formule 1 und Motel6.

Mit der Unterzeichnung der Vereinbarung verpflichtete sich Accor, "Bemühungen um die gewerkschaftliche Organisierung seiner Arbeitnehmer nicht zu behindern". Die Umsetzung der Vereinbarung ist jedoch nicht konfliktfrei verlaufen - so vor allem nicht in Indonesien, den Vereinigten Staaten und in jüngster Zeit auch in Kanada, wo die Arbeitnehmer in drei Accor-Hotels bei ihren Bemühungen um die Bildung einer Gewerkschaft auf massiven Widerstand des Arbeitgebers trafen. Ungeachtet eindeutiger Formulierungen der internationalen Vereinbarung, die ausdrücklich Arbeitnehmer "gegen alle diskriminierenden Maßnahmen, die die Vereinigungsfreiheit verletzen können", schützen und "den Schutz der Arbeitnehmervertreter vor Maßnahmen, die ihnen schaden könnten", gewährleisten, sind Gewerkschaftsaktivisten in diesen Hotels entlassen und Arbeitnehmer unter Druck gesetzt worden, bei einer Gewerkschaftswahl mit Nein zu stimmen.

Die Schwierigkeiten sind durch einschneidende Änderungen des Accor-Geschäftsmodells verschärft worden, das in drastischer Weise vom Direkteigentum an den Hotels zu Franchisebetrieben und Verwaltungsverträgen übergegangen ist. Die Folge ist, dass immer mehr früher in Accor-Hotels beschäftigte Arbeitnehmer nicht mehr Arbeitnehmer des Unternehmens sind. Deshalb muss die internationale Vereinbarung aktualisiert werden, um diesen Veränderungen Rechnung zu tragen und sicherzustellen, dass sie nach wie vor für alle gilt, die in einem Hotel mit einem Accor-Markennamen arbeiten, unabhängig davon, wer als Eigentümer des Hotels fungiert.

Mit dem Plan, im Juni dieses Jahres das Hotelgeschäft vom Bereich Dienstleistungsgutscheine zu trennen, wodurch sich der Trend zum Verkauf von Hotels verstärken und die Zahl der von Accor direkt Beschäftigten weiter sinken wird, kann der Druck auf die Hotelarbeitnehmer nur noch stärker werden. IUL-Generalsekretär Ron Oswald meinte hierzu: "Die Bestimmungen der internationalen Vereinbarung mit der IUL zu festigen, wäre gleichbedeutend mit einer eindeutigen Aussage des Unternehmens, dass es die Vereinigungsfreiheit und die Kollektivverhandlungen achten und gewährleisten will, dass Arbeitnehmer in allen unter Accor-Marken geführten Hotels ihr Vereinigungsrecht frei ausüben können".
http://cms.iuf.org/


Hartz IV "light" in Wien beschlossen

Jahrelang hat die Sozialdemokratische Partei darum gekämpft. Am 7.7.2010 ist im Parlament in Wien nach großkoalitionärer Einigung eine abgespeckte Variante der Mindestsicherung beschlossen worden. Der monatliche Betrag dieser bedarfsorientierten Sozialmaßnahme beträgt 744 Euro für den Einzelnen und 1116 Euro für Paare, Wohnbeihilfe inklusive. Gegenüber "Hartz IV" kommt die österreichische Version mit deutlich weniger Härte gegen Verarmte aus.

Bisherige Sozialhilfeempfänger werden zukünftig die Mindestsicherung in Anspruch nehmen können. Darüber hinaus erhalten auch einige Notstandshilfebezieher zumindest 744 Euro im Falle, dass ihr Bezug bislang niedriger gewesen ist. Während die Sozialhilfe in Österreich eine bedarfsorientierte, von den Bundesländern verwaltete Leistung war, orientiert sich die Notstandshilfe an der Arbeitslosenversicherung. Sie beträgt zwischen 55 und 60 Prozent des Arbeitslosengeldes. In den Genuss der Mindestsicherung werden schätzungsweise 270.000 Menschen kommen. Die neue Mindestsicherung wird unabhängig von zuvor geleisteten Versicherungen ausbezahlt. Der ursprüngliche Gedanke einer Zentralisierung konnte allerdings nicht eingelöst werden. Weiterhin bleibt die Verwaltung Ländersache, was vor allem den Wohnbeihilfeanteil von 25 Prozent der Gesamtsumme betrifft. Diesbezüglich sind bundesweite Unterschiede sowie passive Resistenz in einzelnen konservativ regierten Ländern programmiert. Ein gesetzeskonformer Start am 1. September 2010 scheint derzeit in nur drei (von neun) Bundesländern, darunter Wien, sicher.

Bis zur Beschlussfassung des nun vorliegenden Gesetzes mussten Sozialhilfeempfänger ihr gesamtes Geldvermögen aufgebraucht haben, um bezugsberechtigt zu sein. Nun gilt ein Freibetrag von 3700 Euro an Ersparnissen. Der Besitz eines Pkw ist nur zulässig, wenn ein solcher für den Weg zur Arbeit oder aus Gründen von Behinderungen benötigt wird. Und eine Eigentumswohnung kann zwar behalten werden, allerdings erfolgt nach einem sechsmonatigen Bezug der Mindestsicherung eine Eintragung ins Grundbuch durch das auszahlende Amt.

Die Mindestsicherung als enormen sozialpolitischen Erfolg zu feiern, wäre vermessen. Die neuen Leistungen sind den bisherigen nicht unähnlich. Und mit einem Grundeinkommen, wie es gelegentlich debattiert wurde, hat die Mindestsicherung nicht das Geringste zu tun.

Wirklicher Fortschritt konnte allenfalls in einem Punkt erzielt werden: Die Bezieher der bedarfsorientierten Mindestsicherung erhalten ab 1. September 2010, dem Datum des Inkrafttretens des neuen Gesetzes, wie alle Beschäftigten eine elektronische Karte für den Arzt- und Krankenhausbesuch. Bisher wurden Sozialhilfeempfänger durch ein eigenes gelbes Formblatt als solche vor dem Arzt kenntlich gemacht, was vor allem in ländlichen Gebieten stigmatisierende Effekte erzeugte.

Norman Wagner von der Arbeiterkammer Wien erklärt die Unterschiede zur deutschen Hartz-IV-Regelung folgendermaßen: "Während Hartz IV in erster Linie die Aktivierung von Langzeitarbeitslosen im Sinne hat, steht bei der österreichischen Mindestsicherung die Schließung von Lücken im sozialen Netz im Vordergrund." Arbeitswilligkeit - im Falle der Arbeitsfähigkeit - bildet wie zuvor die Grundvoraussetzung für den Erhalt der Mindestsicherung.
www.neues-deutschland.de, labournet.de


Liquidierung von Gewerkschaftern in Kolumbien

Am 16. Juni wurde das Mitglied der kolumbianischen Ölarbeitergewerkschaft USO (Unión Sindical Obrera), Nelson Camacho Gonzáles von einem Motorrad aus erschossen. Diese Ermordung ist das letzte Glied in einer Kette von Gewalttaten gegen Mitglieder der Gewerkschaft USO, die in Tarif- und Streikauseinandersetzungen mit den Firmen "British Petroleum", "Ecopetrol" und "Transportadora de Gas del Interior" steht. Die Ermordung von Gewerkschaftsaktivisten durch Auftragskiller schreibt in Kolumbien traurige Rekorde. Allein in diesem Jahr wurden bisher 32 Tötungen berichtet. 48 von insgesamt 101 im letzten Jahr weltweit registrierten Tötungen von Gewerkschaftsaktivisten entfielen auf Kolumbien. Umso unverständlicher, dass die Internationale Arbeitsorganisation erst vor wenigen Wochen Kolumbien von der Liste der 25 Länder nahm, die wegen fortgesetzter Missachtung von Gewerkschaftsrechten mit Sanktionen belegt werden.
(rog,Quelle: http://www.icem.org/en/78-ICEM-InBrief/3901-USO-Activist-Murdered-ILO-Delegation-arrives-in-Colombia)


Raute

REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES

AKTIONEN ... INITIATIVEN


Besuch beim Atomfreund Stefan Mappus

STUTTGART. "Mappus, behalt deinen Müll!" hieß es am 14. Juli 2010 in Stuttgart: 200 Atomkraftgegnerinnen und -gegner haben jede Menge schwarz-gelbe Atomfässer vor dem Amtssitz der baden-württembergischen Landesregierung abgestellt. In der gemeinsamen Aktion von ­.ausgestrahlt und den Bürgerinitiativen der niedersächsischen Atommüll-Standorte (BI Lüchow-Dannenberg, Arbeitsgemeinschaft Schacht Konrad und Asse II Koordinierungskreis) wurden 126 Atomfässer vor der Haustür von Atom-Hardliner und Ministerpräsident Stefan Mappus aufgebaut. Denn wer mehr Atomstrom will, der bekommt auch mehr Atommüll. 126 Fässer - jedes Fass steht für tausend echte strahlende Müll-Fässer, die in der Asse bereits abgekippt wurden. Udo Dettmann vom Asse II Koordinierungskreis, der aus Braunschweig angereist war, sagte in seiner Rede: "Diejenigen, die sich damals für die Asse entschieden hatten, dachten, sie wären das Problem los. Heute wissen wir, dass durch ihre Fehleinschätzung noch unzählige Generationen großen Risiken ausgesetzt sein werden." Die Versammlungsbehörde in Stuttgart wollte die Aktion zuerst nicht erlauben. Weil auf der Straße zu wenig Platz für 126 Fässer sei, wollte sie nur 25 Fässer genehmigen und machte so dieselbe Politik wie Mappus: Die Öffentlichkeit soll gar nicht merken, dass es für Atommüll nirgendwo einen sicheren Lagerplatz gibt. Im Eilverfahren gingen die Aktivisten dagegen vor Gericht und bekamen Recht. In den kommenden Wochen will die Bundesregierung über die Zukunft der Atomenergie entscheiden. Am 18. September wird es deshalb eine Großdemonstration in Berlin geben.
www.ausgestrahlt.de


Freedom roads! weist den Weg

BERLIN. Die deutsche Kolonialgeschichte gerät immer mehr in Vergessenheit oder wird verdrängt. Berlin Postkolonial möchte das Gedenken aufrechterhalten. Vom 28. August bis zum 3. Oktober wird die von der Amadeu Antonio Stiftung geförderte Wanderausstellung "freedom roads!" in Berlin gezeigt. Sie thematisiert nach Kolonialherren benannte Straßen und regt die Umbenennung nach Personen des afrikanischen Widerstandes an. Für Berlin Postkolonial gibt es gleich mehrere Anlässe mit "freedom roads!" eine Ausstellung genau dieses Jahr in Berlin zu präsentieren. Der 125te Jahrestag der Berliner Afrika-Konferenz von 1884/1885 und die damit verbundene "Aufteilung Afrikas" sowie der deutsche Einstieg in die Kolonialpolitik ist das erste, unerfreuliche Jubiläum. Das positive Jubiläum ist das sogenannte "Afrikanischen Jahr" 1960, in welchem 17 Kolonien in Afrika ihre Unabhängigkeit errangen. 2010 feiern diese 17 afrikanischen Staaten den 50ten Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Unter ihnen befinden sich mit Kamerun und Togo auch zwei der ehemaligen deutschen Kolonien. Tansania wird im nächsten Jahr feiern und Namibia begeht 2010 sein 20jähriges Bestehen. Entstanden ist die Ausstellung in enger Zusammenarbeit mit der Hamburger Künstlerin HM Jokinen und zahlreichen Expertinnen und Experten aus Deutschland und Afrika. Dass Berlin nicht der einzige Ausstellungsort sein wird, steht bereits fest. In Städten wie Hamburg, München, Weimar, St. Gallen/Zürich und Frankfurt/Main besteht jetzt schon konkretes Interesse. Die Ausstellung soll von 2010 bis 2012 durch die Schweiz und Deutschland wandern und um Informationen über koloniale Straßennamen in diesen Städten angereichert werden.
www.amadeu-antonio-stiftung.de


Landminen und Streubomben warten gerne. Die Opfer nicht!

BERLIN. Die Begeisterung war groß, als im Dezember 2008 in Oslo der Vertrag über ein Verbot von Streubomben unterzeichnet wurde - ein ganz großer Erfolg unserer internationalen Kampagne Cluster Munition Coalition. Nachdem inzwischen über 30 Länder das Verbot ratifiziert, also die Umsetzung im eigenen Land vorbereitet haben, tritt der Vertrag am 1. August in Kraft. Grund für die Kampagne, diesen Schritt mit weltweitem Trommeln zu begrüßen. Aus diesem Anlass plant Handicap International mit finanzieller Unterstützung des Eed und der EU Aktionen in mehreren deutschen Städten. Dabei liegt ihnen ein Thema besonders am Herzen: Die Hilfe für die Opfer! Denn genauso wie der Landminen-Verbotsvertrag von 1997 fordert auch der Oslovertrag eine engagierte Unterstützung der Opfer. Fast 500.000 Menschen müssen heute als Überlebende von Unfällen mit diesen Waffen versorgt werden. Viele von ihnen warten nach wie vor auf medizinische, orthopädische, psychologische und soziale Unterstützung. Selbst wenn das Verbot von Landminen und Streubomben eingehalten und die Waffen vernichtet werden, scheinen die Opfer dieser Waffen leicht in Vergessenheit zu geraten. Das soll - neben der Freude über das Verbot - bei den Aktionen deutlich werden mit einem großen Banner für jede Aktion, das die BesucherInnen mit bunten Aufklebern füllen, einer audio-visuellen Ausstellung, Briefen an die verantwortlichen Politiker, Entminungsvorführungen in München und Hamburg, Spendenaktionen für die Opfer von Minen und Streubomben. Nach wie vor fehlen unter den Verträgen über das Verbot von Landminen und Streubomben die Unterschriften wichtiger Staaten, die diese Waffen produzieren und einsetzen, darunter die USA und Russland. Das Aktionsbündnis Landmine.de, zu dem Handicap International gehört, zieht deshalb am 1. August mit Trommeln, einem großen Banner und einer Unterschriftensammlung vor die amerikanische und die russische Botschaft in Berlin. Bereits am 8. Juli hat das Europaparlament mit einer Resolution alle Mitgliedsstaaten und Beitrittskandidaten aufgefordert, dem Verbotsvertrag beizutreten. Momentan fehlen von den EU-Staaten und -Kandidaten noch Finnland, Estland, Griechenland, Lettland, Polen, Rumänien, die Slowakei und die Türkei.
www.handicap-international.de


Nazis wollen am Antikriegstag Überfall auf Polen feiern

DORTMUND. Am 4. September wollen Nazis in Dortmund erneut ein Treffen zur Würdigung des Kriegsbeginns vom 1. September 1939 veranstalten. Der Polizeipräsident von Dortmund, Hans Schulze, kann sich nicht entschließen, diese Provokation zu verbieten. In einem Brief an die VVN-BdA verweist er auf "hohe Hürden", die das Bundesverfassungsgericht für ein solches Verbot aufgestellt habe. Das BVerG habe nach dem Verbot der Naziprovokation zum 6.9.2009 konkrete Belege dafür verlangt, dass gerade die anstehende Versammlung einen gewalttätigen Verlauf nehmen werde. Nur Prognosen reichten nicht aus. Erstmals haben sich ältere Überlebende des Krieges in den Jahren 2008 und 2009 diesem Treiben mit sowohl antifaschistischen als auch antimilitaristischen Äußerungen entgegengestellt. Eine "Aktion 65 plus" führte am 6. September 2008 in Dortmund einen 700köpfigen spontanen Demonstrationszug an. Am 5. September 2009 war eine erneute derartige Aktion erforderlich. Und so wird es wohl auch am 4. September 2010 sein, wenn die Nazis erneut zum Nationalen Antikriegstag nach Dortmund aufrufen. Die 65plus-Erklärung lautete u.a.: "Aktion 65 plus - Wir haben es erlebt.
Nie wieder. Bombennächte. Ständige Angst. Hausdurchsuchungen. Die Eltern im KZ. Verwandte sterben im Krieg. Nachbarn mit dem gelben Stern werden abgeholt. Nachts träumen wir davon. Die Nachfolger der Nazibande, die das verschuldete, erheben wieder ihr Haupt. Jahr für Jahr kommen sie nach Dortmund. Sie rufen 'Nie wieder Krieg' und fügen hinzu: '... nach unserem Sieg, dem Sieg des 'nationalen Sozialismus'. Das Maß ist voll. Sie reden von Frieden, Antikapitalismus, ja Sozialismus. Das taten Hitler und Goebbels auch. Es kam zum furchtbarsten aller Kriege. Zur schlimmsten Form des Kapitalismus: Nicht nur Ausbeutung durch Arbeit, sondern Vernichtung durch Arbeit. Es kam zur Versklavung und zum Holocaust." Der Dortmunder Polizeipräsident wird aufgerufen: "Verweigern Sie die Zustimmung zu dem Plan der Nazis und Neonazis, am 4. 9. in Dortmund Volksverhetzung und Kriegshetze zu betreiben."
www.ag-friedensforschung.de


Saure Gurken für die Landesregierung

STUTTGART. Eine Delegation von Personalräten und Gewerkschaftsvertretern hat am 20. Juli 2010 Staatssekretär Hubert Wicker als Vertreter der Landesregierung im Staatsministerium eine Resolution überreicht. Die Resolution wurde von mehr als 250 Personalratsgremien unterzeichnet, die zusammen mehr als 400.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst vertreten. Anlass sind die Pläne der Landesregierung, die im Landespersonalvertretungsgesetz (LPVG) geregelte Mitbestimmung der Personalräte erheblich einzuschränken. Neben den Unterschriften wurde Wicker auch ein Eimer mit sauren Gurken übergeben. Dies soll symbolisch ausdrücken, dass die Mitarbeitervertreter sauer auf die Landesregierung sind. In Baden-Württemberg sollen wesentliche Element der Mitbestimmung ausgehebelt werden, betroffen sind hunderte von Personalratsgremien und damit weit über 500.000 Beschäftigte der Kommunen und des Landes sowie weitere Dienststellen wie Unikliniken oder AOK. Der Sprecher der Initiative Wilfried Weisbrod, Personalratsvorsitzender des Neckar-Odenwald Kreises, ließ bei der Übergabe stellvertretend mitteilen, dass die "Restlaufzeit" der Aktionen, eine Sprache, die Ministerpräsident Mappus versteht, von Verdi und den betroffenen Personalräten über den parlamentarischen Prozess hinausreichen wird, sollten die Landesregierung und die Regierungsfraktionen ihre Haltung nicht überdenken und die Änderungen zurücknehmen: "Dann ist Mitbestimmung ein Thema im Landtagswahlkampf."
http://bawue.verdi.de


Rüstungskontrolle versagt bei Reedereien und Luftspediteuren

BERLIN. Reedereien und Luftfracht-Unternehmen müssen besser kontrolliert werden. Das forderte Amnesty International anlässlich der UNO-Konferenz für ein internationales Waffenhandelsabkommen, die bis zum 23. Juli in New York stattfand. "Das Abkommen muss auch die Kontrolle von Frachtunternehmen und anderen Zwischenhändlern in der Lieferkette für Rüstungsgüter umfassen", sagte Mathias John, Rüstungs-Experte von Amnesty International in Deutschland. Der Amnesty-Bericht "Deadly Movements: Arms Transportation Controls in the Arms Trade Treaty" belegt, wie dürftig Transporte von Waffen und anderen Rüstungsgütern, die zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen beitragen können, kontrolliert werden. Davon profitieren unter anderem Firmen in den USA, China, Frankreich, Großbritannien und Deutschland. "Nachlässige Kontrollen und Lücken in den Gesetzen für Rüstungstransfers führen dazu, dass Waffen und Munition auf dem See- oder Luftweg problemlos in Länder mit problematischer Menschenrechtslage transportiert werden", sagte Amnesty-Experte John. "Auch in den deutschen Regelungen gibt es Schlupflöcher für todbringende Transporte." Nach Recherchen von Amnesty transportierte ein Schiff einer deutschen Reederei Streumunition von Südkorea nach Pakistan - obwohl Deutschland das internationale Abkommen gegen Streumunition ratifiziert hat. Das Schiff der deutschen Reederei fuhr allerdings unter der Flagge von Antigua und Barbuda. "Hier klafft eine gefährliche Lücke in den deutschen Regelungen für Rüstungstransfers, denn diese gelten bislang nur für Schiffe unter deutscher Flagge", sagte John. "Die Bundesregierung muss diese Regelungen auch auf deutsche Schiffe unter anderer Flagge ausweiten und die Verschiffung von Rüstungsgütern konsequent kontrollieren."
www.rib-ev.de


"Reichsbahn"-Opfer ehren - Überlebenden helfen

HAMBURG. Demonstranten auf mehreren deutschen Bahnhöfen verlangen Entschädigungen für die Opfer der "Reichsbahn"-Deportationen in die Zwangs- und Vernichtungslager. Dabei kam es am 11. Juli 2010 zu Zusammenstößen mit Ordnungskräften der Deutschen Bahn AG (DB AG) in Hamburg. Das Unternehmen wollte die Verteilung von Informationsmaterial verhindern und machte von seinem Hausrecht Gebrauch. Ein Transparent mit der Aufschrift "Die 'Reichsbahn'-Opfer ehren - den Überlebenden jetzt helfen" wurde verboten und von der DB-Sicherheit umstellt. Anlass der Demonstrationen, zu denen auch in Frankfurt am Main und in anderen Großstädten aufgerufen wird, sind sogenannte Bahnhofsfeste, die von der DB AG bundesweit organisiert werden. Damit will das Nachfolgeunternehmen der "Reichsbahn" in den kommenden Monaten 175 Jahre deutsches Eisenbahnwesen feiern und stellt sich in die Tradition der nationalen Bahngeschichte. Sie führte auch nach Auschwitz. Höhepunkt der Festivitäten ist ein "Bahnhofsfest" in Nürnberg, zu dem DB-Chef Rüdiger Grube und Bundeskanzlerin Merkel einladen. "Solange Überlebende der 'Reichsbahn'-Verbrechen unter manchmal ärmlichen Verhältnissen leben müssen, fällt es uns schwer zu feiern", heißt es in dem verbotenen Informationsmaterial der Hamburger Demonstranten. Nach einem Gutachten der Bürgerinitiative "Zug der Erinnerung" nahm die "Reichsbahn" bei den Massendeportationen wenigstens 445 Millionen Euro heutiger Währung ein. Dieses Geld wurde den Verschleppten nie zurückgezahlt. Die Bürgerinitiative verlangt eine "angemessene Restitution statt wohlfeiler Barmherzigkeit. Den überlebenden 'Reichsbahn'-Opfern in Deutschland und in den früher besetzten Staaten muss bedingungslose Gerechtigkeit widerfahren".
www.zug-der-erinnerung.eu


Raute

Erfolgreiche Auftaktveranstaltung der Bürgerinitiative Helios

Köln Ehrenfeld

Auf einem zentralen Brachgelände im Kölner Stadtteil Ehrenfeld will eine Immobiliengruppe ein Einkaufszentrum mit einer Verkaufsfläche von 30.000 qm errichten. Das Gelände ist schon lange in Privatbesitz. Gegen dieses Vorhaben hat sich eine Bürgerinitiative gegründet, die am 30. Juni ihre erste Veranstaltung durchführte.

Trotz drückender Hitze nahmen über 150 Anwohnerinnen und Anwohner teil. Die Architektin Almut Skriver von der Bürgerinitiative zeigte anschaulich, welche Folgen ein rein an Verkaufsflächen orientierter Bau auf den Stadtteil haben kann - die Kalk Arkaden dienten als abschreckendes Beispiel, dem sie die Buntheit und Vielfalt Ehrenfelds entgegenstellte sowie ein Beispiele für ein gelungenes Einkaufszentren zeigte. Buchhändler Axel Stadtländer wies darauf hin, dass eine weitere und dazu noch Großbuchhandlung, wie bislang angedacht, die Situation der bestehenden Buchhandlungen auf der Venloer Straße erheblich erschweren wird. Daniel Kumme vom DesignQuartier Ehrenfeld sieht Schwierigkeiten, eine Alternativ-Unterbringung in Ehrenfeld zu finden. Verdi-Sekretär Benedict Frank wies daraufhin, dass ein weiteres großes Einzelhandelszentrum in Ehrenfeld nicht zu mehr Arbeitsplätzen, sondern im besten Fall zu einer Verlagerung von Arbeitsplätzen führen werde. Dr. Marc Höhmann erläuterte für die Stadtverwaltung die Potenzialanalyse, die die Stadt in Auftrag gegeben hatte. Diese Analyse geht davon aus, dass der Bedarf für weitere 20.000 qm Einzelhandelsfläche in Ehrenfeld besteht.

Die Diskussion warf viele Fragen auf - warum reichen die bestehenden Einzelhandelsflächen von ca. 34.000 qm auf der Venloer Straße nicht aus? Welche Möglichkeiten gibt es, den Eigentümer und Investor zu beeinflussen? Welche Auswirkungen hat ein großes Einkaufszentrum auf den Einzelhandel auf der Venloer Straße, der ohnehin in Schwierigkeiten ist. Was soll anstelle des Einkaufszentrums entstehen?

Es kamen viele Vorschläge. Wichtig waren die Hinweise einiger Kalker Anwohner, die aus den Erfahrungen mit den Kalk Arkaden berichteten - der Verlust an Attraktivität auf der Kalker Hauptstraße wirkt sich auch auf die Werte der bestehenden Immobilien aus.

Jörg Detjen von der Linken forderte eine Verdichtung der Venloer Straße, Schließung der Baulücken und eine alternative Nutzung des Helios Geländes. Britta von Bülow von den Grünen stellte die Frage, was mit dem Leitbild Ehrenfeld aus dem Jahr 2002 geworden ist. Die ebenfalls anwesenden Vertreterinnen der SPD hielten sich zurück.

Der Unmut über das geplante Einkaufszentrum war deutlich. Wichtig für die weitere Auseinandersetzung ist, dass sich die Bürgerinitiative für eine erweiterte Bürgerbeteiligung bei der Planung stark macht. Am 15. September führt die Bezirksvertretung eine Informations- und Diskussionsveranstaltung durch, auf dem die Potenzialanalyse vorgestellt werden soll und ein Vertreter der Bauwens-Gruppe als Investor zu Wort kommen soll. Die Bezirksvertretung hatte sich im Vorfeld bereits für diese Veranstaltung und eine vertiefte Bürgerbeteiligung ausgesprochen.

Ulrike Detjen


Beschluss der Bezirksvertretung vom 14. Juni 2010: Der Bezirksbürgermeister wird gebeten, zeitnah - spätestens aber nach den Schulsommerferien - eine öffentliche Informations- und Diskussionsveranstaltung zur geplanten Bebauung des Heliosgeländes in Köln-Ehrenfeld durchzuführen. Die Verwaltung soll diese Veranstaltung fachlich unterstützen und die Potenzialanalyse zum Heliosgelände vorstellen. Dem Eigentümer des Geländes soll Gelegenheit gegeben werden, den aktuellen Stand seiner Planung vorzustellen. Die Bürgerinnen und Bürger sollen Gelegenheit erhalten, ihre Vorstellungen und Befürchtungen zur Sprache zu bringen. Unbeschadet davon bleibt eine, im Rahmen des anstehenden Bebauungsplanverfahrens durchzuführende vertiefte Bürgerbeteiligung. Für diese sind zur ausführlichen Beratung des Vorhabens mehrere Abendtermine anzusetzen. Die Moderation kann z. B. über die Volkshochschule Köln organisiert werden.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Auf dem Podium diskutierten für die Bürgerinitiative Thor Zimmermann und Almut Skriver, für die Stadt Köln war Dr. Marc Höhmann gekommen, für die von der Planung betroffenen nahmen Axel Stadtländer von der Bunt Buchhandlung, Daniel Kumme vom Design-Quartier Ehrenfeld und Benedict Frank von Verdi teil. Moderiert wurde die Veranstaltung von der Journalistin Claudia Hennen.
Aus: Lokalberichte Köln Nr. 14, 9.7.10

Raute

KOMMUNALE POLITIK

Gewerbesteuersenkung ist indiskutabel: FRANKFURT a.M. Gerade erst müssen wir uns damit auseinander setzen, dass die Frankfurter Steuereinnahmen sinken. Gerade erst haben wir gehört, dass die im Doppelhaushalt eingeplanten Sozialausgaben längst nicht ausreichen werden, um den Bedarf in Frankfurt zu decken, da kommt der Vorsitzende des CDU-Kreisverbands daher und beginnt eine weitere Diskussion über eine Senkung der Gewerbesteuer "Das ist ein direkter Schlag ins Gesicht aller Frankfurter", sagt Carmen Thiele, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken im Römer. "Schon wieder signalisiert die CDU der Wirtschaft Steuergeschenke. Wer irgendwann für die entstehenden Defizite aufkommen muss, wissen wir ja jetzt schon zur Genüge: die Frankfurter Bevölkerung - in Form der Streichung von Zuschüssen und Subventionen." Das betreffe alle Frankfurter quer durch alle Schichten. Betroffen wären Vereine, Schulen, Kitas aber auch ganz direkt Menschen, die z.B. Wohngeld erhalten. Aber auch das Angebot öffentlicher Einrichtungen wie Bäder, Museen, Theater oder der öffentliche Nahverkehr werde beeinträchtig. "Schon jetzt liegen die Kosten für die Tickets in einsamer Höhe, für viele unbezahlbar. Deshalb fordert Die Linke Schluss mit der Steuersenkungsspirale", betont Thiele. Relevante Gewerbesteuerzahler seien fast ausschließlich Großbetriebe und Konzerne, die in den vergangenen Jahren durch die Steuersenkungspolitik in hohem Maß profitiert hätten. Thiele weiter: "Die Wirtschaft wurde in den vergangenen Jahren so massiv auf Kosten der Steuerzahler entlastet, dass sich jede weitere Diskussion um Steuersenkungen verbietet."
http://www.linke-frankfurt.de/


Einbürgerungen müssen erleichtert werden: HANNOVER. Die rückläufige Zahl der Einbürgerungen in der Landeshauptstadt Hannover muss nach Ansicht der Linken Ratsfraktion dringend kritisch hinterfragt werden. "Es ist schon sehr auffällig, dass die Stadt Hannover hier vollkommen gegenläufig zum bundesweiten Trend liegt", so Michael Höntsch, Fraktionsvorsitzender der Linken im Rat der Landeshauptstadt. "Insbesondere die geringe Zahl von Einbürgerungen von Mitbürgerinnen und Mitbürgern türkischer Herkunft muss überprüft werden. Gerade aus der türkischen Gemeinde in Hannover hat es in der Vergangenheit immer wieder Beschwerden über schleppende und langwierige Einbürgerungsverfahren gegeben. Die Einbürgerung ist und bleibt ein wichtiger Baustein zur Integration der Migrantinnen und Migranten in Hannover." Die Linke Ratsfraktion unterstützt die Initiative der Bundestagsfraktion der Linken, Einbürgerungen umfassend zu erleichtern. "Auch die diskriminierenden und ganz offensichtlich sinnfreien Einbürgerungstest müssen als Hürde zur Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit abgeschafft werden", so Höntsch. "Das Argument, der Test schrecke niemand von einem Einbürgerungsantrag ab, lässt sich zumindest kaum durch Statistiken untermauern, schließlich werden diejenigen, die aus Angst vor dem Test erst gar keinen Antrag auf Einbürgerung stellen, in der offiziellen Statistik gar nicht erfasst."
www.linksfraktion-hannover.de


Stadt hat keine Kenntnis von den Arbeitsbedingungen bei der Ströer Gmbh: MÜNCHEN. In einer Anfrage vom 18.5.2010 führte der Stadtrat der Linken, Örhan Akman, aus: "Die Ströer Deutsche Städte Medien GmbH hat nach eigenen Angaben mehr als 2.500 öffentliche Verträge mit über 600 Vertragspartnern in Deutschland. Auch die Vertragspartnerschaft mit der LH München nutzt sie als Aushängeschild. ... Beschäftigte der Ströer GmbH berichteten uns nun von den katastrophalen Arbeitsbedingungen, die bei dem Unternehmen vorherrschen. Laut den Aussagen der Beschäftigten sollen die Plakatierer 2007 in eine "Schein-Selbstständigkeit" gezwungen worden sein und würden seitdem nur noch pro Plakat (Stückpreis) bezahlt werden. Vor drei Jahren seien sie von der Ströer GmbH dazu angehalten worden, auf eigene Kosten, eine GbR zu gründen. Außerdem wurde den selbstständigen Plakatierern, laut Aussage der Beschäftigten, der Auftrag von der Ströer GmbH entzogen und neu ausgeschrieben, um den Stückpreis der Plakate weiter zu drücken. Gleichzeitig hat die Ströer GmbH 2009 einen Umsatz von 469,8 Millionen Euro gemacht und bezeichnet ihre Bilanz selbst als profitabel. Es sollte zum Selbstverständnis der LH München gehören, dass die kommunalen Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden, die sich durch faire Arbeitsbedingungen und die Entlohnung nach Tarif kennzeichnen." In der Antwort, bei der sie sich hauptsächlich auf eine Stellungnahme der Ströer GmbH stützt, stellt die Verwaltung fest: "Das Referat für Arbeit und Wirtschaft hat keine Kenntnis über schlechte Arbeitsbedingungen bei der Ströer Deutsche Städte Medien GmbH." Ferner führt sie aus: "Selbst wenn man arbeitsrechtliche Verstöße in einem von Ihnen geschilderten Umfang als wahr unterstellt, kann dies eine außerordentliche Kündigung des Vertrags nicht ohne Weiteres begründen, da die Verstöße nicht die Hauptleistungen des Vertrags betreffen. Würde die Ströer Deutsche Städte Medien GmbH wegen unfairer oder schlechter Beschäftigung die vereinbarten Leistungen nicht vertragsgemäß erfüllen, könnte dies eine Kündigung des Vertrags rechtfertigen ... Zum Anderen schränkt die Entscheidung des EuGH vom 3.4.2008 Rs. C-346/06 zur Tariftreuerklärung die Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen bei der Vergabe von Aufträgen oder Dienstleistungskonzessionen ein. Der EuGH entschied, dass ein Landesvergabegesetz keine über die Entsenderichtlinie hinausgehende Schutzwirkung zugunsten der so den Arbeitnehmern zu zahlenden Mindestlöhne vorgeben könne. Eine Tariftreueregelung lasse sich auf dieser Ebene nicht durch Ziele des Arbeitnehmerschutzes rechtfertigen. Der EuGH stützte seine Entscheidung darauf, dass das Landesgesetz nur auf die Vergabe öffentlicher Aufträge anwendbar sei. Es gebe für die Ungleichbehandlung von öffentlichem und privatem Sektor keine Rechtfertigung. Tariftreueerklärungen setzen daher eine gesetzliche Pflicht voraus, einen gewissen Mindestlohn zu zahlen."
www.dielinke-muenchen-stadtrat.de


Gemeinderat erkennt Paul von Hindenburg die Ehrenbürgerwürde ab: STUTTGART. Am 15. Juli hat der Gemeinderat der Stadt Stuttgart mit einer Gegenstimme dem Reichskanzler Paul von Hindenburg die Ehrenbürgerwürde der Stadt Stuttgart formal aberkannt. Die einzige Gegenstimme kam von dem Stadtrat der REP. Interessant waren die Ausführungen der einzelnen Fraktionen. Für die Grünen wies Michael Kienzle darauf hin, dass es in Stuttgart schon mehrere Umbenennungen gab, wenn Straßen den Namen von Faschisten und Kolonialisten trugen, und er würdigte die Benennung für Fritz Bauer, der entscheidend dazu beigetragen hat, dass in Deutschland die Justiz die KZ-Verbrechen verhandelte. Einen guten Beitrag hielt für die CDU Jürgen Sauer, der es als Versäumnis bezeichnete, dass nach dem Krieg nur gesagt wurde, dass mit dem Tod Hindenburgs die Ehrenbürgerwürde erloschen sei. Mit der formellen Aberkennung setze die Stadt das richtige Zeichen. Für die SPD begrüßte Monika Wüst die Aberkennung. Rose von Stein gab lediglich Zustimmung der FDP bekannt. Für die Freien Wähler gab Herr Gulde zum Besten, wie Hindenburg heute noch in Teilen der älteren Bevölkerung beurteilt werde: Er habe nach dem Ersten Weltkrieg alle deutschen Soldaten zurückgebracht, so dass es keine Kriegsgefangenen gab, und er habe nur die Wahl zwischen dem Terror von rechts und von links gehabt. Thomas Adler sprach für die Fraktionsgemeinschaft SÖS und Linke. Er wies darauf hin, dass nun auch die Umbenennung des Hindenburgbaus angegangen werden müsse, und forderte OB Schuster auf, erneut tätig zu werden. Dies versprach der Oberbürgermeister. Merkwürdig ist, dass in der Presse bisher zu diesem wichtigen Beschluss keine Zeile zu finden war. Tatsächlich war die Beschlussfassung überschattet von der zuvor stattgefundenen Bürgermeisterwahl für das Referat Soziales, Jugend und Gesundheit ...
www.stuttgart.de/soesundlinke


Rat beschließt Maßnahmen zur Versorgung des doppelten Abiturjahrgangs 2013: KÖLN. Am 13.7.2013 beschloss der Kölner Rat auf Initiative der Linken mit den Stimmen von SPD und Bündnis90/Die Grünen, sich frühzeitig dem Problem des doppelten Abiturjahrgangs 2013 zu widmen. Dann werden aufgrund der Verkürzung des Gymnasiums auf Klasse 12 zwei Abiturjahrgänge die Schule abschließen. Das bedeutet, dass 2013 doppelt so viele Abiturienten wie üblich Plätze an den Universitäten, den Berufskollegs oder in Ausbildungsbetrieben nachfragen werden. 2009 haben in Köln 3.182 Abiturienten die Gymnasien verlassen, Tendenz steigend. 2013 könnte diese Zahl bei ca. 6.500 liegen. Die Linke möchte sicherstellen, dass diese Abiturienten ihre Ausbildung ohne Qualitätsverlust aufgrund des großen Andrangs absolvieren können. Außerdem muss mit dem Problem umgegangen werden, dass Abiturienten mehr und mehr Haupt- und Realschüler vom Ausbildungsmarkt verdrängen. Schon heute haben 90% aller jungen Menschen, die ALG II beziehen, keine Berufsausbildung. Die Zahl stieg in Köln von 4.000 im letzten auf 4.370 Personen in diesem Jahr an. Dazu erklärt der Fraktionssprecher Jörg Detjen: "Junge Menschen brauchen in diesem Jahr nicht nur einen Ausbildungsplatz im Betrieb, an Universitäten oder Fachhochschulen, sondern auch Ressourcen wie z.B. eine Wohnung. Alle beteiligten Institutionen sind gefordert, ihre Hausaufgaben zu machen. Deshalb auch unser Appell an die neue Landesregierung. Das Land als Bildungsträger muss finanzielle Mittel für die Uni, den Fachhochschulen und Berufskollegs bereitstellen, damit es keinen Qualitätsverlust bei der Ausbildung gibt." Detjen weiter: "Für mehr Abiturienten brauchen wir auch mehr Lehrstellen. Die Stadt und ihre Unternehmen müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Köln muss seinen Einfluss im Kommunalen Bündnis für Arbeit nutzen, damit die Unternehmen mehr Ausbildungsplätze schaffen."
www.linksfraktion-koeln.de


Häuser und Wohnungen können gegen Gebühr ausgespäht werden: BERGISCH-GLADBACH. Die Linke (mit BfBB) fordert Verbot der Kamerafahrten durch Bergisch-Gladbach für Google Street View. Gegen die Stimmen der Linken und der BfBB hat der Stadtrat in seiner letzten Sitzung beschlossen, Google Street View die Nutzung der Straßen und die Aufnahme von anliegenden Privathäusern, Wohnungen und Gärten zu erlauben. Mit einer Sondernutzungssatzung erhebt die Stadt lediglich eine Gebühr von 100 EUR pro gefahrenem Kilometer. Der Rat hat ein Verbot der Kamerafahrten, wie es die Die Linke (mit BfBB) im Stadtrat gefordert hatte, abgelehnt, da ein generelles Verbot rechtlich nicht durchsetzbar sei. Die Linke (mit BfBB) fordert, solange kein Rechtsanspruch der Hauseigentümer oder Mieter besteht, der Abbildung ihres Gebäudes zu widersprechen, sollte die Stadt diese Kamerafahrten grundsätzlich verbieten. Die Eigentümer sollten nicht nur widersprechen dürfen, sondern sie sollten der Veröffentlichung explizit zustimmen müssen. Google müsste dann mit jedem Eigentümern oder Mieter eine einzelne Vereinbarung schließen, bevor die Daten im Internet frei zugänglich werden ...
www.dielinke-nrw.de/


Städte treiben Ausbau der Kinderbetreuung voran: BERLIN. Der Deutsche Städtetag unterstützt den weiteren Ausbau der Kinderbetreuung, sieht aber den Rechtsanspruch auf Betreuung für unter Dreijährige ab 2013 gefährdet. "Trotz ihrer kritischen Haushaltslage stehen die Städte nicht auf der Bremse, sondern treiben den Ausbau weiter voran. Doch so sehr wir uns auch anstrengen: Der Rechtsanspruch ist eine Herkulesaufgabe, bei der Bund und Länder sowohl den Betreuungsbedarf als auch die Kosten unterschätzt haben", sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Dr. Stephan Articus, anlässlich der Kabinettsberatung zum Ausbaubericht der Bundesregierung. Es gebe erhebliche Fortschritte beim Ausbau der Betreuung in den vergangenen Jahren. In einer Reihe von westdeutschen Großstädten stünden bereits Plätze für weit über 20 Prozent der Kleinkinder zur Verfügung. Außerdem, so Articus, seien die Bruttoausgaben für die Kinderbetreuung zwischen 1998 und 2008 von rund 10 Milliarden Euro auf rund 14,5 Milliarden Euro gewachsen. Das heißt, schon jetzt wird mehr als jeder zweite Euro der Kinder- und Jugendhilfe für eine öffentlich organisierte Kindertagesbetreuung ausgegeben. Den größten Teil davon tragen die Kommunen. Bis zu einem Rechtsanspruch sei noch ein großer Kraftakt zu bewältigen, sagte Articus. Denn die angestrebte Betreuungsquote von 35 Prozent werde nicht ausreichen, um den Rechtsanspruch zu erfüllen. Es sei deshalb wichtig, dass das Bundesfamilienministerium den tatsächlichen Bedarf an Betreuungsplätzen für Kleinkinder neu berechne. Daraus werde sich dann auch der aktualisierte Finanzbedarf ableiten lassen.
www.staedtetag.de


Bürgerarbeit "richtiger Ansatz zur Integration von Langzeitarbeitslosen": BERLIN. "Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hält das Bundesprogramm Bürgerarbeit für einen richtigen Ansatz, um Arbeitsplätze für ältere und wenig qualifizierte Erwerbslose zu schaffen", sagte DStGB-Hauptgeschäftsführer Dr. Gerd Landsberg anlässlich des Startschusses des von Bundesarbeitsministerin Dr. Ursula von der Leyen initiierten Modells zur Integration von Langzeitarbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt. 197 Jobcenter aus allen 16 Bundesländern beteiligen sich am Bundesprogramm. 34.000 Langzeitarbeitslose sollen einen Job in der Bürgerarbeit finden. Das Programm ist für drei Jahre aufgelegt. Insgesamt stehen 1,3 Milliarden Euro zur Verfügung ... Das im Jahr 2006 in Sachsen-Anhalt gestartete Modellprojekt "Bürgerarbeit" hat an insgesamt sechs Standorten signifikant zur Reduzierung der regionalen Arbeitslosigkeit beigetragen. Durch den ganzheitlichen Ansatz einer konsequenten Aktivierung des gesamten Arbeitslosenbestandes ist es gelungen, die Arbeitslosigkeit an allen Standorten nachhaltig um 50 bis 65 Prozent zu reduzieren, ohne den Ersten Arbeitsmarkt zu beeinträchtigen. Es gibt rund 400.000 Langzeitarbeitslose, die auch mittelfristig auf dem ersten Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben und an denen der wirtschaftliche Aufschwung weitgehend vorbeigehen wird. Auch diesen Menschen muss eine Perspektive angeboten werden. Im Unterschied zum Ein-EuroJob, der auf sechs Monate befristet ist, kann man den Menschen mit der auf 3 Jahre angelegten Laufzeit eine längerfristige Perspektive aufzeigen. Darüber hinaus ist die Tätigkeit sozialversicherungspflichtig und Rentenanwartschaften können damit erzielt werden. Der Einsatz in der "Bürgerarbeit" muss sich an den Fähigkeiten und Kenntnissen des Einzelnen orientieren. Die Beschäftigungsfelder werden nach strengsten Maßstäben ausgesucht, so dass "Bürgerarbeit" keine regulären Beschäftigungsverhältnisse substituiert und die regionale Wirtschaft auch anderweitig nicht beeinträchtigt. Dabei haben die bisherigen Erfahrungen gezeigt, dass es möglich ist, im gemeinnützigen Bereich eine ausreichende Zahl von Stellen zu akquirieren, um den Arbeitslosen, die derzeit keine Chance auf dem Ersten Arbeitsmarkt haben, eine sinnvolle Tätigkeit zu ermöglichen.
www.dstgb.de

(Zusammenstellung: ulj)

Raute

Entschließung zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen

Europäisches Parlament

Am 6. Juni hat das Europäische Parlament eine Entschließung zu "atypischen Verträgen, gesicherten Berufslaufbahnen, Flexicurity und neuen Formen des Sozialen Dialoges" angenommen.(1) Berichterstatterin war die französische Abgeordnete Pascale Gruny, Mitglied der konservativen Fraktion. Schon der Titel der Entschließung zeigt den Umfang von europäischen Politikfeldern, die in ihr behandelt werden. Tatsächlich gravitieren die Ausführungen und Anforderungen, die in 58 Punkten vorgestellt werden, jedoch vor allem um den europäischen Flexicurity-Ansatz und seine wesentlich auf den Arbeitsmark bezogenen Instrumente. Mit wenigen Ausnahmen versäumt die Entschließung konkrete Anforderungen für die verschiedenen atypischer Arbeitsverhältnisse und die fortlaufende Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt auszuformulieren.

Ausgangspunkt der Entschließung sind einige Ausführungen zum Umfang atypischer Beschäftigungsverhältnisse in Europa. Unter dem Adjektiv atypisch werden gefasst: Teilzeitarbeit, Gelegenheitsarbeit, Leiharbeit, Arbeit mit befristeten Arbeitsverträgen, Heimarbeit und Telearbeit sowie Teilzeitbeschäftigung mit 20 oder weniger Stunden pro Woche. Scheinselbständigkeit, unangemeldete Arbeit oder Saisonarbeit werden nicht aufgeführt, wobei einzelne Punkte der Entschließung die beiden erstgenannten Formen behandeln. In den Erwägungen wird auch ausgeführt, dass:

- acht Prozent der Beschäftigten in Europa trotz Arbeit arm sind;
- 17% als Geringverdiener gelten;
- jährlich zwischen einem Fünftel und einem Viertel der Beschäftigten den Arbeitsplatz wechseln;
- jeder sechste Beschäftigte einen älteren pflegebedürftigen Verwandten oder Freund pflegt;
- das Ausmaß unangemeldeter Beschäftigung steigt.

Wie so häufig in EU-Dokumenten finden sich Floskeln, Bezüge und Zitate, die irgendwie unvermittelt nebeneinandergestellt werden und dann häufig wie eine Wunschliste oder das brave und vollständige Aufzählen aller möglichen Gesichtspunkte durch den Berichterstatter wirken. In der Entschließung kommt das lebenslange Lernen genauso vor wie der Schutz der kleinen und mittleren Unternehmen, die Bedeutung selbständiger Erwerbsarbeit, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der Zugang zum Arbeitmarkt, die Wissensgesellschaft, die Methode der offenen Koordinierung oder notwendige Mindeststandards für alle Formen von Beschäftigung.

Gleichwohl hat das Dokument einen Tenor, und der lautet kurz gefasst: die Entwicklungen im Wirtschaftsgeschehen erfordern und bringen flexible Formen von Beschäftigung hervor, atypische Beschäftigungsformen und Wechsel in der Erwerbsbiographie sind nicht per se schlecht, müssen aber sozial abgesichert werden, wobei die Diskriminierung spezifischer Beschäftigtengruppen bekämpft werden muss und für alle Beschäftigungsformen Mindestbedingungen und soziale Inklusion gewährleistet werden sollen. Prekäre Beschäftigung, Scheinselbständigkeit und Schwarzarbeit sollen abgebaut bzw. bekämpft werden.

Punkt sechs der Entschließung fasst in etwa zusammen, wo Handlungsbedarf gesehen wird: Das Europäische Parlament "ist der Auffassung dass allen Beschäftigten ungeachtet ihres Beschäftigungsstatus bestimmte Grundrechte garantiert werden sollten; empfiehlt, dass die Prioritäten der Arbeitsrechtsreform, wo erforderlich, folgende Schwerpunkte haben sollten: die dringend erforderliche Ausdehnung des Arbeitnehmerschutzes auf Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsformen; Neuordnung der atypischen Vertragsformen mit dem Ziel der Vereinfachung; nachhaltige Schaffung von Normalarbeitsverhältnissen; Klärung der Situation abhängiger Arbeit, einschließlich vorbeugender Maßnahmen für den Arbeitsschutz bei atypischen Arbeitnehmern; Bekämpfung nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit; Förderung der Schaffung neuer Arbeitplätze, auch solcher mit atypischen Verträgen, und Erleichterung des Übergangs zwischen verschiedenen Arten von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit durch Förderung von Politikansätzen wie Sonderzahlungen für Lohnkosten, lebenslanges Lernen, Umschulungen und Weiterbildung während der Arbeit; legt eine Klärung der Situation abhängiger Arbeit nahe und fordert die Kommission auf, konkrete Leitlinien für den Umfang des Arbeitverhältnisses zu entwickeln, wie in den Empfehlungen der IAO von 2006 empfohlen."

Die grüne Fraktion hatte kritisiert, dass die Berichterstatterin sich an dem Flexicurity-Ansatz abarbeite und versäumt hätte zu klären, wie gleiche soziale und gewerkschaftliche Rechte für alle Beschäftigungsformen erreicht werden könnten. Daher legte sie einen alternativen Antrag vorgelegt, der ausdrücklich eine Richtlinie zur Durchsetzung gleicher Arbeitnehmerrechte für alle Beschäftigungsformen fordert. Dieser scheiterte erwartungsgemäß. Allerdings ist der von den Grünen formulierte Ansatz durch das schließlich verabschiedete Dokument auch nicht aus der Welt, sondern kann als Ansatzund Bezugspunkt genutzt werden.

Rolf Gehring

Quelle: (1) Entschließung des EP vom 6. Juni 2010, Dokument P7_TA(2010)0263

Raute

Ein internes Diskussionspapier von Detlef Wetzel, dem Zweiten Vorsitzenden der IG Metall, weist nach, dass die BRD-Regelungen zur Leiharbeit gegen Europarecht verstoßen. Im Folgenden wird aus diesem Papier zitiert:

Leiharbeit muss dringend neu reguliert werden

Seit 2004 bestehendes System ist gescheitert und europarechtswidrig ­...

Der "Fall Schlecker" hat deutlich gemacht, welcher Missbrauch auf Grundlage bestehender gesetzlicher Regelungen möglich ist. Laut einer Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) ist diese von Schlecker betriebene konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung in 7 Prozent der Unternehmen mit einer betrieblichen Interessensvertretung gängige Praxis ...

Wie groß das Problem ist, zeigt u. a. die Studie "Zeitarbeit in Nordrhein-Westfalen", die von Nordrhein-Westfalens Arbeitsminister Karl-Josef Laumann in Auftrag gegeben wurde. Laut dieser Studie nutzen

• ein Viertel der Entleihbetriebe die Zeitarbeit zur Substitution von Stammbelegschaften durch Leiharbeitsbeschäftigte,
• liegt die Entgeltdifferenz bei Hilfskräften in der Zeitarbeit im Vergleich zu Stammbelegschaften bei 45 Prozent,
• und bei qualifizierten Tätigkeiten bei rund 35 Prozent.

Von den vollzeitbeschäftigten Leiharbeitskräften erhalten 77 Prozent einen Lohn unter der Niedriglohnschwelle von 1.300 Euro/Monat. Jeder achte beschäftigte Leiharbeitnehmer ist auf ergänzende Transferleistungen angewiesen.

Leiharbeit bietet nicht, wie immer wieder behauptet, eine Brücke ins Normalarbeitsverhältnis.

• Jedes dritte Arbeitsverhältnis wird durch den Arbeitgeber gekündigt (Gesamtwirtschaft jedes siebte).
• Die Hälfte der Arbeitsverträge dauert weniger als drei Monate.
• Die Übernahmequote in ein Normalarbeitsverhältnis liegt unter 15 Prozent.

Diese Fakten machen deutlich: Leiharbeit wird dazu benutzt, die Arbeitsbedingungen und Löhne von Stammbelegschaften abzusenken und bewirkt einen Unterbietungswettbewerb in der jeweiligen Branche.

Die deutsche Leiharbeitsgesetzgebung verstößt gegen Europarecht.

Deutsche Leiharbeitsgesetzgebung ist nicht europarechtskonform. Zur Umsetzung der im November 2008 verabschiedeten EU-Leiharbeitsrichtlinie hat die Bundesregierung bis heute noch keine Vorschläge unterbreitet ... Die volle Arbeitnehmer-Freizügigkeit in der EU ab Mai 2011 bringt weitere erhebliche Probleme, wenn es keine Lohnabsicherung gibt.

Erforderliche Anpassungen des deutschen Rechts zur Umsetzung der EU-Richtlinie

1. Um der EU-Richtlinie Rechnung zu tragen, ist die Wiedereinführung einer Höchstüberlassungsdauer für Leiharbeitarbeitnehmer erforderlich. Die Richtlinie bestimmt, Leiharbeit ist zeitlich begrenzte Arbeit. Es ist ein Instrument zur Deckung vorübergehenden Personalbedarfs. Das deutsche Arbeitnehmerüberlassungsrecht lässt aber Leiharbeit auf Dauer zu ...

2. Die EU-Richtlinie forderte gleiche Arbeitsbedingungen von Leiharbeitnehmern im umfassenden Sinne.Deshalb muss die Gleichbehandlung für die Nutzung von Gemeinschaftseinrichtungen und Inanspruchnahme von Sozialleistungen, wie Zurverfügungstellung von Sozialeinrichtungen, Essenzuschüsse, Beförderungsmittel bis hin zu Kinderbetreuungseinrichtungen als verbindliche Verpflichtung der Entleihbetriebe gesetzlich vorgeschrieben werden.

3. Gleiches gilt auch für die Verpflichtung der Entleihunternehmen, ihre Weiterbildungsangebote für Leiharbeitnehmer zu öffnen.

4. Bei Synchronisation ist "Equal Pay" vorgeschrieben, da Abweichungen nur bei unbefristeten Arbeitsverhältnissen möglich sind.

5. Die deutsche Bestimmung, dass bei zuvor Arbeitslosen in den ersten sechs Wochen eines Leiharbeitsverhältnisses vom Gleichbehandlungsgrundsatz abgewichen werden kann, muss gestrichen werden.

6. Das neue EU-Recht lässt die unkonditionierte tarifliche Öffnungsklausel, wie sie das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz enthält, nicht mehr zu. Deshalb ist die Tariföffnungsklausel im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz neu zu fassen und zumindest stark einzuschränken. Abweichungen durch Tarifvertrag dürfen nur in einem gesetzlich festzulegenden, beschränkten Maß, und nur unter bestimmten, genau definierten Umständen zulässig sein.

Die EU-Richtlinie schreibt ausdrücklich vor, dass ein angemessenes Schutzniveau zu gewährleisten ist.

7. Für befristet beschäftigte Leiharbeitnehmer darf, so die EU-Richtlinie, überhaupt keine Abweichung vom vollumfassenden Gleichbehandlungsgrundsatz zugelassen werden.

8. Die EU-Richtlinie unterstreicht den Anspruch, die betrieblichen Arbeitsmärkte für Normalarbeitsverhältnisse den Leiharbeitskräften verbindlich zu öffnen. Das heißt, den Betrieben ist vorzuschreiben, dass sie Leiharbeitnehmer über frei werdende Stellen im Unternehmen unterrichten.

9. Die Erhebung von "Vermittlungsgeldern", die heute in der Regel für den Fall der Übernahme von Leiharbeitnehmern an den Verleiher zu zahlen sind, muss nach EU-Recht untersagt werden ...

Raute

IG Metall Berlin

Alternative bei Daimler/Berlin in Not: Keine Argumente

Die "Alternative Liste" um Mustafa Efe, die gegen die IG Metall bei den Betriebsratswahlen bei Daimler Marienfelde kandidierte, obwohl die meisten "Alternativen" selbst Mitglied bei der IG Metall sind, kommt zusehends in Schwierigkeiten.

Die auf Antrag der Vertrauensleute der IG Metall bei Daimler eingerichtete Untersuchungskommission empfiehlt angesichts der vorliegenden Tatsachen den Ausschluss der drei Listenführer aus der IG Metall. Die "Alternativen" hatten ihre eigene Liste entgegen den eindeutigen Beschlüssen des Berliner Ortsvorstandes und der gewerkschaftlichen Vertrauensleute bei Daimler beim Wahlvorstand eingereicht.

Dass die Untersuchungskommission dies als Gewerkschaftsschädigendes Verhalten bewerten würde, verwundert nicht. Täte sie es nicht, entfällt jedes Argument gegen eigenständige linke, sozialdemokratische, christdemokratische, grüne oder sonstige vielfältige IG-Metall-Listen bei Betriebsratswahlen. Die Gewerkschaft IG Metall würde sich selbst in politische und parteipolitische Richtungsgewerkschaften auflösen und als Einheitsgewerkschaft ad absurdum führen.

Gegenüber der knappen aber eindeutigen Bewertung durch die Untersuchungskommission vermögen die Argumente der Alternativen wenig auszurichten:

• Man habe ja eine zweite IG-Metall-Liste beim Ortsvorstand beantragt. Der Ortsvorstand habe aber abgelehnt.
• Die Alternativen wollten immer eine offene transparente Diskussion und eine kritische Auseinandersetzung mit
 der bisherigen Betriebsratsarbeit und der Position der Betriebsratsmehrheit.
• Sie als "Alternative" seinen seit Jahren ausgegrenzt worden. Die eigenständige Kandidatur sei eine Reaktion darauf.
• Bei BMW in Berlin/Spandau gäbe es seit Jahren zwei durch die IG Metall legitimierte Listen.

Diese dürftigen Argumente vermögen allenfalls Mitleid hervorzurufen. Als Argumente gegen die Empfehlung der Untersuchungskommission überzeugen sie nicht. Aber Mitleidsträger zumindest finden sich zuhauf. Ein Berliner Solidaritätskreis von Gewerkschaftern hat sich gebildet und am 1. Juli eine Demonstration und Kundgebung vor dem Berliner IG Metall-Haus organisiert. Eine breit angelegte Unterschriftensammlung ist angelaufen und ein Kreis "gewerkschaftsnahe Menschen aus Wissenschaft, Bildung, Medien, Rechtswesen und anderen Bereichen der Kulturproduktion" schreibt an den Vorsitzenden der IG Metall und den Berliner Ortsvorstand. Das ist auch das Gremium, indem demnächst über den Fortgang beraten werden wird und eine Entscheidung darüber fällt, ob der Ortsvorstand der Empfehlung folgt oder ein eigenes Votum beschließt. Entscheiden wird am Ende der Vorstand in Frankfurt. Es ist den Funktionären der IG Metall zu wünschen, dass sie trotz festgestelltem "gewerkschaftsschädigenden Verhaltens" einen Weg finden, die betrieblichen Konfliktparteien der IG Metall wieder zusammenzuführen. Die Einheitsgewerkschaft bedarf klarer Prinzipien ebenso, wie die Fähigkeit ihrer Akteure, unterschiedliche Richtungen unter Wahrung der Ausgewogenheit in ein "Lager der Arbeit" zusammenzuhalten.

(brr)

Raute

WIRTSCHAFTSPRESSE

Kernkraftbranche gegen Versteigerung der Atomlaufzeiten. FAZ, Mi.14.7.10. Bundesumweltminister N. Röttgen sieht in der Idee, Atomlaufzeiten zu versteigern, einen "ernst zu nehmenden Vorschlag". Rest-Strommengen könnten denjenigen zufallen, die den höchsten Preis zahlten. Die Initiatoren des Versteigerungsmodells, z.B. der Vorsitzende der Monopolkommission, J. Haucap, argumentierten, ausreichende Akzeptanz für längere Laufzeiten könne es nur geben, wenn Zusatzgewinne nicht zu niedrig veranschlagt würden und der überwiegende Teil davon der Allgemeinheit zugute komme. Aus der Kernkraftbranche kam Widerspruch: Es sei absehbar, dass der sichere Betrieb im bisherigen Umfang dann nicht mehr aufrecht erhalten werden könne. Betreiber könnten kaum gezwungen werden, Stromkontingente, die ein anderer ersteigert hat, in ihren Anlagen zu erzeugen, mit Blick auf die Eigentumssicherung im Grundgesetz.


Bankenverband kritisiert EU-Gesetzentwurf zum Sparerschutz. FAZ, Die. 13.7.10. Die deutschen Banken (BdB) wehren sich gegen den Vorschlag der Europäischen Kommission, mehr Geld für die Entschädigung von Sparern im Fall einer Bankeninsolvenz vorzuhalten. "Die EU-Kommission schießt mit ihrem Vorschlag weit über das Gesetz hinaus", sagte die Sprecherin des BdB, I. Bethge. Für die privaten deutschen Banken bedeutete dies, dass sie in etwas das Fünfzehnfache des bisherigen Jahresbeitrags in ihren Entschädigungsfonds einzahlen müssten.


Energiesteuer für Unternehmen soll steigen. FAZ, Mi. 21.7.10. Bundesfinanzminister W. Schäuble will den Mindestbetrag der Stromund Energiesteuer für das produzierende Gewerbe um das 40-fache erhöhen. Schäuble will ab 2011 die um 40% ermäßigten Steuersätze streichen und den Sockelbetrag auf 20.000 EUR erhöhen. Ab 2012 soll der Spitzenausgleich, von dem große, energieintensive Betriebe profitieren, beschränkt werden, so dass Unternehmen nur noch um 80 statt um 95 % entlastet werden. M. Wansleben, DIHT, sagte, "ohne Spitzenausgleich in der Ökosteuer sind energieintensive Prozesse stark in ihrer Wettbewerbsfähigkeit eingeschränkt."

Zusammenstellung: rst

Raute

München

Verdi kritisiert "Exzellenzinitiative"

Knapp 40 Interessierte konnte Helga Nützel, Personalrätin an der LMU, im Namen der Verdi-Betriebsgruppen von TU und LMU am 15.7 in einem der Uni-Hörsäle begrüßen. Für diejenigen, die den Begriff Verdi im Wesentlichen mit "Trillerpfeifen (...) und etwas schief sitzenden Streikwesten" verbinden, erklärte sie, dass es zwar weiterhin Grundlage der Arbeit sei, die Auseinandersetzung mit Bayerischer Staatsregierung und der Tarifgemeinschaft der Länder um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten zu führen, dass die Interessen der Gewerkschaft aber über das Tarifrecht hinausgingen. Vor allem im Blick auf die Kernaufgaben wäre es gut, wenn mehr Beschäftigte der Universität den Weg zu Verdi fänden. Den Moderationsleiter Karl Ischinger stellte sie als "Demnächst-Ex-Personalratsvorsitzenden" vor, da dessen Ruhestand bevor steht. Nützel drückte angesichts der von Ischinger geäußerten Absicht, aus "Freude an der Diskussion" weiterhin informell zur Verfügung zu stehen, die Hoffnung aus, dass er als "Elder Statesman" noch einiges für fortschrittliche Hochschul-, und Gewerkschaftspolitik bewirken werde.

Forschung gegen die Interessen der Beschäftigten?

Ischinger selbst erinnerte zunächst an den Beginn der Debatte in den Betriebsgruppen. Diese wurde ausgelöst durch die Gründung des zu einem großen Teil von drei Firmen finanzierten Zentrums für Arbeitsrecht, dessen Zielsetzung im "Handelsblatt" als Korrektur der Arbeitnehmerfreundlichkeit des deutschen Arbeitsrechts beschrieben wurde. Hier habe man sich langsam angefangen zu fragen, was in der Forschung, die man durch seine Arbeit ja unterstützt, eigentlich abläuft. Im Folgenden habe ausgerechnet Peter Löscher einen Lehrstuhl einen Lehrstuhl für Wirtschaftsethik bekommen, nachdem er zuvor ein Jahresgehalt von 10 Mio. und später noch 7 Mio. Euro bei Siemens erhalten hatte. Unmittelbar nach Einrichtung des Lehrstuhls betätigte sich Löscher als Verkünder eines Massenstellenabbaus. Mittlerweile bestehe ein kaum noch zu durchdringendes Dickicht materieller und ideologischer Interessen an den Hochschulen, in dem u.a. Bertelsmann und die Initiative für neue soziale Marktwirtschaft verstrickt seien. Ziel von Verdi sei es daher ein "kleines, störendes Reißnägelchen unter diesen mächtigen Hintern" zu sein. Daher stelle diese Veranstaltung den Auftakt zu einer Reihe von Themenabenden, die sich mit der Politik an und um die Hochschulen beschäftigen sollen, dar. So sind u.a. Veranstaltungen zu Arbeitsbedingungen an den Hochschulen und den Bertelsmann-Konzern geplant.

Die Exzellenzinitiative als Bruch mit Wissenschaftstraditionen

Referent Torsten Bultmann, politischer Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler - ein Wahlamt, wie er betonte -, stellte zunächst das Konzept der sogenannten Exzellenzinitiative vor. Bei dieser handele es sich auf den ersten Blick um ein gewöhnliches Programm zur Förderung der Uni-Spitzenförderung, wie es sie schon zuvor mehrfach gegeben habe. Die Bewerbung erfolge über die drei Förderrichtlinien, wobei die Förderung jeweils auf fünfJahre angelegt ist. Die erste Runde lief von 2006 bis 2011, die zweite entsprechend von 2012 bis 2017. Eine erfolgreiche Bewerbung bedeute für die jeweilige Uni ein mehr von 15 bis 20 Mio. Euro. Bei näherem Hinsehen erweise sich das Programm jedoch als kompletter Bruch mit der deutschen Hochschultradition seit der preußischen Universitätsreform. Zur Erläuterung dieser These wies Bultmann auf einen fundamentalen Unterschied zwischen der deutschen und der US-amerikanischen Wissenschaftsmentalität hin. Hier schreibe man sich den Beruf auf die Visitenkarte, während es in den USA fast schon egal sei, was man studiert habe, entscheidend sei einzig wo. Grundlegend sei in Deutschland eine weitgehende Gleichwertigkeit aller Universitäten, wobei der Bruch mit dieser Tradition in der zynischen Formel "Differenzierung statt Homogenität" durch die Befürworter der Eliteförderung direkt zelebriert worden sei. Gebrochen werde auch das System der Forschungsförderung selbst. Im Gegensatz zu anderen Programmen seien bei der Exzellenzinitiative ausschließlich die Universitäten, vertreten durch ihre jeweilige Leitung, antragsberechtigt. Dadurch greife man das Prinzip der wissenschaftlichen Selbstverwaltung zu Gunsten einer Präsidialdiktatur an und zeige, dass es letztlich nicht um die Verbesserung von Spitzenforschung geht, sondern darum, die Universitäten als Marken zu kreieren. Prestige und symbolisches Kapital werde so vor wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn gestellt. Dies belege auch an ein problematisches Nebenprodukt des Verfahrens: so erzeuge die Exzellenzinitiative einen enormen Arbeitsaufwand. Bultmann wies zum Beweis dieser Aussage auf die Bewilligungsquote von 11% hin, was im Umkehrschluss bedeute, dass 89% der Arbeit für die Papiertonne gemacht werde. Mittlerweile gäbe es an den Unis Stellen, die ausschließlich mit der Exzellenzinitiative beschäftigt seien. Generell sei zu beobachten, dass je mehr Wettbewerb für die Universitäten gefordert werde, umso mehr Arbeitsaufwand für Antragsarbeit und Ergebnisdokumentation gebunden werde.

Zentrale Kritik: Umverteilung zu Gunsten weniger

Bultmann formulierte seine zentralen Kritikpunkte als Thesen: So bedeute die Exzellenzinitiative vor allem eine weitere Umverteilung eh schon knapper Forschungsmittel zu Lasten der Grundaufgaben der Universitäten, also vor allem der Lehre. Gerade die Münchner LMU habe hierfür ein Symbol geliefert als 2006 zum einen, für Deutschland einmalig, alle Lehrbeauftragte für Afrikanistik und Ethnologie geschlossen in Streik traten und im selben Jahr eben die LMU im Rahmen der Exzellenzinitiative zur sog. "Eliteuniversität" wurde. Beides habe nur scheinbar nichts miteinander zu tun, sei jedoch Ausdruck des Phänomens, dass systematisch Personal und Mittel in bestimmte Bereiche umverteilt würden. Der zweite These Bultmanns war, dass durch die "monopolartige Konzentration Leistungsvielfalt und wissenschaftliche Potentiale gebrochen" werden. Er habe im Prinzip nichts gegen Spitzenforschung, diese setze jedoch gerade eine gewisse Breite bereits voraus. Schon bei Lenin könne man nachlesen, dass Monopole das Gegenteil von Innovation bewirken. Wissenschaftshistorisch lasse sich zeigen, dass echte Neuerungen eher durch Außenseiter und Querdenker entstehen. Den dritten Punkt bezeichnete Bultmann als die Lernauseinandersetzung mit den Befürwortern. Es gehe um die Frage, ob die Exzellenzinitiative nur eine Anerkennung bestehender Leistungsunterschiede darstelle, oder ob diese durch die Eliteförderung im Wege einer "Self-fulfilling Prophecy" gerade erst konstruiert würden. Die Antwort würde das Konzept der Elite-Unis selber durch die Beschränkung auf maximal zwölf Universitäten bei höchstens fünf Neuanträgen pro Förderperiode liefern. Nach einer Berechnung, die nicht nur Eliten hinbekommen, blieben jedenfalls sieben Universitäten dauerhaft im Besitz der Förderung, könnten also sicher ihren einmal erworbenen Besitzstand wahren. Die Unsinnigkeit des Verfahrens zeige sich auch in den relativ frühen Ausschreibungsfristen. So könnten jetzt noch gar keine wissenschaftlichen Ergebnisse der ersten Förderphase vorliegen.

Wie so oft: Umverteilung nach Süden

Im Gesamten stelle die Exzellenzinitiative somit einen enormen Anreiz dar, Mittel hin in die Spitzenforschung zu lenken und zum einen Fächer in denen es eine solche nur bedingt gibt zu vernachlässigen, bzw. die Basisfunktionen der Universitäten hintanzustellen. Für die vernachlässigten Fächer bedeute dies weiteren Personalabbau und die Verstärkung des Trends zur Prekarisierung wissenschaftlicher Arbeit. Da bereits jetzt eine massive Ungleichbehandlung der Universitäten bestehe machte Bultmann daran fest, dass sowohl ein Ost-West-, als auch Nord-Süd-Gefälle bestehe. Im Osten Deutschlands sei außer Berlin keine Uni in die Exzellenzförderung gekommen. Zweidrittel der Mittel gehen nach Bayern und Baden-Württemberg. Der Trend zur Konzentration lasse sich derzeit besonders gut in Schleswig-Holstein beobachten, wo den Unis in Flensburg und Lübeck immer mehr Kapazitäten zu Gunsten der "Hauptstadt-Uni" Kiel abgezogen werden, da die Verantwortlichen der Illusion nachhingen, diese könnte Eliteuniversität werden. Insbesondere die geplante Schließung der medizinischen Fakultät in Lübeck hatte bundesweit Aufsehen erregt. Dem Trend des Abbaus der Breitenförderung müsste die Forderung nach "Entwicklung von Entwicklungspotentialen" entgegengehalten werden.

Vielfältige Kritik an Hochschulentwicklung

In der anschließenden Diskussion blieb die Kritik nicht auf die Eliteförderung beschränkt. So wurden Befürchtungen hinsichtlich einer zunehmenden Militarisierung der Universitäten durch ein verstärktes Auftreten der Bundeswehr und eine Orientierung hin zur Rüstungsforschung geäußert. Auch dieses Thema soll im Rahmen einer eigenen Veranstaltung ausführlich beleuchtet werden. Bedenken wurden auch im Hinblick auf eine "Durchkapitalisierung" deutlich und gefordert die Finanzierung wieder ausschließlich an staatliche Mittel zu binden. Karl Ischinger machte durch drastische Beispiele die durchgängige Befristung der Arbeitsverträge für fehlenden Mut zum Widerstand verantwortlich. Helga Nützel regte an, mit Wissenschaftlern selbst ins Gespräch zu kommen. Selbst wenn man die Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus aus der Betrachtung lasse, weise die Geschichte der sog. akademischen Eliten jedenfalls Züge einer gewissen Aggressivität auf. Ausdrücklich sprach sie die Lehrtätigkeit von Hans-Werner Sinn an, dessen zentrale These sich in der Forderung nach 30% weniger Lohn erschöpfe. Es wäre von hohem Interesse, was dessen Arbeit in den Köpfen junger Nachwuchswissenschaftler anrichte. Demgegenüber nicht unproblematisch war die mehrfach geäußerte Forderung, dass die Wissenschaft ihre gesellschaftliche Nützlichkeit beweisen müsse. Inwiefern dies mit der von niemand angegriffenen Autonomie der Wissenschaft vereinbar ist, wäre gerade in Verbindung mit der Frage ob eine rein staatliche Finanzierung deren Schutz schon gewährleistet, vielleicht noch mal die eine oder andere Überlegung wert.

Bultmann ging in der Diskussion, über seinen, in Hinblick auf die weitergehende Ankündigung der Veranstaltung (Wie demokratisch sind Exzellenzen und Eliten?) vielleicht etwas zu stark auf den Aspekt der Umverteilung konzentrierten Vortrag hinausgehend, auf den Begriff der Elite ein. Dieser könne eigentlich nicht mehr verwendet werden, da er historisch zu eng mit den Gedanken von angeborener Ungleichheit und dem Ziel der und Züchtung verbunden sei.

Ein Teilnehmer erinnerte an den Titel der Veranstaltung "Das Matthäus-Prinzip" sowie das in der Einladung aufgeführte, erläuternde Zitat: "Denn wer vieles hat, soll noch mehr bekommen ... Wer aber wenig hat, dem wird auch noch das Letzte weggenommen werden." (Matth. 25,29).

Was der Apostel aufgeschrieben hat, hätten Marx und Engels begründet ­...

Johannes Kakoures

Raute

Religionsfreiheit für das Christentum weltweit?

Aus dem Bundestag - CDU: "Die Zeit des Missionierens ist nicht vorbei!"

Macht und Herrschaft eines Staates beruhen ohne Zweifel auf Gewalt, zugleich aber immer auch auf der Anerkennung durch seine Bewohner. Solange die Staatsmacht ihr Selbstverständnis und ihre Autorität ausschließlich auf eine gottgegebene Ursache stützte, war sie durch individuelle Freiheit in religiösen Dingen in Frage gestellt. Bürgerrechte konnten daher nur Christen haben, Abfall vom einzig wahren Glauben galt folgerichtig als Rebellion und Zersetzung des christlichen Staates. Erste Voraussetzung staatlich gewährter Religionsfreiheit ist daher die Loslösung staatlicher Macht vom Gottesgnadentum und ihre Distanz zu religiösen Angelegenheiten. Nur dies ermöglicht es dem Staat, Toleranz gegenüber Andersdenkenden zu üben, ohne die eigene Legitimität in Frage zu stellen.

War das Staatsverständnis des Mittelalters noch ganz im Zeichen der Bewahrung dieser Glaubenseinheit gestanden, ergab sich mit der konfessionellen Spaltung in der Reformationszeit die Notwendigkeit, einen neuen rechtlichen Rahmen für das Zusammenleben der Angehörigen unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse innerhalb des selben politischen Gemeinwesens zu finden. Dies war das Ende der auf dem Christentum beruhenden katholischen Universalmonarchie. Die staatliche, nun sich weltlich begründende Macht, konnte nur in dem Maße konfessionelle Gegensätze überwinden oder vermitteln, wie sie sich selbst aus der Bindung an die "wahre" Religion löste. Der Westfälische Friede, zu Münster und Osnabrück am 24. Oktober 1648 abgeschlossen, markiert als staatsrechtliches Dokument den ersten Schritt in diese Richtung. Nur so konnten damals die erschöpften Kriegsparteien - voll Widerwillen - den Dreißigjährigen Krieg in Europa beenden. Auf diesem wahrlich langen Wege wurde Religionsfreiheit heute ein politisches Individualrecht, das den Einzelnen vor dem Zugriff der Religion, der eigenen wie der fremden, im Namen staatlichen Rechtes schützt.

Die Bundestagsdebatte am 8. Juli

In diesem Spannungsfeld verlief die Bundestagsdebatte am 8. Juli 2010 zum Thema "Religionsfreiheit". Im Koalitionsvertrag zur Bildung der Bundesregierung im Jahre 2009 hatten CDU und FDP das Ziel formuliert, sich "weltweit für Religionsfreiheit einzusetzen und dabei ein besonderes Augenmerk auf die Lage der christlichen Minderheiten zu legen". Jetzt hatten die Fraktionen von CDU und FDP dazu dem Bundestag einen Antrag mit der Überschrift vorgelegt: "Religionsfreiheit weltweit schützen". Die Grünen reichten einen Gegenantrag ein. Titel: "Das Menschenrecht auf Religions- und Glaubensfreiheit stärken". Von SPD und Linken gab es Redebeiträge.

Antrag von CDU und FDP: "Religionsfreiheit weltweit schützen"

"Wenn Millionen Christen in der ganzen Welt ihren Glauben nicht frei leben können, wollen wir nicht schweigen" - man soll Westerwelle ja nicht zuviel der Ehre antun: Aber wie dieser Satz des Außenministers in der parlamentarischen Aussprache von der konservativen Presse aufgegriffen wurde, (Rheinische Post-online vom 8. Juli 2010) dann hat dieser Satz für historisch etwas geübte Ohren doch sehr den unangenehmen Klang von deutschem Sendungsbewusstsein und Weltmission.

Und wir werden nicht enttäuscht: Der Koalitionsantrag unterlegt seinen Aufschrei für die verfolgten Christen in der nichtwestlichen Welt damit, dass Aufgrund der Verbreitung des Christentums und seines schnellen Wachstums in Ländern ohne Religionsfreiheit das Christentum mit 200 Millionen Menschen die größte verfolgte religiöse Minderheit und häufig betroffen von konkreter Gewalt sei. Aber nicht der Vorschlag, alle Menschen, die aufgrund ihrer Religion an den Grenzen von Europa um Asyl bitten, aufzunehmen, folgte. Als wesentliches Ziel für die Politik der Bundesregierung soll gelten, die aktive Propaganda für den christlichen Glauben, die christliche Mission in den arabischen und asiatischen Ländern zu unterstützen: "Noch stärker eingeschränkt ist vielfach das Recht, für die eigenen Glaubensüberzeugungen zu werben. Diese Beschränkungen gehen häufig einher mit Einschränkungen bezüglich des Glaubenswechsels. ... Der Deutsche Bundestag bekräftigt daher, dass das friedliche Werben für die eigene Religion Bestandteil der Religionsfreiheit ist und durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und den Zivilpakt geschützt ist. Zur Menschenrechtspolitik muss daher auch das Werben für eine weltweite Durchsetzung dieses Rechts gehören." Dementsprechend machte der Fraktionsvorsitzende der CDU, Kauder, den im Parlamentsprotokoll festgehaltenen Zwischenruf: "Die Zeit des Missionierens ist nicht vorbei!"

Gegenantrag von Bündnis 90/Die Grünen: "Das Menschenrecht auf Religions- und Glaubensfreiheit stärken"

In ihrem Gegenantrag wie auch in ihren Reden hatte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geschrieben, der Ansatz der Koalition, sich "weltweit für Religionsfreiheit einzusetzen und dabei ein besonderes Augenmerk auf die Lage der christlichen Minderheiten zu legen", sei grundsätzlich zu begrüßen.

Um dann aber in der Diskussion dagegen zu halten: Das Recht der Religionsfreiheit sei universell und diskriminierungsfrei, dafür müsse man ohne Hervorhebung einzelner religiöser Minderheiten eintreten, so Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen. Er fährt in seiner Rede fort: "Das bringt für uns als Bundestag gemeinsam mit den Ländern die große Aufgabe mit sich, endlich die Weltreligion des Islam in Form von anerkannten islamischen Religionsgemeinschaften innerhalb des deutschen Religionsverfassungsrechtes gleichzustellen. So können wir diesen die Rechte geben, die unser Religionsverfassungsrecht beim Religionsunterricht und bei der Ausbildung von Geistlichen gewährt, und diese Religionsgemeinschaft auch mit Blick auf andere rechtliche Konsequenzen, die sich aus der Anerkennung ergeben, gleichstellen. Denn nach dem Christentum ist der Islam in Deutschland die zweitgrößte religiöse Gruppe. Es kann nicht sein, dass eine so große Zahl von Menschen bei der Inanspruchnahme ihrer Grund- und Menschenrechte letztendlich nicht gleichgestellt ist." Daraus wird im Antrag ein Arbeitsauftrag an die Bundesregierung abgeleitet. Nach Auffassung der Grünen bilden gemeinsam mit Artikel 4 des Grundgesetzes die Staatsverträge zwischen der Bundesrepublik und den Religionsgemeinschaften die grundgesetzlichen Voraussetzungen, eine vollständige rechtliche Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften in Deutschland zum Schutz des Menschenrechts auf Religions- und Glaubensfreiheit herbeizuführen. Auch "die notwendige rechtliche Gleichstellung des Islam ist innerhalb dieses Systems möglich. ... Wie die rechtliche Gleichstellung des Islam innerhalb dieses Systems möglich ist, soll geprüft werden."

In der Einleitung ihres Antrages hatten die Grünen, anders als die CDU/FDP, präzisiert, was für sie Religions- und Glaubensfreiheit überhaupt ist: "Die Religions- und Glaubensfreiheit ist eine Ausprägung der Menschenwürde. Sie schützt das Recht des und der Einzelnen, einen Glauben oder eine Weltanschauung zu bilden, zu haben, zu äußern und zu ändern, und somit sein oder ihr gesamtes Verhalten an den Lehren seines oder ihres Glaubens auszurichten und der inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln ("individuelle Freiheit"). Ebenso schützt die Religions- und Glaubensfreiheit die Freiheit religiöser oder weltanschaulicher Vereinigungen etwa bei der Ausübung ihrer nach außen gerichteten Tätigkeit ("kollektive Freiheit"). Drittens schützt sie die Freiheit, keinen Glauben zu bilden, zu haben, zu bekennen und danach zu leben ("negative Freiheit")."

Die Linke: Trennung von Religion und Staat ist noch längst keine Wirklichkeit

Zum Ende des Berichtes über diese Bundestagsdebatte lassen wir noch Raju Sharma, religionspolitischer Sprecher der Partei Die Linke, zu Wort kommen: Er bezieht sich zunächst auf die UN-Resolution "gegen die Diffamierung von Religion" von 2007. Sie ist tatsächlich in ihrer substantiellen Aussage sehr problematisch. Nicht nur weil sie in der UNO nur mit einer Mehrheit von 108 gegen 51 bei 25 Enthaltungen angenommen wurde. In der Resolution wird einzig der Islam als Religion genannt. Darin wird zwar tiefe Besorgnis über Versuche ausgedrückt, den Islam mit Terrorismus, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen in Verbindung zu bringen. Aber Individualrechte werden nicht benannt. "Wer diese Resolution - sicher richtigerweise - ablehnt und darin einen Beweis für die Unterdrückung der Meinungsfreiheit im Islam sieht, der sollte auch einen Blick ins deutsche Strafgesetzbuch werfen: Zumindest in der praktischen Handhabung ist das in § 166 enthaltene Verbot einer 'Beschimpfung von Religionsgesellschaften' nicht allzu weit von der gescholtenen Resolution entfernt. Ich meine, wir sollten alle Religionen mit demselben Respekt behandeln. Außerdem stünde es der Regierung durchaus nicht schlecht, ein 'Urbi et Orbi' auch für sich zu beherzigen: In Sachen Religionsfreiheit lohnt sich nämlich nicht nur der Blick in die Welt, sondern auch ins eigene Land.

Eine staatliche Unterdrückung oder Verfolgung einzelner Religionsgemeinschaften ist hier zwar nicht zu beklagen, bedingungslose Religionsfreiheit ohne jede Einschränkung ist aber auch bei uns nicht zu finden. Jedenfalls dann nicht, wenn man auch die konsequente Gleichbehandlung aller Glaubensgemeinschaften darunter versteht: Wenn nämlich ein Muslim zu häufig sein Gotteshaus besucht, kann er schon mal als potenziell verdächtig in der Antiterror-Datei landen - der eifrige Kirchgänger jedoch muss dies nicht befürchten. Und wenn deutsche Behörden an die USA Fluggastdaten übermitteln, die nicht nur Angaben über die Mitgliedschaft in Gewerkschaften, sondern auch solche über Essgewohnheiten und über die Religionszugehörigkeit enthalten, geschieht dies bekanntermaßen nicht, um den Bordservice für die Passagiere zu optimieren.

Auch in manch anderer Hinsicht findet staatliche Ungleichbehandlung statt: Noch immer werden die evangelische und katholische Kirche gegenüber anderen Religionsgemeinschaften bevorzugt, und eine konsequente Trennung von Religion und Staat ist noch längst keine Wirklichkeit in Deutschland. Ich sage nur: Staatsleistungen, Kirchensteuer, Religionsunterricht. In dieser Hinsicht könnten wir von unseren Nachbarn lernen: Frankreich hat den Laizismus als Grundsatz in der Verfassung fest geschrieben, wir haben Gott in der Präambel des Grundgesetzes."

Karl-Helmut Lechner


Quelle: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 15/55, Berlin, Donnerstag, den 8. Juli 2010

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Der liebe Gott, der § 166 StGB und die Satiriker. Der liebe Gott: "Schade, Kinder, dass man euch jetzt so scharf ans Leder geht - ihr habt euch meiner immer so brav angenommen!" aus: "Der wahre Jacob", 1929

Raute

DISKUSSION UND DOKUMENTATION

Beim Eigentum zu kurz gegriffen

Aus der Diskussion der Linken: Basiert die Demokratiefrage auf der Eigentumsfrage oder umgekehrt?

Von Dr. Klaus Lederer*

"Wir kämpfen für einen Richtungswechsel der Politik, der den Weg zu einer grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft eröffnet, die den Kapitalismus überwindet", heißt es im Programmentwurf. Dabei wird die Notwendigkeit betont, einen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft voranzutreiben, in Richtung eines nachhaltigen, ressourcensparenden und umweltbewahrenden Wirtschaftens und Lebens. Zu Recht wird auf die Konsequenzen der herrschenden ökonomischen Dynamik verwiesen. Wenn die Kapitalakkumulation eine immer schnellere Umschlagsgeschwindigkeit in der gesellschaftlichen Reproduktion erzwingt, bezieht sich das auch auf ihre zerstörerischen Tendenzen: Umweltvernichtung, soziale Deklassierung und Ausgrenzung von Millionen, Verschärfung des Gegensatzes zwischen Arm und Reich, Nord und Süd. Gesellschaftliche Veränderungen hin zu einem sozial-ökologischen Richtungswechsel erfordern eine eingreifende, gestaltende Politik, die "den globalen Kapitalismus" perspektivisch überwindet. Wie aber soll das aussehen?

Zunächst geht der Entwurf davon aus, dass die Frage des Eigentums an Produktionsmitteln ein zentrales Element einer Strategie gesellschaftlicher Veränderung ist. Das ist richtig. Wer will, dass sich eine andere gesellschaftliche Entwicklungslogik durchsetzt, kann über die herrschende ökonomische Basis der Gesellschaft nicht schweigen. Richtig ist auch, dass die gegenwärtig dominierende finanzmarktgetriebene kapitalistische Gesellschaftsreproduktion Demokratie aushöhlt und politische Gestaltungsräume tendenziell unter sich subsumiert.

Wo der Programmentwurf aber auf die Eigentumsfrage zu sprechen kommt, greift er zu kurz und hinterlässt in Bezug auf die konkrete Veränderungsperspektive eine irritierende Leerstelle. "In einer solidarischen Wirtschaftsordnung, wie sie Die Linke anstrebt", heißt es da, "haben verschiedene Eigentumsformen Platz: staatliche und kommunale, gesellschaftliche und private, genossenschaftliche und andere Formen des Eigentums." Für diverse besonders wichtige Wirtschaftsbereiche, auch die klassische Daseinsvorsorge, fordert der Entwurf öffentliches Eigentum und demokratische Kontrolle. Durch Institutionalisierung von Verbraucherverbänden und Belegschaften soll demokratische Mitsprache und Partizipation gesichert werden. Strukturbestimmende Großbetriebe sind in demokratische gesellschaftliche Eigentumsformen zu überführen. Welche Bereiche, Unternehmen und Betriebe das sind, soll jedoch der "demokratische Prozess" klären. Diese Auslassung erstaunt. Gerade ein Parteiprogramm ist doch der Platz, um die Positionen festzuhalten, die Die Linke in diesen demokratischen Prozess einbringen will, der Entwurf das Medium, über das die innerparteiliche Selbstverständigung zu genau dieser Frage bewerkstelligt werden soll.

Offen bleibt auch, was sich das Publikum unter einer "demokratischen Vergesellschaftung" vorzustellen hat. Die Anknüpfungspunkte im Entwurf sind vage. Sie deuten aber darauf hin, dass nicht so sehr "der Kapitalismus" - das Herrschafts- und Aneignungsverhältnis - als das entscheidende Problem angesehen wird, sondern die juristische Form des Eigentums, die Inhaberschaft an den Unternehmen. Ferner bleibt die programmatische Beschreibung im nationalstaatlichen Rahmen verhaftet. Angesichts der globalisierten ökonomischen Prozesse und der Nord-Süd-Spaltung ist das bedenklich.

Der "globale Kapitalismus" erscheint im Entwurf "personifiziert", subjektiviert, als sei "er" ein handelnder Akteur. Aber der Kapitalismus ist kein Subjekt, sondern ein komplexes und widerspruchsvolles gesellschaftliches Verhältnis, getrieben durch das Handeln konkreter Menschen in konkreten Zwängen und Verhältnissen, und äußerst wandlungs- und entwicklungsfähig. Kleine und große Kämpfe, politische Interventionen und Entscheidungen im raum-zeitlich konkreten Zusammenhang geben ihm sein spezifisches Antlitz. Die Gier einzelner "Privater" ist nicht Ursache, sondern Ausdruck des Problems: Manager und Aktionäre der großen Konzerne sind nicht "der Kapitalismus". Der gesellschaftliche Reproduktionsmechanismus der Kapitalverwertung herrscht den Handelnden seine Zwänge auf und wird durch ihr Handeln gleichzeitig am Laufen gehalten.

Wie soll das geändert werden? Die Entgegensetzung von privatem und kollektivem Eigentum, die im Entwurf überall durchschimmert, führt hier nicht weiter. Anstelle des - vom Gesellschaftlichen abgesonderten - Privateigentums an Produktionsmitteln wird das Publikum nur auf andere, aber ebenfalls vom Gesellschaftlichen "abgesonderte", Eigentumsformen verwiesen. Der Entwurf spricht von "vergesellschafteten", "unter öffentlicher Kontrolle stehenden" Bereichen, meint aber damit im Wesentlichen staatliche Eigentumsformen - das alles soll neben dem Privateigentum an Produktionsmitteln existieren. Der Entwurf behauptet, dass damit die Dominanz des kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisses gebrochen werden könne. Er lässt aber völlig offen, warum und wie eine solche "Vergesellschaftung" ungeklärten Ausmaßes zur Überwindung des Systems Kapitalismus, zur Brechung des Profitprinzips, beitragen kann.

Es ist kein Wunder, dass - nach dem Scheitern des Staatssozialismus - die Frage aufgeworfen wird, welche Ökonomie hier entstehen soll. Eine Ökonomie der VEBs? Wird nun darauf verwiesen, dass das alles selbstverständlich mit "demokratischer Kontrolle" verbunden sein werde, so ist das nicht trivial. Der moderne bürgerliche Staat ist nicht die Verkörperung des Gemeinwohls, sondern tragender, nur relativ abgesonderter Teil des Kapitalverhältnisses. Und wie schnell der Anspruch "gesellschaftlicher Kontrolle" in den Mühlen der Interessen und Machtverhältnisse zerrieben ist, zeigt nicht nur die gescheiterte DDR. Es zeigt auch die Realität des öffentlichen Unternehmenssektors, wenn wir genau hinsehen. Schon die Formulierung im Programmentwurf, Belegschaften und Betroffene sollen (letztlich nur) "eine starke demokratische Mitsprache" haben, lässt aufhorchen. Offenbar wird - trotz des verheißungsvollen Begriffes der "Vergesellschaftung" - nicht die Aufhebung der Absonderung "des Eigentums" von der Gesellschaft angestrebt.

Staatliches Eigentum ist nun einmal nicht der sozialistische Gegensatz zum kapitalistischen Privateigentum. Im Gegenteil, Staatseigentum war und ist mit kapitalistischer Reproduktion verbunden. Nicht selten wurde mit dem Ziel der Stabilisierung und Beförderung der Kapitalreproduktion verstaatlicht, wie wir gerade aktuell wieder sehen können. Daran ändert zunächst auch Belegschaftseigentum oder ein mit Vetorechten ausgestatteter "Runder Tisch" nichts. Wie würde sich unter gegenwärtigen ökonomischen Verhältnissen wohl die Belegschaft eines Atomkraftwerks oder einer Rüstungsfabrik entscheiden, wenn es an die Schließung des Unternehmens geht? Und wie würde sich die Eigentümerin eines Stadtwerks entscheiden, wenn die Alternative zum Bankrott in der aggressiven Ausweitung der Geschäftstätigkeit im internationalen Maßstab besteht? Vergessen wir nicht: auch Vattenfall ist ein Staatskonzern.

Ich will damit nicht sagen, dass die Ansätze des Entwurfs allesamt reformpolitisch falsch sind. Aber sie behandeln nicht das programmatische Perspektivenproblem. Nicht in neben dem privaten existierendem staatlichen Eigentum liegt der Schlüssel zur Lösung der Eigentumsfrage, sondern in der "Vergesellschaftung" der Ökonomie als solcher: In der demokratischen Entscheidung der Gesellschaft über die Rahmenbedingungen, unter denen gewirtschaftet wird, weil und soweit Alle von Praxis und Folgen dieses Wirtschaftens betroffen sind. Also in der Entscheidung über das Grundsätzliche, im Primat der Politik über die ökonomische Reproduktionsweise, über Investitionen, Arbeitsbedingungen, Wertschöpfungsmodus, über die Verwendung des Mehrprodukts jeglicher Arbeit, egal ob in staatlichen, genossenschaftlichen oder privaten Unternehmen.

Eine neue Gesellschaft entsteht, wenn in der alten Gesellschaft ihre Elemente bereits in einer Weise angelegt sind, dass deren Hülle gesprengt wird. Das passiert nicht im Selbstlauf. Wir kommen nicht umhin, in den vorgefundenen Verhältnissen die Anknüpfungspunkte für die Gesellschaftsveränderung, den sozial-ökologischen Umbau, zu suchen - und für die bevorstehenden Auseinandersetzungen sehr konkrete gesellschaftliche Bündnisse zu erarbeiten. Dazu muss Die Linke ihren Standort ebenso konkret bestimmen.

Die wichtigste und mächtigste reale und potenzielle Gegentendenz zum "Totalitarismus der Ökonomie", zu den zerstörerischen Tendenzen des Kapitalismus, ist der demokratische Prozess, so unvollkommen er auch sein mag. Wenn der Entwurf festhält, "wo vor allem der Profit regiert", bliebe "kein Raum für Demokratie", führt das in die Irre. Gerade Demokratie ist das Schlüsselelement für die Lösung der Eigentumsfrage, in ihrem institutionellen Raum streiten die "Klassen" die zentralen Kämpfe aus. Der Entwurf hält fest, dass das Kapital die Demokratie bedrohe. Das ist richtig. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass "der Kapitalismus" erst den Rahmen für die Erkämpfung moderner demokratische Formen gebildet hat. Sie sind ein Element des Neuen, das über das Bestehende hinausweist.

Nicht die Lösung der Eigentumsfrage ist Voraussetzung für eine "richtige" Demokratie im Morgen. Die heutige Demokratie ist Voraussetzung und Schlüssel zur Lösung der Eigentumsfrage. Kapitalistisches Privateigentum an Produktionsmitteln ist kein juristischer Titel, dessen Zuweisung an den Staatsapparat "den Kapitalismus" aufhebt. Das kapitalistische Privateigentum an Produktionsmitteln ist ein gesellschaftliches Verhältnis, in dem die Verfügung über gesellschaftliche Entscheidungsfragen privatisiert ist. Eigentümer ist, wer über etwas verfügen kann. Vergesellschaftet ist folglich, was in allgemeiner Verfügung liegt. Hier liegt das Kampffeld, in dem in Suchbewegungen die Verfügung Aller über das Eigentum erlangt, die ökonomische Zwangsherrschaft überwunden werden kann. Der im Entwurf vertretene Ansatz birgt die Gefahr, dass dieses Bewusstsein in den Hintergrund gerät und durch staatssozialistische Illusionen verschüttet wird.

* Bei http://www.forum-ds.de/article/1919.beim_eigentum_zu_kurz_gegriffen.html, 6.7.2010

Raute

Betreff: Perspektivwechsel: - Politische Diskurse entwickeln sich in kulturellen Zusammenhängen, die - kritisch oder apologetisch - auf die Nationalgeschichte zugeschnitten sind. Mit der EU besteht heute ein übergreifender politischer Zusammenhang, in dem es auf Kunst ankommt, auch einmal die Perspektive der Nachbarn einzunehmen. In loserer Reihe wollen wir an dieser Stelle Bücher und andere kulturelle Produktion vorstellen, die dabei helfen. Nachfragen und Angebote an politischeberichte@gmail.com, Betreff: Perspektivwechsel.


Knecht, Arbeiter und Sozialist

"Pelle, der Eroberer" und sein Dichter Martin Andersen-Nexø

In den 70er Jahren - vor allem in der DDR - war der Roman "Pelle der Eroberer" ein hoch geschätztes literarisches Werk. Dort wie auch im Westen führte er zu zwei erfolgreichen Verfilmungen. Im Jahr 2004 ist dieses vierbändige Werk neu im Aufbau Taschenbuch Verlag erschienen. Der Autor ist der dänische Schriftsteller Martin Andersen-Nexø (1869-1954), einer der bedeutendsten proletarischen Dichter Europas. Der 1309 Seiten dicke Fortsetzungsroman behandelt die Entwicklung des jungen Pelle von seinem Knechtsdasein auf einem dänischen Gutshof Anfang des letzen Jahrhunderts bis zum aktiven sozialistischen Gewerkschafter und Genossenschaftler in Kopenhagen.

"Pelle - das ist doch deine Autobiographie", so haben Freunde und Bewunderer in aller Welt oft zu dem Dichter gesagt. Auch wenn Andersen-Nexø diese enge Identifizierung stets abgelehnt hat, ist unverkennbar, wie sehr sich sein Leben in dem von Pelle wiederfindet.

Ich habe deshalb diese beiden Komponenten in der Beschreibung des Romans miteinander verbunden. Und wie in einem Spiegel zeigt uns "Pelle der Eroberer" ein Stück aus der realen Geschichte der skandinavischen und vor allem auch der dänischen Politik und Kultur um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts. Die historischen Grundlagen dieser bewegten Zeit stelle ich an den Anfang meiner Darstellung. Schließlich erfahren wir in lebendiger und in erzählerisch lockerer Form, wie vor hundert Jahren in diesem Teil der skandinavischen Welt die Hoffnungen auf eine bessere und gerechtere Zukunft ausgesehen haben.

Der historische Rahmen: Ende des 19. Jahrhunderts sind die Bauern in den nordischen Ländern rund um die Ostsee wie in den meisten anderen europäischen Ländern von Leibeigenschaft und Gutsherrschaft "befreit". Sie bleiben aber in der Regel weiterhin in feudaler Abhängigkeit. Finanziell sind sie kaum in der Lage, ihre kleine Scholle zu kaufen oder mit langfristigen Krediten abzuzahlen. Auch fehlt es ihnen an Kapital, um ihre rückständige Landwirtschaft mit neuen Anbau-, Zucht- und Düngemethoden zu höheren Erträgen zu bringen. Bei ständig wachsender Bevölkerungszahl - in den skandinavischen Ländern verdreifacht sie sich innerhalb eines Jahrhunderts - sowie bei regional immer wieder drohenden Missernten und Hungersnöten, verlassen deshalb Tausende von Bauern, Häusler und kleine Handwerker ihr Land, um anderenorts ihre Existenz zu sichern. Als verarmte Landarbeiter und Knechte finden sie auf den meist lukrativ für den Export arbeitenden Gutshöfen des eigenen oder benachbarten Landes eine abhängige und gering bezahlte Stellung oder sie ziehen in die umliegenden Städte, wo sich in Handwerksbetrieben und Fabriken allmählich eine Mechanisierung und Industrialisierung durchsetzt. Und schließlich stellt Skandinavien eine der höchsten Quoten der Auswanderung von Europa ins "gelobte Land" nach Amerika. Zwischen 1840 und 1914 verlassen allein 300.000 Dänen ihre Scholle.

Die Lage wird noch dadurch verschärft, dass die Ostseeländer seit Jahrhunderten ihr wichtiges landwirtschaftliches Produkt Getreide in die Länder Westeuropas lieferten. Mitte des 19. Jahrhundert beziehen viele dieser Länder, allen voran England, ihre Nahrungsmittel aus ihren zahlreichen Kolonien. Die Preise sinken, der Export liegt danieder. Immerhin gelingt es Dänemark, sich mit königlich staatlicher Unterstützung relativ schnell auf die Produktion von anderen Waren wie Futtergetreide für Viehzucht, Fleisch- und Milchverkauf ("ham and eggs") umzustellen und diese auch maschinell zu betreiben und somit zu steigern. Auch die Steuer für die Durchfahrt am Öresund in die Ostsee (Sundsteuer) an Dänemark fiel auf Druck Englands weg. Und der Verlust der beiden Länder Schleswig und Holstein 1860 nach drei verlorenen Kriegen an Preußen ist ein weiterer Aderlass.

Schweden ereilt ein ähnliches Schicksal mit etwas Verzögerung. Zwar sind hier die Bauern seit Jahrhunderten in einer vom Adel weitgehend unabhängigen Stellung. Weil sie aber gleichzeitig auch die meist genossenschaftlich organisierten Besitzer von kleinen Erzbergwerken sind und selbständig den Holzverkauf ihrer Wälder regeln, fallen sie noch tiefer in das Loch der Rezession. Der Abnehmer von Erz und Holz sowie dessen Nebenprodukte Teer und Holzkohle, für Verhüttung, Schiffsbau und Fabrikanlagen sind vor allem das sich rasant industriell entwickelnde Englische Königreich. Dank neuer Verhüttungsmethoden beheizt man ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Öfen mit eigenem Koks statt mit schwedischer Holzkohle und nutzt die eigenen weniger qualifizierten Erze beim Frischen und Walzen (statt Pressen).

Erst 1890 hat Schweden diesen Exportniedergang (der Anteil an der Weltproduktion sank auf ein Zehntel herab) durch ausländische und eigene staatliche Mobilisierung von "großem Kapital" und die Spezialisierung auf Qualitätsstahl ausgleichen können. Für die Verluste im Getreideexport findet Schweden mit seinen besonders kleinflächigen Bauernparzellen und dem wenig fortschrittlichen Landbau überhaupt keinen Ausgleich. Missernten, Hunger und Seuchen zwingen hier besonders viele ehemals wohlhabende, jetzt total verarmte Bauern und Handwerker zum Auswandern. Unter ihnen sind auch Pelle und sein Vater Lasse.

Erstes Buch: Mit einem Schiff, das Hunderte von Auswanderern aus Schweden an Bord hat, und in Rönne auf der dänischen Insel Bornholm landet, beginnt die Erzählung. Auf dem Markt der Kleinstadt bieten Vater und Sohn ihre Arbeitskraft an. Fast vergeblich, denn wer will den Alten und sein mageres, minderjähriges Kind schon auf seinem Hofe haben. Ein Augenblick tiefer Erniedrigung, die Martin Andersen-Nexø als neunjähriges Kind am eigenen Leibe erfahren hat, als seine Familie - der Vater war Steinhauer - hier mit elf Kindern gelandet ist. Für eine Unterkunft in der Kuhstallecke, dem täglichen Essen - außer zu Weihnachten meist nur Brot und Heringe - und fast keinen Lohn werden Pelle und Lasse auf Gut Steinhof als Knechte eingestellt. Der Vater vermittelt seinem Sohn dazu passend seine fatalistische Lebenseinstellung: "Denn du darfst nie vergessen, Junge, lehne dich nicht auf gegen den, der über dich gesetzt ist. Die einen sind Diener, die anderen Herren." Martin Andersen-Nexø lässt seinen Pelle, seinen "Welteroberer", von Anfang an gegen diese unumstößliche Welt- und Gesellschaftsordnung rebellieren. Im Tagtraum des Jungen lebt fortan und bis zum Ende des vierten Bandes die Hoffnung auf ein erreichbares individuelles und gesellschaftliches Glück. Prinzip Hoffnung!

Zweites Buch: Pelles Lebensweg führt von der Knechtschaft auf dem Bornholmer Gutshof in die Kleinstadt Rönne, wo er eine Schumacherlehre absolviert. Genauso erging es Martin Andersen-Nexø 1884. Seine wirkliche Erfahrung (alle folgenden Zitate über ihn entstammen der Biografie von Aldo Keel): "Früh um sechs Uhr begann der Arbeitstag, der bis acht Uhr dauerte... Martin saß auf einem Schusterhocker in einer niederen, finsteren Werkstatt, die nach Norden lag. Durch das Fenster fiel sein Blick auf den Schweinestall und den Abort. Wenn er das Fenster öffnete, stank es nach Urin. Neben seinem Platz stand der Spucknapf. Hustete der junge Meister, so beugte sich Martin zur Seite. Nach einer gewissen Zeit begann auch er zu husten." Der Meister starb 1888 an Tuberkulose. Martin entging diesem Schicksal, weil er nach Abschluss seiner Lehre durch Zufall in die persönliche und gesundheitliche Förderung durch das dänische (Grundtvigs-) Volksschulbildungsprogramm und unter die Fürsorge der mildtätigen Frau Mathilde Molbech in Askow geraten war. Er kann sich zum Lehrer ausbilden lassen. Pelle, der Eroberer, hingegen macht sich nach der Lehre auf den Weg in die Hauptstadt Kopenhagen, wo er in der "Arche", einer Mietskasernen mit Ratten, Mäusen und Ungeziefer unterkommt, wo die ärmsten der Armen, das nicht organisierte Proletariat lebt.

Drittes Buch: Als Andersen-Nexø den dritten Band mit dem Titel "Der große Kampf" in Angriff nahm, nutzte er ein Archiv von 4000 Streiknachrichten über Gewerkschaftsfragen und Arbeitskämpfe. Hier fand er den Stoff, aus dem Pelles Taten und Träume sind. 1890 bis 1904 verdoppelte sich die Industrieproduktion Dänemarks und bis 1914 verdreifachte sich die Zahl der Industriearbeiter. Die Einzelgewerkschaften hatten sich ab 1885 in nationalen Verbänden formiert und sich 1898 im branchenübergreifenden Gewerkschaftsbund zusammengeschlossen. Als 1899 in den jütischen Städten die Beschäftigten im Schreinergewerbe von ihren Unternehmern ausgesperrt wurden, gingen 35.000 Arbeiter dreizehn Wochen in den Streik, der weltweit große Beachtung und Unterstützung fand.

In der Pelle-Erzählung tritt der Held erst einmal in die Gewerkschaft ein. Das wird fast beschrieben als handle es sich um eine Taufe. Am Tag nach seinem Gewerkschaftseintritt nimmt Pelle in Kopenhagen an einer sozialistischen Veranstaltung teil. "Er hatte das Gefühl, als würde das Tor aufgetan und etwas, das eng und gedrückt in ihm gelegen hatte, ans Licht gehoben." Zwar ist der Schriftsteller AndersenNexø schon frühzeitig aus der Kirche ausgetreten, aber das hinderte ihn nicht, immer wieder biblische und religiöse Vergleiche im positiven Sinne zu ziehen. Christus habe im Laufe der Jahrhunderte in den Unterdrückten als ein Flüstern von den Menschenrechten gelebt. Das erklärt sich auch dadurch, dass es damals starke religiösen Predigt-Bewegungen in Dänemark und anderswo gegeben hat.

"Als die Maschinenfabrik "Danmark", in der Pelle zum technischen Zeichner aufgerückt ist, bestreikt wird und die Büroarbeiter als Streikbrecher einzuspringen sollen, weigert sich Pelle. Es gelingt ihm, sich in die Maschinenhalle einzuschmuggeln und vor den Arbeitern nun auch selbst eine flammende Rede zu halten. "Pelle wusste selber nicht, welche Worte er ausrief, er fühlte nur, dass etwas durch ihn sprach - das Mächtigste, das niemals log. Er findet einen neuen Glauben an seine eigene Kraft." Die Aktion endet mit einem Hoch auf Pelle und einem Demonstrationszug durch die Stadt. Diesen öffentlichen Siegeszug hat es wirklich gegeben. Das reale Ergebnis des Streikes fiel allerdings sehr etwas anders aus. Mit dem "Septemberkompromiss" erkannten sich Gewerkschaftsbund und Unternehmerverband gegenseitig zwar als Vertragspartner an. Der geforderte Neun-Stunden-Tag blieb aber auf der Strecke. Fortan radikalisierten sich Teile der Gewerkschaft als "Syndikalisten". Es entstand Streit zwischen ihnen und den "Sozialdemokraten" und es gab Verfolgung durch den dänischen Staat. Als Ausdruck dieser Entwicklung kommt Pelle am Ende dieses Abschnittes schuldlos ins Gefängnis. Man will sich des gefährlichen Arbeiterführers entledigen.

Viertes Buch: In diesem letzten Teil wird Pelle ein Vorkämpfer der Genossenschaftsbewegung und beschäftigt sich mit der Darwinschen Lehre vom "Kampf ums Dasein". Er erkennt darin das Modell des kapitalistischen Systems. Nur das Proletariat kann für ihn zum Träger der neuen Gesellschaft werden. Andersen-Nexø greift in seinem Roman von nun an - wie schon im dritten Band angedeutet - bewusst die Fragen auf, die zu dieser Zeit in Dänemark in der Arbeiterschaft, ihren publizistischen Organen und in der Öffentlichkeit heiß diskutiert werden. Es sind Auseinandersetzung über Themen der gewerkschaftlichen, sozialdemokratischen, sozialistischen, anarchistischen und kommunistischen Bewegung, denen er selber im Laufe seines Lebens auch wechselnd zustimmt, ihnen angehört oder sie kritisiert. Das Buch endet mit dem Entschluss von Pelles nachdenklichem Freund Morten, über ihn ein Buch zu schreiben. "Lieber Pelle, der Verkehr mit dir ist wie eine Verheißung für mich gewesen ­... und ich fühle mich durch dich wie im Bunde mit der Zukunft. Ich wünsche von ganzem Herzen, ich wäre ein erwachender Proletarier und stünde in der Morgendämmerung."

Edda Lechner


Martin Andersen Andersen-Nexø "Pelle, der Eroberer"; Aus dem Dänischen von Mathilde Mann; 1309 Seiten, erschienen 2004 bei: Aufbau Taschenbuch Verlag; 20,00 Euro

Quellen: Aldo Keel: Der trotzige Däne - Martin Andersen Nexø, eine Biographie, Berlin 2004. • Andrea Komlosy / Hans-Heinrich Nolte / Imbi Sooman (Hg.): Ostsee 700 - 2000, Wien 2008 • Hansjörg Küster: Die Ostsee, München 2002

Verfilmungen: 1985 Pelle der Eroberer (TV), DDR - Regie: Christian Steinke.
1987 Pelle, der Eroberer (Pelle eroberern), Dänemark/Schweden - Regie: Bille August


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

13. August 1939 in Lidingö bei Stockholm in Schweden: Helene Weigel, Bertold Brecht, Hans Tombrock, Martin Andersen-Nexø und Margarete Steffin. Nachdem ihre Bücher in Deutschland verboten waren und die Nazis Dänemark besetzt hatten, musste Andersen Nexø ebenso wie Brecht nach Schweden und später in die Sowjetunion fliehen. Andersen-Nexø unterhielt sein Leben lang mit proletarischen Schriftstellern, Künstlern und Verlegern wie Erich Mühsam, Georg Grosz und Georg Merseburger Kontakt. Er veröffentlichte seine journalistischen Arbeiten und Werke in namhaften linken Zeitungen und Verlagen, besonders in Dänemark und Deutschland. Stets mischte er sich aktiv in internationale politische Fragen ein, besuchte zahlreiche, nach 1945 vor allem auch sozialistische Länder und war Initiator, Mitglied oder Leiter in vielen literarischen, antifaschistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Institutionen und Parteien (z.B. 1936 Mitglied des Zentralkomitees der KP Dänemarks). Ein besonders freundschaftlicher Kontakt verband ihn mit der DDR und ihrer Partei, sie brachte ihm viele Ehrungen ein, wiederholt lebte er dort und 1954 verstarb er in Dresden.

Raute

Neuerscheinung bei Rosa-Luxemburg-Stiftung

Befindlichkeiten der deutschen Linken

Von Marcus Hawel und Moritz Blanke (Hrsg.)
Reihe Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Band 66
190 Seiten, Broschur ISBN 978-3-320-02224-2

Inhalt
Einleitung der Herausgeber

Historische Hintergründe
Salvador Oberhaus: Zur Frühgeschichte des Palästinakonflikts bis zur Gründung des Staates Israel. Ein ereignishistorischer Problemaufriss
Martin Fochler: Funktion und Tradition der Palästinasolidarität in der alten BRD
Asaf Angermann: Parallele Präfixe: die Zionismus-Debatte in Israel zwischen Ideologiekritik und politischer Theologie

Befindlichkeiten im Blick
Uri Avnery: Antisemitismus: ein praktischer Leitfaden
Moshe Zuckermann: Zwischen Israelkritik und Antisemitismus. Versuch einer jüdischen Positionsbestimmung
Peter Ullrich: Der Nahostkonflikt - Spielfeld für einen neuen Antisemitismus von links? Ein internationaler Diskursvergleich
Katja Kipping: Für einen linken Zugang zum Nahostkonflikt jenseits von Antizionismus und antideutschen Zuspitzungen
Isabel Erdem: Antideutsche Linke oder antilinke Deutsche?
Winfried Rust: Dem Reinheitswahn verfallen. Westliche Sicherheitsdiskurse und Islamismus ergänzen sich
Moshe Zuckermann: Aspekte des Philosemitismus
Marcus Hawel: Befindlichkeiten im Blick. Versuch, uns und anderen Israel von "außen" zu erklären
Wolfram Adolphi: Ohne UN-Charta? Anmerkungen zu Marcus Hawels "Befindlichkeit im Blick"
Johannes Kakoures: Warum die Linke das Prinzip der territorialen Integrität verteidigen sollte.

Zivilgesellschaftliche Ausblicke und Impulse
Angelika Timm: Zivilgesellschaft als Lackmustest israelischer Demokratie
Peter Schäfer: Zivilgesellschafter aus Gaza fordern den internationalen Dialog mit der Hamas
Einat Podjarny, Fadi Shbita: The Politics of Separation versus Bi-National Approach. A non-zionist activists perspective on today's politics
Menachem Klein: Let's face the facts on the Ground. Das Zeitfenster für eine Zwei-Staaten-Lösung schließt sich

Aus dem Klappentext
Das Schicksal des Nahen Ostens ist untrennbar mit der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere mit der deutschen Geschichte, verwoben. Das macht den Zugang gerade aus deutscher Perspektive nicht einfach. Viele Fallstricke, in denen sich nicht wenige Beobachter verfangen, sind das Ergebnis eingleisiger Argumentationen, die notwendig zu einseitigen Sichten auf diesen Komplex an Konflikten führen.

Die eindimensionalen Argumentationen im deutschen Nahostdiskurs verraten nicht selten, dass es mehr um "deutsche Befindlichkeiten" als um die wirklichen Probleme vor Ort geht. Gerade ein solches Herangehen ist jedoch geeignet, eine Lösung des Nahostkonflikts zu erschweren.

In der linken Öffentlichkeit in Deutschland führen diese Befindlichkeitsdiskurse gar zu unsinnstiftender Verwirrung, zu heillosem Konflikt, sogar zu offener Feindschaft - etwa zwischen traditionellen Antiimperialisten und sogenannten Antideutschen, die sich wechselseitig Antisemitismus, Philosemitismus oder Rassismus vorwerfen.

Sachlichkeit tut not. In diesem Buch wird die Frage diskutiert, wie Linke in Deutschland einen sinnvollen Zugang zur Reflexion des Nahostkonflikt finden können.

Raute

Die nächste Ausgabe der Politischen Berichte erscheint am 9. September.

Redaktionsschluss: Freitag, 3. September.

Artikelvorschläge und Absprachen über pb@gnn-verlage.de. Tel: 0711/3040595, freitags von 7-12 h.

Die nächsten Erscheinungstermine: jeweils donnerstags: 7. Okt., 4. Nov., 2. Dez., 12. Januar 2011


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Politische Berichte

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linke Kritik und Kommunikation,
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Herausgeber: Barbara Burkhardt, Christoph Cornides,
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Aktuelles aus Politik und Wirtschaft;
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Die Mitteilungen der "Bundesarbeitsgemeinschaft der Partei
Die Linke Konkrete Demokratie - Soziale Befreiung" werden
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Gegründet 1980 als Zeitschrift des Bundes Westdeutscher Kommunisten unter der Widmung
"Proletarier aller Länder vereinigt Euch! Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt Euch".
Fortgeführt vom Verein für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation.


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Quelle:
Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik
Ausgabe Nr. 8, 29. Juli 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2010