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ROTFUCHS/153: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 199 - August 2014


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

17. Jahrgang, Nr. 199, August 2014




Inhalt

  • Was Jürgen Todenhöfer Herrn Gauck empfahl
  • Moskaus Chefdiplomat spricht Klartext
  • Renaissance einer Weltmacht
  • Kubanisch-russische Beziehungen - Alte Liebe rostet nicht
  • Die Lektionen des Dr. Wolfgang Abendroth
  • Aus der Erlebniswelt eines Weimarer Taxifahrers
  • Rechtsstaat oder Staat der Rechten?
  • Mindestlöhne: Ein klassischer Schweizer Käse
  • "Werd doch Agitprop-Sekretär ...!"
  • Rosa Luxemburg zur Mehrwerttheorie
  • Was Freiheit eigentlich meint
  • Nazis in den neuen Medien - Den Rattenfängern Paroli bieten!
  • Ein Hallenser Student hat das Wort
  • Nützen die "Tafeln" nur Hilfsbedürftigen?
  • Zur Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs
    Den Haag ist nicht Nürnberg!
  • Irrtümer des Barons de Coubertin
  • Klaus Köste posthum in der Hall of Fame
    DDR-Preispolitik: Schwarzbrote für Rindermägen
  • Wohnvergnügen im "Szeneviertel"
  • Rückkehr in mein verlorenes Land
  • RF-Extra - Weinroter Prenzlauer Berg?
  • RF-Extra - Bülowplatz-Prozeß zielte auf Thälmann
  • Ein ukrainischer "Held der Sowjetunion"
  • Westliche Stimmen zu Kiew: NATO-inspirierter Putsch
  • 60 Jahre nach der Schlacht von Diên Biên Phu
  • Chile: Michelle Bachelets zweite Amtszeit
  • Kuba - Brasilien: Raúls Antwort auf Dilmas Appell
  • Fußtritte von Erdogans rechter Hand
  • Portugal: CDU eroberte drittes EU-Mandat
  • "Zement" - ein bis heute sehenswerter "Abenteuerfilm"
    über die junge Sowjetunion
  • Bekennermut eines aufrechten Theologen: Heinrich Fink
  • Merkels honorige Botschafterin beim Vatikan
  • Christa Kozik: Die Kinder zuerst ...
  • Mein Vater war der Schriftsteller Curt Letsche
  • Ein Buchenwalder: Der Literat Karl Schnog
  • Zu Ernst Tollers "Eine Jugend in Deutschland"
  • Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
  • Leserbriefe

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Der Bär und die Taube

Mein jahrzehntelanger journalistischer und politischer Einsatz an Brennpunkten des internationalen Geschehens brachte es mit sich, daß ich dort auch sowjetischen Kollegen, überwiegend Russen, begegnet bin. Ob in Japan, Lateinamerika, den USA, Westeuropa oder in ihrem Heimatland - ich habe sie immer als Menschen erlebt, die ohne Zweifel nationale Interessen wahrzunehmen wußten, sich aber vor allem als Vertreter einer friedenstiftenden Großmacht empfanden. Schon früher unterhielt ich als ehrenamtlicher Kreisvorsitzender der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft in Güstrow viele Kontakte mit Bürgern der UdSSR. So erinnere ich mich an ein langes nächtliches Gespräch mit Irma-Gabel Thälmann und jenem sowjetischen Arzt, der sie und ihre Mutter Rosa im Mai 1945 nach der Befreiung beider Frauen aus dem KZ Ravensbrück medizinisch versorgt hatte. Er wirkte auf mich wie die Friedensliebe in Person.

Die meisten DDR-Bürger hatten das sichere Gefühl, daß die Sowjetunion einen neuen Weltbrand zu verhindern gewillt und imstande sei. Denn der russische Bär und Picassos Taube waren miteinander im Bunde. Die Geschichte hat dieser Vision recht gegeben: Zwischen 1945 und 1991 war es die UdSSR, die den Völkern Europas ein abermaliges Blutvergießen ersparte. Während die USA in Asien - zunächst in Korea und dann in Vietnam - die blutigsten Aggressionskriege der Gegenwart vom Zaun brachen, verhinderten das konsequent eingesetzte sowjetische Veto im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und Moskaus Besonnenheit, daß es zu einem dritten Weltkrieg kam. Damit gelang es den Russen, wie die von ihnen angeführte Vielvölkerfamilie der Sowjetunion oft vereinfachend genannt wurde, den Untergang der Zivilisation abzuwenden.

Mit dem Zusammenbruch der UdSSR und der Staaten des Warschauer Vertrages verlor die Menschheit ihre entscheidende Bastion im weltweiten Widerstand gegen die Kriegsgefahr.

Dabei war die sowjetische Außenpolitik sicher nicht zu allen Zeiten ohne Defizite. Das betrifft zum Beispiel Chruschtschows einseitige Interpretation der friedlichen Koexistenz. Er betrachtete sie wohl weniger als eine Form des Klassenkampfes und eher als Anpassung an den weltpolitischen Status quo.

Andererseits sollte das auf ihren Bündnisverpflichtungen beruhende sowjetische Eingreifen bei Krisensituationen in sozialistischen Staaten Europas nicht, wie vom imperialistischen Gegner behauptet, als Akt der Intervention aufgefaßt werden. Die Soldaten der UdSSR verhinderten damit das Vordringen von Kräften, die dem NATO-Kriegspakt und seiner damals alleinigen Führungsmacht USA die Tore öffnen wollten. Das betrifft nicht zuletzt die Zurückweisung der konterrevolutionären Machteroberungsgelüste jener imperialistischen Kreise des Westens, welche in der DDR und in Ungarn schon 1953 und 1956 die Uhren der Geschichte zurückdrehen wollten. Es gilt auch für die von der legitimen Kabuler Volksregierung ausdrücklich erbetene sowjetische Hilfe gegen CIA-gestützte Söldnerbanden in Afghanistan. Dieser Einsatz brachte der Sowjetunion indes keinen Siegeslorbeer ein und beschleunigte eher den innenpolitischen Erosionsprozeß im eigenen Land.

Noch einmal kehre ich zu selbst Erlebtem zurück. Reisen führten mich wiederholt in die leidgeprüfte Stadt an der Wolga, das frühere Stalingrad, wo 1943 eine gigantische Schlacht ihr Ende fand, die als Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs in die Geschichte eingegangen ist. Es handelt sich dabei um eine unumstößliche Tatsache, auch wenn Obama und seinesgleichen der kühnen und opferreichen, von Washington allerdings bewußt hinausgezögerten Landung westalliierter Truppen in der Normandie jetzt diesen Stellenwert geben möchten. Überaus herzliche Kontakte zu Einwohnern Wolgograds vor Augen, muß ich an Jewgeni Jewtuschenkos bewegendes Friedensepos "Meinst Du, die Russen wollen Krieg?" denken. Seine Worte habe ich zutiefst verinnerlicht. Es stimmt: Die Russen und jene Nationalitäten, welche mit ihnen unter einem gemeinsamen staatlichen Dach leben, wollen nur eines: den Frieden. Darin sind sie sich mit allen Völkern, nicht aber mit allen Staaten und deren Regierungen einig.

In der Person Wladimir Putins steht offensichtlich der richtige Mann an der Spitze der Russischen Föderation. Der einstige Tschekist und Bolschewik mag heute ganz andere Vorstellungen als früher haben, doch die Verteidigung des Friedens steht für ihn weiterhin an erster Stelle. Nach dem prinzipienlosen Überlaufen Gorbatschows in das Lager der Millionäre und dem Abdanken des Schurken Jelzin hat er die traditionelle russische Friedenspolitik wieder aufgenommen. Diese Haltung brachte dem zunächst nur durch eine Minderheit bejahten Staatschef inzwischen die Sympathie von vier Fünfteln der Bevölkerung seines Landes ein.

Putin und Außenminister Lawrow haben mehr als einmal ihre staatsmännische Besonnenheit unter Beweis gestellt. Als führende Politiker des territorial größten Landes der Welt, das eine auf Kriegsverhinderung zielende Außenpolitik verfolgt, hätten sich beide damit den Friedensnobelpreis verdient. Doch dieser wird ja bekanntlich seit Jahrzehnten überwiegend an ganz andere Leute vergeben. Der damit dekorierte USA-Präsident Barack Obama und dessen NATO-Partner lassen nichts unversucht, um den russischen Staatschef von seiner scheinbar stoischen Haltung abzubringen. Es ist ihnen aber nicht gelungen, Wladimir Putin aufs Glatteis zu führen. Die Souveränität, mit der er die Absichten jener durchkreuzte, welche ihn in die ukrainische Falle locken und Moskau zum Einmarsch ins Donezk-Becken bewegen wollten, ist bewundernswert.

Tatsächlich steht die russische Führung vor einem Dilemma, wie es Reinhard Lauterbach, der sachkundige Berichterstatter der "jungen Welt", formulierte. Welche Höllenqualen müssen die Moskauer Politiker bei aller Kühle der Köpfe wohl angesichts der Tatsache ertragen haben, daß sie Rußland aufrichtig verbundene ethnische Landsleute in der Ostukraine nicht wirksamer vor den Kiewer Rechtsextremisten zu schützen vermögen!

Doch Putin hat selbst unter dem Druck solcher Belastungen Nervenstärke bewiesen. Die Zurückhaltung, zu der er sich zwingt, beruht ohne Zweifel auf der Erkenntnis, daß es die NATO von Beginn an darauf angelegt hat, die Russen zum direkten Eingreifen auf seiten der "Separatisten" zu provozieren. Gingen sie in diese Falle, dann könnte das tatsächlich einen großen Krieg auslösen.

Einst galt die Sowjetunion als Hort des Friedens in der Welt. Heute hat die Russische Föderation diesen Platz wieder eingenommen. Wie man sieht, sind der Bär und die Taube Verbündete geblieben.

Klaus Steiniger

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Was Jürgen Todenhöfer Herrn Gauck empfahl

Der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer schrieb an Bundespräsident Joachim Gauck:

Sie fordern, daß Deutschland mehr Verantwortung in der Welt übernimmt. Auch militärisch. Wissen Sie wirklich, wovon Sie reden? Ich bezweifle es und habe daher vier Vorschläge:

  • Ein Besuch im syrischen Aleppo oder in Homs. Damit Sie einmal persönlich erleben, was Krieg bedeutet.
  • Vier Wochen Patrouillenfahrt mit unseren Soldaten in afghanischen Kampfgebieten. Sie dürfen auch Ihre Kinder oder Enkel schicken.
  • Besuch eines Krankenhauses in Pakistan, Somalia oder im Jemen - bei unschuldigen Opfern amerikanischer Drohnenangriffe.
  • Besuch des deutschen Soldatenfriedhofes El Alamein in Ägypten. Dort liegen seit 70 Jahren 4800 deutsche Soldaten begraben. Manche waren erst 17. Kein Bundespräsident hat sie je besucht.

Nach unserem Grundgesetz haben Sie "dem Frieden zu dienen". Angriffskriege sind nach Artikel 26 verfassungswidrig und strafbar. Krieg ist grundsätzlich nur zur Verteidigung zulässig.

Sagen Sie jetzt nicht, unsere Sicherheit werde auch in Afrika verteidigt. So etwas Ähnliches hatten wir schon mal. 100.000 Afghanen haben diesen Unsinn mit dem Leben bezahlt. Wie kommt es, daß ausgerechnet Sie als Bundespräsident nach all den Kriegstragödien unseres Landes schon wieder deutsche Militäreinsätze fordern?

Es stimmt, wir müssen mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Aber doch nicht für Kriege, sondern für den Frieden! Als ehrlicher Makler. Das sollte unsere Rolle sein. Und auch Ihre.

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Moskaus Chefdiplomat spricht Klartext
[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Rußland kann den USA wieder auf Augenhöhe begegnen

Renaissance einer Weltmacht

Seit dem offenen Ausbruch der Ukraine-Krise plagen sich Analytiker, Polemiker, Globalpolitiker, Militärstrategen, Kommentatoren und Kaffeesatzleser - und zwar nicht nur im Paktbereich der NATO - permanent mit der Frage: Was hat Putin militärpolitisch mit Rußland vor? Putin, der Autokrat, Putin, der Erbe Jelzinscher Oligarchenwirtschaft, Putin, der gelernte Geheimdienstagent, Putin, der Scherbensammler einer abgestürzten Großmacht.

Putin, Putin, Putin und kein anderer? Die Denkfehler beginnen schon dort, wo der Brechtsche Lesende Arbeiter die Frage gestellt hätte: Hatte er nicht wenigstens einen Außenminister und einen Verteidigungsminister bei sich? Putin steht, seit er an der Macht ist und die Interessen der neuen russischen Eliten durchsetzt, im Zwielicht. Vielleicht wird man ihm später einmal dies Urteil zuschreiben: "Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte." (Schiller, Wallenstein) Was seinen Handlungswillen betrifft, schwankt er nicht. Er hat den Zusammenbruch der Sowjetunion schon vor mehr als zehn Jahren als "größte geostrategische Katastrophe" des 20. Jahrhunderts bewertet. Er steht, so liest es sich in einem hervorragend recherchierten Buch der Autoren Ralf Rudolph und Uwe Markus, für den Versuch der "Renaissance einer Weltmacht". Anders gesagt: Er stellt dem US-Präsidenten Barack Obama und dessen demütigender Einstufung Rußlands als "Regionalmacht" den entschlossenen Willen der neuen politischen und militärischen Elite seines Landes entgegen, der Weltmacht USA bei Konflikten um Einflußsphären und Machtbereiche wieder auf Augenhöhe zu begegnen. Zumindest im eigenen geographischen Umfeld.

Der Untertitel des Buches verweist auf das Instrumentarium: "Rußlands Militärreform und exterritoriale Militärstützpunkte". Die Autoren sind ausgewiesene Kenner der Materie. Ralf Rudolph hatte am Moskauer Institut für Luft- und Raumfahrt studiert und war zuletzt als Abrüstungsexperte im Verteidigungsministerium der DDR tätig. Uwe Markus, promovierter Soziologe, schrieb gemeinsam mit ihm die Bücher "Waffenschmiede DDR" (über die "Spezielle Produktion") und "Schlachtfeld Deutschland" (über die jahrzehntelange Konfrontation von NATO und Warschauer Pakt in Mitteleuropa) sowie den Titel "Die verratene Armee" (über die Abwicklung der NVA).

Die These beider in dem neuen Buch lautet: "Nach Jahren der außenpolitischen Marginalisierung und der inneren Instabilität meldet sich Rußland als machtbewußter Akteur auf der globalen politischen Bühne zurück. In Reaktion auf die Ostausdehnung der NATO und den massiven Einsatz militärischer Mittel durch die USA setzt das Land wieder auf eine Politik der Stärke und Abschreckung. Die Moskauer Führungselite betreibt forciert eine Konsolidierung der Machtbasis des Staates, um die Einflußmöglichen und geopolitischen Handlungsoptionen der NATO begrenzen zu können. Kern dieser Bemühungen sind eine ambitionierte Militärreform, die Modernisierung der Rüstungsindustrie, die Profilierung als potente Schutz- und Ordnungsmacht im GUS-Raum und die Schaffung neuer wirtschaftspolitischer und militärpolitischer Allianzen."

Noch besteht Nachholbedarf. Der hatte in den 90er Jahren ein solches Ausmaß angenommen, daß man in Washington und Brüssel zeitweise kaum noch mit einem militärischen Machtfaktor Rußland glaubte rechnen zu müssen. Militärtechnisch fiel das Land, Expertenurteilen zufolge, zeitweise um bis zu 15 Jahre hinter die USA zurück. Viele Logistikeinrichtungen und Kampftechnik in beträchtlichen Größenordnungen waren im Besitz anderer GUS-Staaten verblieben. Selbst nach der Ablösung des korrupten Jelzin-Clans flossen die finanziellen Mittel für eine Modernisierung nur spärlich. Jedoch das Agieren des Westens im zerfallenden Jugoslawien, der zweite Irakkrieg und das schrittweise Vordringen der NATO an die Grenzen Rußlands bewirkten ein erstes Umdenken. Es dauerte noch bis zum Wiedereintritt Putins ins Präsidentenamt im Jahr 2012, ehe die politische Führung entschlossener daranging, neue verteidigungspolitische Fakten zu schaffen und Kurs auf eine Renaissance früherer militärischer Schlagkraft zu nehmen. Das betrifft nicht nur die Pflege der verbliebenen Militärbeziehungen und Militärstützpunkte - von Kirgisien über Armenien, Syrien, Transnistrien und Belarus bis zum im jetzt unabhängigen Kasachstan gepachteten Stützpunkt Baikonur - Rußlands Tor zum Weltraum.

Die Willensbildung durchzieht inzwischen den gesamten militärisch-industriellen Komplex - Personalwechsel im Verteidigungsministerium inbegriffen.

Waffentechnisch befindet sich die russische Armee in einem Umrüstungsprozeß, den die Staatskasse bis zum Jahr 2020 mit umgerechnet 471 Milliarden Euro finanzieren soll. Auf dem Rüstungsprogramm stehen neue Präzisionswaffen, Tarnkappenbomber, superleichte Abfangjäger, Marine-Hubschrauberträger, Drohnen und vieles andere, eingeschlossen die Modernisierung des Atomwaffenarsenals. Ein neues System der Luft- und Raumverteidigung und die Fähigkeit zum Gegenschlag degradiere "mittlerweile den geplanten US-Raketenabwehrschild in Europa zu einer Fehlinvestition", schreiben Rudolph und Markus. Auch neue militärische Kooperationen rückten ins Blickfeld, so mit China und einigen zentralasiatischen Republiken. Die Frage, ob sich durch die russische Militärreform das Risiko neuer internationaler militärischer Konfrontationen erhöht, wird von ihnen verneint: Rußland sei "wieder eine ernstzunehmende Macht auf der internationalen Bühne. Daraus ein neues Bedrohungsszenario abzuleiten, wäre sicherlich falsch. Der Westen muß akzeptieren, daß Rußland nach einer Phase der Schwäche jetzt wieder in der ersten Liga weltpolitisch mitspielt und seine Interessen durchzusetzen versucht. Auf jeden Fall ist diese interessengeleitete Politik rational und damit berechenbar. Darin liegen auch für den Westen Chancen."

Im Mai wurde die Gründung einer Eurasischen Union Rußlands mit Belarus und Kasachstan, für die es bereits weitere Anwärter gibt, gemeldet.

Peter Jacobs, Berlin


Ralf Rudolph/Uwe Markus: Renaissance einer Weltmacht. Rußlands Militärreform und exterritoriale Militärstützpunkte.
Phalanx, Berlin 2013, 338 Seiten, 19,20 €

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Zur Entwicklung der kubanisch-russischen Beziehungen

Alte Liebe rostet nicht

In Anwesenheit von Präsident Wladimir Putin wurde am 24. Mai auf dem Wirtschaftsgipfel in St. Petersburg ein neues Abkommen über die Zusammenarbeit mit Kuba im Ölsektor abgeschlossen. Der umfangreiche Vertrag kam wenige Wochen nach dem Besuch des russischen Außenministers Sergej Lawrow in Havanna zustande und könnte für die weitere Entwicklung der kubanischen Wirtschaft von strategischer Bedeutung sein. Die Beziehungen zwischen Rußland und Kuba befinden sich derzeit auf ihrem höchsten Niveau seit sowjetischen Zeiten. Doch wie hat sich das kubanische Verhältnis zum größten Land der Erde bis heute entwickelt?

Die UdSSR trug in den 80er Jahren etwa ein Drittel des kubanischen Bruttoinlandsprodukts - schließlich war die Insel ein wichtiger Vorposten des Sozialismus direkt vor amerikanischen Ufern und ein zuverlässiger Lieferant von Rohrzucker. Durch subventioniertes Rohöl, den Aufbau neuer Fabriken samt Ausrüstungen sowie zahlreiche gemeinsame Projekte im Rahmen des RGW profitierte Kuba enorm vom sowjetischen Technologietransfer. Den Preis für diese "Entwicklungshilfe" bezifferte man mit 32 Milliarden US-Dollar - eine Summe, die von Rußland fortan als Schulden Kubas betrachtet wurden.

Mit der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1992 verlor der karibische Inselstaat seinen wichtigsten Außenhandelspartner, was zur "Sonderperiode in Friedenszeiten" mit ihren bekannten Folgen führte: Mangel an Treibstoff und Devisen, Niedergang von Industrie und Landwirtschaft. In der ersten Hälfte der 90er Jahre waren beide Länder vor allem mit sich selbst beschäftigt, der Austausch beschränkte sich meist auf die Lieferung von Ersatzteilen. Ein Grund dafür war die kubanische Weigerung, die Schulden aus RGW-Zeiten zu begleichen.

Der Konflikt belastete das russisch-kubanische Verhältnis auch noch, als sich die Beziehungen nach Putins Amtsantritt allmählich zu verbessern begannen. Im Jahr 2000 besuchte der russische Präsident Fidel Castro. In Havanna forderte er die USA auf, das Wirtschaftsembargo gegen Kuba zu beenden. 2008 war Rußlands seinerzeitiger Präsident Medwedjew in Kuba zu Gast. Dabei wurde das erste größere Wirtschaftsabkommen mit der Russischen Föderation unterzeichnet. Es hatte vor allem die Erkundung kubanischer Rohölvorkommen in Küstennähe zum Ziel. Auch auf anderen Gebieten erneuerte man die Zusammenarbeit. Die Gegenvisite Raúl Castros erfolgte 2009.

"Ihr Besuch eröffnet eine neue Seite in der Geschichte der russisch-kubanischen Beziehungen", sagte damals Medwedjew. Tatsächlich kann seitdem eine fortwährende Verbesserung des Verhältnisses zwischen beiden Ländern festgestellt werden. Der jährliche Handelsumsatz mit der Sowjetunion erreichte noch 1989 einen Wert von 8,8 Milliarden US-Dollar und ging bis 1993 um 94 Prozent zurück. Einen Tiefpunkt bildete das Jahr 2005 mit nur noch 190 Mio. Dollar. Unter Raúl Castro erholte sich der Handel mit Rußland, 2012 wurden Güter im Wert von 341 Milliarden US-Dollar ausgetauscht. Dennoch macht das Geschäft mit dem Riesenland vorerst nur 1,8 % des kubanischen Handelsvolumens aus.

In den letzten Jahren hat sich neben den Wirtschaftsbeziehungen auch die politische Kooperation verbessert. Nach den schweren Zerstörungen durch Hurrikan "Sandy" im Oktober 2012 leistete Rußland Katastrophenhilfe, und auch der Staatssender "Russia Today" unterstützt seit einigen Jahren die kubanischen Medien. Schließlich hat sich die Anzahl der russischen Touristen, welche die Insel besuchten, seit 2009 mehr als verdoppelt. Mit 87.000 Gästen lag Rußland 2012 noch vor Spanien.

Die wichtigste neuere Entwicklung im russisch-kubanischen Verhältnis war das Abkommen über die Abschreibung der kubanischen Altschulden, mit dem das schwerwiegendste diplomatische Problem beider Länder aus der Welt geschafft werden konnte. Bereits 2012 gab es erste Anzeichen für einen derartigen Schritt, doch erst im Mai 2014 wurde der Vertrag während Lawrows Besuch unterschrieben. Die Übereinkunft sieht den Erlaß von 90 % der kubanischen Schulden bei Rußland vor, die übrigen 3,2 Milliarden US-Dollar sollen in den nächsten 10 Jahren in gemeinsame Projekte investiert werden. Bei seiner jüngsten Kuba-Visite Mitte Juli hat Putin diesen wichtigen Schritt noch einmal bekräftigt. Beide Länder haben auch die militärische Kooperation vor einigen Jahren wieder aufgenommen. Die kubanische Armee arbeitet überwiegend mit sowjetischem Gerät und benötigt dringend Ersatzteile. Hierfür wurde 2013 ein Abkommen geschlossen, das auch die Weiterbildung kubanischer Militärs durch russisches Personal vorsieht.

"Die Weltsituation verändert sich derzeit sehr schnell, deshalb müssen wir darauf entsprechend reagieren können", sagte Nikolai Patruschew, Chef des russischen Geheimdienstes FSB, am Rande der aktuellen Gespräche mit Alejandro Castro in Moskau. Der Sohn des Präsidenten, Oberst im Innenministerium, war auf kubanischer Seite Verhandlungsführer. Er erklärte, es gehe um effektivere Absprachen zur Erhöhung der Sicherheit beider Länder.

Ein spannender Aspekt ist auch das gestiegene Interesse der russischen International Investment Bank (IIB) an Kuba. Sie dient der Finanzierung größerer und mittlerer zwischenstaatlicher Projekte und wurde 1970 im Rahmen des RGW gegründet. Den jüngsten Höhepunkt in den Wirtschaftsbeziehungen bildet das eingangs erwähnte Abkommen des kubanischen Ölkonzerns CUPET, einer Tochterorganisation des Handelsunternehmens CIMEX, mit dem russischen Ölgiganten Rosneft. Der Vertrag soll vor allem Ölförderung und Petrochemie Kubas unterstützen.

Im nächsten Schritt will Rosneft eine Logistikbasis in der Sonderwirtschaftszone Mariel errichten. Sie könnte zu einer Ausgangsbasis für künftige Offshore-Bohrungen oder Raffinerieanlagen werden. Damit hat das Land, wohl auch mit Blick auf die instabile Situation in Venezuela, den Grundstein für eine intensive und langfristige Kooperation mit Rußland gelegt. Gerade im Energiesektor dürfte Kuba daran interessiert sein, bestehende Abhängigkeiten zu reduzieren.

Rußlands neu erwachtes Interesse an einer Zusammenarbeit mit Kuba kommt keineswegs überraschend. Seit 2008 kann eine langsame Wiederherstellung zielgerichteter und freundschaftlicher Beziehungen zwischen beiden Ländern beobachtet werden. Die neue Investitionsgesetzgebung in Kuba sowie die Ereignisse in der Ukraine dürften zur Beschleunigung dieses Prozesses beigetragen haben.

Rußland möchte die sozialistische Insel offensichtlich nicht aus den Augen verlieren. Kuba bietet mehr als nur seine neuen Investitionsbedingungen: die ausgedehnte Verwendung russischer Maschinen und Industriestandards, die strategisch günstige Lage der Insel, die hochgradige Verbreitung russischer Sprachkenntnisse sowie die traditionell freundschaftlichen Beziehungen beider Länder sind ein wichtiger Anreiz, in den kommenden Jahren noch engere Bande zu knüpfen.

In Anbetracht der vor allem von den USA forcierten internationalen Isolierung Rußlands orientiert sich Moskau wieder stärker auf alte Verbündete. "Alte Liebe rostet nicht", heißt es. So birgt die Wiederannährung das Potential für eine längerfristige Beziehung.

Marcel Kunzmann

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Über deutsche Antifaschisten in britischen Kriegsgefangenenlagern

Die Lektionen des Dr. Wolfgang Abendroth

Nur noch selten verharren unsere Erinnerungen in jenen Tagen, als sich das Ende des Zweiten Weltkrieges und der Nazi-Herrschaft bereits abzeichnete. Die Sowjetarmee stand damals an den Grenzen Rumäniens, Polens und des Baltikums, die Anglo-Amerikaner und der innere Widerstand setzten der faschistischen Wehrmacht in Frankreich, Belgien und den Niederlanden zu. Auch in Italien und auf dem Balkan konzentrierten sich starke antifaschistische Kräfte. In dieser Phase wuchs die Zahl der in Kriegsgefangenschaft geratenden Deutschen erheblich. Das veranlaßte die britische Regierung, Maßnahmen zur Überwindung der Nazi-Ideologie in deren Köpfen einzuleiten. Mit der "reeducation" (Umerziehung) deutscher Kriegsgefangener wurde die Politische Abwehr beim Londoner Foreign Office - kurz PEW - beauftragt, die sich dazu eine entsprechende Struktur mit der Kurzbezeichnung PID schuf. Damit folgten die Briten auf ihre Weise dem Beispiel der Sowjetunion, die bereits im Mai 1942 ein System von Antifa-Schulen geschaffen hatte.

Im britischen Mutterland konzentrierte sich das PID-Direktorium auf den Aufbau einer Zentralschule in Wilton-Park bei London - dem Camp 300. Darüber hinaus konnte eine beträchtliche Anzahl deutschsprachiger Wissenschaftler, Lehrer und Publizisten, insbesondere jüdische Emigranten, mobilisiert werden. Völlig anders verhielt es sich in Ägypten, wo die Zahl dorthin überstellter deutscher Kriegsgefangener aus den italienischen und griechischen Kampfgebieten rasant anwuchs und bald 100.000 überschritt. Dem Kairoer PID-Verantwortlichen standen außer einzelnen Angehörigen der britischen Armee so gut wie keine deutschsprachigen Intellektuellen zur Verfügung, so daß der Umerziehungsprozeß anfangs kaum realisierbar schien.

Doch unter den im Herbst 1944 in Griechenland gefangengenommenen deutschen Soldaten befand sich auch eine zunächst noch geringe Zahl aus politischen Gründen Vorbestrafter der Wehrmachtsdivision 999. Dieser Verband aus "Wehrunwürdigen" war Ende 1942 zur Entlastung von Rommels Afrika-Korps gebildet worden. Später wurden dann bis zu 18 Festungs-Infanterie-Bataillone (FIB) in Griechenland eingesetzt. Bei den ersten Verhören dieser Kriegsgefangenen, zu denen auch der vom V. FIB/999 zur griechischen Volksbefreiungsarmee desertierte Dr. Wolfgang Abendroth gehörte, kamen die britischen Intelligence Officers im Camp 304 bei Kairo auf die Idee, sie für das Umerziehungsprogramm zu nutzen. Das war für sie riskant, handelte es sich doch überwiegend um Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten. Doch § 8 der Allgemeinen Lagerordnung besagte ausdrücklich: "Jede politische Agitation ist verboten - insbesondere kommunistische Propaganda!" Da aber keine anderen deutschsprachigen Helfer zur Verfügung standen, entschied man sich dafür, es mit ihnen zu versuchen.

In kurzer Zeit wurden nun in dem zwischen Kairo und Ismailia gelegenen Camp 379 vorwiegend solche Kriegsgefangenen konzentriert, die sich als Deserteure oder in anderer Hinsicht ablehnend gegenüber dem Nazi-Regime bekannt hatten. Auch die schon in Ägypten befindlichen ehemaligen Angehörigen der 999er Division wurden hier eingewiesen. Dr. Abendroth arbeitete gemeinsam mit dem Juristen Herbert Komm vom XIII. FIB/999, der später in Westberlin als Präsident des Landessozialgerichts wirkte, an der Gewinnung antifaschistischer Persönlichkeiten, die in der Lage waren, auch ohne Lehrbücher einen interessanten Unterricht zu gestalten. In der letzten Februarwoche 1945 konnte damit begonnen werden. Dr. Abendroth nahm sich der Fächer Marxismus und Völkerrecht an, Herbert Komm beschäftigte sich mit Kommunalpolitik und Polizeirecht. Hinzu kamen fünf Fremdsprachen, diverse Wissens- und Technik-Seminare sowie Literaturzirkel - insgesamt etwa 90 Fächer, die bald von durchschnittlich 1300 Teilnehmern belegt wurden.

Inhaltlich nahmen zu dieser Zeit die britischen Intelligence Officers kaum Einfluß, so daß die deutschen Nazigegner ihre Freiräume voll nutzen konnten. Der Versuch, einige Wehrmachtsoffiziere aus einem benachbarten Camp als Lehrkräfte einzubeziehen, scheiterte am Widerstand Dr. Abendroths und führte zu heftigen Verstimmungen. Unmittelbar nach dem 8. Mai 1945 änderten die Briten ihr Verhalten. Einschneidend war dabei die Verlegung vieler ehemaliger 999er und weiterer Antifaschisten in andere Lager.

Auch Dr. Abendroth war davon betroffen. Er setzte sich aber auch im Camp 306 am Großen Bittersee sofort für den Aufbau einer Lagerschule ein, was auch hier vom PID-Team unterstützt wurde. Dabei arbeitete er mit dem erfahrenen kommunistischen Journalisten Dr. Wolfgang Joho vom VI. FIB/999 zusammen, der die Lagerzeitung "Wüstenstimme" redigierte und später in der DDR ein erfolgreicher Schriftsteller war. Nach und nach entstanden auch in anderen Lagern ähnliche Schulen, jedoch mit begrenzterer politischer Wirksamkeit.

Überall waren es Antifaschisten aus der Strafdivision 999, die sich an der inhaltlichen Ausgestaltung der Lehrpläne aktiv beteiligen. Sie halfen dadurch, viele ehemalige Hitler-Soldaten auf ein Leben frei von Nazi-Ungeist und Völkerhaß vorzubereiten. In vielen Lagern und Arbeitskompanien waren Gruppen der Freien Deutschen Jugend entstanden. Ende August 1948, unmittelbar vor der Rückführung der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus Ägypten, konnten die FDJ-Gruppenleiter aus drei Arbeitskompanien der Zeitung "Junge Welt" über ihre Aktivitäten berichten. Nicht wenige der damals Beteiligten setzten diese in ihrer Heimat fort. Diesen Antifaschisten sollte unser Respekt gelten, zumal er ihnen in beiden deutschen Staaten aus völlig unterschiedlichen Gründen zumeist versagt blieb.

Dr. Günter Gumpel, Berlin

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Aus der Erlebniswelt eines Taxifahrers

Unser aus dem Westen in den Osten übergesiedelter Autor ist Taxifahrer in Weimar, der Stadt Goethes und Schillers. Schon seit längerem beim "RotFuchs", gewährt er den Lesern unserer Zeitschrift Einblick in seine alltäglichen Begegnungen mit Fahrgästen.

Da am Goetheplatz keine Taxe steht, muß ich vom Theaterplatz aus die "Prekariats"-kneipe "Roma" in der Plattenbausiedlung Weimar-West anfahren. Zwei Gäste dieses Lokals steigen zu und wollen "irgendwo hingebracht werden, wo noch was los ist". Ich informiere sie, daß im C-Keller am Markt etwas läuft, und wir fahren los. Unterwegs lästern die beiden nach Kräften über die "Assis" aus der "Assi-Kneipe", aus der sie gerade kommen.

Dann wenden sie sich Weimars begrenztem Ausgehangebot zu, speziell dem bald endgültig schließenden Lokal "Schütze": "Die müssen sich aber auch mal ihr Publikum angucken - alles nur Ausländer. Wenn ich das schon sehe ..." So geht es endlos weiter.

In letzter Zeit habe ich zu oft die mal latente, mal offene Ausländerfeindlichkeit einheimischer Torfköpfe mitgekriegt - heute abend reicht es erst mal. Irgendwie ist jener Tropfen gefallen, welcher das Faß zum Überlaufen bringt.

Ich fahre rechts ran und sage zu dem nationalbewußten Schwadronierer: "Hast du gerade gesagt, daß da zu viele Ausländer sind und du die nicht abkannst?" "Ja, wieso? Bist du etwa Ausländer oder ...?", erwidert er in einem leicht verwunderten Tonfall, als ob ein Deutscher seine Meinung nur teilen könne. Ich habe keine Lust, ihm Nationalismus und Ausgrenzung zu erklären. So antworte ich kurz: "Ja, Portugiese. Und solchen Scheiß will ich hier nicht noch einmal hören." Er bleibt cool, fragt: "Was kriegst du von uns?" Als er schon draußen ist, giftet er mich noch an: "Leute wie dich würde ich noch nicht mal als Taxifahrer in Deutschland arbeiten und uns die Arbeitsplätze wegnehmen lassen." Ich verabschiede ihn mit: "Ja, klar, tschüß Rassist."

Eine Viertelstunde später stehe ich als erster am Goetheplatz. Und wer kommt da auf mein Taxi zu, öffnet die Beifahrertür? Mein rassistischer Fahrgast von eben. Er stößt ein genervt-überraschtes "Oh je, der schon wieder" aus, und ich mache ihm die Optionen klar: "Du kannst jetzt entweder deine ausländerfeindlichen Sprüche für dich behalten oder du steigst gleich beim nächsten Kollegen ein." Was er dann auch tut.


Eine Abholung aus der Notaufnahme des Klinikums: die 75jährige Frau will nach Bad Sulza. Unterwegs fragt sie, ob ich von meiner Arbeit leben könne. Es entspinnt sich ein Gespräch über die Lebensumstände heute und früher. Sie erzählt von den Wohnungsmieten zu DDR-Zeiten und sagt: "Ich zahl jetzt für eine 1-Raum-Wohnung 380 €! Eigentlich unfaßbar. Das Haus ist von einer Wessi-Firma ans Ilm-Ufer gebaut worden. Da wurde früher nie gebaut, weil das immer überschwemmt wird. Aber die meinten wohl, jetzt, wo der Westen hierhergekommen ist, paßt sich die Ilm an und bleibt in ihrem Flußbett."


Zwei angetrunkene Männer steigen am Goetheplatz ins Taxi. Die Fahrt geht nach Weimar-West, eine der beiden größten Plattenbausiedlungen der Stadt. Kurz vor dem Ziel sagt einer der beiden: "Halt mal ein bißchen vorher, muß ja nicht jeder sehen, daß wir mit der Taxe kommen. Ist schließlich Hartz-IV-Gebiet." Der andere sekundiert: "90 % dürften das von denen sein, die hier wohnen. Und die leben besser als wir."

Zum Glück ist die Fahrt vorbei, denn auf eine Diskussion mit alkoholisierten nationalistischen Proleten, die ihren Haß und Frust über andere Zukurzgekommene auskübeln, habe ich nachts um 1.30 Uhr keine Lust.


Auf mdr Figaro wird gerade eine Podiumsdiskussion zum 150jährigen Bestehen der SPD übertragen. Hartz-IV-Haudegen Franz Müntefering: "Wir haben den Kapitalismus gebändigt, indem wir dafür gesorgt haben, daß die Menschen Versicherungen haben, Tariflohn kriegen und Kaffeepause machen können."

An dieser Stelle schlägt der Ärger über die ganze verlogene Proletenverarsche durch SPD-Führer quantensprungmäßig in überwältigende Heiterkeit um. Ich rutsche vor Lachen fast vom Sitz.


Ein Einsteiger am Theaterplatz zur Bauhaus-Uni: eine elende Kurzstrecke, aber der Fahrgast entpuppt sich als netter Mensch und Quelle neuer Einblicke in ungeahnte Facetten der arbeitsteiligen Gesellschaft. Er erzählt, daß er zu einem Promenadologen-Treffen in Weimar ist. Ich so: "??" Dann: "Und als was oder in welcher Eigenschaft nehmen Sie daran teil?" Er: "Ich bin selbst Promenadologe!"

Ich erfahre noch, daß er sogar Professor ist und das Fach im Saarland unterrichtet, wobei es sich bei der Disziplin der Promenadologie "um die Auswirkung des urbanen Raumes auf Individuen oder Kollektive handelt sowie um die Interaktionen zwischen beiden". Heute hat mein Fahrgast eine Stadtbegehung mit Studenten unternommen und sie auf Wahrnehmungsgewohnheiten und Erwartungshaltungen aufmerksam gemacht. Da überdenke ich schon mal meine eigene Berufswahl ...


Drei oder vier Erzgebirgler, zu Besuch in Weimar, steigen in die Großraumtaxe, begleitet von ihren Weimarer Freunden. Sie sind grimmig entschlossen, auf der "Kirmes" in Berlstedt "Spaß zu haben".

Auf der Fahrt entspinnt sich folgender Dialog zwischen den wüst tätowierten jungen Leuten:

"Wie heißt der eine Fußballer noch mal? Uwe ...?" "Uwe Seeler" "Nee, ich meine den, der die Steuern hinterzogen hat." "Uli Hoeneß" "Ja, genau. Da sagt doch gestern einer zu mir: Das geht ja gar nicht, früher Chef von der DDR und heute Steuerbetrüger!"

Es folgen verständnisloses Schweigen und Gegrunze bei den anderen.

"Na ja, daß der früher Chef von der DDR war und heute als Fußballpräsident Steuern hinterzieht!" Da hab ich ihm gesagt: "Mann, der hieß doch Honecker und nicht Hoeneß ..."


Fahrer St., Dritter am Stellplatz, lädt vier Fahrgäste ein und fährt mit ihnen davon. Diesen Verstoß gegen die ungeschriebenen Taxifahrerregeln kommentiert Fahrer M., einer der nachdenklicheren Kollegen, so: "Der Kapitalismus macht die Menschen böse, weil er die Gier anstachelt. Ich hätte 1989 nie gedacht, daß es mal so schlimm wird - und es wird immer noch schlimmer."

Kay Strathus, Weimar

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Wo 100.000 Ermittlungsverfahren zu 289 Verurteilungen führten

Rechtsstaat oder Staat der Rechten?

Es wird behauptet, die BRD sei ein Rechtsstaat, dessen völlig unabhängige und apolitische Justiz sich allein einem ebenso unparteiischen Recht verpflichtet fühle. Dabei erfahren die jüngeren Generationen nichts mehr von jenem himmelschreienden Unrecht, das schon unmittelbar nach der Gründung des westdeutschen Separatstaates vielen seiner Bürger angetan wurde.

1978 veröffentlichte der heute an der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder) lehrende Jurist Alexander von Brünneck seine Untersuchung "Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968". Von ihm selbst als eher zu niedrig bezeichnete Schätzungen ergeben etwa 125.000 Ermittlungsverfahren gegen Personen, die in den ersten zwei Jahrzehnten des Bestehens der BRD "kommunistischer Umtriebe" verdächtigt wurden. Es genügte bereits das Anstecken einer Mai-Nelke oder die Teilnahme von Kindern an einem DDR-Ferienlager, um ins Visier der BRD-Justiz zu geraten.

Zwischen 6000 und 7000 "kommunistischer Umtriebe" Bezichtigte wurden strafrechtlich belangt. Selbst der spätere BRD-Innenminister Werner Maihofer äußerte 1964, die Kommunistenverfolgung in der BRD würde "einem ausgewachsenen Polizeistaat alle Ehre machen".

Für die Gejagten hatte das Urteil ernste Folgen: Entlassungen durch die Betriebe, Rauswurf aus Werkswohnungen, Streichung der Opferrenten für Verfolgte des Naziregimes. Häufig geschah das schon in der Ermittlungsphase. Obwohl es in der BRD offiziell keine Sippenhaft gibt, wurden auch Kinder Verfolgter von Schulen verwiesen. Kapitalistische Unternehmen tauschten untereinander "Schwarze Listen" aus.

Viele Naziverfolgte holte die Vergangenheit ein. Standen sie vor Gericht, dann trafen sie dort nicht selten "alte Bekannte" aus faschistischer Zeit wieder. Man schätzt, daß etwa zwei Millionen frühere Mitglieder der Hitlerpartei NSDAP in Politik, Wirtschaft, Polizei, Bundeswehr und Justiz in Amt und Würden blieben oder schon bald erneut zum Zuge kamen. Als Experten auf dem Gebiet der Kommunistenjagd konnten sie da weitermachen, wo sie 1945 hatten aufhören müssen. Adenauer wollte nicht schmutziges Wasser weggießen, weil er annahm, kein sauberes zu besitzen. Seltsam: In der DDR fand man sauberes Wasser, weil man es nicht verunreinigten Quellen entnahm. Keiner der in der BRD um die soziale Existenz Gebrachten oder ins Ausland Vertriebenen ist bis heute rehabilitiert worden. Kein Wort der Entschuldigung kam über offizielle Lippen. Dabei war diese juristische Treibjagd in Westeuropa ein einmaliger Vorgang, den man nur mit dem McCarthyismus in den USA vergleichen kann. Nach der Überreaktion des Staates auf die Studentenproteste und der Verfolgungswelle gegen die RAF setzte die Ära der Berufsverbote ein, bei der Willy Brandt den Ton angab. Das Geschehen erlangte eine so traurige Berühmtheit, daß man in Frankreich das deutsche Wort "Berufsverbot" einfach übernahm.

Nach der Annexion der DDR verpflichtete der damalige BRD-Justizminister Klaus Kinkel die Teilnehmer des 15. Deutschen Richtertages zur "Delegitimierung" des sozialistischen deutschen Staates. Dabei ging er davon aus, daß die BRD vor einer "gewaltigen Aufgabe" stünde. Am Verfolgungswillen fehlte es nicht. Gegen etwa 100.000 frühere DDR-Bürger wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, die zu 1212 Anklagen und 289 Verurteilungen führten. Simpelste Rechtsbegriffe wie das Rückwirkungsverbot, der Schuldnachweis, Kausalität und Verjährung wurden mit allerhand juristischen Tricks und offener Rechtsbeugung außer Kraft gesetzt. Doch die angestrebte Generalabrechnung im Gerichtssaal stieß ins Leere.

Viele im Osten empfanden den Schauprozeß gegen den todkranken Erich Honecker als krassesten Ausdruck von Siegerjustiz. Zugleich entlarvte die äußerst geringe Zahl massenhaft angestrebter Verurteilungen die Lüge vom angeblichen Stasi-Terror. Gegen Angehörige des MfS wurden gerade einmal 20 Urteile gefällt, meist fragwürdiger Natur. In der DDR wurde nie ein Demonstrant erschossen, in einem Polizeirevier zu Tode geprügelt oder lebendigen Leibes verbrannt. Allerdings hinterzog auch keiner Millionensummen an Steuergeldern.

Die Kommunistenverfolgungen in der BRD sind nie ins kollektive Bewußtsein der Westdeutschen gedrungen. Bei ihnen stieß hingegen die Abrechnung nach 1990 eher auf Verständnis. Ihre Vorstellung von der DDR und den Kommunisten war im Ergebnis unablässiger Gehirnwäsche fern jeglicher Realität. Daran hat sich bis heute leider wenig geändert. Bei vielen Ostdeutschen liegen die Dinge anders. Aber auch hier hat oftmals Gleichgültigkeit Einzug gehalten.

Der pathologischen Kommunistenhatz sollte man fehlenden Verfolgungseifer der BRD-Justiz gegen Nazi- und Kriegsverbrecher gegenüberstellen. Zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 31. Dezember 1989 wurde im Westen gegen 98 042 Personen ermittelt. Man verurteilte aber lediglich 6,6 % der Beschuldigten. In Rechnung zu stellen ist auch die Tatsache, daß kaum ein Inhaftierter lange saß. Schon am 31. Dezember 1949, als die BRD gerade einmal ein halbes Jahr alt war, verabschiedete der Bundestag ein Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit für Taten, die in der Nazizeit begangen wurden. Vier Jahre später begnadigte man sämtliche Nazi-Täter (außer Mördern) per Verjährung. Darunter fielen auch Personen wie der Euthanasiearzt Borm, dem der Bundesgerichtshof 1974 nachträglich bescheinigte, bei 6652 Tötungen einen "Akt der Barmherzigkeit" im Sinn gehabt zu haben. Übrigens klagte die BRD-Justiz auch keinen einzigen der 106 Richter und 179 Staatsanwälte des Freislerschen Volksgerichtshofes, der 5243 Todesurteile gefällt hatte, jemals an.

Die auffällige Diskrepanz zwischen der Hetzjagd auf angebliche oder tatsächliche Kommunisten und der Milde gegenüber Faschisten ist leicht zu erklären: Die alten Nazis wurden noch gebraucht.

Als "Unrechtsstaat" darf hierzulande nur ein sozialistischer Staat bezeichnet werden. Der verordnete Antikommunismus war seit dem ersten Tag des Bestehens der BRD in deren braunen Genen angelegt. Die Justitia brauchte in diesem Fall nur eine Binde für das rechte Auge.

Noch am Beginn der 70er Jahre tröstete sich die großbürgerliche FAZ damit, daß im Südafrika der Apartheid zumindest "alles rechtsstaatlich" vor sich gehe. Dem gegenüber war die DDR für Leute dieses Schlages ein "Hort des Unrechts".

"Man gibt in unserem Staate der Gerechtigkeit meistens eine Form, die schrecklicher ist als die Ungerechtigkeit selbst", schrieb der 1810 verstorbene Dichter Johann Gottfried Seume.

Ein rechter Staat, in dem auf den Rechten Linker herumgetrampelt werden darf, ist noch lange kein Rechtsstaat.

Ulrich Guhl

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Sie haben mich gepeinigt,
weil ich zu denken wagte,
sie haben mich gesteinigt,
weil ich mein Denken sagte.

Weil ich es sang in Liedern
voll Wahrheit und voll Glut.
Sie konnten nichts erwidern,
daher die ganze Wut.

Michail Lermontow, geboren am 15.10.1814,
gefallen im Duell am 27.7.1841

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Nahles' Mindestlohn-Konstrukt weist viele Löcher auf

Ein klassischer Schweizer Käse

Die Einigung über einen flächendeckenden Mindestlohn ist zustande gekommen, was Ministerin Nahles in einen wahren Erfolgsrausch versetzt hat. Sie verkündet, damit sei man einen gewaltigen Schritt in Richtung sozialer Gerechtigkeit gegangen. Unternehmerkreise begründen ihren heftigen Widerstand vor allem damit, diese Maßnahme werde zur Verringerung der Zahl der Arbeitsplätze führen.

Aus meiner Sicht ist die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohnes ein schon lange überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Selbst die CDU sah sich gezwungen, dieses Thema nicht länger zu umgehen. Strategen der "Marktwirtschaft" sind offensichtlich zu der Erkenntnis gelangt, daß der auf dem Gebiet der Lohnpolitik bisher verfolgte Kurs gewisser Korrekturen bedurfte.

Mindestlöhne, die dieser Bezeichnung gerecht werden, können zu einer gewissen Abschwächung der gröbsten Asozialitäten des kapitalistischen Entlohnungssystems beitragen.

Aber gibt es in der kapitalistischen Ausbeutergesellschaft dafür echte Chancen?

Zunächst sollte man sich vor Augen führen, daß die Zahlung von Hungerlöhnen, die trotz Vollzeitarbeit nicht zu einem menschenwürdigen Leben reichen, gerade das Ergebnis des "marktwirtschaftlichen Mechanismus" ist. Die Logik des Systems verliert aber nicht ihre Wirksamkeit dadurch, daß staatlicherseits Mindestlöhne eingeführt werden. Bestenfalls können bestimmte Auswüchse des rabiaten Kapitalismus leicht beschnitten werden. Wenn man solche Minimalnormen auf administrativem Wege durchsetzt, stachelt das natürlich die Unternehmer an, bei der Entlohnung "neue Wege" zu erkunden, um die Personalkosten so weit wie möglich einzuschränken und gleichzeitig die Preise ihrer Produkte oder Leistungen zu erhöhen. Die Möglichkeiten dazu sind vielfältiger Art: Ausweichen auf Scheinselbständigkeit und Werkverträge, Überstunden ohne Bezahlung, Zeit- und Leiharbeit, Minijobs, Verwendung ausländischer Arbeitssklaven, die keine Forderungen stellen können, und Auslagerung arbeitsaufwendiger Tätigkeiten. Selbst dann, wenn die Unternehmer dabei auf unüberwindliche Hindernisse stoßen sollten, bleibt ihnen immer noch der Ausweg, dem Endverbraucher, der sich gerade erst über höhere Löhne gefreut hat, durch heraufgesetzte Preise oder Tarife in die Tasche zu greifen.

Auf keinen Fall werden die Unternehmer aufgestockte Löhne aus ihren Gewinnen bezahlen, jedenfalls nicht auf Dauer. Die Tendenz deren Anstiegs bei (relativ) sinkenden Einkünften der Beschäftigten bekommt bestenfalls vorübergehend eine leichte Delle, keinesfalls aber einen dauerhaften Knick. Fatal wäre es, wenn sich Linke in der Illusion wiegten, dem System sei durch die Einführung von Mindestlöhnen eine empfindliche Niederlage beigebracht worden. Solange den Kapitalisten deren ökonomische Machtpositionen, die sich aus dem Eigentum an Produktionsmitteln herleiten, nicht entzogen werden, können sie ihre Trümpfe gegenüber den ständig um ihre Jobs bangenden Arbeitern weiter ausspielen. Diese nehmen eher Vergütungseinbußen oder unbezahlte Mehrarbeit hin, als ihre Arbeitsplätze ganz zu verlieren.

Ein Wort zu der Behauptung, die Einführung von Mindestlöhnen koste Arbeitsplätze: Sicher trifft es zu, daß deren obligatorische Gewährung bestimmte Branchen in Schwierigkeiten bringen könnte. Entlassungen oder sogar die Schließung einiger Firmen wären die Folgen. Da aber die Nachfrage nach den betreffenden Produkten oder Leistungen weiterhin besteht, würden diese vermutlich früher oder später durch andere Unternehmen bei entsprechend höherem Arbeitskräftebedarf mit erzeugt oder erbracht werden. Eine Reduzierung des Angebots entspricht nicht der Funktionsweise kapitalistischer Marktwirtschaftsgesetze.

Hinzugefügt sei: Wenn plötzlich einem Teil der Beschäftigten höhere Löhne als bisher gezahlt werden müssen, dann entsteht dadurch ja auch mehr Kaufkraft und finanzierbare Nachfrage, die sich auf die unterschiedlichsten Erzeugnisse bezieht. Auch dadurch würden Arbeitsplatzverluste ausgeglichen.

Bei der von Nahles so zur Schau gestellten Selbstzufriedenheit wird die Tatsache in den Hintergrund gedrängt, daß es sich in Sachen BRD-Mindestlohn um einen Schweizer Käse mit großen Löchern - den sogenannten Ausnahmeregelungen - handelt.

Peter Elz, Königs Wusterhausen

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"Werd doch Agitprop-Sekretär ...!"

Mein Taxiunternehmer studiert den Abrechnungsbogen mit den Zahlen zur Ausbeute der letzten Schichten. Seit einiger Zeit habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, den durchschnittlichen Stundenlohn pro Schicht zu notieren, um den Chef mit der Nase auf die Niedriglöhne zu stoßen, die er seinen Fahrern zahlt. Diesmal liegt der Stundenlohn meiner erfolgreichsten Schicht bei 7,79 Euro - nicht nur für Weimarer Taxiverhältnisse ein außergewöhnlich hoher Betrag. Auch der Unternehmer B. hält das für bemerkenswert und wiederholt laut die Zahl. So entspinnt sich folgender Dialog:

Ich: "Tja, wir nähern uns dem Mindestlohn ..." Er: "Ja, da steht uns noch was bevor! Im Verband haben wir festgestellt, daß die Taxifahrer in Thüringen 5,60 € Stundenlohn erhalten - und das soll jetzt auf 8,50 € erhöht werden? Wenn der Staat seine Lehrer oder Ärzte mit 2 oder 3 Prozent Erhöhung beglückt, sind alle zufrieden. Und die Taxifahrer sollen gleich eine Lohnerhöhung von mehr als 30 % kriegen??!"

Ich: "Na klar, ich wein' dann draußen über das schwere Los der Taxiunternehmer, die künftig alle betteln gehen müssen. Wer seinen Angestellten Hungerlöhne zahlt, darf sich nicht wundern, wenn der Staat eingreift und wenigstens dafür sorgt, daß Leute, die Vollzeit und mehr arbeiten, einen Lohn erhalten, der zum Leben reicht." Darauf er: "Wenn die SED-Kreisleitung wieder mal einen Sekretär für Agitation und Propaganda sucht, schlage ich dich vor - du wärst der richtige Mann dafür."

Kay Strathus, Weimar

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Der Marxismus ist leicht zu begreifen - erkundige dich nach ihm!

Rosa Luxemburg zur Mehrwerttheorie

"Wie jede andere Ware hat auch die Ware Arbeitskraft (AK) ihren bestimmten Wert. Der Wert jeder Ware wird, wie wir wissen, durch die Menge Arbeit bestimmt, die zu ihrer Herstellung erforderlich ist. ... Der Wert der AK wird also dargestellt durch die Menge Arbeit, die zur Herstellung der Lebensmittel u. a. für den Arbeiter nötig ist. ... (Lebensmittel muß man hier im erweiterten Sinne verstehen, also auch Wohnen, Kleidung, Kultur, Kindererziehung und sonstiger Aufwand - W. K.) Der Geldausdruck, d. h. der Preis der Ware Arbeitskraft, heißt Lohn ... Jede Ware wird gekauft wegen des Nutzens, den sie im Gebrauch bringen kann. Würde die menschliche AK keinen anderen Gebrauch für den Käufer zulassen (als nur den Wert ihrer eigenen Erhaltung - W. K.), dann hätte sie für den Käufer keinen Nutzen und könnte nicht als Ware auf dem Markt erscheinen. Die Ware AK muß also im Gebrauch, d. h. bei der Arbeit, nicht bloß ihren eigenen Preis, d. h. den Lohn ersetzen können, sondern darüber hinaus noch Mehrarbeit für den Käufer liefern ­...

Allein der moderne Unternehmer hat die angenehme Eigenschaft der menschlichen Arbeitskraft nicht als erster entdeckt ... Die Sklaverei im Altertum wie das Fronverhältnis und die Leibeigenschaft im Mittelalter beruhen beide auf der bereits erreichten Produktivität, d. h. der Fähigkeit der menschlichen Arbeit, mehr als einen Menschen zu erhalten. Beide sind auch bloß verschiedene Formen, in denen eine Klasse der Gesellschaft sich diese Produktivität zunutze machte, indem sie sich von der anderen Klasse erhalten ließ. In diesem Sinne sind der antike Sklave wie der mittelalterliche Leibeigene direkte Vorfahren des heutigen Lohnarbeiters. Aber weder im Altertum noch im Mittelalter wurde die AK trotz ihrer Produktivität und trotz ihrer Ausbeutung zur Ware."

Rosa Luxemburg begründet im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen, daß erst die Trennung der kleinen Warenproduzenten von ihren Produktionsmitteln und ihre juristische Loslösung vom Lohnherren endlich zum "freien" Lohnarbeiter führten, der nichts mehr zu verkaufen hatte als seine Arbeitskraft. Diese kann nun vom Besitzer der Produktionsmittel, dem Kapitalisten, zum Zweck der Mehrwert-Gewinnung (Ausbeutung) genutzt werden.

Zusammengestellt und knapp kommentiert von
Dr. Werner Kulitzscher, Berlin

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Was Freiheit eigentlich meint

In ihrem Buch "Immer ich" polemisiert Gisela Steineckert gegen Demagogie und Manipulierung, welche mit dem Begriff "Freiheit" betrieben werden. Sie schreibt: "Ich wünschte, mir könnte einmal jemand erklären, was Freiheit eigentlich ... meint."

Zur Beantwortung der Frage ist es nützlich, bei den Ursprüngen anzuknüpfen.

Das Ideal der Freiheit, das in der Französischen Revolution von 1789 die Massen bewegte, fand schließlich seinen Ausdruck in der Verwirklichung der bürgerlichen Freiheit des Marktes und der Freiheit zur Ausbeutung von Lohnarbeitern. Dem "Volk" wurde das Ideal einer abstrakten Freiheit überlassen, was aus unterschiedlichen Gründen besonders gut geeignet erschien, den Klasseninhalt der bourgeoisen Machtausübung zu verschleiern. Durch die organisierte Arbeiterbewegung und den Einfluß der Marxisten wurde die Freiheit wieder vom Himmel auf die Erde geholt.

Der Kampf für sie hieß nun - sehr konkret - Freiheit gewerkschaftlicher Betätigung, Verkürzung der Arbeitszeit, Lohnerhöhungen und Verbesserung der sozialen Bedingungen. So trat der Klasseninhalt der Freiheit direkt zutage. Der erste DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl orientierte sich an den Worten: "Freiheit, die ich meine, welche meinst du, sprich, deine oder meine, das ist wesentlich."

Auch bürgerliche Autoren waren durchaus dazu in der Lage, Klasseninhalte des Freiheitsbegriffs zumindest zu erahnen. Vor mehr als 50 Jahren schrieb der Mitbegründer der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Paul Sethe: "Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten." Das auszusprechen, ist in der "freiheitlichen" BRD unserer Tage viel schwerer als damals. Heute geht es mehr denn je um die Verschleierung der wirklichen Macht- und Eigentumsverhältnisse, wobei die Freiheitsdemagogie des derzeitigen Bundespräsidenten, der sich als ihr Bannerträger wähnt, eine zentrale Funktion besitzt.

Nun handelt es sich bei der Klärung dessen, was "Freiheit eigentlich meint", tatsächlich um eine knifflige Frage. Hegels Genialität bestand darin, die Freiheit als "Einsicht in die Notwendigkeit" begriffen zu haben. Ich habe bei Studenten, ja, auch bei Funktionären der Partei oft Erstaunen ausgelöst, wenn ich darauf verwies, daß Hegels Formel nicht die marxistische Auffassung war. Marx und Engels stellten sie gewissermaßen vom Kopf auf die Füße, indem sie die Freiheit als auf der Erkenntnis der Natur und Gesellschaft erlangte Herrschaft des Menschen über Dinge und Verhältnisse definierten. Daraus ergibt sich, daß Freiheit notwendigerweise ein sich ständig verändernder Prozeß ist, dessen Verwirklichung die Tat unterschiedlicher Klassenkräfte und Individuen erfordert. Das Verschweigen dieser Zusammenhänge hat deshalb noch so große Wirkung, weil Gedanken- und Pressefreiheit als Ideale im geschichtlichen Verlauf tief verwurzelt sind. Die Illusion, es gäbe Freiheit ohne deren materielle Voraussetzungen, ist fest verankert und deshalb hervorragend dazu geeignet, die Realität zu verschleiern.

Wie wir selbst erfahren haben, wirkte dieser Roßtäuschertrick auch auf Bürger der DDR, die 1989/90 den inhaltsleeren Freiheitsparolen von CDU/CSU, SPD und FDP erlagen und zum Teil noch heute verfallen sind. Nicht wenige von diesen Irregeführten erkennen inzwischen, daß die Freiheit der Gestaltung eigener Lebensverhältnisse in Betrieben und Wohngebieten der DDR - trotz bestehender Defizite - eine völlig andere Qualität besaß als das, was uns der bundesdeutsche Kapitalismus heutzutage als Freiheit offeriert.

Dr. sc. Fritz Welsch, Berlin

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Neue Medien dürfen kein Tummelplatz für Nazis sein

Den Rattenfängern Paroli bieten!

Desinformation, Antikollektivismus, egozentrische Individualisierung und hirnlose Spaßgesellschaft beherrschen den unter Geheimdienstkontrolle befindlichen "Freiraum" der neuen Medien. Studien besagen, daß inzwischen 93 % der 12- bis 13jährigen das Internet - vornehmlich Facebook und YouTube - nutzen. Sie tun das allerdings fast ausschließlich zu privaten Zwecken. Eine ganze Generation wächst so auf.

Auch das staatliche Fernsehen wird bereits in einigen Ländern total, in anderen zunehmend von privaten "Boulevard"-Sendern verdrängt, die "Brot und Spiele" - mit Werbung durchsetzt - präsentieren. Einerseits bietet das Netz inzwischen jedem die Möglichkeit, sich zu äußern und Zustimmung zu suchen, andererseits offeriert es aber keine umfassende oder zusammenhängende Information, wie sie Printmedien oder TV-Nachrichtensendungen zu entnehmen ist. Der Nutzer muß auf genau das zugreifen, was er haben will, dann bekommt er es in solcher Vielfalt, daß kaum noch Zeit oder Anreiz bleibt, in andere Themenbereiche hineinzuklicken. Wer vor allem Sport sehen will, bekommt ihn frei Haus, erfährt dann aber auch nichts anderes.

Auf Netzkumpaneien beschränkte Facebook-Kontakte führen zur Flucht aus der Realität und zum Verlust jeglicher Wertmaßstäbe beim Gewichten und Beurteilen von Nachrichten. Dabei hat doch das, was alle oder zumindest große Gruppen von Internetnutzern betrifft - gemeint sind die Bereiche der Sozial-, Wirtschafts- und Außenpolitik - weitaus schwerwiegendere Auswirkungen auf jeden einzelnen als dessen persönliche Modemarotten, Hobbyvorlieben oder Querelen mit Bekannten.

Rein virtuelle "Bewegungen" ohne realen Aktionsrückhalt in der Gesellschaft erscheinen im weltweiten Netz als durchaus ebenbürtige Alternativen zu Regierungsstatements, UNO-Beschlüssen oder Programmen großer Parteien und Massenorganisationen wie der Gewerkschaften. "Freie Wahl für freie Bürger?" Viele junge Menschen leben völlig losgelöst von echter gesellschaftlicher Aktion als schnäppchenjagende Konsumenten und törichte Objekte politischer Manipulation. Das geschieht zur Freude derer, die Solidarität und echte Massenimpulse gar nicht erst aufkommen lassen wollen.

In diese Lücke stoßen diffuse faschistoide, rassistische und chauvinistische Akteure der sogenannten "Neuen Rechten" geschickt vor, indem sie an Hobbys und Eigenarten der "Internet-Jugend" andocken, um sie medial in ihr Lager zu ziehen.

Von offen faschistischen Politseiten der NPD und ähnlicher brauner Zusammenschlüsse soll hier nicht einmal die Rede sein, obwohl es durchaus personelle und Internet-Verknüpfungen im Übermaß gibt. Jede Partei besitzt ja längst ihre eigenen Portale.

Abwegige, absurde und scheinbar sehr individuelle Varianten faschistischer Rattenfängerei passen durchaus zum naiven Publikum und dessen Spaß- wie Individualisierungsbedürfnissen. Politischer Bildungsmangel sowie das Prinzip, alles persönlich einmal ausprobieren zu wollen, erleichtern da den Zugang. So gab unlängst ein "Piraten"-Chef der prononciert rechten "Jungen Freiheit" ein Interview, ohne überhaupt zu wissen, vor wessen Karren er sich spannen ließ. In Dresden trat eine "Piraten"-Kandidatin barbusig auf, wobei sie mit der Parole "Dankeschön für alliierte Bombenangriffe!" eine nahezu NPD-reife Show lieferte. Die Schüler-Werbepostille "Unicum-Abi", wohlfinanziert durch Bundeswehrannoncen, lobte den "pädagogisch-fachlichen Wert" solcher als LARPs (Live Action Role Playing Games) bezeichneten pseudohistorischen Rollenspiel-Schlachten wie "Felder der Ehre" oder "Mythodea", die über das Netz organisiert werden. Die nach Tausenden zählenden Teilnehmer solcher Veranstaltungen sind Abiturienten! Ein ideales Rekrutierungsfeld für die als "Ethnopluralisten" operierenden Verfechter einer altbekannten kulturrassistischen Apartheidpolitik, der sogenannten Identitären-Bewegung! Kaum ein Passant vermag mit deren absurden Parolen auf Stickern und im Internet etwas anzufangen: "Gegen Imperialismus und Multikulti!" oder "Identität verteidigen!" 0 % Rassismus - 100 % identitär".

Leute dieses Schlages setzen bei der individuellen Egozentrik Jugendlicher an. "Was Du gerne hast und wie Du lebst, das ist Deine und unsere kulturelle Identität, die gegen den Ansturm fremder Invasoren verteidigt werden muß", lautet die Zugangsformel. 2003 in Frankreich im Geiste der Kolonialapartheid begründet, bildeten die Identitären in Deutschland schon bald 53 Kleingruppen, die auch in natürlich abgestrittener personeller Verbindung zu NPD-Kreisen und der "Jungen Freiheit" stehen. Dazu zählen u. a. die "Projektwerkstatt Karben" und das "Zentrum für Jugendidentität und Kultur" in Dresden.

In deren Nähe befinden sich die sogenannten Antideutschen, die bisweilen in Verbindung mit der unter dem Dach der PDL nistenden "BAG Shalom" operieren.

Schon auf der Berliner Antinazidemo 2007 schwenkten deren Anhänger Fahnen Israels und der USA unter ihrer Standardparole "Antikapitalismus und Antiimperialismus = Antisemitismus", die sie in der dubiosen Zeitung "Jungle World" verbreiten. Zionismus wird als wahrer Sozialismus ausgegeben, noch dazu mit den USA an der Spitze! Auch bei der "Alternativen Rosa-Luxemburg-Kundgebung" in Berlin pflanzten die Antideutschen ihr Fähnlein auf.

Für esoterisch bewegte Freunde von Bionahrung bietet die Naziszene in einigen Gegenden die alte "Blut und Boden"-Variante "mit deutscher Scholle und deutschen Bauern gegen Überfremdung der Märkte in der EU" an. Es gibt einige braune "Bio-Bauern" mit Erzeugerläden, die auch als Finanzierungsquelle faschistischer Infrastruktur auf dem Lande dienen. Sogar in der Anti-AKW-Bewegung oder bei der Gründung der Partei Die Grünen firmierten solche Leute, die sich heute als "völkische Siedler" oder "Heimatschützer" ausgeben.

Antifaschisten sollten positive oder negative Strömungen im Internet sehr ernst nehmen, zumal junge Menschen das Gros ihrer Nutzer stellen. Es ermöglicht breiteste Beteiligung und neue Sozialisierungsformen. Wir dürfen das Feld zwischen offiziellen Organisationen und diffuser "Internet-Bewegung" nicht den Menschheitsverderbern überlassen.

Jobst-Heinrich Müller, Lüneburg

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Ein Hallenser Student hat das Wort

Die Hochschulen Sachsen-Anhalts, das wie alle anderen östlichen Bundesländer 1990 von der BRD vereinnahmt wurde, sind nach einer kurzen Rekonstruktionsphase, die ihrer Säuberung von allen "marxistischen Übeln der DDR" folgte, seit etwa 15 Jahren regelmäßigen Strukturanpassungsforderungen ausgesetzt. Der Klarheit halber: Strukturanpassung bedeutet in diesem Falle, daß die Hochschulen von ihnen angebotene Studiengänge und unterhaltene Fakultäten angesichts sinkender finanzieller Zuweisungen aus dem Landeshaushalt "paßgerecht" machen müssen. Mit anderen Worten: Es geht um Reduzierung. Die den Bildungseinrichtungen vom Grundgesetz zugestandene Autonomie in Form akademischer Selbstverwaltung verwandelt sich so aus einem ursprünglichen Instrument der Demokratisierung zur Selbstverwaltung des Mangels. Statt die Freiheit von Lehre und Forschung zu schützen, verlangt der kapitalistische Staat, die den Hochschulen zugewiesenen Mittel "effizienter zu verwenden".

Aufgrund der viel zu geringen Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen wird allen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge, also auch dem in gewissen Sonntagsreden als "einziger Rohstoff Deutschlands" angepriesenen Bildungssystem, ein drastisches Spardiktat aufgezwungen. Die Hochschulen können zwar immer bessere Leistungen in Lehre und Forschung sowie eine stärkere internationale Vernetzung vorweisen, müssen dieses Ziel aber mit ständig schmalerem Budget ansteuern. Das führt zwangsläufig zur Verschlechterung der Lernbedingungen und geht vor allem zu Lasten der prekär beschäftigten wissenschaftlichen Mitarbeiter.

Obwohl die Zahl der an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) Studierenden zwischen 1993 und 2013 von rund 12.000 auf 20.000 gestiegen ist, werden die Personaletats immer weiter abgeschmolzen. Die wissenschaftlichen Mitarbeiterstellen verringerten sich im gleichen Zeitraum von knapp 4500 auf etwa 1800. 2003 kürzte man das Hochschulbudget um 10 %. Bis 2012 waren 76 % aller Stellen, die es 1989 an der MLU gegeben hatte, gestrichen worden. Die aktuellen Kürzungspläne sahen für den Zeitraum 2015 bis 2025 jährliche Absenkungen der Gesamtmittel aller Hochschulen Sachsen-Anhalts von fünf Millionen Euro, also insgesamt 50 Mio., vor.

Da die MLU aber infolge der Unterfinanzierung bereits ein Defizit von mehr als sechs Millionen Euro auswies und die zusätzlichen Kürzungsvorhaben der Regierung zur Schließung mindestens zweier Fakultäten plus Unimedizin geführt hätten, gründete sich im Herbst 2012 ein Aktionsbündnis gegen die radikalen Abbaupläne. Es rekrutierte sich aus Studierendenvertretungen, Personalrat, linken Hochschulgruppen (SDS, Jusos, Grüne) sowie den Gewerkschaften GEW und ver.di. Ihm gelang es, zu den größten Demonstrationen gegen die Landespolitik seit der Konterrevolution 1989/90 zu mobilisieren, wobei die Zahlen zwischen 6000 und 10.000 Teilnehmern lagen. Durch eine wirksame Öffentlichkeitsarbeit und ständige Anwesenheit bei Beratungen der Universitätsgremien vermochte das Bündnis vor allem die Studierenden auf die drohende Gefahr der Schließung mehrerer Institute hinzuweisen. Bis heute konnte das verhindert werden.

Solche Erfolge dürfen indes nicht über die Beschränktheit der Aktionen hinwegtäuschen. Es handelt sich derzeit nur um die erste Kürzungsrunde. Die Aktionen haben rein defensiven Charakter, systembedrohende Forderungen werden nicht erhoben. Die eigentliche Crux - auf Ausbeutung beruhende Produktions- und Ausbildungsverhältnisse - kommt dabei nicht zur Sprache.

Um Forschung und Lehre von kurzatmigem Profitdenken zu befreien, bedürfte es einer echten Demokratisierung der Hochschulen. Dazu wäre es notwendig, die Bevölkerung über die wissenschaftsfeindlichen Bestrebungen der Herrschenden aufzuklären und für eine dem Humanismus verpflichtete Politik zu gewinnen.

S. D., Halle

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Nützen die "Tafeln" nur Hilfsbedürftigen?

Seit der 1993 erfolgten Gründung erster "Tafeln" in der BRD haben sich diese Vereinigungen für die Versorgung Hilfsbedürftiger mit elementaren Lebensmitteln zu einem nahezu selbständigen Wirtschaftszweig entwickelt. Bestimmte Produkte werden inzwischen eigens für "Tafeln" hergestellt.

Die Bewegung erfährt das gutgemeinte Engagement vieler ehrenamtlicher Helfer, die selbstlos den oftmals ohne eigenes Verschulden in Not geratenen Mitbürgern ein Überleben auf niedrigem Niveau ermöglichen. Natürlich liegt es im Interesse des Machterhalts der Kapitalisten, soziale Unruheherde gar nicht erst entstehen zu lassen. Vor allem aus diesem Grund erfahren die Organisatoren von "Tafeln" staatliche Unterstützung, was sich in dem ihnen zuerkannten steuerlichen Status der Gemeinnützigkeit und Mildtätigkeit ausdrückt. Für etliche Unternehmen ist es lukrativ, nicht mehr absetzbare Waren "für humanitäre Zwecke" zu spenden, um sie als Betriebsausgaben von der Steuer absetzen zu können. Bei Abholung von Restbeständen durch die "Tafeln" lassen sich überdies Entsorgungskosten einsparen. Nach außen kann man sich dabei das Mäntelchen praktizierter Nächstenliebe umhängen. Wie christlich und sozial ist doch "unsere" Marktwirtschaft! Der Staat belohnt "Tafel"-Organisatoren auf mannigfache Weise, bisweilen sogar mit dem Bundesverdienstkreuz.

Obwohl die "Tafeln" keines der Probleme der kapitalistischen Gesellschaft lösen können, machen sie durch ihren Appell andere auf die wachsenden Widersprüche zwischen Arm und Reich in der BRD aufmerksam. "Tafeln" der westlichen Bundesländer besitzen übrigens völlig anders geartete Strukturen ehrenamtlicher Mitarbeit als jene im Osten, wo die Bedürftigen ganz überwiegend ihre Einrichtungen selbst ins Leben gerufen haben und betreiben.

Wer aber sind die eigentlichen Nutznießer? In erster Linie ist das der Staat, der sich - zumindest partiell - von seiner Fürsorgepflicht für Teile der Notleidenden entbunden sieht. Das verschafft Image und spart Geld. Zweitens können die "uneigennützigen" Spender - gemeint sind hier nicht solidarisch handelnde Einzelpersonen - ihre Überproduktion gegen Zuwendungsbescheide doch noch absetzen.

Übrigens bestehen zunehmend enge Verflechtungen zwischen der Tafelbewegung, Politikern und Wirtschaftskreisen, die ihrerseits von den Rahmenvereinbarungen profitieren. Neben vergünstigten Abnahme- und Lieferbedingungen für den Eigenbedarf der "Tafeln" spielen dabei auch vorteilhafte Formen des Kraftstoffbezugs und entsprechende Telekommunikationsverträge eine Rolle.

Auf die Frage, wie man den Grundwiderspruch des Kapitalismus tatsächlich zu lösen vermag, gibt es indes nur eine Antwort: Die Völker bedürfen einer Gesellschaftsordnung, in der es keine "Tafeln" mehr geben muß. Diesen Anspruch aber kann nur eine klassenkämpferische politische Kraft durchsetzen, die konsequent für die Vergesellschaftung der entscheidenden Produktionsmittel eintritt.

Dipl.-Ing. oec. Günter Brendel, Dresden

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Welche Rolle spielt der Internationale Strafgerichtshof?

Den Haag ist nicht Nürnberg!

In einer Zeit, in der sich die Tagespolitik fast ausschließlich mit Krisen und Kriegen beschäftigt, werden Völkerrechtsverbrechen und der Bruch elementarer Menschenrechtsnormen zur Gewohnheit. Man nimmt sie gewissermaßen als Begleiterscheinungen des politischen Geschehens hin, weil ja ohnehin niemand zur Verantwortung gezogen wird. Die Eigenschaft des menschlichen Verstandes, Autoritäten und Entscheidungen zu hinterfragen, ist vielen leider abhanden gekommen. Eine perfide Propaganda entzieht ihnen die Fähigkeit, über Zusammenhänge tiefer nachzudenken, zumal sich das Leben der meisten auf einen reinen Existenzkampf reduziert hat. Der verbleibende Rest an frei verfügbarer Zeit wird immer mehr mit Late-Night-, Talk-, Dschungel- und Ekel-Shows sowie Videospielen vergeudet. Da bleibt für eigenes Denken kein Platz. Begriffe wie Recht und Gesetz werden von den Herrschenden bagatellisiert oder instrumentalisiert, wenn sie ins Bild passen, um noch so abstruse Ziele oder Geschehnisse zu rechtfertigen.

Dabei war nach dem durch Hitlerdeutschland vorbereiteten und ausgelösten Zweiten Weltkrieg durchaus ein Anfang gemacht worden, um beiden Kategorien wieder Geltung zu verschaffen. Sie bildeten die Grundlage, um Genozidverbrecher und deren Handlanger zur Verantwortung ziehen zu können. Entsprechende Zeichen setzte der Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher - die kriminelle "Elite" der deutschen Faschisten.

Mit Hilfe eines neuen demokratischen Völkerrechts wollte man Kriege und damit verbundene Greueltaten a priori unterbinden. Getragen von allen Nationen der Welt, jenseits kultureller und moralischer Unterschiede, sollte es Konsens der Staaten sein, den Krieg als Mittel der Politik zu ächten.

Wie wir wissen, sieht die Realität leider ganz anders aus. Allein der Blick auf Afghanistan, Syrien und Irak läßt uns das Blut in den Adern stocken und angesichts des dort alltäglichen Todes Unschuldiger verstummen. Seit 1945 sind nach seriösen Schätzungen etwa 11,8 Millionen Menschen - davon 93 % Zivilisten - bei überwiegend vom Imperialismus angezettelten bewaffneten Konflikten ums Leben gekommen.

2002 wurde aufgrund des Statuts von Rom ein Internationaler Strafgerichtshof (IStGH) mit Sitz in Den Haag gegründet. Er sollte eine Strafgerichtsbarkeit schaffen, die verhindert, daß Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen den Frieden ungesühnt begangen werden können. Überführte Täter sollten nach einem ordentlichen Verfahren schuldig gesprochen werden.

Das Statut von Rom wurde indes nur durch 123 Staaten ratifiziert. In bezug auf deren Bürger darf der IStGH tätig werden - vorausgesetzt, daß die jeweilige nationalstaatliche Gerichtsbarkeit die Tat nicht bereits selbst geahndet hat. Obwohl dieses Tribunal keineswegs antiimperialistische Züge trägt, sind die Vereinigten Staaten einer seiner Hauptgegner. Der Kongreß in Washington hat sogar ein Gesetz erlassen, welches es den USA gestattet, in Den Haag angeklagte eigene Staatsbürger mit Waffengewalt zu befreien.

In einer so verworrenen Situation, die eher an Franz Kafkas "Prozeß" als an normales juristisches Gebaren erinnert, darf es nicht verwundern, wenn Leute wie George W. Bush und Barack Obama oder Israels Benjamin Netanjahu das Völker- und Strafrecht nur dann achten, wenn es ihren Zwecken dient, es sonst aber ohne Skrupel brechen. So ist der helle Schein, der einst von Nürnberg aus einen neuen Weg friedvoller Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten beleuchten sollte, in weiten Regionen der Welt längst erloschen.

Die "neuen Kriege", über die in Filmen wie "Avangers" noch phantasiert wurde, sind von der Wirklichkeit längst eingeholt worden. Staatliche Mordkommandos machen auf echte und vermeintliche "Feinde" Jagd. Bewaffnete Drohnen, die Verdächtige über Handy-Signale orten und mit Hellfire-Raketen bei "Signature Strikes" in die Luft jagen, ein grenzenloser digitaler und optischer Überwachungsapparat, der weltweit und zeitlich unbegrenzt die intimsten Daten von Nutzern sammelt, gehören inzwischen zum täglichen Szenario. All das geschieht ohne Wissen der Öffentlichkeit und jenseits jeglicher ziviler Kontrolle, stets lautlos und immer tödlich für anvisierte Opfer wie Unbeteiligte.

In seinem neuen Buch "Killing Business" beschreibt der Journalist und Pulitzerpreisträger Mark Mazzetti die Schattenkriegsökologie von CIA und NSA. Diese sind längst zu treibenden Kräften globaler Gewaltanwendung geworden. Während die Foltermethoden des Auspeitschens oder Daumenschraubenanlegens inzwischen durch Waterboarding, permanenten Schlafentzug oder Dauerlärmbeschallung "verfeinert" worden sind, wird auch der "Krieg der Zukunft" immer hochgradiger automatisiert. Da das Töten per Drohne Kosten sparen soll, hat die Rüstungsindustrie die Zusammenarbeit mit jenen, welche sie am häufigsten einsetzen, forciert. Neue Generationen von Tötungsautomaten sind bald reif zur "praktischen Erprobung".

Mit der Bezeichnung X-47 B soll eine Drohne zur Verfügung stehen, die in der Lage ist, ohne menschliche Hilfe und Anweisung selbst Ziele auszusuchen, nach Wichtigkeit zu ordnen und zu entscheiden, ob es sich um Freund oder Feind handelt. Nach welchen Kriterien das geschehen soll, ist vorerst unbekannt. Der automatische Krieg rückt immer näher: "Selektion unwerten Lebens" per Joystick ... Da brauchen Faschisten keine Auschwitz-Rampen mehr. Der Tod kommt unverbindlich vorbei, wo man sich auch verkriecht. Damit der menschliche Verstand schließlich doch noch die Oberhand über grenzenlose Gewalt auf unserem durch Raubbau aufs schwerste geschädigten Planeten Erde gewinnt und am Ende Sieger bleibt, gilt es unablässig Alarm zu schlagen und alle Vernünftigen wachzutrommeln, ehe es zu spät ist.

Joachim Augustin, Bockhorn (Friesland)

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Seit 120 Jahren besteht das Internationale Olympische Komitee

Irrtümer des Barons de Coubertin

Der durch Baron Pierre de Coubertin formulierte Gedanke war durchaus löblich. Der Begründer der neuzeitlichen Olympischen Spiele, die 1896 wieder zur Tradition wurden, erblickte in der Wiederbelebung des Wettstreits der Antike eine Chance, zur Annäherung der Völker und zur Festigung des am Ende des 19. Jahrhunderts ein weiteres Mal bedrohten Friedens beizutragen. Nicht Sieg oder Niederlage, sondern allein die Teilnahme an den Spielen der Neuzeit sollte den Athleten zur Ehre gereichen. "Dabeisein ist alles", lautete das Motto. Doch schon in Coubertins ehrenhaftem Ansatz verbarg sich ein grundsätzlicher Irrtum im Hinblick auf die Bewertung der Spiele des Altertums. Nur die Sieger wurden damals geehrt, ihre Namen meißelte man in Stein und stellte für sie Statuen auf. Die Verlierer aber brachten der Polis Schande und wurden deshalb nicht selten geächtet.

Nicht minder irrte sich Coubertin in seiner Bezugnahme auf den britischen Sport, dessen Bedeutung - entgegen seiner landläufigen Bezeichnung als "Fair play" - eher dem Wortsinn des Verbs to sport (vom Lateinischen disportare = sich vergnügen) entsprach. Also nicht hochgesteckte moralische Ziele, sondern allein das Unterhaltungsbedürfnis der aufsteigenden Bourgeoisie war der Maßstab für sportliche Betätigung. Dabei spielten dann immer unverhohlener kommerzielle Interessen im Hinblick auf populäre Disziplinen wie Fußball eine wesentliche Rolle.

Sport war und ist eben nicht "die schönste Nebensache der Welt", wie seine Funktion oft idealisiert wird. Schon Coubertin mußte erfahren, daß auch bei dieser Betätigung politische Neutralität eine Utopie ist. Denn bald erkannten die Repräsentanten sie ausrichtender Nationen, welche exzellenten Möglichkeiten zur staatlich-politischen Selbstdarstellung Olympische Spiele boten. Die sich dann offerierenden "neuen Medien" - Funk und Film - sorgten seit den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts für wachsendes Interesse der Bevölkerung am sportlichen Treiben.

Die Anzahl errungener Medaillen wurde zum Synonym für Prestige und Gewicht eines Landes, woraus sich in den Augen vieler eine Art Rangordnung der Nationen ergab.

Eine üble Funktion erfüllten die vom Hitlerstaat ausgerichteten Olympischen Spiele, die 1936 in Berlin stattfanden. Bereits 20 Jahre zuvor waren sie vom IOC an Deutschland vergeben worden, fielen aber wegen des Ersten Weltkrieges ins Wasser. Die Nazis sahen eine Chance, mit Hilfe der Olympiade die internationale Isolierung und weltweite Ächtung ihres Deutschen Reiches unterlaufen zu können, die sie mit ins Maßlose gesteigertem Nationalismus beantwortet hatten.

Allen Boykottappellen zum Trotz, die sich besonders auf den Antisemitismus der deutschen Faschisten bezogen, entschied sich die nordamerikanische Amateur Athletic Union im Dezember 1935 für die Teilnahme. Dem schloß sich das IOC weitgehend an, so daß die Berliner Olympiade 1936 ein gigantisches Medienspektakel zur Aufwertung des Hitlerstaates wurde. Die Goebbels nahestehende Filmemacherin Leni Riefenstahl bezeichnete das Ereignis als "Fest der Völker - Fest der Schönheit". Die Akzeptanz der himmelschreienden Menschenrechtsverletzungen, zu denen auch die Zwangsverschickung aller in Berlin lebenden Sinti und Roma an den Stadtrand gehörte, waren gleichsam Vorboten der berüchtigten Beschwichtigungspolitik (Appeasement) der westlichen Mächte im Hinblick auf Kriegsvorbereitungen der Hitler-Faschisten.

Doch nicht wenige Prominente wandten sich gegen eine Austragung der Olympischen Spiele in Hitlers "Reichshauptstadt". "Ein Regime, das sich stützt auf Zwangsarbeit und Massenversklavung; ein Regime, das den Krieg vorbereitet und nur durch verlogene Propaganda existiert - wie soll ein solches Regime den friedlichen Sport und den freiheitlichen Sportler respektieren?" erklärte Heinrich Mann 1936 in Paris. Entgegen Coubertins noblen Absichten ist das IOC inzwischen zu einem totalen Zweckbündnis von Macht und Kapital geworden - ein reines Prestigeobjekt des veranstaltenden Staates, der bestrebt ist, aus den Spielen größtmöglichen materiellen und immateriellen Nutzen zu ziehen. Banken, Unternehmen und Fernsehanstalten bestimmen als deren Sponsoren den Ablauf der Spiele. So erwirkte z. B. das japanische Fernsehen NHK die Ansetzung des Marathonlaufes in London 2012 auf 12 Uhr mittags - also zur denkbar ungünstigsten Zeit -, damit seine fernöstlichen Zuschauer das Ereignis im Abendprogramm am Bildschirm verfolgen konnten.

Der frühere Diplomat der faschistischen Franco-Diktatur Spaniens, Juan Antonio Samaranch, hat in seiner 21jährigen Amtszeit als IOC-Präsident (1980-2001) das zuvor nahezu mittellose Komitee zu einer Wirtschaftsmacht ersten Ranges geformt, die mit ihrem Wanderzirkus Milliarden erwirtschaften und an bestimmte Bereiche des Weltsports verteilen kann. Es läßt sich nicht leugnen, daß daraus auch eine politische Verpflichtung erwächst.

"Der Wettbewerb im Markt der Unterhaltung ist knallhart geworden. Schließlich geht es um enorme Beträge. Will der Sport nachhaltig an diesem Kampf teilnehmen und davon wirtschaftlich profitieren, dann muß er ganz bewußt auch die Regeln akzeptieren, die diesen Markt beherrschen", formulierte Dieter Mussler 2014 in "Sport als Entertainment".

"Das Ideal vom politisch neutralen, friedensstiftenden Olympia bleibt, wie die Geschichte gezeigt hat, eine Utopie. Im Spiegel der aktuellen politischen Strömungen und Ereignisse erweist sich olympische Moral oft als Doppelmoral", konstatierte der Göttinger Sporthistoriker Arnd Krüger.

Jens Wollenberg, Schulzendorf

Unser Autor war Leistungssportler und 1971 BRD-Meister über 10.000 Meter.

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Klaus Köste postum in der Hall of Frame
[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Was an der Lohn- und Preispolitik der DDR nicht stimmte

Schwarzbrote für Rindermägen

Die DDR stand immer in einem erbitterten Abwehrkampf gegen Versuche kapitalistischer Klassengegner im Westen, ihren systematischen Aufbau zu verhindern. Im Laufe der Jahre wurde dieser immer komplizierter, zumal nicht alles auf Anhieb gelang oder problemlos verlief. Nicht zuletzt auch eigene Fehler führten zu den von Westberlin aus gesteuerten Ereignissen des 17. Juni 1953. Die Tatsache, daß Arbeiter bereit waren, gegen Entscheidungen ihrer Führung, die ja fast ausschließlich selbst aus der Arbeiterklasse stammte, zu protestieren, löste damals bei etlichen unserer Funktionäre einen Schock aus. So sensibilisierte sie nicht grundlos das Wort "Streik" - konnte man doch nicht gegen sich selbst streiken.

Auf einer Kreisbauernkonferenz in Binz auf Rügen - ich war damals ein junger Agronom - wurde ich aus dem Saal gerufen. Hinter der Bühne stand Genosse Georg Ewald, der später dem Politbüro der Partei angehörte, und sagte mit bebender Stimme, in meiner LPG werde gestreikt. Ich solle sofort nach Hause fahren, die Lage sondieren und ihm unverzüglich Bericht erstatten. An Ort und Stelle ergab sich dann, daß ein betrunkener Melker die Staatssicherheit angerufen und mitgeteilt hatte, er werde am Nachmittag in den Streik treten, weil sein Kachelofen noch immer nicht repariert worden sei.

Besonders negative Auswirkungen auf die Bewußtseinsentwicklung der Bevölkerung hatte die hochgradige Subventionierung der Lebenshaltungskosten, was zu einem sorglosen Umgang mit vielen Dingen des täglichen Bedarfs führte. Durch eine umfassende Analyse der Industrie- und der Landwirtschaftspreise als Grundlage für notwendige Veränderungen war der reale, gesellschaftlich notwendige Aufwand für Produkte und Dienstleistungen festgestellt worden. Dadurch konnten erstmals die wirklichen Lebenshaltungskosten und die Kosten für eine Arbeitsstunde annähernd ermittelt werden. Der nächste und äußerst notwendige Schritt wäre die daraus resultierende Bewertung der menschlichen Arbeit und eine entsprechende Veränderung der Löhne und Gehälter gewesen. Durch die Angleichung der Verbraucherpreise hätte das grundsätzlich keine Auswirkungen auf den Lebensstandard der DDR-Bürger gehabt. Die staatlichen Subventionen für Verbraucherpreise aller Bereiche waren ja immer aufgewendet worden und mußten nur entsprechend umverteilt werden.

Die Einführung kostendeckender Verbraucherpreise hätte den Menschen das wahre Ausmaß der Vergeudung vor Augen geführt und sie auf einen sparsameren Verbrauch lebensnotwendiger Produkte und Dienstleistungen sowie eine entsprechende Nutzung ihres Wohnraums hingelenkt. Immerhin läßt sich ein Fünf-Pfennig-Brötchen leichter wegwerfen als eines für 40 Pfennig.

Für fast alle Lebensbereiche wurden durch staatliche Subventionen die tatsächlichen Kosten verharmlosend kaschiert und damit eine gleichgültige Einstellung zum Verbrauch begünstigt. Hinzu kamen auf dem Gebiet der Nahrungsgüterwirtschaft enorme Verluste durch Verfüttern von Lebensmitteln, in denen ein großer sachlicher Aufwand und kostbare Arbeitszeit steckten. So wurden in ländlichen Gebieten etwa 70 % des einfachen Schwarzbrotes, das 51 Pfennig kostete, an Rinder verfüttert. Ähnlich verhielt es sich bei Haferflocken und anderen Nahrungsmitteln, die sich für die Aufzucht von Junggeflügel eigneten.

Das Problem bewegte durchaus nicht wenige Menschen. So erzählte ein Abteilungsleiter des Rostocker Konsum-Backwarenbetriebes in der Sauna von seinen Bemühungen, die Schwarzbrot-Verschwendung wenigstens den Sommer über zu unterbrechen. In jenem Jahr war es besonders heiß, so daß die Zahl der Ostseeurlauber unerwartet stark anstieg, was zur Verknappung bei Brot führte. Weil besagtes 51-Pfennig-Schwarzbrot von Menschen kaum noch gegessen wurde, hatte sich unser Abteilungsleiter gefreut, die Produktion des "Mastbullenfutters" zugunsten anderer Brotsorten vorübergehend einstellen zu können. Das Ergebnis seiner Bemühungen war dann aber, daß man ihn zwang, aus Verwaltungskräften seines Betriebes eine vierte Schicht zu bilden, um das Futterbrot wieder "sortimentsgerecht" produzieren zu können.

Dieser Zustand war der Partei- und Staatsführung bekannt und wurde dort heftig diskutiert. Im Mittelpunkt stand dabei die Notwendigkeit einer Korrektur der Verbraucherpreise wie der Löhne.

Doch nichts geschah. Statt dessen hatten bekannte Ökonomen die Beibehaltung der subventionierten Verbraucherpreise zu verteidigen, obgleich einige von ihnen selbst andeuteten, andere Lösungswege zu kennen. Auf einer Berliner Konferenz setzte Günter Schabowski den Schlußstrich unter diese Debatte, indem er den Redebeitrag einer Ingenieurin besonders lobte, welche die niedrigen Verbraucherpreise nachdrücklich verteidigt hatte. Warum wurde die gesellschaftlich notwendige Preiskorrektur nicht konsequent durchgesetzt? Es gab Befürchtungen der Führung, daß dabei Probleme auftreten würden, die zeitweilig zu scharfen Spannungen führen könnten. Diese Sorge war durchaus berechtigt, wie die Durchführung der Agrarpreisreform zeigte. Für Ökonomen der Landwirtschaft war es relativ einfach, den sachlichen Aufwand z. B. bei der Milchproduktion zu ermitteln. Weitaus schwerer wurde es aber für sie einzuschätzen, welche Auswirkungen die menschliche Initiative auf die Senkung der Herstellungskosten haben würde. Die Möglichkeit, Milch nach Jahrzehnten endlich wieder mit Gewinn produzieren zu können, wirkte auf Mitglieder und Beschäftigte in den LPG und VEG geradezu elektrisierend.

So war eine nachträgliche Herabsetzung des Erzeugerpreises schwierig und unpopulär. Eher wäre dessen bewußt niedrigere Ansetzung möglich gewesen. Bei Bedarf hätte man den Preis dann ja ohne Schwierigkeiten erhöhen können. Von der DDR-Bevölkerung waren bisher keinerlei negative Erfahrungen mit Preisveränderungen gemacht worden - sei es bei der Zusammenführung der niedrigeren Lebensmittelmarken- und der höheren HO-Preise, sei es bei Preisveränderungen im Konsumgüterbereich.

Die möglichen Rationalisierungseffekte, welche die Betriebe entdeckten, um den Produktionsaufwand zu senken, waren weitaus größer als angenommen, und der Gewinn aus der Milchproduktion, um beim Beispiel zu bleiben, stieg sogar über das vorgesehene und gesellschaftlich vertretbare Maß hinaus. Für meine LPG, die erhebliche Mengen erzeugte, war das natürlich ein Glücksfall, weil wir dadurch die aufgenommenen Kredite sehr viel schneller abzahlen konnten.

Bei der Korrektur der Verbraucherpreise wäre der gleiche Effekt eingetreten. Angesichts des enormen Umfangs und ihrer Komplexität hätte man die mögliche Einsparung aber sehr viel schwerer bestimmen können. Eine nachträgliche Korrektur der Preise nach oben wäre politisch nicht denkbar gewesen, zumal die westlichen Medien daraus einen Propagandaschlager ersten Ranges gemacht hätten. Also unterblieben gesellschaftlich notwendige Maßnahmen, die für die Volkswirtschaft außerordentliche Bedeutung gehabt hätten. Das unreal niedrige Lohnvolumen und die "zweite Lohntüte" in Gestalt stark subventionierter Preise für Produkte, Dienstleistungen und Wohnraum blieben unverändert.

Dr. Dieter Krause, Greifswald


Unser Autor war LPG-Vorsitzender und Leiter des Wissenschaftlich-Technischen Zentrums für Landwirtschaft beim Rat des Bezirkes Rostock.

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Wohnvergnügen im "Szeneviertel"

Da mich mein Weg im Frühjahr 2013 beruflich nach Berlin führte, habe ich mir dort eine Wohnung suchen müssen. Alles, was meinem Freundeskreis hierbei bereits widerfahren war, sollte auch ich über mich ergehen lassen: Massenbesichtigungen im Pulk von 50 Mitbewerbern oder Inaugenscheinnahme eher schäbiger Löcher. Hinzu kamen jene privaten Vermieter, welche Bewerbungsunterlagen, möglichst mit Porträtfoto, verlangten und obendrein noch einen mehr oder weniger klugen Text, aus dem hervorgehen sollte, daß man das ihnen angebotene Quartier für geradezu ideal halte. Die kommunalen Anbieter schienen vom Ansturm der Wohnungsuchenden total überfordert.

Endlich - nach fünf Monaten Suche - konnte ich eine sanierte Altbauwohnung im früheren Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg, der nach erheblichen sozialen Umgruppierungen immer mehr zu einem "Szeneviertel" wurde, beziehen. Die Modernisierung meines neuen Heimes beschränkt sich auf Küche und Bad. Im großen Flur gibt es keine Steckdose. Die Wohnungstür schließt auch nach zwei Reparaturanläufen noch immer nicht richtig. Der einstmals imposante Deckenstuck im Wohnzimmer wurde mit weißer Farbe übertüncht. Die in Aussicht gestellte Klingel- und Gegensprechanlage fehlt weiterhin, so daß es altbewährter Klopfzeichen bedarf. Der Hausverteilerkasten für die Telekommunikation hängt in einer Plastiktüte unter freiem Himmel im Hinterhof.

Mein 42 Quadratmeter großes "Wohnvergnügen" kostet im Monat 595 Euro Warmmiete. Bei all dem ist mir eines klargeworden. Wohnraum wird inzwischen so billig wie möglich saniert oder modernisiert, um aus ihm höchstmöglichen Profit zu schlagen.

Hier drängt sich ein Vergleich zur 1990 durch die BRD vereinnahmten DDR auf. Unter sozialistischen Bedingungen waren Miethäuser meist Volkseigentum oder gehörten Genossenschaften. Kaum jemand konnte sich daran bereichern.

Um der Platitüde "Die Kommunisten haben ja alles verfallen lassen!" gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, sei eingestanden: Bei der Sanierung unserer Altbausubstanz gab es enorme Defizite. Das war Bauminister Wolfgang Junker durchaus bekannt. Doch so sehr er sich auch um Abhilfe bemühte, sein Drängen auf Modernisierung unansehnlicher alter Gebäude stieß beim SED-Politbüro auf taube Ohren. Das konzentrierte sich auf die drei Millionen Einheiten des von ihm nicht ganz grundlos favorisierten Wohnungsneubauprogramms. Es sollte 1990 abgeschlossen sein. Ob es danach einen Schwerpunkt "Modernisierung von Altbauten" geben sollte, entzieht sich meiner Kenntnis.

Für die Renovierung der Altbaugebiete hätten die DDR-Bürger zweifellos in die Tasche greifen müssen. Ohne eine angemessene Mieterhöhung wäre es nicht gegangen. Bekanntlich sind heutige BRD-Bürger ja auch dazu bereit, mehr als ein Drittel ihres Nettoeinkommens für die Miete hinzulegen. Doch es gab einen wesentlichen Unterschied: Während es in der DDR bei Mieterhöhungen mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Revolte gekommen wäre, wird die gnadenlose BRD-Mietpolitik stillschweigend hingenommen. Daraus ergibt sich wohl, daß die Angepaßtheit der Menschen im kapitalistischen Deutschland sehr viel ausgeprägter ist, als sie es jemals im Sozialismus war.

Rico Jalowietzki

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Rückkehr in mein verlorenes Land

Es ist kalt geworden in Deutschland - mitten im Sommer. Da denkt und träumt man unwillkürlich über die eigenen Landesgrenzen hinaus. Doch wo hat es mir am besten gefallen?

Ginge es allein um die Landschaft, dann fiele mir die Entscheidung schwer. Ich müßte sie zwischen der seidenweichen, von Zitrusfrüchten gesättigten Luft Zyperns, dem durchdringenden Zikadenton in der Weite der durchglühten Sahara, dem liladunklen schottischen Hochland und den am Horizont bei Annäherung wachsenden weißgesäumten Bergen der Alpen treffen. Als gebürtige Mecklenburgerin habe ich den starken Zug der Ostsee gespürt. Ihre Schönheit schmerzt, überwältigt mich. Ich mag sie, wenn sie strahlend blau am Ende des vertrauten Birkenweges wie in einem Fenster auftaucht, sie gefällt mir, wenn sie auf schmalem Sandstrand die Füße umspült. Sie bezaubert mich, wenn sie bei Sturm über die Mole schäumt, wenn mich ein starker Wind mit Gischt bespritzt und mit scharfem Sand übersät. Mir liegen die groben Steine auf dem Kliff, die anfliegenden Uferschwalben bereiten mir ebenso Freude wie die auf Reede liegenden Schiffe. Was mich bei all den schönen Erinnerungen frösteln läßt, ist die wachsende soziale Kälte in diesem Land.

Auf Kuba, einem Stachel im Fleisch des Kapitalismus, könnte ich leben. In meinem Gedächtnis haftet unsere Reise dorthin Anfang der 90er Jahre. Es war wie eine Rückkehr in mein verlorenes Land, war Heimkommen.

Dabei mutet doch vieles dort recht exotisch an. Morgens saugen winzige Kolibris den Nektar aus den Blüten am Balkon. Sie stehen mit sirrenden Flügeln in der Luft. In der Hecke hinter dem Hotel baumelt ein Nest am Zweig, nicht größer als ein 50-Pfennigstück. In der bunten Märchenwelt am Riff necken wir einen Kalmar. Schlagartig wechselt er seine Farbe von rot nach grellweiß. Zu einer Tintenwolke, die wir herausfordern möchten, entschließt er sich aber nicht. Abends lachen wir über den dicken Ochsenfrosch, der quer durchs Lokal wandert.

Doch vor allem sind es die Menschen und deren Lebensweise, die uns beeindrucken. Die Kubaner sind fröhlich, haben stets Vorfahrt auf ihren überladenen Rädern, manche mit drei Personen besetzt. Zu Recht sind sie stolz auf ihre Schulen und Krankenhäuser, die sie natürlich unentgeltlich nutzen dürfen und die im Unterschied zu anderen Gebäuden in frischen Farben leuchten.

Was macht es da schon, daß die Tür des Hubschraubers, der uns über die Insel trägt, nur mit einem einfachen Überschlagriegel gesichert ist. Der dunkelhäutige Pilot singt während des ganzen Fluges. Kubaner sind schöne Menschen, ob tiefschwarz oder weiß. Rassendiskriminierung gibt es nicht. Frauen und Männer leben und arbeiten gleichberechtigt.

Verstehst du, warum ich, wäre ich jünger, gerne nach Kuba übersiedeln würde? Da dies aber illusorisch ist, gilt meine Solidarität ganz und gar den kubanischen Kindern wie der durch die karibische Insel der Freiheit vermittelten Vision einer besseren Welt.

Edda Winkel

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RF-Extra

Ein geschichtsträchtiger Berliner Bezirk im Wandel der Zeiten

Weinroter Prenzlauer Berg?

Allein im Norden Berlins gibt es über zwanzig Gruppen junger Arbeiter, Erwerbsloser, Lehrlinge, Schüler und Studenten, die sich in lockerem Verbund mehr oder weniger regelmäßig treffen, um politische Debatten zu führen und sich den Nazis auch auf der Straße entgegenzustellen. Vor geraumer Zeit lernte unser damals schon hochbetagter und inzwischen leider verstorbener Genosse Georg Dorn, ein erfahrener Pädagoge der DDR, solche jungen Leute kennen, die sich in der Kultur- und Schankwirtschaft "BAIZ" zu treffen pflegten. Sie gaben ihrer Gruppe den Namen "Antifaschistische Initiative Weinroter Prenzlauer Berg". Man faßte Vertrauen zueinander: Schorsch, wie er genannt wurde, nahm seine Gesprächspartner ernst und stand ihnen immer wieder Rede und Antwort. Daraus entwickelte sich mit der Zeit ein Vertrauensverhältnis. Warum nannten sie ihr Projekt eigentlich "weinrot"?

Der Prenzlauer Berg (PB) ist einer der ältesten und traditionsreichsten Berliner Arbeiterbezirke, auch wenn seit 1990 in großen Scharen dorthin übersiedelnde Zuwanderer aus dem Westen bestrebt sind, daraus ein "Szeneviertel" zu machen. Natürlich ist das nicht ohne Ergebnisse geblieben, wobei der gewandelte PB seine einstige Farbe keineswegs ganz verloren hat.

Dessen fortschrittliche Traditionen reichen weit zurück. Schon in der Revolution von 1848 schufen sich Arbeiter ihre erste große Kundgebungsstätte dort, wo sich heute der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark befindet. Von Beginn an war der ganze PB ein durch und durch proletarisches Wohngebiet und zugleich ein Aktionsfeld der revolutionären Arbeiterbewegung.

Die während der Gründerjahre ab 1871 dort massenhaft errichteten Mietskasernen dienten der Unterbringung von einer rasch wachsenden Industrie benötigter Arbeitermassen. So entstanden vier- bis fünfgeschossige Gebäude mit jeweils zwei, drei oder mehr Hinterhöfen, alles dicht an dicht.

Nach 1945 galt der PB als letztes noch vorhandenes Mietskasernenviertel in Europa. Die Einwohnerkonzentration war enorm. 1925 lebten hier 326.000 Menschen auf einer Fläche von nur 10,8 km², 1949 waren es immer noch 251.000. Über 80 % der Wohnungen besaßen weder Bad noch Dusche. Die Toiletten ohne Wasserspülung befanden sich auf Hinterhöfen oder Treppenabsätzen unterhalb der Wohnungen.

Im PB spielten sich erbitterte Klassenschlachten ab, fanden denkwürdige Meetings der Berliner Arbeiter statt. Zu ihnen sprachen August Bebel und der PB-Reichstagsabgeordnete Wilhelm Liebknecht, der dort im Wahlkreis VI bis zu seinem Lebensende unangefochten blieb. Von einer im Bezirk gelegenen Brauerei aus leitete Karl Liebknecht die Abwehrkämpfe der Proletarier Berlins in den schicksalsschweren Dezember- und Januartagen 1918/19. Im Saalbau sprachen Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck, entlarvte Walter Ulbricht auf einer Naziversammlung die Demagogie des faschistischen Propagandachefs Joseph Goebbels, was den Terror der paramilitärischen SA-Schläger auslöste. Im PB wurde die Ortsgruppe Berlin des Roten Frontkämpferbundes gegründet. Hier weihten die Roten Jungpioniere ihren ersten Berliner Klub für Arbeiterkinder ein.

1932 gehörten der KPD im Prenzlauer Berg etwa 3500 Genossen an, während die SPD 7000 Mitglieder zählte. Noch im März 1933 - kurz nach der Machtauslieferung an die Faschisten - entschieden sich 44 641 Einwohner für die KPD-Liste, während die SPD dort 50.770 Stimmen einfuhr. Zusammen verfügten beide Arbeiterparteien über eine solide Mehrheit, zumal auf Hitlers NSDAP nur 34,1 % des Votums entfallen waren. Dennoch kam es nicht zur Aktionseinheit. Den braunen Terror der zwölfjährigen Nazidiktatur überlebten etwa 900 Mitglieder beider Parteien. Die Antifaschisten hatten nicht kapituliert. Während die SA-Leute in den Kellern des Wasserturms ein KZ einrichteten, in dem sie ihre Opfer folterten und mordeten, wehte eines Tages auf der Spitze des Turms eine rote Fahne mit Hammer und Sichel. Auf einem Spruchband standen die Worte: "Antifaschistische Aktion - her zu uns!"

35 Gedenktafeln wurden zu DDR-Zeiten im Prenzlauer Berg für Helden des Widerstandes angebracht, 41 Straßen nach ihnen benannt.

"Fichte"-Sportler vom PB unterhielten seit Ende der 20er Jahre Freundschaftsbeziehungen zu Arbeiter-Sportsleuten im sowjetischen Stahlwerk Saporoshje. Ein rotes Seidenbanner, das einige von ihnen dort in Empfang genommen hatten, überstand Haussuchungen, Leibesvisitationen und Gepäckkontrollen der Faschisten. In einer Laubenkolonie illegal lebende Genossen übergaben die Fahne am 22. April 1945 den Befreiern des PB.

In den ersten Maitagen hatten die sowjetischen Truppen den gesamten Stadtbezirk von den Hitlerfaschisten gesäubert. Noch kurz zuvor - am 2. Mai - war der sozialdemokratische Arbeiter Otto Schieritz, der am Balkon seiner Wohnung eine weiße Fahne gehißt hatte, von SS-Angehörigen umgebracht worden. Doch schon tags darauf öffnete ein anderer Sozialdemokrat, der Genosse Franz Kallin - vor 1933 Betriebsratsvorsitzender bei Aschinger - mit einigen seiner Kollegen den Rotarmisten die Tore zur Großbäckerei. Im April 1946 gehörte er zu den Delegierten des historischen Vereinigungsparteitages von SPD und KPD. Später war er Direktor der volkseigenen Brotfabrik "Aktivist".

Durch die Kriegsfolgen wurde ein Fünftel aller Wohnungen im PB zerstört, der Rest überwiegend schwer beschädigt. Von den Schulgebäuden blieben nur drei unversehrt. Kurz vor Beendigung der Kampfhandlungen hatte die SS noch ganze Wohnviertel niedergebrannt, um sich "Schußfreiheit" gegen die anrückenden sowjetischen Verbände zu verschaffen. Dieses Gebiet hieß anschließend "tote Stadt". Erst als Jugend- und Lehrlingsbrigaden des VEB Bau in den 50er Jahren dort neue Wohnhäuser errichteten, wurde daraus allmählich die "grüne Stadt".

Schon am 27. April 1945 hatten sich Antifaschisten in einem Lokal der heutigen Paul-Robeson-Straße getroffen. Am 3. Mai bildete sich eine parteiübergreifende provisorische Leitung aus Kommunisten, Sozialdemokraten und damals noch Parteilosen. Genossen der KPD und der SPD gründeten Initiativgruppen zur Normalisierung des Lebens in den einzelnen Vierteln. Man begann damit, die Häuser wieder bewohnbar zu machen, eine elementare Versorgung der Bevölkerung aufzunehmen, die Kinderspeisung einzuführen und mit Tausenden "Neulehrern" ohne entsprechende Ausbildung den Schulunterricht zu wagen. Brennmaterial für den Winter wurde beschafft. Das neue Bezirksamt nahm mit Kommunisten und Sozialdemokraten an der Spitze die Arbeit auf.

Am 5. April 1946 schufen 8800 KPD- und 6880 SPD-Genossen im Prenzlauer Berg durch ihren Zusammenschluß den ersten Berliner Kreisverband der SED. Bewährten Antifaschisten vertraute man nun die Schlüsselpositionen im Staatsapparat und in den schon nicht mehr kapitalistischen Betrieben an. So wurde die aus dem KZ Ravensbrück befreite Kommunistin Aenne Saefkow - Witwe eines hingerichteten Widerstandshelden - Bürgermeisterin im PB. Franz Fischer, ein Mitkämpfer Ernst Thälmanns, trat als 1. Kreissekretär an die Spitze der SED. Andere Überlebende des antifaschistischen Untergrunds organisierten die Produktion, engagierten sich führend beim Aufbau der Großindustrie oder übernahmen Aufgaben bei der Schaffung neuer Sicherheitsorgane.

Die evangelische und die katholische Kirche im Stadtbezirk sowie die jüdische Synagoge mit Rabbiner Martin Riesenburger scharten zu einem Neuanfang bereite Gläubige um sich. Im Block der antifaschistisch-demokratischen Parteien und Massenorganisationen herrschte eine Atmosphäre kameradschaftlicher Zusammenarbeit. Das war die Gewähr für ein Gelingen der revolutionären Umwälzungen in Industrie, Landwirtschaft, Justiz und Bildungswesen, die am 7. Oktober 1949 in der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik gipfelten.

Doch der 1952 begonnene Aufbau des Sozialismus stieß auf heftigen Widerstand innerer und äußerer Feinde. Am 17. Juni 1953 mußten wir auch im PB unsere volkseigenen Betriebe gegen den konterrevolutionären Putschversuch handfest verteidigen. Während ihn die Werktätigen abwehrten, stellten sie zugleich hartnäckig Fragen zu jenen ernsten Fehlern, welche durch uns vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik begangen worden waren. Aber trotz der Empörung über administrative Normerhöhungen - ein Schritt, der ab 9. Juni korrigiert wurde - kam die Produktion in den Betrieben des PB nicht zum Erliegen.

Im August 1961 sicherten wir unsere bis dahin offene Staatsgrenze zu Westberlin. Das brachte besonders für die Bewohner der Häuser im Grenzstreifen unerfreuliche Erschwernisse mit sich. Und: Etliche, die bis dahin bei uns billig gewohnt und gelebt, aber "drüben" gearbeitet und zu einem Schwindelkurs konvertierbares Westgeld verdient hatten, mußten jetzt im Osten zu Normalbedingungen tätig sein.

Verwandtenbesuche von Ost nach West und umgekehrt waren zeitweilig gar nicht, später mit deutlichen Einschränkungen möglich. Dennoch wurde die Tatsache, daß der unfaire Abkauf unserer Warenbestände und die Inanspruchnahme extrem billiger Dienstleistungen durch Einwohner Westberlins ein Ende gefunden hatten, von sehr vielen Menschen honoriert. Es ging nun zügiger voran.

In den vier Jahrzehnten der DDR veränderte unser Stadtbezirk gründlich sein Gesicht. Neue Werke der Elektrotechnik und Elektronik sowie des Anlagenbaus siedelten sich im PB an. Neubaugebiete für mindestens 15.000 Einwohner des Stadtbezirks wurden buchstäblich aus dem Boden gestampft. Zu unserem besonderen Stolz gehörte das großzügige Wohnensemble des Thälmannparks, in dessen Zentrum sich das inzwischen heiß umkämpfte und von Reaktionären ständig bedrohte Denkmal des unvergessenen Arbeiterführers befindet.

Auch im Altbauviertel erfolgte die Modernisierung zahlreicher Wohnungen oder die Rekonstruktion von Gebäuden im historischen Stil. Andererseits gab es auf diesem Gebiet ernste Defizite, die keineswegs kurzfristig behoben werden konnten. Hervorragend ausgestattete Schulen, Kindereinrichtungen, Kaufhallen, Heime für alte Menschen, Volksschwimmhallen sowie ein Planetarium kontrastierten damit.

Trotz aller Erfolge kam die DDR aus äußeren wie auch aus inneren Gründen zu Fall und wurde 1990 von der BRD annektiert, was man als "Wiedervereinigung" auszugeben versucht. Über weitere Ursachen dieser Niederlage muß mit großer Redlichkeit nachgedacht werden.

1989/90 wurde der beste Staat in der deutschen Geschichte durch die Konterrevolution zu Fall gebracht. Nicht wenige DDR-Bürger gaben den Sozialismus preis, da bei ihnen neben der permanenten Gehirnwäsche durch die Medien des Kapitals auch die realitätsferne schönfärberische Berichterstattung der eigenen Zeitungen und Sender Frustration hervorgerufen hatte. Der eingetretene Vertrauensverlust bewirkte vor allem auch, daß die SED ihre führende Rolle in Staat und Gesellschaft einbüßte. Aussprachen in Betrieben, bei denen wir uns als Parteifunktionäre den kritischen Fragen der Kollegen nicht entzogen, liefen oftmals voller Bitterkeit ab. Zugleich setzte eine vom Klassengegner gezielt hineingetragene Pseudokampagne gegen tatsächlichen oder erfundenen "Machtmißbrauch" und "Privilegien" ein. Damals grüßten uns manche nicht mehr. Das ist insofern aufschlußreich, weil uns viele der Betreffenden später wieder ganz anders gegenübertraten. Begegnet man jenen, welche sich in kritischen Tagen bisweilen schroff von uns abwandten, heute erneut, dann ist nicht selten die alte Vertrautheit wieder vorhanden.

Nicht wenige von ihnen erzählen freimütig von ihrem Mißgeschick, machen aus ihrer Enttäuschung über die Wirklichkeit des Kapitalismus kein Hehl, den sie zunächst - der allgemeinen Sprachregelung folgend - als "Wende" betrachtet und begrüßt hatten. Sie hätten die DDR nicht "weghaben wollen", sagen sie jetzt. Sie hätten die Illusion gehegt, sämtliche Errungenschaften des Sozialismus behalten und zugleich die "Sonnenseiten" der westdeutschen Konsumgesellschaft genießen zu können.

So ist es sicher kein Zufall, daß 2009 im Wahlkreis 77, zu dem der größte Teil des PB gehört, 28,8 % der Abstimmenden für den Bundestags-Direktkandidaten der Partei Die Linke votierten, während 27,5 % der Zweitstimmen auf diese Liste entfielen.

In den Vierteln unseres Stadtbezirks hat sich in den letzten Jahren vieles stark verändert. Inzwischen gibt es dort keine nennenswerte Industrie mehr, statt dessen aber unzählige Handels- und Dienstleistungseinrichtungen. Auch die soziale und Altersstruktur war diesen Umwälzungen unterworfen. So fragt sich, ob der Prenzlauer Berg unter Berücksichtigung seiner historischen Traditionen eines Tages wieder als rot oder zumindest weinrot bezeichnet werden kann, wofür sich die jungen Leute um Georg Dorn, von denen am Beginn dieses Berichts die Rede war, engagiert haben. Man sollte die Hoffnung nicht aufgeben.

Dr. Ernst Heinz


Unser Autor war viele Jahre 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Prenzlauer Berg und danach Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin. Nach der Gründung des "RotFuchs"-Fördervereins im Jahre 2001 wurde der bewährte Marxist - er gehörte der Partei Die Linke an - Vorsitzender der Berliner RF-Regionalgruppe.

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Der Bülowplatz-Prozeß war der Auftakt zur Abrechnung mit der KPD

Warum Ernst Thälmann nicht vor Gericht gestellt wurde

Am 28. Februar 1933, kurz nach 21 Uhr, brannte der Reichstag. Von den Führern der Nazipartei - Hitler, Goebbels und Göring - wurden sofort die Kommunisten bezichtigt, ihn angesteckt zu haben. Der Polizei-Funkdienst hatte schon um 18.33 Uhr (!) einen Spruch abgesetzt, in dem die Festnahme führender Mitglieder der KPD angeordnet wurde: Ernst Thälmann, Franz Dahlem, Paul Langner, Hermann Remmele, Fritz Becker, Helene Overlach, Frieda Krüger, Arthur Gohlke, Oskar Pötsch, Wilhelm Hein, Wilhelm Pieck und Wilhelm Florin.

Nachdem Ernst Thälmann am 3. März verhaftet worden war, bereitete die Berliner Staatsanwaltschaft einen Prozeß gegen ihn vor. Trotz aller Bemühungen mußte der Oberstaatsanwalt am Reichsgericht Leipzig Floegel, zuständig für "die beiden wichtigen Sachen gegen Schneller und Thälmann", in einem Schreiben an Landgerichtsdirektor Braune (Berlin) vom 7. Juli 1933 feststellen, daß "noch wenig oder gar kein beweisbares Material über die eigentliche und Haupttätigkeit des Angeschuldigten als Führer der KPD und über seine Verantwortung für alle unter seiner Leitung begangenen Verbrechen" vorhanden sei. "Wir hätten deshalb gern von Ihnen erfahren, ob solches Material bereits vorliegt oder wie es am zweckmäßigsten erbracht werden kann."

Bereits am 21. Juli 1933 hatte die Kriminalpolizei Berlin "belastbares Material" gefunden. "wegen Beteiligung an der Ermordung der Polizeioffiziere Anlauf und Lenk im August 1931" würden gesucht: Heinz Neumann, Albert Kuntz, Wilhelm Peschki, Herbert Dobersalzke und Willi Becker.

Am 13. September 1931 wurde von der Staatsanwaltschaft die Voruntersuchung gegen Albert Kuntz beantragt. Zu diesem Zeitpunkt lief gegen ihn und Walter Fisch ein Gerichtsverfahren. Obwohl er am 15. September freigesprochen wurde, entließ man ihn nicht, weil gegen ihn "eine Sache wegen Mordes" in Berlin schwebe. Am 28. September 1933 kam Albert Kuntz in das Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit. Er war in die Stadt zurückgekehrt, in der er von Juni 1930 bis Mai 1932 als Org.-Sekretär der KPD-Bezirksleitung Berlin-Brandenburg-Lausitz-Grenzmark am Kampf seiner Partei gegen den zur Macht drängenden Faschismus teilgenommen hatte.

Der Mordanklage gegen Albert Kuntz lagen die Ereignisse des 9. August 1931 auf dem Berliner Bülowplatz (heute Rosa-Luxemburg-Platz) zugrunde. Am Tag des Volksentscheids für die Auflösung des Preußischen Landtags hatten sich viele Arbeiter vor dem Karl-Liebknecht-Haus, dem Sitz der Parteiführung und der Bezirksleitung der KPD, eingefunden, um die Ergebnisse zu erfahren. Bei einem von der Polizei vor dem Kino Babylon provozierten Zusammenstoß wurden zwei ihrer Offiziere getötet.

Der nun einsetzenden Hetze gegen Kommunisten erlagen selbst jene liberalen Blätter, welche sich sonst noch ein gewisses Maß an Objektivität bewahrt hatten, konstatierte Carl von Ossietzky in der "Weltbühne". Justiz und Polizei wandten nicht wenig Mühe auf, um der KPD den Tod der beiden Offiziere anzulasten und die Führung der Partei unter Thälmann der Anstiftung zu terroristischen Aktionen gegen den Staat zu beschuldigen. Nach umfangreichen Untersuchungen mußte die Justiz der Weimarer Republik aber auf eine Anklageerhebung verzichten.

Im Jahr nach der Machtauslieferung an die Hitlerfaschisten wurde der Bülowplatz-Fall wieder aufgenommen. Am 16. März 1934 eröffnete der Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin gegen 15 Angeklagte das Hauptverfahren. Die politische Absicht dieser Justizfarce war offenkundig. War es den Faschisten im Reichstagsbrandprozeß nicht gelungen, die KPD als eine Bande politischer Luntenleger zu diskreditieren, so sollte mit der Verurteilung von Albert Kuntz und anderer Kommunisten nun die deutsche und internationale Öffentlichkeit davon überzeugt werden, daß Thälmanns KPD terroristische Aktionen gegen politische Gegner befohlen und Mordbefehle erteilt hatte.

Die Baseler "Rundschau" warnte bereits am 31. Mai 1934 vor der Absicht der Faschisten, Ernst Thälmann in den Bülowplatz-Prozeß zu verstricken, um auch gegen ihn eine Mordanklage erheben zu können. Deshalb komme diesem Verfahren eine prinzipiellere Bedeutung als allen bisherigen Prozessen gegen Kommunisten zu. Diese wurden - in der Wortwahl der faschistischen Staatsanwälte - gegen "Täter" oder direkte Teilnehmer an "Überfällen" eingeleitet. Am Ende standen Bluturteile. "Im Prozeß gegen Albert Kuntz und Genossen richtet sich die Anklage gegen den politisch verantwortlichen Funktionär ... der Berliner Bezirksleitung, der für die Zusammenstöße und deren Folgen direkt zur Rechenschaft gezogen wird. Gelingt es, den Genossen Kuntz dem Henker zu überliefern, dann wird nicht einfach ein Unschuldiger mehr grausam ermordet, sondern es wird damit zugleich gegen Tausende und Abertausende Mitglieder der KPD das Todesurteil gesprochen, vor allem aber gegen den Führer der Partei, der ... für alle Opfer verantwortlich gemacht werden soll, die es bei der Abwehr des polizeilichen und faschistischen Terrors gegeben hat."

Angesichts der Bedeutung des Prozesses tagte in Paris der "Untersuchungsausschuß zur Aufklärung und Verhinderung der Greuel in Hitlerdeutschland" seit dem 6. Juni 1934 in Permanenz. In einem Telegramm an den Vorsitzenden des Moabiter Schwurgerichts stellte das Gremium fest, daß es in der bisherigen Rechtsprechung noch nie einen Prozeß gegeben habe, bei dem "Menschen, die in keiner Beziehung zur Tat stehen, unmittelbar des Mordes angeklagt werden, als ob sie die Tat selbst begangen hätten ... Wir müssen daher den Prozeß gegen Albert Kuntz und die 14 Arbeiter als Manöver auffassen, das die theoretische und praktische Grundlage zur Aburteilung Ernst Thälmanns schaffen soll." Der Ausschuß folgerte, daß die faschistische Justiz dabei sei, "eine ungeheuerliche Rechtsprechung zu konstruieren, welche die 'intellektuelle Urheberschaft' einführt, um sie in der Folge ... vor allem auf Ernst Thälmann anzuwenden".

Der Bülowplatz-Prozeß begann am 14. Juni 1934 vor dem Schwurgericht in Berlin-Moabit und dauerte zehn Verhandlungstage. Er wurde als "öffentliches Verfahren" vor etwa 40 sorgfältig ausgewählten Zuhörern mit Einlaßkarte geführt. Angeklagt waren Albert Kuntz und 14 Genossen, die als Wachschutz im Karl-Liebknecht-Haus gearbeitet oder dem Parteiselbstschutz angehört hatten. Die Behauptung des Staatsanwalts, die KPD-Führung habe einen Plan zur Ermordung der beiden Polizeioffiziere ausgearbeitet, und Kommunisten hätten ihn nach seinen Anweisungen vollzogen, wies Albert Kuntz energisch zurück. "Es handelt sich darum, die Politik der Kommunistischen Partei zu kompromittieren und durch diesen angeblichen Präzedenzfall zu beweisen, daß sie ... eine Partei des Terrors ist."

Die Angeklagten mußten weitgehend auf Entlastungszeugen verzichten, da jeder von ihnen Benannte unweigerlich in das Räderwerk der faschistischen Terrororgane zu geraten drohte. Eugen Schönhaar konnte als Zeuge nicht vernommen werden, da man ihn bereits "auf der Flucht erschossen" hatte. Albert Kuntz beantragte auch die Vorladung Thälmanns als Zeuge dafür, daß die Partei unter seiner Führung grundsätzlich Methoden des individuellen Terrors abgelehnt habe. Der KPD-Vorsitzende war zur Aussage bereit, zumal er dadurch eine Gelegenheit erhalten hätte, den gegen ihn erhobenen Anklagepunkt bereits im Vorfeld des vorbereiteten Hochverratsprozesses zu entkräften. Die faschistische Justiz wagte es weder, diesem Antrag stattzugeben noch ihn öffentlich abzulehnen, sondern nötigte die Verteidigung zu dessen Rücknahme. Entlastet wurde Albert Kuntz durch eine eidesstaatliche Erklärung des dänischen Journalisten Broby-Johansen, der bezeugte, daß der leitende KPD-Funktionär am 8. August 1931 gar nicht im Karl-Liebknecht-Haus gewesen sein konnte, da er ihm an diesem Tag die Arbeiterviertel Berlins gezeigt habe. Damit war der Anklage-Kronzeuge des Meineids überführt. Der hatte nämlich behauptet, an diesem Tag im Beisein von Albert Kuntz durch Hans Kippenberger den Mordauftrag erhalten zu haben. In seinem Schlußwort forderte Kuntz für sich und seine Mitangeklagten Freispruch, auf den sie alle angesichts der Ergebnisse der Verhandlung ein Anrecht hätten.

Das Verfahren gegen Albert Kuntz wurde eingestellt. Michael Klause, Max Matern und Friedrich Broede erhielten Todesstrafen, obwohl keiner von ihnen nachweislich am Tatort gewesen war. Klause wurde am 2. Mai 1935 begnadigt, sein Todesurteil in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe umgewandelt. Hitler übernahm zur Begründung des Gnadenaktes die Argumente des Untersuchungsrichters. Der hatte hervorgehoben, Klause habe nicht nur ein "umfassendes Geständnis" abgelegt, sondern auch "in umfangreicher Weise die inneren Zusammenhänge in der KPD, soweit sie Terrorakte betreffen, aufgedeckt und wertvolle Angaben in dieser Richtung, auch über bisher unbekannte oder nur ihrem Spitznamen nach bekannte Personen gemacht".

Sofort nach Bekanntwerden der Todesurteile erhoben das Welthilfskomitee sowie das französische Hilfskomitee Protest. Diesem schlossen sich namhafte Gelehrte und Schriftsteller Frankreichs an.

Noch am 19. Juni 1934 - dem Tag der Urteilsverkündung - trat in Paris die Juristenkommission für den Thälmannprozeß zusammen. Ihr gehörten etliche renommierte Strafverteidiger an. Nach Auswertung aller vorliegenden Dokumente über den Justizterror in Nazideutschland sowie unter Berücksichtigung des gerade beendeten Bülowplatz-Prozesses konstatierte das Gremium: "1. Es ist eindeutig, daß Ernst Thälmann weder durch einen deutschen noch durch einen ausländischen Verteidiger seiner Wahl unterstützt werden kann, wodurch ihm die Mittel einer juristischen Verteidigung genommen sind. 2. Die Anklage gegen Thälmann stützt sich auf die ungeheuerliche Bestimmung einer 'moralischen Schuld' oder 'intellektuellen Verantwortung'. Danach soll ihm die Schuld an allen von SA und Polizei provozierten Zusammenstößen beigemessen werden, ganz gleich, ob die Täter und Teilnehmer identifiziert werden konnten oder nicht, ob sie in berechtigter Notwehr gehandelt haben oder nicht."

Die Faschisten maßen dem Bülowplatz-Prozeß und der dort verfolgten Absicht, eine Verurteilung von Albert Kuntz zu erreichen, einen besonderen Stellenwert zu. In einem Gestapo-Dokument vom 20. Juni 1934 hieß es dazu: "Nach nochmaliger eingehender Prüfung wird infolge der bisherigen staatsfeindlichen Tätigkeit seit dem Jahre 1925 und da Kuntz Landtagsabgeordneter war, eine Aufhebung der Schutzhaft nicht befürwortet. Kuntz kommt außerdem als Zeuge in dem demnächst stattfindenden Hochverratsprozeß gegen den KPD-Führer Ernst Thälmann in Frage."

Alarmiert durch die faschistische "Deutsche Wochenschau", die im Mai 1934 den Prozeß gegen Thälmann vor dem gerade gebildeten "Volksgerichtshof" schon "für die nächste Zeit" angekündigt hatte, sowie angesichts der im Bülowplatz-Prozeß verhängten Todesurteile schlug das Welthilfskomitee vor, am 2. Juli 1934 in New York dem Terrorregime der Nazis einen Prozeß zu machen - in Anlehnung an den Londoner Gegenprozeß zum Leipziger Reichstagsbrand-Prozeß.

Einem daraufhin gebildeten Untersuchungsausschuß gehörten namhafteste Anwälte aus den USA an. Den Vorsitz übernahm der 77jährige Clarence S. Darrow. In einer Reihe aufsehenerregender Strafverfahren hatte er bekannte Führer der amerikanischen Arbeiterbewegung wie Eugene Debs verteidigt. Auch "Big Bill" Haywood und dessen Mitstreiter gehörten im gegen sie angezettelten Mordprozeß zu seinen Mandanten. 1925 war Darrow Hauptverteidiger in dem international stark beachteten "Affenprozeß" gegen Verfechter der Darwinschen Evolutionslehre. Auch Arthur G. Hays, der Verteidiger von Sacco und Vanzetti, der bereits im Londoner Gegenprozeß 1933 aufgetreten war, gehörte zum New Yorker Team.

Am 15. März 1935 wurde Ernst Thälmann eine Anklageschrift zugestellt. Doch bis zum Ende jenes Jahres zeigte sich, daß die faschistische Justiz einen formellen Prozeß gegen ihn nicht wagte. Dennoch behielt sie den KPD-Vorsitzenden "für alle Fälle" noch bis zum 13. August 1937 im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit, damit er "der Justiz zur Verfügung" stehe.

Die Vermutung liegt nahe, daß diese in ihrer Beweisnot gegen Thälmann noch einmal versuchen wollte, das im Bülowplatz-Prozeß lediglich eingestellte Verfahren gegen Albert Kuntz mit gleicher Zielsetzung wie 1934 wieder aufzurollen.

Erich Wichert, der als Mitangeklagter von Albert Kuntz 15 Jahre Zuchthaus erhalten hatte, erinnerte sich, daß er und andere damals Verurteilte 1936 ein weiteres Mal im Sinne der ursprünglichen Anklage vernommen worden ist. Die Nazis hatten offensichtlich die Hoffnung noch immer nicht aufgegeben, mit Hilfe damals verurteilter Kommunisten doch noch einen Schuldspruch gegen Albert Kuntz zu erzwingen, um auch Thälmann dadurch schwer belasten zu können. Doch keiner der Verurteilten wurde zum Verräter, so daß auch dieser neuerliche Angriff der faschistischen Justiz ins Leere stieß.

Im August 1937 wurde Thälmann in das Gefängnis Hannover, im August 1943 in das Zuchthaus Bautzen verlegt. Am 18. August 1944 ermordeten ihn die Faschisten im KZ Buchenwald.

Auch Albert Kuntz erlangte die Freiheit nicht wieder. Wohin ihn die Faschisten in den folgenden elf Jahren ihrer Diktatur auch verschleppten - in das KZ Lichtenburg, das Zuchthaus Kassel-Wehlheiden, die Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora - überall blieb er Funktionär seiner Partei. Er organisierte die Kommunisten unter den Bedingungen strengster Illegalität zum Widerstand gegen das Zuchthausregime und den SS-Terror.

Im Dezember 1944 wurde Albert Kuntz im KZ Mittelbau-Dora verhaftet und in der Nacht vom 22. zum 23. Januar 1945 von den Faschisten ermordet.

Dr. Leopoldine Kuntz, Zernsdorf

Ende RF-Extra

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Basil Porik kämpfte und fiel in der französischen Résistance

Ein ukrainischer "Held der Sowjetunion"

Basil Porik war ein Leutnant der Roten Armee. Während zu Zeiten der UdSSR auf seine ukrainische Nationalität nicht besonders hätte hingewiesen werden müssen, weil alle Sowjetbürger gleichermaßen für ihr gemeinsames Vaterland einstanden, hat deren Erwähnung angesichts der Errichtung des faschistoiden Kiewer Regimes einen tiefen Sinn. Der junge Offizier, von dem hier die Rede ist, war nämlich ein postmortal als "Held der Sowjetunion" geehrter Kämpfer der französischen Résistance.

Hier ist die Geschichte dieses mutigen Mannes, dem seine Heimat auf dem Friedhof des Städtchens Hénin-Beaumont das einzige sowjetische Denkmal in Frankreich errichtete. Damals erhielt Poriks westukrainisches Heimatdorf den Namen seines unerschrockenen Sohnes. Dort schuf man ihm zu Ehren auch ein Museum, während nach dem Roman Jurij Lyssenkos "Die Gefangenen von Beaumont" ein Basil Porik gewidmeter Film gedreht wurde. In den Reihen der maßgeblich von der FKP und deren Führern Maurice Thorez, Marcel Cachin und Jacques Duclos geprägten Francs-Tireurs et Partisans (F.T.P.) kämpfte der ukrainische Rotarmist gegen die Nazideutschland dienstbaren Rechtsextremisten im Norden des Landes. Sie versetzten den Okkupanten wie deren einheimischen Kollaborateuren schwere Schläge.

Jedes Jahr erweisen Einwohner von Hénin-Beaumont dem Andenken des in ihrer Region gefallenen sowjetischen Kommunisten und Internationalisten auf dem Friedhof der Stadt, wo Basil Porik nach der Befreiung bestattet wurde, die Ehre.

Wer war und was tat der junge Antifaschist, den es nach Frankreich verschlug?

Der Bauernsohn Basil Porik absolvierte 1941 die sowjetische Offiziersschule in Charkow. In der Folgezeit nahm er als Leutnant der Roten Armee am Großen Vaterländischen Krieg der sowjetischen Völker teil, bis er 1943 in faschistische Gefangenschaft geriet. Wie viele seiner Schicksalsgefährten wurde er zur Zwangsarbeit in das nordfranzösische Departement Pas-de-Calais deportiert.

In einer Grube der Minen von Drocourt mußte er untertage schuften. Dort teilten sein Los mehr als 7800 ukrainische Zwangsarbeiter, sowjetische Kriegsgefangene und nach Frankreich verschleppte Serben. Das den Hitlerfaschisten seit 1942 den strategischen Rohstoff Kohle liefernde Revier galt als "absolute Sperrzone". In Marles-les-Mines bei Auzin wurden in Sichtweite zu den Schächten zahlreiche Barackenlager errichtet.

Obwohl sie von den ihren Nazi-Brotherren bedingungslos ergebenen wallonischen Gendarmen scharf bewacht wurden, gelang es kommunistischen Kämpfern der Résistance, Kontakt zu den Gefangenen aufzunehmen und einen Teil von ihnen in eigene Aktionen einzubeziehen. Die aus den Camps Geflohenen konnten meist bei Bergarbeiterfamilien in der Region mehr oder weniger sicher untergebracht werden. Im Herzen des "schwarzen Landes", wie das französisch-belgische Kohlerevier genannt wurde, schlossen sich viele Geflüchtete den Partisanen an.

Basil Porik, der aus dem Lager von Beaumont-en-Artois hatte entweichen können, wurde im Herbst 1943 durch die FKP-Mitglieder Gaston und Emilie Offre Unterschlupf gewährt.

Der ukrainische Rotarmist erlebte einen raschen Aufstieg in der Widerstandsbewegung. Unter dem Befehl des F.T.P.-Kommandeurs Victor Tourtois übernahm er die Leitung einer Gruppe sowjetischer Kämpfer, die dem Gegner ernste Verluste zufügte. Ihre Schläge richteten sich vor allem gegen das mit den Hitleristen unter einer Decke steckende Vichy-Regime, das in der Marschall Petain eingeräumten "unbesetzten Zone" sein schmutziges Spiel trieb.

Ende April 1944 umzingelten die deutschen Faschisten Hénin-Liétard, nachdem sie erfahren hatten, daß dort geflüchtete sowjetische Militärs bei französischen Familien untergetaucht waren. Während sich Basil Kolesnik, Poriks engster Mitstreiter, nach heldenhaftem Kampf und der Tötung von elf Faschisten selbst die letzte Kugel gab, wurde Basil Porik ins Bein getroffen und in ein Gefängnis bei Arras verschleppt, wo man ihn grausamer Folter unterwarf. Doch am 25. April gelang ihm abermals die Flucht. In das Haus der Genossen Offre zurückgekehrt, nahm er trotz seiner Verletzung den Kampf sofort wieder auf. Noch einmal forderte der Bolschewik Basil Porik Hitlers 3. Reich heraus.

Auf seinen Kopf wurde nun ein hoher Preis ausgesetzt. Am 5. Mai 1944 fiel er den Verfolgern in die Hände. Aufs schwerste verwundet und dem Tode bereits nahe, wurde er noch am selben Tag in der Zitadelle von Arras erschossen.

In der örtlichen Zeitung "L'Héninois" würdigte Colonel Lhermitte, einst Teilnehmer des Kampfes der F.T.P, Anfang der 60er Jahre "den legendären Mut des Offiziers der Roten Armee". Und der kommunistische Journalist André Démarez schrieb: "Am Beginn des bewaffneten Kampfes der Résistance sprach noch niemand von Porik, der später dank der Entscheidung von Victor Tourtois zum engeren Kreis der F.T.P. gehörte."

In den 60er Jahren erhob die UdSSR den tapferen Ukrainer in den Rang eines "Helden der Sowjetunion". Gleichzeitig gab sie eine ihn darstellende Granitskulptur in Auftrag. Am 18. Februar 1968 waren zahlreiche Ehrengäste, unter ihnen der sowjetische Marschall Sokolowski und andere herausragende Kämpfer der Antihitlerkoalition, auf dem Friedhof von Hénin-Liétard bei deren feierlicher Enthüllung zugegen. Während Washington zur selben Zeit seine Aggression gegen Vietnam auf die Spitze trieb, würdigte Moskaus Botschafter in Paris die "französisch-sowjetische Zusammenarbeit, für die unsere besten Söhne ihr Blut vergossen haben".

RF, gestützt auf "Initiative Communiste", Paris, und "Étincelles", Le Creuzot

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Westliche Stimmen zum Machtwechsel in der Ukraine

Ein durch die NATO inspirierter Putsch

"Es war ein durch die Vereinigten Staaten angezettelter ukrainischer Putsch", überschrieb der US-Friedensrat eine am 25. April der Öffentlichkeit übergebene Erklärung. Sie wurde in der australischen Zeitschrift "the Beacon" - dem Monatsblatt der Melbourner Unitarian Peace Memorial Church - abgedruckt und redaktionell kommentiert. "Das US-Establishment gibt einmal mehr einen gewalttätigen Staatsstreich als demokratischen Aufstand aus", heißt es in dem Dokument. "Die Regierungen der NATO-Staaten und deren Medien zeigen mit Fingern auf Rußland, während die eigentliche Provokation verschleiert wird."

"Das Washingtoner State Department hat keineswegs nur Kekse an einige auf dem Maidan Protestierende verteilt, sondern auch gleich den Austausch der kompletten Regierung vorgenommen." Die USA hätten fünf Milliarden Dollar lockergemacht, um der Ukraine Demokratie zu bescheren.

Der US-Friedensrat ruft unwiderlegbare Tatsachen ins Gedächtnis: "Wir sollten nicht vergessen, wie regierungsfeindliche Proteste in anderen Ländern durch die CIA angezettelt oder für dubiose Zwecke ausgenutzt wurden. Das CIA-Drehbuch ist unendlich viele Male wiederholt worden: von Iran (1953) über Chile (1973), Haiti (1991 und 2004), Jugoslawien (in den 90er Jahren) bis zu Honduras (2009), Libyen, Ägypten, Syrien und Venezuela, um nur einige Länder zu nennen. Immer kam es zum Sturz von Regierungen."

Weiter heißt es: "Auch im Falle der Ukraine sollten wir das Ziel des Putsches nicht verkennen." Den monopolkapitalistischen Kreisen gehe es in erster Linie darum, der Ukraine die nationale Souveränität zu entreißen, ihre Ressourcen wie ihre Industrie durch totale Privatisierung zu stehlen und die Gewerkschaften wie die Zivilgesellschaft an die Kette zu legen.

Auch die in Glasgow erscheinende Zeitschrift "The Socialist Correspondent" analysierte die Machtübernahme faschistisch-proimperialistischer Kräfte in der Ukraine.

"Obwohl Janukowitschs korrupte Regierung unpopulär war, wurde sie immerhin demokratisch gewählt, und niemand hat 2010, als das geschah, diese Tatsache in Zweifel gezogen", konstatierte das angesehene Blatt britischer Marxisten. Seitdem diese Regierung aus dem Amt vertrieben worden sei, bestehe das Regime der Ukraine aus rechtsgerichteten und neonazistischen Parteien. Sehe man von Spanien, Portugal und Griechenland ab, dann markiere diese Tatsache die erstmalige Regierungsübernahme durch offene Faschisten im Nachkriegseuropa. Während sich bei den Protesten in Kiew der aus Kreisen neuer Nazis formierte Rechte Sektor als führende Kraft erwiesen habe, seien in Windeseile 60.000 Mann umfassende paramilitärische Faschisten-Verbände der sogenannten Nationalgarde aufgestellt und zum Amoklauf in die Ostukraine entsandt worden. "Regierungschef" Jazenjuk, der bereits Außen- und Wirtschaftsminister war, betrachte sich angesichts der durch ihn in Aussicht gestellten "Sparmaßnahmen" selbst als "den unpopulärsten Ministerpräsidenten in der ganzen Geschichte des Landes". Wie "demokratisch" die neue Herrschaft sei, illustriere allein die Tatsache, daß gleich drei Präsident Poroschenko im Geldwert ebenbürtige milliardenschwere Oligarchen - die kriminellen Räuber des einstigen Volkseigentums der Sowjetukraine - als Gouverneure in Charkow, Dnipropetrowsk und im Donbass eingesetzt worden seien.

"The Socialist Correspondent" verdeutlichte das ganze Maß der Verstrickung westlicher Mächte in die Auslösung der Ukraine-Krise. Schon sehr früh hätten der polnische, der litauische und der holländische Botschafter an den regierungsfeindlichen Demonstrationen teilgenommen. Auch ranghohe Staatsmänner und Diplomaten der USA und anderer NATO-Mächte - darunter der BRD - seien eigens zu Einmischungszwecken nach Kiew gereist.

Nicht weniger als 2200 sogenannte Nichtregierungsorganisationen (NGOs) - oft mit Geheimdiensthintergrund - hätten an der "Operation Ukraine" mitgewirkt. Während Victoria Nuland, Unterstaatssekretärin im U.S. State Department für europäische und asiatische Angelegenheiten, vor dem Putsch zumindest vier Reisen nach Kiew unternommen habe und wissen ließ, seit 1990 seien durch Washington fünf Milliarden Dollar "in die Ukraine gesteckt" worden, durfte auch US-Außenminister John Kerry nicht fehlen. Unverdrossen reihte er sich unter die "Maidan-Aktivisten" ein und forderte sie zum Sturz der gewählten Regierung eines Staates auf, mit dem die USA diplomatische Beziehungen unterhalten. "The Socialist Correspondent" bezeichnete das als Hohn auf das Völkerrecht. Die Zeitschrift rief auch den Part der BRD ins Gedächtnis: "Deutschland spielte die Schlüsselrolle beim Aufbrechen Jugoslawiens, womit es sein einstiges Kriegsziel, den Balkan zu kontrollieren, verwirklichen konnte. Auch die Ukraine ist ja im historischen Sinne ein Opfer des deutschen Imperialismus. Der Vertrag von Brest-Litowsk zwang 1918 die Bolschewiki, auf die Ukraine des Friedens willen zu verzichten. 1941 rissen sie dann die Nazis mit Gewalt an sich."

Rußland wünsche sich eine neutrale Ukraine außerhalb der NATO, resümiert das Glasgower Blatt. Obwohl kein sozialistisches Land mehr, habe es indes seine Fähigkeit bewiesen, der Expansion des Westens Einhalt zu gebieten. Dabei sei Moskau keineswegs isoliert. So hätten sich in der UNO-Vollversammlung bei der Abstimmung über das Krimreferendum nicht weniger als 69 Staaten der Stimme enthalten oder für die russische Position votiert. Stimmabstinenz übten z. B. China, Brasilien, Indien und Südafrika - allesamt Mitglieder der sogenannten BRICS-Gruppe.

"Die Erosion der unipolaren Weltordnung seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich durch die Ukraine-Krise beschleunigt, während Rußland als aufsteigende Großmacht neues Selbstvertrauen gewinnt. Es ist nicht gewillt, der 20jährigen NATO-Ausdehnung auf seine Kosten weiterhin keinen Widerstand entgegenzusetzen.

RF, gestützt auf "the Beacon", Melbourne, und "The Socialist Correspondent", Glasgow

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Vor 60 Jahren wehte Vietnams rotes Siegesbanner über Diên Biên Phu

Debakel einer Kolonialmacht

Vor 60 Jahren wurde das rote Banner mit dem goldenen Stern - die Flagge der Demokratischen Republik Vietnam - über der letzten Rückzugsbasis der bereits geschlagenen französischen Kolonialtruppen aufgezogen. Der Fall der mit modernster Kampftechnik bestückten Festung Diên Biên Phu wurde für das tapfere südostasiatische Volk, was für die Franzosen Valmy und nicht nur für Sowjetbürger Stalingrad bedeutete. Dort fand die Entscheidungsschlacht eines seit 1945 mit übermenschlichen Anstrengungen und enormen Opfern geführten Befreiungskampfes einer Nation statt, die zuvor schon der Okkupationsgewalt des kaiserlich-faschistischen Japans widerstanden hatte.

Das, was dem aus französischen Elitetruppen und Fremdenlegionären - darunter nicht wenigen früheren SS-Leuten, auch solchen aus der Westukraine - bestehenden Expeditionskorps der Grande Nation geschah, hatten dessen Generäle für undenkbar gehalten. "Zur Ehre der Legion" muß gesagt werden, daß in ihren Reihen auch etliche deutsche Antifaschisten, mehrheitlich aus den 999er Strafbataillonen, standen, die dann zur vietnamesischen Volksarmee übergingen und bei ihrer späteren Ankunft in der DDR stürmisch gefeiert wurden.

Die in Vietnam operierenden französischen Verbände wurden von besonders erfahrenen Kommandeuren befehligt, denen es nicht an Nachschub fehlte. Doch die Arbeiter im "Mutterland" nannten das Wüten der Kolonialsoldateska von Beginn an "La sale guerre" - den schmutzigen Krieg der Bourgeoisie. Er verschlang gewaltige Summen, was sich auf den damals noch sehr bescheidenen Lebensstandard der französischen Bevölkerung unmittelbar auswirkte. Die in jener Zeit sehr einflußreiche und auf marxistisch-leninistischen Positionen stehende FKP - sie erhielt bis zu einem Viertel der Wählerstimmen - und die von ihr geführte Gewerkschaftszentrale CGT organisierten sofort den Widerstand gegen den Kolonialterror der Armee des eigenen Landes.

Anfang 1954 beschloß der Generalstab der vietnamesischen Volksarmee mit Ho Chi Minh und Võ Nguyên Giáp an der Spitze unter Abwägung des fortgeschrittenen Demoralisierungsgrades der gegnerischen Streitkräfte, den entscheidenden Schlag vorzubereiten. Als Schauplatz wurde Diên Biên Phu ausgewählt, das Frankreichs Expeditionskorps zu einer Festung ausgebaut hatte, die Experten für uneinnehmbar hielten. Von dort aus wollte man die verlorene Offensive zurückgewinnen. Die zahlenmäßige Stärke der Garnison betrug am 7. Mai 1954 etwas über 14.000 Mann.

Die Volksarmee hatte auf geheimen Wegen in Teile zerlegte Geschütze und anderes schweres Gerät heranschaffen lassen - ein Vorgang, der später durch den legendären Ho Chi Minh-Pfad nach Südvietnam seine Wiederholung finden sollte. General Giáp und sein Stab nannten die leistungsfähigen Peugeot-Fahrräder, an denen sich Lasten bis zu 250 kg anbringen ließen, die "Taxis von der Marne". In seinen Memoiren bezifferte der Kommandierende die Ende 1953 erreichte Mannschaftsstärke der Viet Minh mit 252.000 Mann.

Am Vorabend der Schlacht von Diên Biên Phu war das Fort von 80.000 Männern und Frauen der Volksarmee, die sich ein weitläufiges Grabensystem geschaffen hatten, eingeschlossen. Am 5. Februar hatten die Bo doî, wie die vietnamesischen Kämpfer in der Landessprache hießen, den Ring fest geschlossen. Ihr Großangriff wurde am 13. März mit intensiver Artillerievorbereitung eingeleitet, was bei den Franzosen einen regelrechten Schock auslöste. Zugleich konnten die Funkverbindungen der Festung unterbrochen werden.

Der Angriff der Bo doî erfolgte in Wellen. Am 16. März beschädigten die vietnamesischen Artilleristen den Flugplatz der Festung so schwer, daß er als Nachschubbasis für die eingekesselte Garnison ausfiel. Am 23. April wurde er eingenommen.

Der eigentliche Sturmangriff begann am Abend des 1. Mai. Nach 57 Stunden ununterbrochenen Kampfes fiel die von Paris bis zuletzt als "absolut sicher" betrachtete Festung. Am 7. Mai wurde die Fahne Vietnams über Diên Biên Phu aufgezogen. 10.000 französische Militärs und Fremdenlegionäre hatten sich zuvor ergeben.

Als General Giáp Jahre danach eine Analyse des seinerzeitigen Geschehens vornahm, vertrat er den Standpunkt, die französischen Militärs hätten "nach ihrer formalen Logik die Lage völlig richtig eingeschätzt.

Die Volksarmee operierte 500 bis 600 Kilometer von ihren eigentlichen Basen entfernt, die Soldaten mußten innerhalb von 20 Tagen über diese Distanz auf das künftige Schlachtfeld herangeführt werden. Und es gelang, 260.000 Träger zu mobilisieren, die von sich sagten, ihre Füße seien aus Eisen gewesen. Die Franzosen hielten all das nicht grundlos für unmöglich. General Henri Navarre meinte dazu, daß wir seine Truppen in offener Feldschlacht niemals geschlagen hätten. Doch von uns waren 45 Kilometer Gräben ausgehoben und Nachrichtenkanäle über eine Distanz von 450 Kilometern geschaffen worden."

Diên Biên Phu war die längste, erbittertste und mörderischste Schlacht seit dem Zweiten Weltkrieg - ein Kulminationspunkt im antikolonialen Befreiungskampf der Völker. Mit der Belagerung des Forts verfolgte die DRV sowohl ein militärisches als auch ein diplomatisches Ziel. Es ging ihr darum, Frankreich unter für sie optimalen Bedingungen an den Verhandlungstisch zu zwingen. Am 20. Juli 1954 wurde das Genfer Friedensabkommen unterzeichnet. Die Franzosen mußten sich aus Indochina zurückziehen.

Doch die USA entfesselten schon bald den nächsten "schmutzigen Krieg". Während im Landesnorden die Demokratische Republik Vietnam bestand, die sich danach als sozialistischer Staat konstituierte, wurden im Süden aufeinanderfolgende Marionettenregime installiert. Am 16. Oktober 1956 rief der später ins Visier seiner Gönner geratene und durch sie kaltblütig umgelegte Diktator Ngô Dinh Diêm eine Pseudorepublik Vietnam von Washingtons Gnaden aus.

Der zweite Indochina-Krieg, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen, endete am 1. Mai 1973 mit der überstürzten Hubschrauberflucht der letzten Amis und einiger ihrer Lakaien vom Dach der Saigoner Botschaft der Vereinigten Staaten. Seitdem trägt die Stadt den Namen Ho Chi Minhs.

RF, gestützt auf "Étincelles", Theorieorgan des PRCF, Le Creuzot, Frankreich

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Chile: Kühne Pläne, kluge Projekte und knallharter Widerstand

Michelle Bachelets zweite Amtszeit

Am 11. März wurde in Santiagos Präsidentenpalast La Moneda, wo Salvador Allende im blutigen Herbst 1973 den Tod fand, eine wichtige Wählerentscheidung realisiert: Die 62jährige Kinderärztin Michelle Bachelet, die einst als politische Emigrantin aus der Sozialistischen Partei in der DDR ihre Ausbildung abschließen konnte, wurde als Chiles drittes Staatsoberhaupt nach dem Sturz Pinochets in ihr Amt eingeführt. Der rechtsgerichtete Vorgänger Sebastián Piñera, der sich abermals beworben hatte, war beim Urnengang gescheitert. Während der Wahlkampagne hatte die erstmals von Sozialisten, Kommunisten und Christdemokraten gemeinsam unterstützte Politikerin unerläßliche gesellschaftliche Veränderungen in Aussicht gestellt: eine Bildungs- und eine Steuerreform sowie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, welche an die Stelle des noch unter General Augusto Pinochet eingeführten Machwerks treten soll.

In ihrer ersten Amtsperiode hatte sich Michelle Bachelet unter Berücksichtigung des damals noch die politische Rechte begünstigenden Kräfteverhältnisses mit echten Reformschritten zurückgehalten. Die 34 Mitgliedsstaaten umfassende Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) - von Kubas "Granma" als "Eliteklub reicher kapitalistischer Länder" bezeichnet - wies Chile in puncto sozialer Ungleichheiten den ersten Platz in der Welt zu. Nach einer OECD-Studie sind in der Andenrepublik die Einkünfte des vermögendsten Zehntels der Bevölkerung 27mal höher als die des ärmsten Zehntels. Nach offiziellen Angaben gelten allerdings "nur" 14,4 % der Landesbürger als arm, davon 2,8 % als extrem verelendet.

Ein besonderes Protestpotential bilden seit Jahren die Studenten: Mit der damaligen Vizepräsidentin ihres Verbandes, der heutigen kommunistischen Parlamentsabgeordneten Camila Vallejo an der Spitze, führten sie einen landesweiten Streik für kostenlose und qualitativ hochwertige Bildungsvermittlung sowie die Beseitigung des sogenannten Universitäts-Busineß durch. Auch der Sorgen konsequenter Umweltschützer, der indigenen Mapuche-Bevölkerung und der Forderungen einer wieder erstarkenden Arbeiterbewegung wird sich Bachelets Regierung annehmen müssen. Innerhalb von sechs Jahren will die Präsidentin jegliche Studiengebühren für öffentliche Bildungseinrichtungen abschaffen und der Profitorientierung privater Schulen, die überdies auch noch staatliche Zuschüsse in Anspruch nehmen, ein Ende setzen. Um Chiles Bildungsreform finanzieren zu können, beabsichtigt sie, im Wege einer Neuregelung des Steuerwesens etwa 8,2 Milliarden Dollar einzuziehen, was etwa drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Bis heute ermöglicht das in Chile herrschende Bildungsprivileg der Reichen nur Kindern Besserverdienender den Zugang zu wirklich hochwertigen Elementar- und Sekundär-Schulen.

Bei den jüngsten Kongreßwahlen hat das Michelle Bachelet unterstützende Mitte-Links-Lager in beiden Kammern des Parlaments die Mehrheit zu erringen vermocht. Diese Tatsache ist entscheidend, um die geplante Fiskalreform auf den Weg bringen zu können, was durch eine 20- bis 25 %ige Erhöhung der Unternehmenssteuer angestrebt werden soll. Da es der Regierung aber an einer Zweidrittelmehrheit im Kongreß gebricht, dürfte die Umgestaltung des Bildungswesens auf erheblichen Widerstand stoßen. Er wird sich besonders gegen prinzipielle Änderungen der Lehrpläne, die Einschränkung der Gewinne privater Einrichtungen des Sektors und die Reduzierung der Einnahmen des Ministeriums für Bildungswesen richten. Die derzeit dieser Behörde obliegende Verwaltung der chilenischen Oberschulen soll dem Reformprojekt zufolge künftig den Kommunen übertragen werden. Sie verfügen aber bislang über keinerlei Mittel.

Unter diesen Umständen dürften sich aufreibende und ernüchternde Kompromißverhandlungen mit konservativen politischen Kräften und deren kapitalistischen Auftraggebern aus dem In- und Ausland kaum vermeiden lassen.

Ähnlich verhält es sich mit den Bemühungen um ein neues Verfassungsprojekt zur Ablösung der seit 1980 geltenden Pseudo-Konstitution. Es stößt auf erbitterten Widerstand des nach wie vor gut im Sattel sitzenden einstigen Pinochet-Lagers.

Zu den Prioritäten der Agenda Michelle Bachelets gehört in jedem Falle die Bewahrung der sie unterstützenden heterogenen Koalition antifaschistisch-demokratischer Kräfte. Von besonderer Bedeutung sind dabei die abermalige Einbeziehung der erstmals seit Salvador Allendes Tagen wieder regierungsbeteiligten KP Chiles. Die Partei von Luis Corvalan, Pablo Neruda und Gladys Marin ist im Kabinett durch die Frauenministerin vertreten. Hervorzuheben ist auch die Tatsache, daß Isabel Allende, Tochter des von Pinochets Schergen in den Tod getriebenen höchsten Repräsentanten der einstigen Unidad Popular, zur Senatspräsidentin gewählt worden ist.

Dem ersten von der neuen Regierung in die Tat umgesetzten Projekt lag ein Kongreßbeschluß zugrunde, zwei Millionen in besonders krasser Not lebenden Familien einen Sofort-Bonus über jeweils 40.000 Pesos zukommen zu lassen.

In außenpolitischer Hinsicht trägt sich Michelle Bachelet mit dem Gedanken, Chiles weitgehender Isolierung in der Region ein Ende zu setzen sowie im Rahmen der Bündnisse Unasur und Celac aktiv zu werden. Santiagos Beziehungen zu einigen Staaten des lateinamerikanischen Subkontinents hatten sich in den letzten Jahren merklich abgekühlt, nachdem Expräsident Piñera im Rahmen des 2011 durch die Andenrepublik, Kolumbien, Peru und Mexiko gegründeten Pazifikbündnisses einen eher auf die Interessen der USA und der einheimischen Oligarchien ausgerichteten Kurs eingeschlagen hatte.

Vor Michelle Bachelet und ihrem Kabinett stehen viel Arbeit und große Herausforderungen. Dabei sind ihr und den fortschrittlichen Kräften Chiles Mut, Ausdauer und Erfolg zu wünschen.

RF, gestützt auf "Granma Internacional", Havanna

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Kuba entsandte 11.430 Ärzte in Armutsregionen Brasiliens

Raúls Antwort auf Dilmas Appell

Die in Havanna angesiedelte Zentraleinrichtung für medizinische Zusammenarbeit hat bereits Zehntausende Einsätze kubanischer Ärzte und anderer Mitarbeiter des Gesundheitswesens der Insel in zahlreichen Ländern veranlaßt. Dabei geht es sowohl um solidarische und unbezahlte Katastrophenhilfe als auch um von Regierungen ausdrücklich erbetene und daher auch vergütete Einsätze. Der "Ärzte-Export" ist derzeit die wichtigste Valuta-Einnahmequelle des karibischen Staates.

Nach Kubas bisher umfassendster Unterstützungsaktion für das Venezuela von Chávez entsprach Präsident Raúl Castro der Bitte seiner brasilianischen Amtskollegin Dilma Rousseff, an der Verwirklichung des durch sie im Juli 2013 als Antwort auf Massenproteste aufgelegten Sofortprogramms "Mehr Ärzte!" mitzuwirken. Havanna entsandte daraufhin 11.430 Mediziner, die drei Jahre im territorial und bevölkerungsmäßig größten Land Südamerikas tätig sein werden. Sie bilden das Hauptkontingent der insgesamt 15.000 durch Brasilien angeforderten Ärzte. Auch Fachkräfte aus Uruguay, Argentinien, Spanien und Portugal sowie 1096 brasilianische Fachleute, die zeitweilig den Luxus der großen Städte aufzugeben bereit sind, nehmen an der Verwirklichung des Projekts teil.

Die Kubaner arbeiten in vielen der 4070 Gemeinden von 26 Bundesstaaten, vor allem aber in den extrem unterversorgten, häufig indianisch besiedelten Sonderdistrikten. Gerade damit wird dem Wunsch Dilma Rousseffs - einer früheren Guerillakämpferin gegen Brasiliens faschistische Diktatur - am besten Rechnung getragen.

Zur Situation: Derzeit vegetieren noch etwa 100 Millionen Brasilianer in ärztlich vernachlässigten Regionen. Das Riesenland verfügt derzeit nur über 1,8 eigene Ärzte auf jeweils 1000 Einwohner. Demgegenüber beträgt die Versorgungsdichte in den USA 2,4, in Argentinien 3,2 und in Spanien 4,0 : 1000, während sich Kuba mit 6,7 (!) den ersten Rang nicht nur auf dem amerikanischen Doppelkontinent erobert hat. Derzeit sind 40.000 Mitarbeiter des kubanischen Gesundheitswesens in 58 Ländern tätig.

Brasiliens Regierung vergütet den Einsatz der kubanischen Ärzte, Schwestern, Pfleger und Medizintechniker nach in der Branche üblichen Tarifen. Für jeden der Doctores von der Insel erhält Havanna im Monat 4000 Dollar. Den Ärzten wird ein monatlicher Betrag von 1245 US-Dollar zuerkannt, von denen sie 1000 Dollar sofort erhalten, während der kubanische Staat den restlichen Betrag auf heimischen Banken für sie deponiert. Den größeren Teil der bereitgestellten Summe bilden demnach staatliche Deviseneinnahmen, wobei den beteiligten Medizinern eine für die Verhältnisse ihres Landes recht hohe Summe zur Verfügung steht.

In den ersten acht Monaten der Laufzeit des von Dilma Rousseff aufgelegten Programms "Mehr Ärzte!" sind nur etwa 25 kubanische Mediziner aus unterschiedlichen Gründen wieder ausgestiegen. Fast alle kehrten in ihr Land zurück. Nur zwei Spezialisten konnten von den USA abgeworben werden.

Die brasilianische Präsidentin macht aus ihrer besonderen Sympathie für Helfer aus Fidels und Raúls Heimat kein Hehl. "Obwohl sie - gemessen an der Landesbevölkerung - nur wenige sind, haben sie unsere Szenerie bereits tiefgreifend verändert: durch ihre medizinische Professionalität wie durch ein völlig anderes Verhältnis zu den Patienten. Sie kleiden sich schlicht und bringen ihr Essen mit. Sie arbeiten systematisch, behandeln die Kranken fürsorglich und aufopferungsvoll. Sie eilen nicht wie manche ihrer Kollegen hierzulande von Party zu Party. Sie reißen die Barrieren des Vorurteils und des busineßartigen Stils brasilianischer Profis ihres Metiers nieder", sagte Dilma Rousseff einem Reporter der in Porto Alegre erscheinenden Zeitung "Zero Hora".

"Granma Internacional" verwies auf den hohen Qualifizierungsgrad des von Kuba ausgewählten Fachpersonals und hob zugleich die Tatsache hervor, daß trotz des quantitativ enorm hohen "Ärzte-Exports" keine Unterversorgung der Patienten im eigenen Land eintrete. Kompromißlos befolge man das Prinzip, bei der Auswahl für einen Auslandseinsatz bereiter und geeigneter Kräfte das Fortbestehen aller medizinischen Dienste und Disziplinen daheim zu gewährleisten. Die für Brasilien Ausgewählten verfügten zu 80 % über eine etwa 15jährige Berufserfahrung, wobei sie ohne Ausnahme bereits mindestens einen Einsatz außerhalb der eigenen Grenzen absolviert hätten.

Wie dramatisch die Unterversorgung der Bevölkerung in Brasilien ist, wird durch die Tatsache erhellt, daß dort nicht weniger als 54.000 Ärzte fehlen, was in der Praxis bedeutet, daß die Bevölkerung unterentwickelter, abgelegener oder unwirtlicher Gebiete überhaupt keine medizinische Hilfe im Krankheitsfall erhält. Aber gerade diese Regionen haben sich Havannas Botschafter mit dem Äskulapstab als bevorzugtes Betätigungsfeld auserkoren. Ihnen entgegengebrachte menschliche Wärme und erwiesene Fürsorge wird von den überglücklichen Patienten, die bisher von allem abgeschnitten waren, in gleicher Weise erwidert. Was sie in Brejo da Madre de Deus - der von Dürre heimgesuchte Ort liegt im Bundesstaat Pernambuco - erlebt hat, schilderte die kubanische Ärztin Teresa Rosales so: "Die Patienten sprechen zu einem, während sie auf dem Boden knien. Sie danken Gott und geben Küsse."

"Etwas für die Ärzte von der Insel so Natürliches, wie einen Bauern oder eine Indigene zu untersuchen und dann die richtige Diagnose zu stellen, ruft Erstaunen unter den Behandelten hervor", berichtete der brasilianische Journalist Daniel Carvalho in einer Reportage für die Zeitung "Folha de São Paulo".

Auf dem jüngsten Kongreß des kubanischen Gewerkschaftsdachverbandes, wo Präsident Raúl Castro die deutliche Anhebung der Gehälter für alle Mitarbeiter des Gesundheitswesens verkündet hatte, traf er die Feststellung: "Eigentlich ist das, was ein kubanischer Arzt im Ausland tut, unbezahlbar."

RF, gestützt auf "People's World", New York, und "Granma Internacional", Havanna

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Ist die Türkei auf dem Weg zu einem islamistischen Faschismus?

Fußtritte von Erdogans rechter Hand

Die Bilder gingen um die Welt und ließen allen, die sie sahen, den Atem stocken. Kurz nach der schwersten Bergwerkskatastrophe in der Geschichte der Türkei, die sich am 13. Mai in Soma ereignet hatte, war der Regierungschef an den Ort des furchtbaren Geschehens gefahren und hatte gerade eine Heuchel-Show abgezogen, als sein enger persönlicher Berater Yusuf Yerkel in Aktion trat. Er tat das im Wortsinne. Der elegant gekleidete junge Mann trat nämlich einen durch Sicherheitsleute zu Boden geworfenen Demonstranten in den Leib.

In Soma, wo sich die landesgrößten Braunkohle-Abbaureviere unter Tage befinden, waren am Unglückstag etwa 800 Kumpel in der Grube, als es durch Verschulden des Managements zu einem Elektrodefekt kam, der sofort einen heftigen Brand auslöste. Die in der Monoxyd-Falle Steckenden verfügten ebenso wie die ihnen zu Hilfe eilenden Angehörigen der Grubenwehr nicht über intakte Schutzmasken. Obwohl die Bosse des privatisierten Unternehmens, das jährlich 5,5 Millionen Tonnen Braunkohle fördert, ohne Unterlaß beteuerten, es gäbe in der ganzen Türkei kein besser gesichertes Bergwerk als das von Soma, und die Arbeitsschutzbedingungen der mit lediglich 250 Euro Monatslohn abgespeisten Kumpel seien geradezu ideal, konnten ihnen schwerste Versäumnisse nachgewiesen werden. So waren die Gasdetektoren nicht eingeschaltet. Hätten sie funktioniert, wäre es niemals zu einem derart folgenschweren Desaster gekommen. Die laut Vorschrift alle 15 Tage vorzunehmende Kontrolle der Schutzmasken gegen Kohlenmonoxyd und andere giftige Gase hatte schon seit Monaten nicht mehr stattgefunden. Überdies verzichteten die Sicherheitsinspektoren darauf, außer den Hauptstrecken auch die Seitenstollen im Auge zu behalten.

Doch nach dem Eintreffen Recep Tayyip Erdogans in Soma erfuhr das Drama eine neue Dimension. Der Ministerpräsident wurde mit Sprechchören "Tayyip Mörder!" empfangen, als er sich am 14. Mai in Soma zeigte. Nachdem er auf einer Pressekonferenz angesichts der zahlreichen Toten und der zu dieser Stunde noch vermißten Bergleute zu erklären gewagt hatte, "solche Dinge" würden unter Tage "eben passieren", ließ sich die Wut der Kumpel nicht länger zügeln. Familienangehörige der 301 Opfer forderten lautstark seinen Rücktritt. Erdogan flüchtete daraufhin in einen Supermarkt, während die Menge das örtliche Büro der Partei des Premiers demolierte. Nachdem der AKP-Provinzgouverneur sofort jede Manifestation untersagt hatte, ging die Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen gegen die Trauergemeinde vor. Acht in Soma eingetroffene Mitglieder einer linken Anwaltsvereinigung, die Angehörigen der Opfer ihren Beistand anbieten wollten, wurden an Ort und Stelle festgenommen.

Nachdem die Bilder von der Fußtritt-Attacke des Erdogan-Assistenten Yerkel weltweit Verbreitung gefunden hatten, kam es in Istanbul. Ankara und anderen Städten zu spontanen Protestdemonstrationen. Bei den von ihrer akzentuiert rechtsgerichteten Regierung Schlimmstes gewöhnten Türken schlugen die Wogen der Empörung noch höher als sonst. In Istanbul erzwangen Studenten der Bergbaufakultät den Rücktritt eines Professors, der das qualvolle Ersticken der Arbeiter als "süßen Tod" bezeichnet hatte.

Unter dem Druck der Massenaktionen mußten schließlich fünf Soma-Manager, die tags zuvor noch auf einer Pressekonferenz großspurig ihre Schuldlosigkeit beteuert hatten, festgenommen werden. Gegen den Milliardär Alp Gürkan - Patron der Soma-Holding - wurde jedoch kein Strafverfahren eingeleitet. Der Oberboß hatte bei der 2005 erfolgten Privatisierung sämtlicher Bergwerke der Türkei eine Schlüsselrolle gespielt und selbst den fettesten Happen erwischt. Als er 2012 interviewt wurde, rühmte sich Gürkan, die Produktionskosten pro Tonne Braunkohle in Soma von 120 auf 25 Dollar heruntergedrückt zu haben - "dank der Funktionsmethoden des privaten Sektors". Mit anderen Worten: der auf Tiefststand heruntergefahrenen Löhne. "Die Privatisierung hat die Bergleute getötet" überschrieb die französische Zeitung "Le Soir" am 14. Mai ihren Bericht.

Nur neun Monate vor der Katastrophe von Soma hatte Erdogans Energieminister Taner Yildiz "das hohe Niveau der Sicherheitsmaßnahmen und die neue Technologie in Soma" ausdrücklich gelobt.

Nach dem verheerenden Unglück hielt die immer offener faschistoide Züge annehmende islamistische Regierung ihre Position aufrecht. Statt die Schuldigen zu geißeln, behauptete sie noch einmal, die betroffenen Gruben seien "die sichersten in der ganzen Türkei" gewesen. "Es handelt sich um organisiertes Verbrechen", stellte die Kommunistische Partei der Türkei (TKP) fest. "Unser ganzes Land ist zu einer kriminellen Szene geworden. Der Durst des Patronats nach Profit hat zu dem Massaker von Soma geführt." Die Regierung in Ankara sei dabei als Anstifterin zu betrachten. Die türkische Bergbauindustrie müsse wieder nationalisiert und vollständig unter Arbeiterkontrolle gestellt werden.

RF, gestützt auf "Solidaire", Brüssel

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CDU eroberte drittes EU-Mandat

Die Coligaç’o Democrática Unitária (CDU) - ein von den Kommunisten der PCP angeführtes Wahlbündnis mit bereits langer Tradition, dem auch die ökologische Partei "Os Verdes" (PEV) angehört - hat bei den Wahlen zum Europaparlament einmal mehr gut abgeschnitten. Während die rechtsgerichteten Regierungsparteien total einbrachen, errang die CDU mit einem Stimmenanteil von 12,7 % einen dritten Sitz in Strasbourg. Demgegenüber sank der Anteil des seinerzeit im Konflikt auch zu Positionen der PCP entstandenen Linksblocks (Bloco de Esquerda - BE) auf 4,5 %, was eine Halbierung des Votums für diese heterogene linksoppositionelle Gruppierung und den Verlust eines ihrer bisher zwei Mandate im Europaparlament bedeutet.

RF, gestützt auf die schweizerische Internet-Zeitung "kommunisten.ch"

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"Zement" - ein bis heute sehenswerter "Abenteuerfilm" über die junge Sowjetunion

von Prof. Manfred Wekwerth

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Bekennermut eines aufrechten Theologen

Es hat viele getroffen. Allein in akademischen Bereichen waren es mehr als eine Million Menschen, die in den Jahren 1989/90 ihre Tätigkeit verloren. Einer von ihnen war Prof. Dr. Heinrich Fink - Dekan der Theologischen Fakultät und 1990 zum Rektor der Berliner Humboldt-Universität gewählt -, den man auf Grund unhaltbarer Denunziationen aus seinem Amt drängte.

Nur 18 Monate währte sein engagierter Einsatz für die Sicherung der Zukunft der renommierten Bildungsstätte. Unter den Studenten und Lehrkräften traf sein Konzept "Erneuerung aus eigener Kraft" auf lebhafte Resonanz. Von Tag zu Tag wuchs die Anhängerschaft seines Planes, der mit der Hoffnung verbunden war, "Demokratie in Aktion" auf Dauer praktizieren zu können. Doch dieser als Selbsterneuerung angestrebte Prozeß führte geradewegs in sein Gegenteil, denn das Wollen der Akteure an der Humboldt-Universität war nicht der Wille der Machthaber im Berliner Senat. Von diesem eingesetzte sogenannte Neugründungsdekane übernahmen die Aufgabe, die "ideologisch verseuchte" Hochschule "von Grund auf reinezumachen". Ein von besonderem Eifer Getriebener war der für den Fachbereich Wirtschaftswissenschaften eingeflogene ehemalige Generalstabsoffizier der Waffen-SS Wilhelm Krelle, der verkündete: "Kein Marxist wird seinen Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen, solange ich hier das Sagen habe."

Mit der Bezichtigung, er sei Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen, begann im Rahmen dieser "reaktivierten Inquisition" die Jagd auch auf den Rektor selbst. Doch das mutige Auftreten und Handeln Heinrich Finks sowie die ihm vielfach erwiesene Solidarität bewirkten, daß sich die gegen den "Delinquenten" geschwungene "Stasi-Keule" als Bumerang erwies. Dennoch endete Heinrich Finks Amtszeit als Rektor am 21. Januar 1992.

Seine Erinnerungen an diese hochdramatische Zeit schildert er in dem 2013 erschienenen und mit zahlreichen Fotos illustrierten Buch "Wie die Humboldt-Universität gewendet wurde". Man mag meinen, was da niedergeschrieben wurde, liege fast 25 Jahre zurück, sei Geschichte. Dem Leser wird jedoch einmal mehr bewußt: Die vom Autor beschriebenen Vorgänge sind hochaktuell, der ungleiche Kampf zwischen "oben und unten" hält bis heute an und fordert die eigene Positionierung heraus.

In dem ins Detail gehenden und damit viele der Beteiligten auf beiden Seiten mit Namen erfassenden Bericht über eine anderthalbjährige Universitätsgeschichte ist die persönliche Betroffenheit Heinrich Finks zu spüren, wird sein bis an die Grenze eigener Kraft gehender Einsatz für die Interessen von Studenten sowie "seiner" Lehr- und Studieneinrichtung erfahrbar.

Mit der von christlichen und humanistischen Werten geprägten Persönlichkeit Heinrich Finks stand dem von Arroganz strotzenden, dummdreisten Vorgehen der "neuen Eliten" ein Mann gegenüber, dessen Mut und Würde bei einer ganzen Studentengeneration und vielen Lehrkräften den Willen und die Bereitschaft zu Protest und öffentlicher Aktion gestärkt haben. Mahnwachen, Petitionen, Warnstreiks, Studentenaktionen, eine vom Rektor eingereichte Verwaltungsklage gegen die "Abwicklung" sind nur Stichworte, die zur Chronik von Sieg und Niederlage eines noch heute bedeutungsvollen Prozesses organisierter Gegenwehr gehören.

Bruni Steiniger


Heinrich Fink. Wie die Humboldt-Universität gewendet wurde.
Verlag Ossietzky, Hannover 2013, 126 Seiten, 12,50 Euro,
ISBN 978-3-9808137-0-9

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Merkels honorige Botschafterin beim Vatikan

Im vergangenen Jahr ist die Merkel-Vertraute Annette Schavan als Bundesbildungsministerin zurückgetreten. Im Februar 2013 hatte sie wegen Abschreibvorwürfen zunächst den Doktortitel und dann ihr Ministeramt abgeben müssen. Ihre Dissertation beschäftigte sich auch noch ausgerechnet mit dem Thema "Person und Gewissen". Als die Vorwürfe in die Öffentlichkeit gelangten, sie habe in großem Stil abgeschrieben, und ihr dann folgerichtig der verliehene Doktortitel entzogen wurden, ging die Dame entrüstet an die Öffentlichkeit und wies alle Vorwürfe weit von sich. Als nächstes zog sie - begleitet von einer wohlwollenden Kampagne der konservativen Medien - vor Gericht, um ihren akademischen Titel zu behalten. Sie unterlag. Das Gericht überführte sie der "vorsätzlichen Täuschung" und bestätigte die Aberkennung des Doktortitels.

Angesichts ihres persönlichen Bildungsweges ist Frau Schavan seitdem ohne Hochschulabschluß. Das hinderte sie aber nicht daran, hinter den Kulissen für eine Fortsetzung ihrer Karriere an anderer Stelle zu wirken und zu wühlen. Schlimm genug, daß Lübecks Universität die ehemalige Bildungsministerin, die mit ihrer in großen Teilen abgeschriebenen Dissertation kein Vorbild für den wissenschaftlichen Nachwuchs sein kann, ausgerechnet mit dem Trostpflaster einer Ehrendoktorwürde versehen hat! Schnell sickerten Pläne der Bundesregierung durch, Annette Schavan zur Botschafterin der BRD beim Vatikan zu machen. Dazu erklärte der Personalrat des Auswärtigen Amtes, Frau Schavan fehlten die "Eingangsvoraussetzungen für den höheren Auswärtigen Dienst". Und weiter: Das Ministerium dürfe grundsätzlich nicht zur "Versorgungsanstalt" für Politiker werden.

Doch die Kanzlerin und ihr Kabinett sowie die Exministerin setzten sich durch. Die "Ehren"- und Exdoktorin wird für ein monatliches Grundgehalt von 10.228,76 Euro eine der bestbezahlten Stellen des diplomatischen Dienstes der Bundesrepublik besetzen. Frau Schavan mag in den Kreisen des Vatikans und der Vatikanbank eine Reihe ähnlich schillernder Personen vorfinden, die ihren Werdegang vielleicht sogar bewundern. Spätestens beim Papst dürfte Merkels und Steinmeiers Botschafterin jedoch ähnlich wie der ehemalige Limburger Bischof Tebartz van Elst auf Ablehnung stoßen. Franziskus wird ihr vielleicht zwei Lektionen erteilen: die eine in Bescheidenheit, die andere in der Bedeutung der zehn Gebote für eine christliche Kirche. Im achten Gebot heißt es bekanntlich: "Du sollst nicht lügen."

Es wirft ein mehr als schlechtes Bild auf dieses Land, daß Leute, die sich selbst moralisch disqualifiziert haben, an allen Anstandsregeln vorbei in solche Ämter gehievt werden. Das Fazit dieser üblen Versorgungsaktion ist doch: Man muß nur die richtigen Leute kennen, dann geht alles!

"Die Rote Spindel", Nordhorn

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Compañera Christa: Für junge und jung gebliebene RotFüchse

Die Kinder zuerst ...

Mit dem RF 199 nimmt eine weitere bekannte DDR-Schriftstellerin - Nationalpreisträgerin Christa Kozik aus Potsdam - ihre ständige Mitarbeit an unserer Zeitschrift auf. Die populäre Dichterin (Tausendunddritte Nacht) und Autorin einer breiten Palette von Kinderliteratur und Filmszenarien für ganz junge Zuschauer wird sich auch beim "RotFuchs" ihrem Lieblingspublikum nicht verweigern. Sie will zugleich den Nerv etwas älterer Leser treffen.

"Kinder sind glücklich. Sie sehen die Welt noch mit drei Augen. Das dritte Auge gibt ihnen den bunten Blick", stellte Compañera Christa, wie sie sich Freunden gegenüber gern zu erkennen gibt, in ihrem Buch "Moritz in der Litfaßsäule" fest.

Unsere literarisch vielseitige, 1991 mit dem Kinderbuchpreis der Akademie der Künste Berlin ausgezeichnete und nach wie vor putzmuntere neue Autorin hat unzählige kleine oder ganz junge Leser und Zuschauer mit Büchern wie "Der verzauberte Einbrecher", "Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart", "Kicki und der König", "Philipp und der Katzentiger", "Gritta von Rattenzuhausbeiuns", in gleicher Weise aber auch mit neun Spielfilmen in ihren Bann gezogen. Ihre Filme - Philipp der Kleine / Ein Schneemann für Afrika / Sieben Sommersprossen / Trompeten-Anton / Moritz in der Litfaßsäule / Hälfte des Lebens / Gritta von Rattenzuhausbeiuns / Grüne Hochzeit / Der verzauberte Einbrecher - sind vielen in bester Erinnerung und können auch heute mit Vergnügen und Gewinn gesehen werden.


In Artikel 9 der UNO-Deklaration zum Schutze der Kinder heißt es: "Das Kind hat ein Recht auf Schutz vor Grausamkeit." Das bezieht sich nach meiner Lesart auch auf geistige Bereiche. Doch der Schutzraum Kindheit, der erst im 19. und 20. Jahrhundert durch verantwortungsvolle Pädagogen errichtet wurde, geht zunehmend verloren.

Der Medienwissenschaftler Neil Postman hat schon vor 20 Jahren in seinem Buch "Das Verschwinden der Kindheit" diesen schmerzlichen Prozeß beschrieben, den Kindern durch verantwortungslose Medien und Werbestrategien, durch Drogen und Alkohol die Kindheit zu verkürzen.

Wenn eine Katastrophe droht, sagt man, die Kinder seien zuerst zu retten. Unsere Welt ist kein sinkendes Schiff, aber sie ist bedroht wie nie. Die Menschheit ist nicht nur ökologisch, sondern auch moralisch an eine Grenze geraten. Ethische Werte im Sinne von humanistischen Leitbildern werden kaum noch vermittelt. Solidarität zu üben und im Glück anderer Menschen auch das eigene zu finden - das waren Werte der Vergangenheit, im Sozialismus. Jetzt regiert die eiskalte Macht des Geldes, während die Macht der Medien die Köpfe der Menschen manipuliert. Als Leitbilder gelten harte brutale Einzelkämpfer, cool, immer fit, voll Power und schwer bewaffnet. Schwäche zeigt man nicht, das macht angreifbar. Wer sich ergibt, wird nicht geschont, sondern erst recht geschlagen. Am besten zeigt man sich immer cool, denn an der Wärme könnte man scheitern. Wie sehr würde "Der kleine Prinz" in unserer Welt frieren!

So könnten Worte wie Liebe, Güte, Zärtlichkeit und Barmherzigkeit eines Tages aussterben, und wir merken es nicht ... Von klein auf lernen Kinder und Jugendliche durch Medien und Werbung ihre Hauptaufgabe, fleißige Konsumenten zu sein. Sie sollen essen, trinken, sich anziehen, anschauen und kaufen, kaufen, kaufen, was ihnen suggeriert wird.

Wie schwer haben es Eltern, Lehrer und verantwortungsvolle Erwachsene, dem entgegenzuwirken. Es ist Schwerstarbeit! Denn die Sprache der Gewalt im Fernsehen, im Kino und im Internet wird Jahr für Jahr brutaler. Die Schamgrenzen sind in den letzten 25 Jahren auf ein Maß gesunken, das einem Angst macht. Brutale Krimis täglich auf fast allen Sendern sind zur Normalität geworden. Und so sinkt das Unrechtsbewußtsein bei Kindern und Jugendlichen. Das Böse, das Brutale, das Dumpfe darf triumphieren: Wenn der gefühlskalte, brutale Held gewinnt, will ich auch nicht anders sein. Und so sinkt das Unrechtsbewußtsein bei Kindern und Jugendlichen, erzeugt es Nachahmungsbedürfnisse.

Wachsende Gewalt zeigt sich schon bei den Kleinen im Kindergarten, denn in den gängigen Trickfilmen ab 6 Uhr früh darf fröhlich das Blut spritzen. Und es gibt ein Phänomen, das uns erschüttert: Jugendliche Mörder werden immer jünger. Viele Lehrer sind total überfordert, und Eltern tragen soziale Konflikte der wachsenden Armut auf dem Rücken der Schwächeren aus. Und das sind die Kinder. Die Kinder zuerst ... Wer da noch den ursächlichen Zusammenhang zwischen Gewalt und Perversion in den Medien und der Realität leugnet, ist entweder blind oder gekauft.

Als Gegenargument benutzt man die These, die Realität sei eben so grausam. Ja, sie ist es, leider. Weitgehend ungeschützt erleben Kinder in allen Teilen der Welt Kriege, Hunger, Elend, sexuellen Mißbrauch oder sind Langzeitopfer von Atomversuchen- und Katastrophen. Die ungerechte Verteilung von privatem Reichtum allein in Deutschland - 2381 Milliarden bei Milliardären, 892.000 Millionen bei Millionären (2012) - hat Formen angenommen, die das Vorstellungsvermögen überschreiten. Dagegen wächst die Kinderarmut beständig. Immer mehr Kinder wachsen in Arbeitslosenfamilien auf, oft schon in zweiter Generation.

Haben Milliardäre und Millionäre kein schlechtes Gewissen? Können sie nicht erkennen, daß Kinder das Kostbarste sind, was eine Gesellschaft besitzt? Saatfrüchte, die nicht vermahlen werden dürfen. Bundespräsident Gauck ruft zu mehr Engagement Deutschlands auf Kriegsschauplätzen in der Welt auf. Die Rüstungsmilliardäre freuen sich gewiß. Aber sollte der christliche Herr Gauck sich nicht besser an die Spitze einer Initiative gegen die Kinderarmut in Deutschland stellen? Sollte er nicht die Bibel besser lesen, wo doch steht, daß eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als daß ein Reicher in den Himmel kommt?

Gibt es einen Weg aus dem Teufelskreis? Wohl kaum. Dennoch müssen wir Kindern und Jugendlichen immer die Hoffnung vermitteln, daß die Vernunft der Menschheit am Ende stärker ist - wie im Märchen. Ja, auch Märchen sind grausam, aber am Ende siegt das Gute. Das uralte Menschheitsprinzip Hoffnung scheint am Anfang unseres 21. Jahrhunderts auf den Kopf gestellt, wenn das brutale Prinzip siegt.

Eine Gesellschaft, in der die negative Ethik dominiert, ist zum Untergang verurteilt. Sie läßt zu, daß das Kostbarste, was sie besitzt, ihre Kinder, zusehends verrohen. Eine heile Welt gab es nie. Aber immer gab es die Vision von ihr. Diese Vision müssen wir erhalten, damit junge Menschen sie weitergeben können. Sonst kommt die Welt an ihr Ende.

Christa Kozik

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Mein Vater war der DDR-Autor Curt Letsche

Desillusioniert über die restaurative Entwicklung in der alten Bundesrepublik, wirtschaftlich am Ende, übersiedelte mein Vater 1957 in die DDR. Dem von den Nazis 1940 wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" verurteilten Antifaschisten, der den 2. Weltkrieg als politischer Häftling im Zuchthaus Ludwigsburg verbrachte, bot sie die Chance für einen Neustart, die er auch zu nutzen verstand. Vor allem beim Greifenverlag in Rudolstadt konnte er sich als freischaffender Schriftsteller beweisen. Sein DDR-Erstling "Auch in jener Nacht brannten Lichter" (1960) erschien indes im Verlag Neues Leben. Der Autor schöpfte dabei aus seiner Biographie. In einem Kleinverlag veröffentlichte Curt Letsche erste Gedichte.

Auf im Widerstand Erlebtes kam er in seinem in Ost wie West am stärksten beachteten Roman "Das Schafott" (1979) zurück.

Der Solidarität der Häftlinge in einem Nazi-Zuchthaus gelingt es in den letzten Wochen des 2. Weltkriegs, die von der Justiz befohlene Ermordung eines politischen Gefangenen zu verhindern. Leider nur im Roman - im dokumentarischen Anhang der 2011 von mir besorgten Neuauflage (Pahl-Rugenstein-Verlag) sind die wirklichen Begebenheiten um den 1943 in Stuttgart hingerichteten Kommunisten Andreas Wössner aus Schramberg im Schwarzwald nachzulesen. In Letsches nächstem Roman "Der Geisterzug" geht es um ein Himmelfahrtskommando aus KZ- und Zuchthaushäftlingen, das als SS-Eisenbahnbaubrigade das noch nicht von den Alliierten befreite Deutschland durchquert.

Im Militärverlag der DDR erschien 1983 leider nur eine vom Lektor um mehr als die Hälfte gekürzte Fassung. Weggefallen war u. a. das dem Autor besonders am Herzen liegende Kapitel mit eigenen Erlebnissen bei der Befreiung im Zuchthaus Kaisheim bei Donauwörth. Vollständig konnte dieser Text erst 2013 bei Pahl-Rugenstein unter dem Titel "Schnittpunkte 1945" erscheinen.

Im Krimi-Genre erreichte Curt Letsche das DDR-Publikum mit Titeln wie "Der graue Regenmantel" (1960), "Und für den Abend eine Illusion" (1961), "Schwarze Spitzen" (1966), "Das geheime Verhör" (1967) und "Zwischenfall in Zürich" (1984). "Das andere Gesicht" (1977) behandelt Machenschaften des internationalen Organhandels. In "Operation Managua", 1986 im Dortmunder Weltkreis-Verlag erschienen, geht es um CIA-Operationen. 1994, nach dem Untergang der DDR, schob der inzwischen 82jährige Autor als letzten veröffentlichten Titel die keineswegs phantastische Geschichte "Chromosom X" nach. Anklang fand Curt Letsche mit seinen utopischen Romanen "Verleumdung eines Sterns" (1968) und "Raumstation Anakonda" (1974).

Der in der Schweiz geborene und in Ulm aufgewachsene erfolgreiche Autor Curt Letsche ist auf dem Nordfriedhof in Jena (wo er seit 1971 lebte) beigesetzt.

Lothar Letsche, Tübingen

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Der Buchenwalder Karl Schnog

Der 1897 in Köln geborene Lyriker, Publizist, Hörspielautor und Kabarettist Karl Schnog verstarb vor 50 Jahren am 23. August 1964 in Berlin.

Früh schon kam der Junge durch den Vater, einen Handwerker und Anhänger August Bebels, mit sozialistischen Ideen in Berührung. Karls Erlebnisse als Soldat im I. Weltkrieg ließen ihn zu einem scharfen Ankläger der Kriegsgewinnler und Profiteure des Völkermordens werden.

Nach intensivem Sprech- und Schauspielunterricht begann seine künstlerische Laufbahn an Theatern und Kabaretts in Berlin. Bisweilen trat er auch gemeinsam mit Erich Weinert auf. 1933 mußte Karl Schnog emigrieren, zunächst in die Schweiz, dann nach Luxemburg. Beim Einmarsch der faschistischen Wehrmacht wurde er 1940 dort verhaftet. Fünf schwere Jahre verbrachte er in den Konzentrationslagern Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald.

1946 kehrte er nach Berlin zurück - zur satirischen Zeitschrift "Ulenspiegel". Zwischen 1948 und 1951 arbeitete er am Berliner Rundfunk und war anschließend freischaffend tätig.

1949 erschien zunächst eine Auswahl seiner Verse und Prosaarbeiten unter dem Titel "Zeitgedichte und Zeitgeschichte", wozu der aus dem Exil zurückgekehrte Arnold Zweig das Vorwort schrieb. Danach erarbeitete Karl Schnog gemeinsam mit Heinz Mohr das 1954 im Thüringer Volksverlag erscheinende Lesebuch "Jonathan Swift" in der von Walther Victor begründeten Klassiker-Reihe.

Werner Voigt, Kromsdorf

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Ernst Toller: "Eine Jugend in Deutschland"

Der Dichter Ernst Toller war bereits berühmt, als er die radikale Parteinahme für die sozialistische Revolution wählte. Geboren 1893 in einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie, hatte er prägende Schul- und Studienjahre hinter sich und als Frontsoldat den Krieg verabscheuen gelernt. Seine autobiographischen Aufzeichnungen "Eine Jugend in Deutschland" sind ein erschütterndes Zeugnis über das erste Viertel des vorigen Jahrhunderts, als Europa dem Abgrund zutrieb, und eine Anklage gegen die imperialistischen Machthaber. An Ernst Toller, einem Führer der Münchener Räterepublik, übten sie grausame Rache.


Das Buch erschien 1933 zuerst in Amsterdam. Im Exil konnte Toller dem Zugriff der Nazis entgehen. Sechs Jahre später beendete er sein Leben von eigener Hand. Wer die ersten dreißig Lebensjahre des Schriftstellers aus dem von ihm selbst verfaßten Rückblick kennt, mag verstehen: Kein enttäuschtes Wegwerfen, kein resignativer Rückzug war dieser Freitod, sondern die stolze Entscheidung eines Aufrechten, der alle Kräfte verausgabt, alle Reserven erschöpft hatte.

"Aber wenn das Schiff zerschellte und die Menschen auf Planken treiben, was helfen dann Wille und Tatkraft und Vernunft? Wo seid ihr, meine Kameraden in Deutschland? Ich sehe die Tausende, die den Verlust der Freiheit (...) lärmend feiern. Tausende (...) betrogen und getäuscht. (...) schrieb Toller in seinem "Blick 1933" überschriebenen Vorwort "Am Tag der Verbrennung meiner Bücher in Deutschland." Verzweiflung über das Gelingen einer verbrecherischen Verführungskampagne widerspiegeln diese Zeilen. Der Feind zelebriert den Triumph, und die Menschen folgen willig. Die Aufrechten im heutigen Deutschland mögen Tollers ohnmächtigen Zorn nachempfinden, jedoch auch wissen, daß nach opferreichen Kämpfen dem Aufstieg der Faschisten im Jahre 1933 nur zwölf Jahre später deren schmählicher Zusammenbruch folgte.

Zurück bis zu den frühesten Erinnerungen der Kindheit im ostpreußischen Samotschin (heute Szamocin) reichen die Bilder, die der Erzähler farbenreich wiedergibt. Juden, protestantische Deutsche und katholische Polen befeinden sich untereinander in wechselnden Allianzen. Chauvinistische Feindseligkeiten erlebt Ernst Toller auch während der Studienzeit im französischen Grenoble zwischen deutschen und französischen Studierenden.

Als 1914 der Krieg vom Zaun gebrochen wird, zieht der patriotisch beseelte Toller freiwillig an die Front - und sieht dort fast täglich Szenen wie diese: "... einer der Unsern hängt im Drahtverhau, niemand kann ihn retten (...) irgendeiner Mutter Sohn wehrt sich verzweifelt gegen seinen Tod, (...) schreit. Der Tod stopft ihm den Mund am dritten Tag."

Seelisch und körperlich krank, nimmt Toller nach der Lazarettbehandlung sein Studium wieder auf und setzt sich als frühzeitig gereifter Denker intensiv mit den geistigen Strömungen auseinander, die hier, in der Universitätsstadt München, hart aufeinander prallen. Toller trifft Literaten wie Thomas Mann, Frank Wedekind, Richard Dehmel und Reiner Maria Rilke sowie den charismatischen, bedeutenden Nationalökonomen Max Weber.

Leidenschaftlich und zunehmend parteilich verfolgt der zum Kriegsgegner Gewordene die Aktionen der Gruppe um Karl Liebknecht während der politischen Massenstreiks kriegsmüder Arbeiter im ganzen Land. "Ich ging in die Versammlungen Eisners, in denen Arbeiter, Frauen, junge Menschen nach dem Weg suchten, der Frieden bringt, das Volk rettet." Toller wird verhaftet und studiert im Gefängnis auch die Werke der sozialistischen Klassiker, erkennt "die geschichtsbildende Bedeutung der Arbeiterklasse", übernimmt Aufgaben in der sozialistisch-revolutionären Bewegung. Sein Rede- und Organisationstalent, seine mitreißende Begeisterung führen ihn während der folgenden dramatischen Tage und Wochen in die Spitze der revolutionären Führung.

Gewaltsam und heimtückisch wird die Bayerische Räterepublik niedergeschlagen, werden Kurt Eisner in München, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Berlin ermordet. Auf die überlebenden Revolutionäre beginnt eine gnadenlose Jagd. Ernst Toller entgeht nur knapp dem Lynchmord und wird in einem Hochverratsprozeß angeklagt. Dank namhafter Fürsprecher wie Max Weber und Thomas Mann sowie des Verteidigers Hugo Haase, nicht zuletzt wegen seiner Bekanntheit als Literat, kann das Todesurteil gegen Toller abgewendet werden. Er muß eine fünfjährige Haftstrafe antreten.

Während die Deputierten im Weimarer Theater mit einer bürgerlich-republikanischen Verfassung niederkommen, in München "ein Mann namens Hitler" deklassierte Kleinbürger und unzufriedene Beamte um sich schart und die Kopfgeburt der Demokratie unter Attentaten, Notverordnungen und Putschversuchen ins Koma fällt, protestiert Ernst Toller mit einem lebensgefährlichen Hungerstreik gegen die unmenschlichen Schikanen im Gefängnis. Ein ergreifendes Bekenntnis zum Leben und zur Humanität entsteht unter der Qual der Festungshaft: "Das Schwalbenbuch". Toller beobachtet teilnehmend die Vögel in seiner Zelle, die durch die Fensteröffnung zu ihm hinein fliegen. "Halb sind die Nester geschichtet, doch die Wächter entdecken sie, und das Grausame geschieht. In sechs Zellen baut das Paar. Wer kann wissen, was sie treibt. Vielleicht Hoffnung, daß die Menschen ihnen ein Nest gewähren, aus Einsicht und ein wenig Güte."

Der Gefangene wird 1924 aus der Festung Niederschönfeld entlassen und sofort nach Sachsen abgeschoben. Noch im Zug kurz hinter der Grenze erinnert sich der standhafte Revolutionär und Lyriker: "Ich stehe am nächtlichen Gitterfenster / Träumend zwitschert die Schwälbin / Ich bin nicht allein / Auch Mond und Sterne sind mir Gefährten / Und die schimmernden schweigenden Felder."

Mit den Zeilen "Ich bin dreißig Jahre. / Mein Haar wird grau. / Ich bin nicht müde." endet des Dichters Rückblick auf "Eine Jugend in Deutschland".

Marianne Walz

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Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Die Kinderhymne von Bertolt Brecht kannte bei uns jeder, dachte ich. Es wurde erzählt, Brecht habe den Text für eine neue Nationalhymne der DDR geschrieben, aber dann wäre doch der Text von Becher gewählt worden.

Dagegen ist nichts zu sagen. Ich kann mir Brechts Verse nur schlecht von lampenfiebrigen Fußballern gestottert vorstellen. Zur Pflichtnummer taugt die Dichtung nicht. Bechers "Auferstanden aus Ruinen" traf die Zeiten, und ich hätte mit unserer Nationalhymne weiterhin gut leben können.

Die Internationale bleibt unantastbar durch die lange geschichtliche Erfahrung der Unterdrückten. Ich habe sie oft mitgesungen, und auch mir war es eng in der Kehle, wenn Anlaß und Hymne zueinander paßten.

"Anmut sparet nicht noch Mühe ..." ist einer der schönsten Texte, die in der deutschen Sprache nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind.

Bis vor kurzem nahm ich an: Jeder, der in der DDR gelebt hat, kennt dieses Lied, es ist zum Volkslied geworden. Ich zitierte im Gespräch mit einer jüngeren Frau eine Zeile daraus. Sie sagte: "Bei uns in der Schule, in den achtziger Jahren, wurde der Text nicht behandelt." Die Frau ist gebildet, es wäre ihr nicht entfallen.

Meine Enkelin kennt das Lied, aber "von Zuhause", und sie kannte den Titel nicht. Ist uns da unterwegs etwas verlorengegangen, das unsere Zeit meinte und eine Mahnung sein sollte, Vergangenes nicht zu vergessen und die Zukunft besser zu gestalten? "... und weil wir dies Land verbessern ..." heißt es doch.

Kann das der Grund gewesen sein, das Lied auf einen hinteren Platz zu stellen? Aber da bleibt es nicht. Es ist auf einmal ganz nahe, ganz intim. Das Wort Anmut ist eines der schönsten in unserer Sprache. Ihm fehlt das manchmal schnarrende errr; kein Zischlaut stört das dunklere Fließen in der zweiten Silbe. Ich liebe dieses Wort. Wie aber soll man erreichen, was es fordert, wonach es verlangt?

Nicht zu sparen, nicht an der Mühe, und nicht an jener Anmut, mit der es sich leben und klüger werden läßt.

Anmut, das kann eine Art zu gehen sein, oder wie jemand sein Recht verteidigt, auf seiner Würde besteht, endlich die aller anderen einfordert. Es braucht dazu den Reichtum der Leichtigkeit, aus der die Anmut sich entfalten kann. Gemeint ist ja nicht die stille bescheidene Manierlichkeit, die auf Erziehung in der Kindheit deutet. Die anmutige Geste kann aus einer klugen, ruhigen Antwort bestehen. Anmut bedarf einer Mühe, die nicht mehr zu bemerken ist, sondern ganz natürlich dem eigenen Wesen zu entsprechen scheint. Ohne Bemühung wird das nicht gehen, geht es ja nie. Das Schöne, das Gelingende bedarf ihrer immer. Aber lustvoll muß sie sein, leidenschaftlich und im Grunde heiter. Das Böse ist nicht anmutig, nie. - Das Anmutigste, was ich je gesehen habe, war ein Kreis alter Frauen in Georgien. Sie zeigten uns ihre Handarbeiten, sangen zuerst für uns ein altes gregorianisches Lied; dann stimmte eine ein Partisanenlied an, und sie sangen es alle, mit alten Augen, die sich jung erinnerten, mit Schultern, die sich hoben, stolzen und zugleich wehen Blicken zurück in die Vergangenheit. Sie schlossen uns nicht aus, aber wir waren draußen, und sie hatten das Recht und waren uneinholbar anmutig. Was sie ausstrahlten, war auch der Lohn aller Schwerarbeit ihres Lebens, und wir konnten nur annehmen, nur unsere Tränen unterdrücken oder zeigen, und diese Frauen, diese Mütter gefallener Söhne, umarmen.

Wir müssen ihn zulassen, den rastlosen Kopf, der uns seine Bilder aufzwingt, aber auch Mut macht, uns nicht zufriedenzugeben. Und der uns warnt, das Erreichte nicht geringzuschätzen.

Es braucht die Leidenschaft - ja, Brecht! -, die uns aufstört und Kraft entfaltet, auch wenn sie sich gelegentlich überfordert zeigt. Die Leidenschaft der Verneinung muß uns bleiben, weil sich zum längst Gewußten immer neue Beweise gesellen. Der Widerstand wird gebraucht, weil sich die Schere zwischen oben und unten immer weiter öffnet. Ehe der Krieg beginnt, kannst du ihn sehn.

Nie wieder Krieg! Das war und bleibt unsere Losung. Die kam uns aus dem Herzen.

Wir hatten überlebt, das war beinahe ein Wunder. Und wurde Alltag. Beschwerlicher oft, aber das hielten wir aus. Und gewannen einen wachen Blick für den Stand der eigenen Dinge, und für die Angelegenheiten der Welt. Wir wollten nichts tun, nichts, weswegen andere Völker "vor uns erbleichen".

Wir brauchen den Mut vom Anfang, und den gegen die neuen Gefahren auch.

Erwachsen werden muß unser Verstand, der ganz zu Unrecht im Verdacht steht, das Kalte zu wählen und das Heißherzige weniger zu achten. Um die Gefühle muß uns nicht bange sein. Wir sind nicht verantwortlich für jeden, der aufgibt. Andere haben ihre eigenen Erfahrungen, und die Steine auf ihrem Weg mögen gerade zu groß sein, um sie zu heben. Wichtig ist, daß wir bei unseren einfachen Wahrheiten bleiben, so schillernd uns die Welt das auszutreiben sucht.

Ich hatte meine Schwächen, auch an eigenem Versagen zu leiden, und ausreichend Folgen zu tragen. Es ist nicht wahr, daß "ganz unten" die besseren Menschen sind. Dort komme ich her, und ich habe gesehen, wie er beäugt wird, der andere, der von woanders kommt, anders aussieht und anders betet. Arm sein bedeutet nicht, andere Arme als gleichwertig aufzunehmen.

Ich möchte sein wie alle und möchte, daß wir alle anders werden, als wir geboren und erzogen wurden, oder als wir glaubten, werden zu müssen, um dazuzugehören.

Gilt das nur für meine Generation, die tragische und verbrecherische Irrtümer austragen mußte?

Mit aller Mühe und wachsendem Verstand, so, daß uns manchmal die Anmut schmal wurde, kantig geriet, in eine Härte auszuarten drohte, aus der die Unzufriedenheit der vielen wuchs.

Das Land, in dem ich nun lebe, scheint mir veränderungsbedürftig. Will mir nicht als "das Liebste ... scheinen, so wie andern Völkern ihrs". Es versucht, so reich wie möglich und so feige wie nötig zu sein, während es dreist tut. Viele seiner Politiker sind nicht einmal schlau, von Klugheit zu schweigen.

Sie benutzen die Wahlen zum eigenen Ruhm und halten sich an kein posauntes Wort. Mit ihrer erbärmlichen Sprache suchen sie eher zu verbergen als aufzuklären oder mitzuteilen. Wenn sie uns etwas versprechen, glauben wir ihnen inzwischen nicht. Wir kennen die lange Bank, auf die sie alles schieben, was ihre nächste Wahl gefährden könnte. Sich für Fremde zu schämen ist unvermeidlich, wenn an ihrer erbärmlichen Haltung ablesbar wird, daß sie wider besseres Wissen deklamieren, angeben, heucheln. Es gibt keinen Grund, auf eine Regierung stolz zu sein, die nur die Wirtschaft als Wert gelten läßt. Sich also von denen abhängig macht, die Geld hauptsächlich zum eigenen Nutzen vermehren wollen. Nun ja, bei ausreichendem Verdienst wartet dann der gut gepolsterte Ruhestuhl im Aufsichtsrat.

Das alles ist bekannt und alt. Und doch auch wieder neu, weil sie ja so nicht angetreten sind. Sie dulden nun auch das Geschwafel eines Präsidenten, der sich unentwegt in internationale Politik einmischt und die Macht wie eine Droge genießt. Er redet wie mit Stahlhelm und Koppel. Wer hat das hohe Amt dem Mann so angepaßt?

Dieses geschichtlich belastete Deutschland schlägt sich auf die Seite der Schlagenden und gibt die Schuld denjenigen, die versuchen, trotz aller Provokationen besonnen zu bleiben und es nicht zu einem dritten Weltkrieg kommen zu lassen. Respekt!

Tun auch wir, was möglich ist.

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Leserbriefe an RotFuchs

Aus Biên Diên Phu erreichte die Redaktion eine Jubiläumskarte zur 60. Wiederkehr des Sieges in der größten antikolonialistischen Schlacht der neueren Geschichte. Ein Foto des Generals V&otilde Nguyên Giáp erinnert an den großen Feldherrn. Der Text auf der Rückseite lautet:
Kampfesgrüße aus dem sozialistischen Vietnam! Genossen von der "Kommunistischen Arbeiterzeitung" - der KAZ - waren hier zu einem Kongreß der WAPE. In Vietnam gedenkt man überall noch der Solidarität der DDR - nicht zuletzt in Biên Diên Phu. Den RotFüchsen einen festen Händedruck!

Corell, Ernst und Stefan


Mein Vater Walter Kleen konnte am 24. Juni in Bleicherode seinen 98. Geburtstag begehen. Er bedankt sich sehr herzlich für die Glückwünsche des "RotFuchs", den er nach wie vor sehr gerne liest, obwohl er seit geraumer Zeit unter altersbedingter Makula-Degeneration leidet. Er besitzt jedoch ein Lesegerät, das ihm bei der Lektüre hilft. Der Redaktion unserer Zeitschrift wünschen wir auch in Zukunft viel Erfolg. Weiter so!

Werner Kleen, Jena


Die letzten Monate erinnern mich an den Kalten Krieg. Damals wurden die Sowjetunion und das sozialistische Lager von den bürgerlichen Medien unablässig angegriffen. Heute ist Rußland das Ziel der Anfeindungen. Man fordert den Rückzug russischer Truppen von den Grenzen ihres eigenen Landes, die Anerkennung des von Faschisten durchsetzten Regimes der Ukraine, verurteilt Volksabstimmungen auf der Krim und im Donezkbecken, ja man schließt Präsident Putin sogar von internationalen Kongressen aus.
Doch: Bedroht wird einzig Rußland. USA-Präsident Obama demonstriert in Polen mit seinen Piloten und deren Kampfmaschinen militärische Stärke. Truppen sollen folgen. Kriegsschiffe der U.S. Navy kreuzen in der Ostsee und im Schwarzen Meer. Sie warten auf ihren Einsatz. Die NATO-Verbündeten, darunter die BRD, werden in die geplanten Verbrechen einbezogen.
Wie kann dem Einhalt geboten werden? Wir alle - organisiert in Parteien, Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften und anderen Bewegungen - müssen uns für den einzigen Ausweg einsetzen: Redliche und ergebnisorientierte Verhandlungen aller am Konflikt beteiligten Staaten.

Joachim Weise, Hohenstein-Ernstthal


Obwohl der Beginn des Ersten Weltkriegs nun bereits hundert Jahre zurückliegt, tatsächlich aber bis in die Gegenwart andauert, nehme ich auf Lenin Bezug. Seine Thesen von einst sind auch heute noch aktuell. Man erfährt viel über Opportunismus und falsch verstandenen Patriotismus. In seinem Artikel "Unter fremder Flagge" entlarvt er den Charakter des Sozialchauvinismus. Das Erschreckende dabei ist: An der Handlungsweise der Regierenden hat sich nichts geändert. Das kann man am Beispiel des Geschehens in der Ukraine nachvollziehen. Putins Politik bewahrt uns vorläufig noch vor einer Katastrophe. Der kapitalistische Westen hat zu hoch gepokert.

Norbert Müller, Höxter


Alle Welt gibt "den Russen" die Schuld daran, daß sich ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung - vor allem im Osten des Landes - nicht von einer faschistisch durchsetzten Regierung mißbrauchen lassen will.
Betrachtet man die Vorgänge der letzten Monate, so ergibt sich ein Bild, das wir seit dem Untergang der Sowjetunion - unter gleicher oder ähnlicher Regie in Szene gesetzt - mehr als einmal vor Augen hatten: Mit dem Wegbrechen des sozialistischen Gegengewichts zum imperialistisch beherrschten Teil der Welt wurden in geschichtlich kurzer Zeit überall dort konterrevolutionäre Prozesse in Gang gesetzt, wo bisher noch nicht hinreichend nach der Pfeife der NATO und der USA getanzt worden ist.
Wie kann sich Frau Merkel herausnehmen, Putin zu "ermahnen", mit den faschistoiden Kräften in Kiew und der Westukraine "moderat" umzugehen! Auch ihr Präsident - Herr Gauck - tut sich mit Worten und Taten in diesem Geiste hervor. Haben solche Leute die geschichtlichen Lehren aus dem vergangenen Jahrhundert denn ganz und gar vergessen? Sie negieren zynisch die Tatsache, daß mehr als 20 Millionen Bürger der UdSSR mit ihrem Leben für den Sieg über den deutschen Faschismus bezahlt haben.

Dr. Günther Freudenberg, Bernburg


Am 30. Mai zeigte sich im ARD-ZDF-Morgenmagazin Obamas Außenminister Kerry, der Rußland aufforderte, mit dem neuen ukrainischen Präsidenten und der Kiewer Regierung zusammenzuarbeiten. Aus meiner Sicht handelte es sich um einen weiteren Fall eklatanter Einmischung in innerrussische Angelegenheiten. Die vermeintlichen "Separatisten" in der Ostukraine sind doch in Wahrheit ein Teil der Bevölkerung des Landes. Warum fordert Washingtons Chefdiplomat nicht die Kiewer Putschisten dazu auf, ihre rabiaten Militäreinsätze gegen die eigene Bevölkerung endlich einzustellen? Die neuen Kalten Krieger sollten sich daran erinnern, daß die faschistische deutsche Wehrmacht unter den Schlägen der Sowjetarmee in die Schranken gewiesen wurde. Dagegen hat auch die Aufstellung ukrainischer SS-Freiwilligenverbände nichts ausrichten können.

Manfred Schwallmann, Schwarzenberg


Überall wird der Frieden beschworen. Ihm sollen die NATO, die Kampfdrohnen, die familienfreundliche Bundeswehr mit Kitas und Krippen sowie die jüngsten Feierlichkeiten zum Gedenken an die Invasion in der Normandie, die als einziger "Tag der Entscheidung" dargestellt wurde, dienen. Wie aber sieht "man" die Millionen gefallenen Soldaten der Roten Armee und die Toten, Verstümmelten in den zerstörten Städten und Dörfern der Sowjetunion? Hat dieses Land, haben seine Menschen nicht unter Kriegen genug gelitten? Ist deren Friedenssehnsucht da nicht schon ein Wunsch, der ihnen in die Wiege gelegt wurde? Was haben sie nur getan, daß sie wieder als Feinde dargestellt werden?
Befragungen der Bundesdeutschen, kommentiert im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, besagen: 80 % der Deutschen sind für ein gedeihliches Verhältnis mit Rußland zum beiderseitigen Nutzen. Gegen eine Zunahme der Militärpräsenz an Rußlands Westgrenzen äußerten sich 75 %. Ihr Wunsch nach Frieden und Völkerverständigung sollte nicht ignoriert werden.

Dr. Wilfried Meißner, Chemnitz


Unlängst hielt US-Präsident Barack Obama vor Hörern der Militärakademie in Westpoint eine Rede. Es ist unglaublich, mit welcher Überheblichkeit er sich dort produzierte. Obama verlangte von Putin, dieser solle die eigenen Truppen auf eigenem Territorium von der eigenen Grenze zurückziehen. Andererseits läßt Obama NATO-Manöver zu Wasser, zu Lande und in der Luft direkt an der russischen Grenze durchführen. Obama muß keine Truppen irgendwohin entsenden. Sie sind überall auf der Welt präsent und können sofort zuschlagen.

Horst Kolbe, Hanstorf


Meine Kritik richtet sich vor allem gegen die tendenziöse und einseitige Berichterstattung der meisten hiesigen Medien. Da werden ukrainische Putschpolitiker als lupenreine Demokraten gefeiert, obwohl jeder, der die dortige Entwicklung seit dem Zerfall der Sowjetunion verfolgt hat, weiß, daß es den in Kiew Regierenden gar nicht um ihr Land, sondern um persönliche Macht und Bereicherung geht.
Meine Generation, welche den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg bewußt erlebt hat, reagiert auf Erschütterungen des deutsch-russischen Verhältnisses sehr sensibel und wünscht sich nichts sehnlicher als gute Beziehungen zur östlichen Hälfte der Welt. Das russische Volk möchte nichts als Frieden. Warum aber stellt sich Kanzlerin Merkel in den Dienst der aggressiven USA-Außenpolitik?

Dipl.-Ing. Hermann Ziegenbalg, Riesa-Weida


Analysiert man die EU-Wahlresultate, dann muß man feststellen, daß die als rechtspopulistisch verharmloste extreme Rechte vor allem auch in jenen Ländern zum Zuge gekommen ist, in denen es derzeit keine kommunistische Partei mit einigem Gewicht gibt. Dort, wo eine solche Kraft existiert, sehen die Dinge oft ganz anders aus.
Besonders beeindruckt mich die PCP. Von hier ansässigen portugiesischen Genossen habe ich die ersten drei Bände der Gesammelten Werke Álvaro Cunhals bekommen, in die ich mich nun vertiefe. Ich halte ihn für einen der bedeutendsten neueren marxistischen Theoretiker. Es ist jammerschade, daß es heute keinen Dietz-Verlag der DDR mehr gibt, der seinerzeit einiges von Cunhal herausgebracht hat. Was mich an der PCP immer faszinierte, ist ihr ausgeprägter Realitätssinn. Ich habe meine Ferien im Laufe der Jahre meistens im Alentejo verbracht und dort erlebt, wie die hohle Phrase auf steinigen Boden fällt. Alles Priestergehabe, das uns anderswo begegnet, wird dort mit einem knappen, aber zutreffenden Wort abgefertigt. Man könnte das auch als Nerv für strategische Dimensionen bezeichnen.

Marcel Hostettler, Bern


Am 17. Juni wurde der Kopf der Schweriner Lenin-Statue durch einen 65jährigen "Aktionskünstler" aus Hannover - ein sogenanntes freigekauftes Stasi-Opfer - für drei Stunden verhüllt. Er hatte sich beim Verwaltungsgericht die Genehmigung, seinen Akt der Unkultur "zelebrieren" zu dürfen und damit den angestrebten Abriß dieses Denkmals vorzubereiten, erstritten. Dabei rechnete er nicht mit dem Auftauchen von Anhängern des Begründers der Sowjetmacht. Aktivisten der Gegenaktion waren nicht nur standhafte Alte, sondern auch junge, belesene und daher unangepaßte Menschen. Als einige von ihnen - ich war beteiligt - ihre Köpfe verhüllten und ein Lenin-Plakat vor der Brust trugen, wurden sie ultimativ aufgefordert, sofort den Bereich vor dem Denkmal zu verlassen, da man sie sonst "in Verwahrung nehmen" müsse.
Doch wir wichen in den drei Stunden nicht von der Stelle, was den "Aktionskünstler" zur Aufgabe bewog. Frustriert beendete er sein Spektakel.

Peter Dornbruch, Zapel bei Crivitz


Bundespräsident Gauck erweist sich immer mehr als Feldprediger. Bei seiner Norwegenreise beklagte er sich über den fehlenden Mumm der Deutschen im Hinblick auf weitere Auslandseinsätze der Bundeswehr. Von denen steht allerdings im Grundgesetz kein Wort. Dennoch fordert Gauck noch mehr "Engagement". Als einstiger Pastor in Mecklenburg sollte sich der Bundespräsident lieber von den zehn christlichen Geboten leiten lassen. Im 5. Gebot heißt es: Du sollst nicht töten! Gebot 7: Du sollst nicht stehlen! Gebot 9: Du sollst nicht begehren Deines nächsten Haus!
Bei dem aber, was der Bundespräsident einfordert, geht es knallhart um diese Begierden.

Wilfried Steinfath, Berlin


Welche Weitsicht besitzt doch unser Bundespräsident! Immer wieder fordert er die Merkel-Regierung auf, noch mehr "internationale Verantwortung" durch den forcierten Einsatz militärischer Mittel zu übernehmen. Schließlich ist ja die BRD geradezu verpflichtet, den Segen deutschen Wesens in die Welt zu tragen und jenen Sitten beizubringen, deren Tradition und Lebensweise verdächtig von unseren Auffassungen abweichen. Eine Demokratie wie die der Deutschen dürfe so etwas nicht tolerieren. Dabei gibt es ja große Vorbilder: So haben die USA und andere westliche Demokratien in Korea, Vietnam, Irak, Libyen und Afghanistan gezeigt, wie man die eigenen "Werte" zu exportieren hat.

Horst Franzkowiak, Hoyerswerda


Im RF 197 erschien ein interessanter Beitrag zu Rolle und Haltung von Papst Franziskus. Das ist für eine populäre und weit verbreitete marxistische Monatsschrift durchaus bemerkenswert, wobei der gewählte Ton ausgesprochen sachlich wirkt. Ich betrachte die Verbindung von Kapital und Kirche als eine "Unheilige Allianz". Bildlich gesprochen: Der Ausbeuter reitet seit Jahrhunderten auf einem prächtig gezäumten Pferd, das ein Mönch am Zügel führt. Das Volk jubelt diesem Trio zu, obwohl der Gaul bis zu den Fesseln im Blut watet. Das einfältige Volk erkennt nicht, daß der strahlende Edelmann in Wahrheit ein Raubritter ist.
So aber hatte Jesus seinen Glauben nicht verkündet. Weder in den zehn Geboten noch in der Bergpredigt steht das. Seine frohe Botschaft lautete: "Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen." Als einstiger DDR-Bürger erinnere ich mich an eine Losung, welche die Solidarität zur Staatspolitik erklärte. Zwischen der einen und der anderen Äußerung liegen etwa 2000 Jahre. Doch die Aussagen gleichen sich unverkennbar. War Jesus gar ein früher Revolutionär und wurde er deshalb gekreuzigt, weil er die Ausbeuterordnung der Sklavenhalter in Frage stellte?

Peter Pöschmann, Döbeln


Katja Kipping und Bernd Riexinger, die Vorsitzenden der Partei Die Linke, sowie deren Fraktionsführer Gregor Gysi sind offensichtlich darüber verdrossen, daß die couragierte Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen in der Ukraine-Debatte des Parlaments mit einem Zitat Bertolt Brechts den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Dabei muß man sich doch mit Sevim Dagdelen unbedingt solidarisch erklären. Sie hat das zur Sprache gebracht, was man eigentlich von einer klaren Linken insgesamt erwarten sollte. Wenn aber Leute aus der eigenen Parteispitze wegen deren eindeutiger Position auf Sevim "sauer" sind, dann ist das nur ein neuerlicher Versuch, bei den BRD-Machthabern auf keinen Fall "anzuecken". Als Linke müssen wir dazu beitragen, daß jene klare Sprache, derer sich Sevim bedient hat, hierzulande nicht zur "Mangelware" wird.

Hans-Georg Vogl, Zwickau


Wieder einmal traue ich mich, Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, zu Papier zu bringen. Doch in Anbetracht der Tatsache, daß beim "RotFuchs" die Latte sehr hoch hängt, was schon allein die immer punktgenauen Leitartikel bestätigen, ist das keineswegs leicht.
Der Rummel um die Wahl eines der machtlosesten Parlamente der Welt hat sich mittlerweile etwas gelegt. Die meisten Diskussionen gab es um die Aufhebung der Fünf-Prozent-Sperrklausel. Leute, die nicht wissen, um was es eigentlich geht, erblickten in ihr schlechthin einen Sieg der Demokratie. Gilt das wirklich so uneingeschränkt?
Der Aufwind der Rechten ist doch beängstigend, die extrem hohe Abstinenz - 56,89 % der Wahlberechtigten enthielten sich europaweit der Stimme - war nur einer der Gründe für deren weiteres Vordringen.
Zugleich kann man feststellen: Viele Menschen spüren, daß der Weg des Europas der Konzerne nicht der ihre ist. Das zeigt auch der Erfolg linker Parteien in einigen Ländern.
"Ich interessiere mich nicht für Politik", höre ich immer wieder. Diese Leute merken nicht, daß gerade das gewollt ist. Denn wer sich nicht mit Politik befaßt, stellt auch keine Gefahr für die Herrschenden dar. Er kann nicht bemerken, daß das eine Prozent der Superreichen eigentlich überhaupt keine Chance hätte, wenn wirkliche Demokratie eingefordert würde. "Es ist der älteste Trick der Bourgeoisie, den Wähler frei seine Unfreiheit wählen zu lassen", wußte schon Brecht.

Volker Büst, Kalbe/OT Vienau


Der Artikel von Samira Manthey zur kapitalistischen Ideologisierung (nicht nur) der Eliten in der BRD ist das Beste, weil Klarste, was ich zu diesem Thema in den letzten Jahren gelesen habe. Vielen Dank an die Autorin und die auswählende Redaktion.

Dr. Hermann Wollner, Berlin


Die alte Losung "Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!" ist nach wie vor aktuell. Deshalb steht sie ja auch auf der Titelseite des RF. "Die Unterlegenen sind ja nur dann eine Macht, wenn sie sich vereinen!", schreibt die junge Künstlerin Samira Manthey im Juni-Heft. Das gelte um so mehr, als ja heute nicht nur die Arbeiter von den Kapitalisten ausgebeutet und unterdrückt würden, sondern auch jene, welche das überhaupt nicht wahrhaben wollten, weil sie meinten, es ginge ihnen doch gut.
Der Kapitalismus greift als System in jegliche Bereiche des Lebens ein. Das hat Samira in ihrem "RotFuchs"-Beitrag umfassend erläutert, wobei sie zu der Formulierung "die Unterlegenen" gelangte. Ihr Zusammenschluß ist aber leichter gefordert als vollbracht, zumal es ja um eine tatsächliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse geht. Es gibt die theoretische Erkenntnis, doch ihre praktische Umsetzung - das ist der springende Punkt. Dazu muß jede Möglichkeit ausgeschöpft werden.

Gerda Huberty, Neundorf


Die Systemdarstellung und -analyse Samira Mantheys im Juni-RF ist das einschlägig Treffendste, das mir seit langem vor Augen kam. Besonders gut finde ich dabei, daß sich nirgends ungerechtfertigter Optimismus breitmacht und der Blick durchweg realistisch geschärft bleibt. Die Widerspiegelung der Lage stimmt von vorn bis hinten. Der vom "System" reklamierte Werte-Kanon - "Humanität", "Menschenrechte" und "Toleranz" (bis zu menschlicher Fehlentwicklung verschiedenster Art) - erfährt dabei eine wirksame Entlarvung.

Peter Löw, Mittweida


Hallo, liebe Samira Manthey! Ihr Beitrag "Eindrücke einer jungen Künstlerin" im Juni-RF hat mich stark beeindruckt und erstaunt. Beeindruckt ob der tiefgehenden Einsicht in die Sache und Ihre eindrucksvollen Worte über die Methoden und Machenschaften der kapitalistischen Ideologie zur Beherrschung der Massen. Erstaunt, weil ein so junger Mensch wie Sie dazu in der Lage ist. Sie haben ja so recht mit der Passivität und Trägheit vieler alter Ostdeutscher!
Doch es gibt auch nicht wenige andere. So wie Sie auf die Alten schauen, suche ich die Jungen, z. B. im Marsch zu Ehren von Rosa und Karl an jedem Jahresbeginn. Und ich meine, es werden mehr. Sie haben mit Ihrem Artikel dazu einen Beitrag geleistet. Danke dafür im Namen aller, die ihn lesen durften.
Ich bin 85 Jahre und ein ehemaliger Arbeiterstudent.

Dr. Werner Kulitzscher, Berlin


Den Artikel von Samira Manthey haben wir mit Interesse und Genugtuung zur Kenntnis genommen. Es bestätigte unsere Auffassung, daß der vielbeschworene Meinungspluralismus unter kapitalistischen Bedingungen letzten Endes nur zu Desorientierung und faktischer Meinungslosigkeit führt. Der Klassencharakter dieser Gesellschaftsordnung wird im Bewußtsein der meisten Menschen verdrängt oder zumindest geschönt. Dabei haben sich die Medien der Herrschenden ihre "Meriten" erworben.
Samira Manthey hat mit ihrem Artikel einen wertvollen Beitrag geleistet, hinter die Kulissen geleuchtet und andere zum Nachdenken angeregt. Deshalb sind wir der Redaktion des RF für diese Veröffentlichung besonders dankbar.

Alfred Krommel und Günter Waldeck, Lamstedt


Glückwunsch zum Leitartikel der Juni-Ausgabe! Er ist ein hervorragend klärender Kommentar zur komplizierten Lage in der Ukraine, eine bemerkenswerte Abrechnung mit diesem immer unerträglicher werdenden Haß gegenüber allem, was mit Rußland zusammenhängt.
Doch ich will noch auf einen anderen Beitrag eingehen, nämlich den Artikel von Samira Manthey. Ich habe ihre klugen Überlegungen, treffenden Beobachtungen und engagierten Schlußfolgerungen sehr aufmerksam gelesen. Diese Autorin ist zweifellos eine Bereicherung der Zeitschrift und zum Glück auch "von frischerer Geburt".
Einwände hätte ich lediglich gegen den Gebrauch des Begriffs "Elite" in der Überschrift. Ich bin da etwas allergisch, da er "Auswahl der Besten" bedeutet. Das aber ist für jeden, der nicht dazugehört, ein wenig herabsetzend. Vielleicht könnte man statt dessen mit dem Wort "Führungsschicht" etwas anfangen, die sich durch das Adjektiv "jeweilig" ergänzen ließe.

Rudolf Krause, Berlin


Es wird nicht langweilig mit unserem "RotFuchs". Neben erfahrenen Altmeistern im Analysieren, Philosophieren und Diskutieren kommen auch junge Künstler wie Samira Manthey zu Wort. Sie gefiel mir mit ihrer ungeduldigen Betrachtung zur gesellschaftlichen Situation und dem Stillhalten der Massen. Ein wenig Revolutionstheorie mit mehr Fragen als Antworten. Im Grunde spricht sie das aus, was uns alle umtreibt. Wann endlich kommt Bewegung in die richtige Richtung?
Allerdings: Unsere Wünsche sind eine Sache, die objektiven Bedingungen eine andere.

Wolfgang Lange, Flöha


Darüber daß auch der Juni-"RotFuchs" inhaltlich wieder Spitze ist, brauche ich wohl kein Wort zu verlieren. Besonders aber hat mich der Beitrag von Samira Manthey angesprochen. Ich würde gerne mit ihr ins Gespräch kommen, denn für nächstes Jahr schwebt unserer Erfurter RF-Regionalgruppe eine Diskussionsrunde vor, mit der wir uns an junge Leute wenden wollen. Dabei geht es nicht darum, sie zu agitieren. Wir wollen vor allem etwas von ihnen erfahren.
Samira hat ja in ihrem RF-Beitrag für Kontakte mit Älteren plädiert und dabei die Frage aufgeworfen, was diese der jungen Generation vermitteln könnten.

Siegfried R. Krebs, Weimar


Mit Interesse habe ich den Artikel von Cornelia Noack im Juni-RF gelesen. Endlich wird klargestellt, wie es sich tatsächlich mit der Arbeit von Strafgefangenen in der DDR verhalten hat. Ich weiß manches dadurch, daß mein Mann Erzieher in der Justizvollzugsanstalt Schwarze Pumpe gewesen ist. Übrigens wird der "RotFuchs" nicht nur jeden Monat gründlich gelesen, sondern oftmals auch an andere Interessenten weitergereicht. Danke dafür, daß so viele darin veröffentlichte Artikel mit meinem eigenen Denken und Empfinden übereinstimmen.

Marianne Wuschko, Hoyerswerda


Seit geraumer Zeit lese ich mit wachsender Begeisterung den "RotFuchs" und habe ihn jetzt auch abonniert. In der Maiausgabe fiel mir die Lesermeinung von Hans-Dieter Rosenbaum auf.
Ich könnte mir vorstellen, daß wie er auch andere RF-Leser mit der Person Gorbatschow noch immer nicht ganz klarkommen. Mir ging es genauso. Gestattet mir deshalb, zwei Bücher zu empfehlen, die schlüssige Antwort geben: "Wer verriet die Sowjetunion?" von Jegor Ligatschow und "Mein Chef Gorbatschow" von Nikolai Ryschkow. Sie sind 1912 und 1913 im Verlag Das Neue Berlin erschienen. Beide Autoren waren zunächst selbst Verfechter der "Reformideen" und wollten diese in die Praxis umsetzen, gelangten dann aber zu tieferen Einblicken.

Rita Berger, Berlin


Chefinspekteur a. D. Dieter Winderlich (MdI/DDR) hat seine Auffassung zum Buch "Mittendrin - die Berliner Volkspolizei 1989/90" wissen lassen. Ich war Zeitzeuge und habe 20 Jahre den Dienstzweig Verkehrspolizei im Präsidium der VP Berlin geleitet. Der Rezensent schreibt, "daß die Volkspolizisten, vor allem die Führungsoffiziere, buchstäblich bis zur letzten Minute ihre Pflicht getan haben". Warum war das so?
Wir besaßen keine Erfahrungen, wie die VP in einer solchen "Übergangsperiode" vom Sozialismus zum Kapitalismus arbeiten muß, um Sicherheit und Ordnung weiterhin zu gewährleisten. Es entstanden neue komplizierte Lagebedingungen - vor allem nach der Grenzöffnung - nicht nur für die Verkehrspolizei, sondern vor allem auch für die Kriminal- und Schutzpolizei, zumal die Kriminalität ja rasant zunahm.
Wir erfüllten unsere Aufgaben, weil die Polizeihoheit bis zum 1. Oktober 1990 in unserer Verantwortung lag und die VP die einzige noch intakte Ordnungsmacht war. Dabei ging es um die Durchsetzung der politischen Forderung "Keine Gewalt!" Es mußte dafür gesorgt werden, daß das Leben der Bürger unserer Stadt nicht im Chaos versank.
Die Vorstellung, in den Dienst der Westberliner Polizei übernommen zu werden, war für fast alle höheren Offiziere der VP Utopie. Die Realität bestand darin, daß sie zu fast 100 % im August 1990 entlassen wurden. Ich selbst gehörte der VP bis zum Juni jenes Jahres an. Wir wurden als Erfüllungsgehilfen zwar noch geduldet, waren aber schon Mitte 1990 ins Abseits gestellt.

Polizeidirektor der VP a. D. Heinz Schlehuber, Berlin


Am 1. September 2014 jährt sich der Beginn des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Im Erinnern an dessen Schrecken denke ich stets auch an meinen Vater, der am 31. August 1899 geboren wurde. Sein Leben endete 1945 im Inferno um Königsberg - das heutige Kaliningrad - oder es erstarrte vielleicht im endlosen Zug Gefangener aus einer geschlagenen Armee. Oder es erlosch durch Krankheit und Hunger des Nachkriegsleids, oder, oder ... Ich weiß es nicht, aber es endete zumindest nach dem 19. März 1945, als er - nur 46 Jahre alt - einem Piloten seinen letzten Brief mitgab. Mit diesem Tode zerbrach die Hoffnung auf bescheidenes Glück einer Familie, manchmal starb auch die Hoffnung. Was blieb, waren die Narben wunder Seelen in Generationen.

Regina Ludwig, Bestensee


Ausgerechnet für den 8. Mai war in Demmin ein Marsch rechter Kräfte angemeldet. Bereits im Vorfeld bekundeten viele Einwohner, daß sie keine Nazis in der Stadt wollten. Als dann die Braunen aus verschiedenen Regionen der BRD anrückten, stellten sich Demminer und deren Gäste dem Spuk entgegen. Die Polizei ging wie üblich nicht gegen die Nazis, sondern mit großer Härte gegen die antifaschistischen Demonstranten vor. Ein junger Franzose wurde derart gewürgt, daß er in der Greifswalder Klinik stationär behandelt werden mußte. Vom Innenminister des Landes M-V, Lorenz Caffier (CDU), wurde demagogisch gefragt, was denn ein Franzose bei einer Demonstration in Demmin zu suchen habe. Welch ein Zynismus!

Helmut Timm, Groß Nemerow


Die folgenden Zeilen wurden an unsere stellvertretende Vertriebsleiterin Sonja Brendel anläßlich ihres 85. Geburtstages gerichtet, dürften aber von allgemeinem Interesse sein.

Statt eines opulenten Blumengebindes senden wir Dir eine kleine Stärkung für den "RotFuchs", dessen Beiträge oft interessant, manchmal irritierend, aber gerade in dieser Widersprüchlichkeit lesenswert sind. Das ist angesichts der herrschenden Medieneinfalt nicht zu unterschätzen.

Maria Engel und Gisela Peters, Berlin


Die Koalitionsregierung aus CDU/CSU und SPD hat das EEG-Gesetz beschlossen. Es bedeutet, daß Betriebe mit hohem Verbrauch billigen Strom erhalten. So subventionieren die BRD-Bürger diese Konzerne jährlich mit einem Betrag von drei Milliarden Euro, damit sie sich über eigene Stromeinsparungen keine Gedanken machen müssen. Finanzminister Schäuble hat die "Kalte Progression" erfunden.
Das heißt, daß der Staat Lohnerhöhungen sofort wieder in den eigenen Steuertopf lenken kann. Das ist Betrug durch die Hintertür. Die große Koalition hat zugleich eine sogenannte Steuerbremse eingeführt. Dadurch fließen geringere Zuführungen vom Bund in die Länder. Jetzt erhalten die Städte und Gemeinden noch weniger Geld, um das Nötigste instandzuhalten. Herr Schäuble kürzt die Zuführungen des Bundes zum Rentenfonds um zwei Milliarden Euro. Ähnliches geschieht mit dem Sozialfonds.

Werner Juhlemann, Geithain


Ich bin eifriger Leser Eurer Zeitschrift. Manches ist zu viel Nostalgie, aber da ich als Genosse bis 1989 in Westberlin aktiv war, schwelge auch ich in Erinnerungen.
Bedingt durch die neuen technischen Entwicklungen im Internet- und Medienbereich ist bei den uns nachfolgenden Generationen der Gedanke an die Notwendigkeit grundlegender Umwandlungen der Gesellschaft leider weithin verlorengegangen. Ich selbst halte an guten Traditionen fest. Obwohl Rentner, bin ich immer noch bei der IG Metall, so gut es geht, als Senior aktiv. Es ist wichtig zu wissen, in welchem Grade bürgerliches Denken bei den jetzt europäischen Gewerkschaften vorherrscht.
Doch zurück zum "RotFuchs": Macht weiter so mit Euren guten Beiträgen zu nationalen und internationalen Vorgängen!

Heinz Krehl, Berlin


In der März-Ausgabe schilderte Gerhard Frank aus Riesa seine Studienzeit. Im Vergleich zu heutigen Bedingungen erlebte er in der DDR sehr gesicherte Verhältnisse. Ich befinde mich im letzten Drittel meines Lehramtsstudiums in Köln, kann also schon auf drei Jahre, teils mit Studiengebühren, zurückblicken.
Am Ende ihrer Ausbildung werden Studierende aus nichtbegüterten Elternhäusern regelrecht ausgegrenzt. Ich erhalte im Gegensatz zu 80 % der Studenten Bafög, das aber im Oktober ausläuft, obwohl ich noch bis zum Juni 2015 studieren muß. Dadurch fallen monatlich 200 Euro auf einen Schlag weg.
Wie einst Gerhard lebe ich in einem Wohnheim, zahle dort aber im Unterschied zu ihm nicht 10 Mark, sondern 196 Euro Miete, was 764 Mark der DDR entspräche. Auch das günstigste Mensa-Essen ist nicht für eine Mark wie in der DDR zu haben, sondern kostet 2,35 Euro.

Tim Carlitscheck, Köln


Nach der Lektüre des Beitrags zu "Höhen und Tiefen der DDR" von Dieter Knoderer (RF 197) dachte ich über seine Ansicht nach, eine "offene Aussprache mit der DDR-Bevölkerung" wäre zur Abwendung der Gefahr dringend notwendig gewesen. Mir kamen Zweifel. War nicht die BRD-Propaganda zu diesem Zeitpunkt bereits so tief in die Köpfe vieler Menschen eingedrungen, daß sie alle vernünftigen Argumente ablehnten? Ging es ihnen 1989/90 tatsächlich vor allem um die "Wiedervereinigung" oder spielte das Begrüßungsgeld nicht inzwischen eine weitaus größere Rolle?
Ein ehrliches "Karten auf den Tisch!" hätte aus meiner Sicht zu diesem Zeitpunkt wohl kaum noch eine Chance gehabt.
Das sind die Gedanken eines Menschen aus Niederbayern.

Johann Weber, Ruhstorf


Zu meiner Freude ist auch das Juni-Heft des RF wieder pünktlich im Briefkasten gewesen. Bisher hatten mich oft einzelne Beiträge angesprochen. Auch diesmal bin ich von der Auswahl und Aktualität des behandelten Stoffes begeistert. Der Artikel zur Bewertung des dramatischen Geschehens in der Ukraine und andere Beiträge sind zündend geschrieben. Die Ereignisse auf der politischen Weltbühne werden trefflich durch zahlreiche klug ausgewählte Fotos, Collagen und Karikaturen ergänzt. Die Nr. 197 ist rundum gelungen! Ein großes Lob den Autoren und der Redaktion.

Karl Behnke, Insel Rügen


Dem Artikel "Wolgaster Teufelstanz" im Juni-RF stimme ich bis auf einen Punkt zu. Dort heißt es: "Schuld an solchen Zweifeln sind außer den Jasagern im Parlament vor allem auch der Stadtverband und die PDL-Ratsfraktion in Wolgast."
Mein Einwand: Unser Stadtverband gehört keineswegs zu den Jasagern. Mit unserer Stadtfraktion haben wir uns selbstverständlich auseinandergesetzt. Ich wünsche Euch viel Kraft!

Gerhard Scholz, Wolgast


In Velbert-Langenberg wurden zwei Stolpersteine für die Antifaschisten Karl Astheimer und Heinrich Kulemann verlegt. Unseren "Arbeitskreis Konzentrationslager Mittelbau-Dora" hat die Ehrung der beiden KPD-Mitglieder sehr bewegt. Der von den Politgrößen unserer Stadt nur schleppend unterstützte Vorgang stand unter der Schirmherrschaft der evangelischen Kirche. Bei der Diskussion über die Stolperstein-Aktion kamen deren Umstände noch einmal kraß zum Ausdruck. Man sagte, daß für Widerstandskämpfer gegen die Nazis zwar "Steinchen verlegt" würden, man aber zugleich jene Herren durch Straßenschilder ehre, welche an Leid und Tod der KZ-Häftlinge Millionen verdient hätten.
Tatsächlich wurde die nach dem Initiator des hiesigen Verkehrstunnels benannte Dr.-Hans-Karl-Glinz-Straße trotz unserer intensiven Bemühungen noch immer nicht umgetauft. Glinz war Chef einer Firma, die damals aus todgeweihten Sklavenarbeitern des KZs Mittelbau-Dora enorme Summen herauspreßte. Sie hat noch heute hier ihren Sitz. Die Erben haben unserem Arbeitskreis und dem Stadtrat eine Umbenennung selbst empfohlen. Die Ratsherren tun sich aber nach wie vor schwer damit.

Wolfgang Gleibe, Velbert-Langenberg


Wiederholt berichtete der "RotFuchs" über Geschehnisse rund um den Berliner Alexanderplatz. Direkt am Alex oder in seinem Umfeld wurden und werden DDR-Bauten systematisch plattgemacht. Das Gesundheitsministerium verwandelte man in eine Brache oder einen Parkplatz; den Neubau des Außenministeriums radierte man restlos aus; der Palast der Republik wurde haßerfüllt entsorgt; der Abriß des Amtes für Statistik ist beschlossene Sache; die unter Denkmalschutz gestellte Mehrzweckgaststätte auf der Fischerinsel mußte einem Hotel weichen; das Palasthotel ersetzte man durch ein anderes Luxusetablissement; das Interhotel "Unter den Linden" und das "Lindencorso" schleifte man rigoros; das Interhotel "Berolina", in dem sich heute noch das Rathaus des Stadtbezirks Mitte befindet, soll zugunsten eines Neubaus ähnlicher Art abgerissen werden.
Die Liste der Stadtbildschändungen ließe sich beliebig verlängern. Keines dieser Gebäude glich einer Ruine, stand vor dem Zerfall, bedurfte einer baupolizeilichen Sperrung oder galt als zwingender Sanierungsfall. Auf perfide Art und Weise möchte man alles ausmerzen, was auch nur im geringsten an die DDR erinnert.

Jürgen Leichsenring, Berlin

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Erik Höhne
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Quelle:
RotFuchs Nr. 199, 17. Jahrgang, August 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. August 2014