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ROTFUCHS/203: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 250 - November 2018


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

21. Jahrgang, Nr. 250 - November 2018



Aus dem Inhalt

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Lehren der deutschen Geschichte

Der 100. Jahrestag der Novemberrevolution erinnert daran, welche tiefen Gegensätze zwischen DDR und BRD auch in der Geschichtspolitik existierten. Der ostdeutsche Staat sah sich zu Recht als Erbe und Fortsetzer der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung. Sie beendete am 9. November 1918 die jahrhundertelange Herrschaft der Hohenzollern und anderer feudaler Dynastien, brachte die Herrschaft des deutschen Monopolkapitals und des Militarismus ins Wanken und stoppte das Völkermorden des Ersten Weltkrieges. Der erste Versuch des deutschen Imperialismus, die Weltherrschaft zu erobern, war gescheitert. Nur durch das zunächst geheime Zusammenspiel von SPD und Militär konnte die Revolution gestoppt und niedergeschlagen werden. Heute ist erwiesen, daß der Befehl zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 aus der SPD-Führung kam.

Viele Revolutionäre von 1918 wie Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, Bernard und Wilhelm Koenen oder Jacob Walcher wirkten in der DDR an vorderster Stelle in Staat und Gesellschaft. Für zahlreiche Künstler und Schriftsteller, die als Kriegsgegner die Revolution begrüßt hatten, kam nur die DDR als Arbeitsort in Frage: Von Bertolt Brecht und Johannes R. Becher über Wieland Herzfelde und Anna Seghers bis zu Arnold Zweig, von John Heartfield und Otto Nagel bis zu Karl Völker und all jenen, deren Werke einst in der Sammlung proletarisch-revolutionärer Kunst der Nationalgalerie im Otto-Nagel-Haus am Märkischen Ufer in Berlin zu sehen waren. Ihre Arbeiten wanderten nach der Beseitigung der DDR ins Depot.

Wachgehalten wurde die Erinnerung an die Revolution durch DEFA-Filme wie "Das Lied der Matrosen" (1958) oder die beiden zum Wirken Karl Liebknechts zwischen 1914 und 1919 von Günter Reisch ("Solange Leben in mir ist" und "Trotz alledem"). Die Singebewegung entdeckte die Kampflieder von 1918 und den folgenden Jahren der revolutionären Nachkriegskrise neu. "Auf, auf zum Kampf" war ebenso Allgemeingut wie "Brüder, seht die rote Fahne".

Die DDR hatte eine eigene Kultur mit tiefen Wurzeln in den fortschrittlichen Traditionen der deutschen Geschichte. Das ist ein Grund, warum sie zum Erstaunen oder Entsetzen derjenigen, die sie seit 28 Jahren ausrotten möchten, die für ihre Zerstörung und Verächtlichmachung riesige Geldsummen aufwenden, ungezählte "Stasi"-Schmonzetten, mäßige Romane und schlechte Filme produzieren, lebendig ist und bleiben wird. Aus demselben Grund spielt die Novemberrevolution in der BRD-Geschichtspolitik einschließlich der der SPD keine besondere Rolle - vom Schulunterricht angefangen. Der Umgang mit dem angeblichen Ursprung "der" Demokratie in Deutschland ist dort - linke und demokratische Publizisten stets ausgenommen, hier sei nur Sebastian Haffners "Verratene Revolution" erwähnt - mehr als zurückhaltend. Das gilt auch 2018. Die Spuren schrecken noch immer. Das war vor vier Jahren anders. Der 100. Jahrestag des Datums, an dem in Berlin der Erste Weltkrieg in Gang gesetzt wurde, wurde groß begangen. Eine Flut von Publikationen ergoß sich in Buchhandlungen und Bibliotheken. Hochgejubelt wurde ein Band mit dem Titel "Die Schlafwandler", mit dem der Begriff "imperialistischer Krieg" zu Grabe getragen werden sollte. An solch einem, wollte der heute zum ZDF-Moderator gemachte britisch-australische Historiker Christopher Clark weismachen, ist niemand schuld, vor allem nie der deutsche Imperialismus. Clark hat die "wissenschaftliche" Begleitung zu den Kriegen, an denen sich die BRD seit der Beseitigung der DDR beteiligte, und für den dritten deutschen Anlauf zu einem "Platz an der Sonne" geschrieben.

Der Titel von Theodor Plieviers dokumentarischem Roman von 1932 über die Novemberrevolution, "Der Kaiser ging, die Generäle blieben", muß ergänzt werden: Der deutsche Imperialismus führt wieder Krieg und rüstet für einen großen. Es ist möglich, das besagt 1918 trotz aller Niederlagen, ihm sein blutiges Handwerk zu legen.

Arnold Schölzel

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Abrüsten statt aufrüsten - das ist das Gebot der Stunde
Eine neue Dimension der Ablehnung und des Protests gegen Aufrüstung ist möglich

Mehr als 200 Veranstaltungen zum Antikriegstag am 1. September liegen hinter uns, Tausende wandten sich gegen die fortgesetzte Aufrüstung. Mehr als in all den Jahren davor waren es auch gemeinsame Veranstaltungen von Friedensbewegung und Gewerkschaften.

Die Veranstaltungen waren geprägt von den Grundgedanken, die der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann in seinem Gastbeitrag in der "Frankfurter Rundschau" am 1.9. so zum Ausdruck brachte:

"Wir leben in einer Zeit tiefer Umbrüche: Die internationale Nachkriegsordnung ist aus den Fugen geraten. Die Hoffnung, daß das Ende des kalten Krieges ein Zeitalter der Entspannung einläuten würde, hat sich als Illusion erwiesen. Das Risiko von militärischen Auseinandersetzungen ist so groß wie seit 1989 nicht mehr. Rund um den Globus toben mehr als 30 Kriege und bewaffnete Konflikte. Um so wichtiger ist der Einsatz für Frieden, Demokratie und Freiheit - von Gewerkschaften, aber auch von Parteien und Zivilgesellschaft.

Denn machen wir uns nichts vor: Genau die Ideologien und Überzeugungen, die schon damals Haß statt Verständigung geschürt haben, sind wieder auf dem Vormarsch: der Nationalismus und sein Bruder, der Me-first-Protektionismus, und mit ihnen breiten sich autoritäre, autokratische und rechtspopulistische Regime aus. Wachsende Instabilität prägt das internationale Geschehen.

Die Folge: Nie sind so viele Menschen auf der Flucht gewesen. Heute sind es weltweit 68,5 Millionen, die ihre Heimat verlassen haben, viele, weil dort Krieg oder Bürgerkrieg herrscht.

Hinzu kommt die Aufrüstungsspirale der Nationalisten als Antwort auf die Weltunordnung: Die globalen Rüstungsausgaben sind mit über rund 1,7 Billionen US-Dollar so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr; Großmächte wie die Vereinigten Staaten, Rußland, China und Indien liefern sich ein atomares Wettrüsten.

Statt sich gegen diese falsche Antwort zu stemmen, will die NATO die Verteidigungsausgaben der Bündnispartner weiter steigern. Ihre Rüstungsetats sollen bis 2024 auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes anwachsen. Alleine für die Staaten Europas würde dies bedeuten, daß ihre Militärausgaben von derzeit 500 Milliarden auf 800 Milliarden Euro anwachsen.

Dieses Geld wird aber viel dringender an anderer Stelle gebraucht: für Investitionen in Bildung, für den sozialen Wohnungsbau, für kommunale und digitale Infrastruktur, für eine gerechte und ökologische Gestaltung der Verkehrs- und Energiewende, für mehr soziale Sicherheit und für die Bekämpfung von Fluchtursachen."

Die Veranstaltungen zum 1.9. standen im Schatten der bedrückenden Ereignisse von Chemnitz, zeigten aber auch den breiten antifaschistischen Konsens "Nie wieder Krieg - nie wieder Faschismus!" und den engen Zusammenhang zwischen Krieg und Hochrüstung als Fluchtursache und die Notwendigkeit, materielle Ressourcen nicht für die Rüstung hinauszuwerfen, sondern für dringende soziale Leistungen, für Bildung und gesellschaftlichen Zusammenhalt bereitzustellen.

Auf fast allen Veranstaltungen sammelten Kolleginnen und Kollegen aus den Gewerkschaften und der Friedensbewegung Unterschriften unter dem Aufruf "Abrüsten statt aufrüsten!" Noch haben wir keinen endgültigen Überblick über die exakt gesammelten Unterschriften, es werden aber Tausende sein. Sie haben uns einen deutlichen Schritt weitergebracht in der Schaffung einer breiten Bewegung für Abrüstung. Sie verdeutlichen aber auch, die bisher gesammelten und Mitte September Abgeordneten des Deutschen Bundestags übergebenen über 90.000 Unterschriften sind erst der Beginn.

Wie notwendig weitere Aktivitäten gegen die Hochrüstung sind, zeigen zwei Nachrichten der letzten Tage:

- Im Haushalt 2019 soll der Verteidigungshaushalt um 11,9 % auf 42,4 Milliarden Euro erhöht werden. Dieses ist die höchste jährliche Erhöhung dieses Etats seit mindestens 30 Jahren.

- Das Verteidigungsministerium hat für das sogenannte Fähigkeitsprofil der Bundeswehr vom Finanzminister für das Jahr 2024 60 Milliarden für Krieg und Rüstung gefordert.

Diese Fakten unterstreichen die Entwicklung, welche die Stiftung "Wissenschaft und Politik" (SWP) vorgezeichnet hat. Die 2 % des Bruttosozialproduktes, die die Bundesregierung und die NATO für Rüstungsausgeben wollen, bedeuten für Deutschland nach Berechnungen von SWP für 2024/25 ca. 85 Milliarden Euro. Was für eine gigantische Verschwendung von Ressourcen, was für eine Steigerung der Gefahren von weltweiten Kriegen! Wir wissen doch: Alle Waffen, die entwickelt und produziert werden, werden auch eingesetzt, entweder durch die Bundeswehr selbst oder über Rüstungsexporte irgendwo weltweit.

Dabei wird das Geld so dringend gebraucht. Wie heißt es im Aufruf "Abrüsten statt aufrüsten!": "Zwei Prozent, das sind mindestens weitere 30 Milliarden Euro, die im zivilen Bereich fehlen. So bei Schulen und Kitas, sozialem Wohnungsbau, Krankenhäusern, öffentlichem Nahverkehr, kommunaler Infrastruktur, Alterssicherung, ökologischem Umbau, Klimagerechtigkeit und internationaler Hilfe zur Selbsthilfe."

Oder für eine Herausforderung, die nicht neu ist, aber mit neuer Brisanz auf die Welt und die Politik zukommt: die Finanzierung des Wiederaufbaus Syriens. Die Linderung des Leids der Millionen Menschen - dort Lebenden und Geflüchteten - erfordert vielfältige Hilfe. Wir brauchen ein umfassendes Aufbauprogramm für dieses so zerstörte Land! Das sollte durch Abrüstung bezahlt werden. Statt weitere Ressourcen für die Aufrüstung bereitzustellen, sollte die Bundesregierung diese Finanzen für den Wiederaufbau Syriens und die durch Krieg zerstörte Region zur Verfügung stellen.

Die Fortsetzung der Unterschriftensammlung bleibt auf der Tagesordnung

Der Herbst könnte zu aktiven Monaten ausgedehnter Unterschriftensammlungen bei den unterschiedlichen Aktionen der Friedensbewegung werden. Die Menschen wollen nicht mehr Rüstung, sondern Frieden und Abrüstung. Deswegen intensivieren wir die Sammlung bei den Infoständen, bei eigenen Veranstaltungen oder bei denen, die wir besuchen. Jede Unterschrift ist eine kleine Aktion, hilft, Nichtstun und Stillstand zu überwinden, zeigt: es geht. Die öffentlichen Diskussionen über den Bundeshaushalt 2018 sollten wir nutzen, unsere Alternative Abrüstung zu propagieren, überall da, wo das Lied "Es ist kein Geld da" gesungen wird, zeigen wir die Alternative auf und werben für diese.

Es gibt keinen Grund, die so erfolgreich begonnene Unterschriftensammlung - insgesamt haben inzwischen über 100.000 unterzeichnet - zu beenden, im Gegenteil, sie muß ausgeweitet werden.

Mehr Aktionen sind notwendig - bundesweite dezentrale Demonstrationen!

Jede Unterschrift hilft und zeigt, wir werden mehr. Wir müssen aber auch wieder heraus mit unseren Forderungen auf die Straßen und Plätze dieses Landes. Frieden und Abrüstung muß wieder laut durch die Straßen klingen und von den Plätzen schallen. Deswegen hat die Aktionskonferenz "abrüsten" in Frankfurt/Main folgendes vorgeschlagen, und der Arbeitsausschuß der Kampagne unterstützt dies aktiv und vielfältig: Laßt uns vom 1. bis 4. November überall in dieser Republik dezentral demonstrieren und auf die Straße gehen! Je mehr Aktionen, je mehr Demonstrationen, desto besser!

Wir wollen Protest und Widerstand zeigen. Die zu dieser Zeit stattfindende 2. und 3. Lesung des Bundeshaushaltes sind eine gute Gelegenheit, unsere Forderung der Öffentlichkeit und der Politik zu zeigen und zu verdeutlichen.

Netzwerk Friedenskooperative, Bonn

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Zur Systematik der Kriegsvorbereitungen gegen Rußland
Krieg beginnt lange vor dem Krieg

Es gehört seit einigen Jahren zum Ritual des Westens, Rußland als angeblichen Verursacher des neuen kalten Krieges erbarmungslos anzuklagen und mit Sanktionen zu bestrafen. In Leugnung aller aggressiven Handlungen des Westens gegenüber Rußland (fortschreitende Einkreisung durch die NATO und die EU; immer stärker provozierende Stoßrichtungen der NATO-Militärmanöver an den russischen Grenzen; eine zügellose Aufrüstungsspirale; offene und verdeckte Geheimdienstoperationen; gezielte Provokationen und antirussische Haßreden in den westlichen Parlamenten) werden das russische Reagieren und Rußlands Sicherheitsmaßnahmen als bedrohlich und friedensgefährdend dargestellt.

Es scheint auf den ersten Blick verwunderlich, daß 28 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetmacht, nach der Geburt eines modifizierten Kapitalismus mit nationalen russischen Attributen, nach dem Wegfall eines politischen und sozialökonomischen Gegenpols zur westlichen imperialistischen Allianz eine solche scharfe Konfrontation entstehen konnte. Der über Jahrzehnte kultivierte antisowjetische Haß hat sich in eine feindselige antirussische Haltung verwandelt. Gespeist wird dieser Russenhaß durch die seit Jahrhunderten existierende ungestillte Gier auf viele russische Bodenschätze, durch das Bestreben, einen Hauptkonkurrenten, der viele geostrategische Vorteile besitzt, auf der internationalen Bühne dauerhaft auszuschalten, den asiatischen Raum Rußlands gegen China in Stellung zu bringen. Das Antrittsgelöbnis jedes US-Präsidenten, der gesamten USAdministration gipfelt in der Aussage, alles dafür zu tun, damit Rußland politisch, ökonomisch, finanziell und militärisch ständig auf den Status der totalen Handlungsunfähigkeit gedrückt wird. Unter Jelzins Regentschaft waren da verheißungsvolle Ansätze geschaffen worden, und Rußland war unter diesen Vorzeichen ein hofierter, wünschenswerter Partner.

Putin hat diese Strategie der USA und der NATO bisher erfolgreich durchkreuzt und Rußland als amputierte Großmacht der 90er Jahre in den letzten 18 Jahren wieder mit bemerkenswerten Ergebnissen in die internationale Arena zurückgeführt. Mit der Krim-Operation wurde der Einkreisungspolitik der NATO ein ziemliches Leck geschlagen. Das russische Militär ist der faktische Sieger auf dem Schlachtfeld Syrien. Über das weitere Schicksal Syriens hat Rußland das entscheidende Wort mitzureden. Rußland ist der erfolgreiche Widersacher bei dem Versuch des Westens, den Nahen und den Mittleren Osten vor allem über erzwungene Machtwechsel politisch neu zu ordnen und unter US-Kontrolle zu bringen. Putin hat erreicht, daß die Türkei als Mitglied der NATO bis jetzt keine aggressive Position gegenüber Rußland einnimmt.

Innenpolitisch ist die Hoffnung der USA und der NATO, durch eine weitgehend gezüchtete Opposition Rußland zu destabilisieren und Putin zu stürzen, zerplatzt. Die vor der US-Präsidentenwahl in Rußland vorherrschenden Illusionen, einen möglichen rußlandfreundlichen, nach Partnerschaft suchenden Politiker an der Spitze der USA begrüßen zu können, sind der nüchternen, realistischen Einschätzung gewichen: Auch der neue Präsident der USA ist rußlandfeindlich eingestellt, ohne Aussichten auf wirklich partnerschaftliche Beziehungen. Die USA und die NATO mußten dank der russischen Politik und der nicht erpreßbaren Haltung Rußlands manche Rückschläge und Enttäuschungen hinnehmen.

Vor diesem Hintergrund vergeht praktisch kein Tag, an dem nicht wirtschaftliche, finanzielle Sanktionen, Strafen, Provokationen, Lügen, Täuschungen, Rechtsbrüche und Skandale gegen Rußland gestartet werden. Das sind keineswegs sporadische Aktionen oder bloße Einfälle aus den Launen eines US-Präsidenten heraus oder von beförderungshungrigen NATO-Militärs.

Die Zielstellungen und die Methodik aller Aktionen gegen Rußland sind integraler Bestandteil eines nicht leicht zu durchschauenden Systems der strategischen Kriegsvorbereitung gegen Rußland. An der Stoßrichtung der Angriffe, an ihrer Abfolge und Vernetzung, an ihrer terminlichen Fixierung und der geplanten Intensität ist abzulesen, daß es lenkende Kräfte in den Führungsetagen der US-Administration und der NATO gibt, welche die antirussischen Angriffe sorgfältig vorbereiten und geordnet ablaufen lassen. Die antirussischen, noch nicht militärischen Angriffe haben aus Sicht des Autors mindestens drei Aspekte.

Erstens: Es sind mit strategischem Kalkül ausgesuchte Angriffsfelder, also Koordinaten, die ein beträchtliches Unruhe-, Schwächungs- und Zerstörungspotential in sich bergen. Dazu gehören in erster Linie die russische Wirtschaft, insbesondere die ökonomischen Zentren der Oligarchen, das russische Finanzwesen und die Verteidigungsindustrie. Ein weiteres Angriffsfeld sind alle Bereiche der russischen Außenpolitik. Ein attraktives Angriffsfeld sind alle internationalen Sportveranstaltungen, bei denen Rußland der Ausrichter ist. Sportwettkämpfe in Rußland sind zum Vehikel dafür geworden, um antirussische Stimmungen, Falschinformationen über Rußland, auf Lügen aufgebaute Legenden Millionen Zuschauern möglichst wirkungsvoll einzuimpfen. Alle Medienkonzerne des Westens, dazu gehören auch ARD und ZDF, ungezählte Stiftungen, Meinungsforschungsinstitute und Menschenrechtsorganisationen haben es sich zum Ziel gesetzt, massiv die öffentliche Meinung in Rußland zu beeinflussen, sie zu profilieren.

Zweitens: Es sind handfeste, quantifizierbare Schädigungen in großem Umfang, mit denen Rußland systematisch destabilisiert, geschwächt und schließlich gelähmt werden soll.

Die militärische Verteidigungsfähigkeit soll radikal abgewertet werden. Maßgeblich ist dabei die Zielrichtung, Rußland dauerhaft in einen Mehrfrontenvorkrieg hineinzumanövrieren. Die russische Führung soll von einer politischen, ökonomischen und finanziellen Baustelle zur nächsten getrieben werden. Ihr soll das Heft des Handelns von außen aufgezwungen werden, wobei im Innern Rußlands alles zum Kochen kommen soll. Die nationalpatriotische Haltung vieler Russen soll zur Erosion gebracht, ihr Mißtrauen gegen ihre Führung gestärkt werden. Ganz oben in der Hierarchie des Schädigungspotentials gegen Rußland stehen alle Elemente und Faktoren zur ökonomischen und finanziellen Strangulierung des russischen Staates. Mit der Abnabelung russischer Banken von internationalen Finanzflüssen, mit Primär- und Sekundärsanktionen, mit dem durch die USA verhängten Importstop für viele russische Rohstoffe (bindend für alle NATO-Staaten), mit dem Exportverbot für alle Hochtechnologieerzeugnisse in Richtung Rußland, mit der Kontensperrung bei russischen Unternehmen und Unternehmern durch die USA und die EU, mit dem Preisdiktat des Westens auf fast alle strategischen Rohstoffe, mit der ständigen Aufweichung des Rubels glaubt man, starke Strangulierungsinstrumente in der Hand zu haben, mit denen der ökonomische und finanzielle Kollaps Rußlands vorbereitet werden könnte. Neben der juristischen Keule (Verbote, Strafen, Verordnungen) wird das scharfe Schwert US-dominiertes internationales Finanzsystem rigoros gegen Rußland eingesetzt. Die Oligarchen sollen gegen Putin in Stellung gebracht werden. Ein fester Bestandteil im Arsenal der Strangulierungsinstrumente ist die von den USA und der NATO ständig weiter gedrehte Rüstungsspirale. Mit 900 Mrd. US-Dollar Militärausgaben in 29 NATO-Staaten im Jahre 2017 hofft man, militärisch überlegen zu sein und Rußland zu zwingen, sich finanziell zu überheben und radikale Kürzungen im Sozialbereich vorzunehmen.

Im Jahr 2017 haben die USA 610 Mrd. Dollar für die Rüstung ausgegeben (im Haushaltsjahr 2019 sollen es gar 717 Mrd. Dollar [627 Mrd. Euro] sein). In der BRD waren es 44,3 Mrd. US-Dollar. Rußland selbst hatte nach Angaben des Internationalen Schwedischen Friedensforschungsinstituts 2017 Militärausgaben in Höhe von 66,3 Mrd. US-Dollar. Mit der Forderung von Trump an alle NATO-Staaten, mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) für die Rüstung einzusetzen, wird eine gewaltige antirussische Militärmaschinerie aufgebaut. Die militärischen Denkfabriken sind dabei, die optimalen Bedingungen für einen großen Krieg gegen Rußland zu bestimmen und den Militärs vorzuschlagen. Auch die BRD verfügt über einige solcher "Fabriken" zur Vorbereitung des massenhaften Tötens. Dafür braucht man Personal, das aus der vernichtenden militärischen Niederlage des deutschen Faschismus immer noch keine Lehren gezogen hat. Die USA und die NATO sind der Auffassung, im Krieg mit der Atommacht Rußland strategische Vorteile zu besitzen. Mit der Ausschaltung der Erst- und Zweitschlagkapazitäten im Raketensystem glaubt man, das Atomwaffenpotential Rußlands eliminieren zu können.

Der Westen sollte bedenken, daß Rußland entsprechende militärische Antworten bereithalten wird.

Die militärische Einkreisung Rußlands durch die NATO ist Schritt für Schritt auf größere Aggressivität getrimmt worden. Ständige, eindeutig auf Angriff und Überfall angelegte kleinere und größere Militärmanöver mit breiter Beteiligung der NATO-Mitgliedsstaaten werden heute bis an den russischen Grenzzaun vorgetragen. Es ist ein ständiges Austesten der Verteidigungsfähigkeiten Rußlands und die Hoffnung, sie eines Tages erschöpfen zu können. Die fortlaufend geschürte Kriegspsychose in den Nachbarstaaten Rußlands soll zum Merkmal des Alltagslebens werden.

Auf jeden noch so kleinen außenpolitischen Erfolg Rußlands folgen je nach Regieanweisung eine politische Provokation, ein medienwirksamer Skandal oder eine faustdicke Lüge, um daran anschließend Anklagen gegen die russische Führung zu konstruieren. Jeder Auftritt Putins vor den internationalen Medien wird mit antirussischen Attacken aus den westlichen Hauptstädten beantwortet. Unter Nutzung von Stimmenmehrheiten in internationalen Gremien werden Initiativen Rußlands abgewiesen, werden diskriminierende Dokumente gegen Rußland in Umlauf gebracht. Wenn Rußland geschwächt und geschädigt werden kann, bekommen Rechtsbrüche, Verletzungen bisher anerkannter internationaler Normen, diplomatische Entgleisungen ein juristisches Mäntelchen, werden zum Bestandteil westlicher Diplomatie.

Selbst bisher unabhängige Organisationen und Gremien, früher für objektive Urteile und Gutachten international geschätzt, werden gegen Rußland gestellt, produzieren wissentlich Fehleinschätzungen und Lügen. Man spricht auf internationalen Kongressen über Rußland fundamental berührende Probleme ohne Rußland. Staaten mit einer bisher relativ loyalen Haltung gegenüber Rußland (Finnland, Schweden) werden durch politische und ökonomische Erpressung zu Hilfstruppen der NATO. Mit angezettelten Stellvertreterkriegen in Staaten, mit denen Rußland politische und ökonomische Kontakte pflegt und auch militärisch verbunden ist, sollen diplomatische Verwicklungen und politische Kurzschlüsse ausgelöst werden. Es geht darum, gegen Rußland einen großen Ring isolierender und diskriminierender Maßnahmen zu schließen, seine außenpolitischen Wirkungsmöglichkeiten radikal einzuschränken. Ein besonders von westlichen Politikern benutztes Argument spielt dabei keine unwesentliche Rolle: Rußland befände sich nicht auf dem Niveau der westlichen Wertegemeinschaft.

Drittens: Schon die Römer ließen sich vor Beginn ihrer Punischen Kriege von der Erkenntnis leiten, man müsse zuerst die Köpfe derjenigen, die man für den Krieg braucht, für sich gewinnen, sie von den eigenen Kriegszielen überzeugen, dann habe man beste Aussichten, auch den Krieg zu gewinnen. Das heißt, vor dem Krieg mit Toten und blutgetränkter Erde kommt der Krieg um die Köpfe der Menschen. Das Großkapital der BRD, eifriger Befürworter der NATO-Strategie, hat für diesen Krieg offensichtlich mehrere Zielstellungen und Prämissen vorgegeben, die wesentliche Elemente der Kriegsvorbereitung gegen Rußland sind. Intensiv haben die bürgerlichen Medien im Auftrag an unverrückbaren westlichen Wahrheiten gemeißelt, die heute wie ideologische Felsen im Raum stehen. Dazu gehören: Die NATO ist eine friedenssichernde Kraft, nur Rußland bedroht den Frieden in Europa. Der Westen ist in Gefahr, da Putins Landhunger noch lange nicht gestillt ist. Putin will die EU spalten. Dafür muß das Feindbild Rußland/Putin im Denken und Fühlen der Bundesbürger systematisch ausgestaltet werden. Antipathie gegen Rußland, gegen Russen, Russenhaß sind gewollte Resultate. Die angebliche Bedrohung aus dem Osten und die bewußt hochgespielte Terrorgefahr sind zur idealen Tarnkappe dafür geworden, um milliardenschwere Rüstungsaufträge mit Steuermitteln zu finanzieren, um der Bundeswehr das richtige Feindbild zu verpassen, um rigide, antidemokratische Polizeigesetze zu verabschieden. Kriegsvorbereitung und Krieg sind in der BRD-Bevölkerung wenig populär.

Die Maxime des Großkapitals lautet deshalb: Alle kriegsvorbereitenden Maßnahmen in der BRD sollen so geräuschlos, so schmerzarm und belastungsfrei wie möglich für den Bundesbürger ablaufen. Die Rüstungslobby hat es fertiggebracht, daß selbst ein vernachlässigter sozialer Wohnungsbau, explodierende Mieten in allen Großstädten, eine katastrophale Lage in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, wachsende Armut bei über neun Millionen Rentnern zu keiner Blockade des Rüstungsbooms geführt haben. Die bürgerlichen Medien, die Vergnügungsindustrie, die Tourismusbranche, Sport und Kultur leisten objektiv den gewünschten Beitrag, um in der Bevölkerung eine gewisse Sorglosigkeit, Naivität und auch Desinteresse gegenüber den Fragen von Krieg und Frieden zu fördern. Das Erkennen der in der NATO massiv vorangetriebenen Kriegsvorbereitungen gegen Rußland wird durch eine Reihe von Erfahrungen, Eindrücken und Erlebnissen bei der Mehrheit der Bundesbürger erschwert. Ein Krieg der NATO gegen Rußland gehört für die meisten Bundesbürger in eine Welt des gedanklich Unvorstellbaren.

Die zweite Unterwassergasleitung (Nord Stream 2) von Rußland durch die Ostsee in die BRD steht nicht im Widerspruch zur Planung eines Angriffskrieges gegen Rußland. Es handelt sich bei der Realisierung dieses Vorhabens um ökonomische Interessen einer speziellen Gruppe des europäischen Kapitals. Der BRD-Regierung kommt das gelegen. Sie verspricht sich, wenn auch vielleicht temporär begrenzt, energetische Vorteile gegenüber anderen Staaten in Europa, in der Welt. Bei der Zielstellung, Weltmacht zu werden, scheint es nicht angebracht, Bittsteller für US-amerikanisches Flüssiggas zu sein.

Die Vorgeschichte der beiden Weltkriege hat gezeigt: Profitmacherei durch Geschäfte mit späteren potentiellen Kriegsgegnern stand der eigenen Kriegsplanung und -führung noch niemals im Wege.Die Kriegsvorbereitung gegen Rußland läuft im Rahmen der NATO-Planungen mit stetig steigender Intensität, ohne große Medienaufmerksamkeit, aber mit um so gefährlicheren Konsequenzen.

Für den Frieden zu demonstrieren, schließt heute vordringlich ein, Vorbereitungen eines Krieges gegen Rußland aufzudecken und möglichst unwirksam zu machen.

Die Haltung einiger Politiker der Linkspartei in dieser Frage ist allerdings mehr als bedenklich. Wenn sie den erfolgreichen Antiterrorkampf der russischen Streitkräfte in Syrien mit der mörderischen Theorie und Praxis der westlichen Militärallianz zur gewaltsamen Erzwingung eines Machtwechsels gleichsetzen, kann das keine mobilisierende Orientierung für den Friedenskampf sein. Eine so praktizierte Politik der Äquidistanz in der Einschätzung der Spannungsverhältnisse in der Welt ist eine Kapitulation vor der bürgerlichen Ideologie.

Prof. Dr. Achim Dippe
Berlin

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35 Jahre nach Mutlangen und Bonn

Es war ja nicht nur Mutlangen. Oder Bonn. Und es ging auch nicht nur um Pershings und Cruise Missiles. Oder "nur" um Frieden. Es ging um Gefühl, um eine diffuse Einigkeit, verpackt in konkretes Anlaßpapier. Damals wie heute nennen wir es "Bewegung". Nur: Im Gegensatz zu damals wird der Mut vielleicht nicht mehr langen für ein neues Mutlangen. Manche sagen, es sei das Ende der Bewegungen gewesen. Andere nennen es den Beginn der Politikverdrossenheit. Die Mutlanger Heide und der Bonner Hofgarten im Herbst 1983: Schauplätze von Bürgermacht und Ohnmacht zugleich.

Es war auch nicht nur der Herbst 1983, worüber zu reden sich lohnt. Vieles griff ineinander. Die Entdeckung der Kraft außerparlamentarischen Tuns Ende der 60er, eine Politik neuen Stils in der Bundesrepublik der 70er, die nicht nur gekennzeichnet war durch den Warschauer Kniefall Willy Brandts, sondern durch zunehmende Bereitschaft, sich an dem zu beteiligen, was bis dato "die da oben" machten: Beeinflussung von Entscheidungen und Richtungen. Aus der anderen Richtung näherten sich Berufsverbot und - wesentlich für parteiübergreifendes Einmischen - der NATO-Doppelbeschluß, der nicht nur die SPD-Granden Schmidt und Brandt entzweite.

Der NATO-Doppelbeschluß sollte so etwas wie eine angeblich friedenstiftende Antwort auf die Stationierung neuer sowjetischer SS-20-Raketen sein. Atomar bestückte amerikanische Mittelstreckenraketen, nämlich die Pershing II, sowie Cruise Missiles sollten Moskau klarmachen, daß es jederzeit möglich sei, die sowjetische Hauptstadt ohne Vorwarnzeit zu treffen. Damit stieg die Angst, daß die USA einen künftigen Krieg auf Europa beschränken könnten - ohne selbst Gegenmaßnahmen befürchten zu müssen.

36 dieser Pershings sollten in der Mutlanger Heide auf die mörderische Flugfreigabe lauern. Auf einen Tag X, den Millionen Bundesbürger bedrohlich nahe sahen, und den zu verhindern sie wild entschlossen waren. Zuerst waren es lokale Mini-Gruppierungen, dann regionale Initiativen, schließlich ein engmaschiges Netzwerk aus Friedensgruppen und Kirchenleuten, Politikern und Studenten, Spontis und Prominenten. Ihr Ziel, als sie loszogen im Herbst 1983, hieß nicht allein Mutlangen, es hieß Frieden, es hieß Abrüstung, es hieß Menschlichkeit im besten Wortsinn. Nicht Gewalt war ihre Sprache, sondern sie beschworen das weiche Wasser, das den Stein brechen solle. Sie skandierten zwar lautstark "Atomraketen - verschleuderte Moneten!" und "Frieden schaffen ohne Waffen" und "Weg damit!", aber die Bilder waren eher die eines Familienausflugs: Petra Kelly mit Stahlhelm, in dessen Tarnnetz bunte Blumen steckten. Heinrich Böll mit Gehstock und Baskenmütze. Günter Grass, der Pfeife rauchend vor einer Kaserne stand. Walter Jens milde lächelnd inmitten einer Sitzblockade. Dazu Fahnen, Lichterketten, Thermoskannen- und Müsli-Idylle.

Aber: Es war eine Bewegung! Eine, der sich mindestens 1,5 Millionen aktiv, weitere Millionen zustimmend passiv anschlossen. War es eine politische Bewegung? Eine, die das Parteiengefüge wenn schon nicht zum Einsturz, so doch wenigstens zum Wanken brachte? Eine, die die Kräfteverhältnisse zugunsten der Bevölkerung verschob? Nein. Wir wissen, daß es vereinzelte Unterstützung durch Sozialdemokraten gab, durch Grüne, durch Richter, Staatsanwälte, Hochschullehrer, Künstler, Schriftsteller sowie Männer und Frauen der Kirche. Wir wissen aber auch, daß die Mehrheiten in der Republik blieben wie eh und je, daß die DKP damals keinen großen Mitgliederzuwachs verzeichnen konnte, daß Aktionen wie "Rüstungssteuerverweigerung" oder "Fasten für den Frieden" nichts weiter blieben als Randnotizen.

Dennoch war es eine politische Bewegung. Weil in der Bonner Republik plötzlich nicht mehr übersehen und überhört werden konnte, daß sich Bürgerinnen und Bürger plötzlich weigerten, sich mit allem abzufinden. Angedeutet hatte sich das schon fast genau 20 Jahre zuvor, als die Notstandsgesetze geplant und Ende der 60er Jahre schließlich verabschiedet wurden. Damals war es die Angst um Bürgerrechte und Freiheit, welche die Menschen umtrieb - jetzt, 1983, war es die Angst vor Krieg, vor der Apokalypse, die Menschen aufschrecken ließ aus bürgerlicher Ruhe und Wird-schon-werden-Behäbigkeit. Heute ist alles noch viel schlimmer, sind Bürgerrechte und Freiheit nichts weiter als Worthülsen, ist Krieg fester Bestandteil der stündlichen Nachrichten. Mutlangen wäre heute ein Anderthalbminutenbeitrag in den Tagesthemen - zwischen loyaler Regierungsverlautbarung und royalem Prominentenklatsch. Mitlaufen statt Mutlangen, Hofbericht statt Hofgarten. Denn auch im Bonner Hofgarten tat sich etwas im Herbst 1983, das bei einer Vorläuferveranstaltung 1981 von Bundeskanzler Helmut Schmidt "infantil" genannt wurde, für den bayerischen Rechtsaußen Franz Josef Strauß nichts weiter war als ein "umgekehrter Reichsparteitag". Rund 300.000 "Traumtänzer" (so der damalige SPD-Verteidigungsminister Hans Apel) waren bei naßkaltem Oktober-Nieselwetter in die Hauptstadt gekommen, um gegen die NATO-Nachrüstung zu demonstrieren. 1983, also zwei Jahre später, waren es bereits 500.000 im beschaulichen Bonn, über 1,3 Millionen bundesweit, die gegen Pershing II und Cruise Missiles wacker Wind und Wetter trotzten. Hinter ihnen stand unter anderem der "Krefelder Appell", der schon 1980 in nur sechs Monaten von 800.000, letztlich von über vier Millionen Menschen unterschrieben worden war. Sie alle appellierten an die Bundesregierung, die Zustimmung zum Nachrüstungsbeschluß zurückzuziehen.

Es lief alles durcheinander. Ein ehemaliger General, Gert Bastian, reihte sich ein bei den Friedensfreunden, der SPD-Vorsitzende stellte sich im Hofgarten vor einer halben Million Zeugen gegen seinen Parteigenossen, den Ex-Kanzler Helmut Schmidt: "Wir brauchen in Deutschland nicht mehr Mittel zur Massenvernichtung, wir brauchen weniger." Daß wir überhaupt keine Mittel dafür brauchen - geschenkt! In dieser Situation brauchte die Republik, jedenfalls die der NATO zugewandte, Deckungsfeuer aus Bayern. Franz Josef Strauß geißelte deshalb wortgewaltig die Friedensbewegung als "vom Kreml gesteuerte Armeen des politisch-psychologischen Kriegs", denen es darum gehe, "die Straßen und Plätze zu Schlachtfeldern umzufunktionieren". Dazu passend und schon fast komisch, wenn's ihm nicht so ernst gewesen wäre, die Bemerkungen von Ludolf Herrmann, Kommentator des "Bayerischen Rundfunks". Den "latenten Faschismus" der Friedenskundgebungen glaubte er im "leicht vorgeneigten, in gekrümmten Schultern schwingenden, unfreien Gang" zu erkennen, und er dozierte: "Für Momente der Massenerotik (kommt) die kleine rachitische Seele aus dem Gefängnis des pickligen Körpers." Töne wie aus dem Dritten Reich!

In Mutlangen und Bonn, bei gewaltfreier Aktion, bei zivilem Ungehorsam und dem öf fentlichen Infragestellen weltweiter Kriegspolitik auf deutschem Boden, überwogen andere Töne. "We shall overcome" - wir werden es überwinden, wir stehen es durch, wir halten es aus, wir werden bleiben, wir schaffen's. Über einen Monat lang, bis zum 22. November 1983, glaubten sie daran, die Friedlichen, die Optimistischen, die Kämpferischen und die Idealistischen. An diesem Tag genehmigte der Deutsche Bundestag die Bestimmungen des NATO-Doppelbeschlusses, drei Tage später trafen die ersten Atomraketen in Mutlangen ein.

Immer wieder flackerten kleine Blockaden auf, wie Glutnester der Verzweiflung. Eine Mahnwache stand auf der Mutlanger Heide, gleichsam wie ein Wachkommando. Innerhalb von sechs Wochen wurden 800 Pershing-Gegner festgenommen, am 10. Dezember fanden sich ein letztes Mal 10.000 Menschen zur symbolischen Belagerung des Waffenlagers ein. Bis 1987 hielten immer mal wieder Blockaden des Depot-Zugangs die Erinnerung an den Herbst 1983 wach, mal drangen Aktivisten aufs Gelände vor, mal gab es eine Menschenkette am Gelände. 1987 wurde aufgrund veränderter Weltlage beschlossen, die Raketen, die Mutlangen berühmt gemacht hatten, zu verschrotten, 1990 war die Heide Pershingfrei. Von Februar 1984 bis in die 90er Jahre hinein (also lange, nachdem der Grund für die Blockaden schon wieder verschwunden war) schwappte eine Prozeßwelle durch die Amtsgerichte von Schwäbisch Gmünd und anderen Orten, 2999 Menschen wurden aufgrund der Blockaden von Mutlangen wegen Nötigung angeklagt. Erst das Bundesverfassungsgericht stoppte diese Hatz gegen Friedensaktivisten durch die Entscheidung, daß die Verurteilungen wegen Nötigung verfassungswidrig sind. Das Kapitel Mutlangen war geschlossen.

Genau wie die heutigen Verhältnisse die für den Notfall gedachten Notstandsgesetze in den Schatten stellen, genauso scheinen Hemm- und Wahrnehmungsschwelle in Sachen Krieg und Frieden unüberwindbar geworden zu sein. Zwischenzeitlich ging es nicht mehr "nur" um die Lagerung von Waffen auf deutschem Boden. Es ging um US-Militärstützpunkte wie Rammstein und Büchel (wo immer noch 20 Atomsprengköpfe der US-Amerikaner lagern), die als Drehpunkte für Kriegseinsätze der USArmee genutzt werden. Es ging um Kosovo, um Afghanistan, um Somali und Mali. Um Bundeswehrsoldaten außerhalb deutschen Bodens. Und? Gab es Proteste von Millionen? Gab es wirksame Friedenscamps, Blockaden von Richtern, Staatsanwälten, Schriftstellern und Ärzten? Ja, es gab sie. Hie und da, klein und fein. Verbal. Symbolisch. Mutlangen war da schon mal weiter.

Das Ende von Bewegungen? Der Beginn von Politikverdrossenheit? Vielleicht haben wir heute zu viele Bewegungen - weil es zuviel gibt, das bewegt werden muß in der Politik. Vielleicht schwindet die beginnende Verdrossenheit erst wieder, wenn Bewegungen Erfolge zeigen. Wenn sie nicht gleich vereinnahmt oder gar mißbraucht werden. Bewegungen entstehen aus gemeinsamer Wahrnehmung und gleichzeitig solidarischem Handeln - und sie brauchen ein gemeinsames Ziel. Mutlangen entstand aus allgemeinem Friedensgedanken und konkreter Angst vor atomarer Kriegsbedrohung heraus, das gemeinsame Ziel hieß Frieden, die Etappe war der Abzug der Pershings und Cruise Missiles. Daß nach vorübergehender Verfehlung der Etappe letztlich das Ziel aus dem Blick rückte, ist geradezurücken. Denn Waffenproduktion, Rüstungsexporte, Kriegsbeteiligung sind gewachsen. Es ist an der Zeit, daß auch die Gegenbewegung wieder wächst. Abrüsten statt aufrüsten!

Harald W. Jürgensonn
Neukirchen

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Patrik Köbele: Es ist Krieg

Es wird ja viel über Verwandtschaftsverhältnisse diskutiert, Seehofer erkennt die Migration als die Mutter aller Probleme, dann erkennt jemand Seehofer als den Großvater aller Regierungsprobleme - nun könnten wir sagen "Seehofer, Merkel, Nahles, Söder, es geht kaum blöder", das wäre aber zu einfach! Unterschätzen wollen wir sie nicht. Deswegen auch etwas zur Verwandtschaft: Krieg ist die Mutter der Flucht - die NATO der Vater.

Ausbeutung und Umweltzerstörung sind die Mutter der Migration - der Vater heißt Imperialismus.

Die Eltern der Armut heißen Agendapolitik und Hartz-Gesetze. Die deutschen Geburtshelfer von Krieg, Flucht und Armut sind CDU, CSU, FDP, Grüne und SPD - die AfD will mitmachen und hilft ideologisch, die Auftraggeber sind das Kapital und die Banken.

Krieg und seine Vorbereitung bedeuten auch Krieg nach innen. Wir erleben, wie Verteilungskämpfe zunehmen. Die herrschende Klasse, die von der Armut profitiert, reibt sich die Hände, wenn bei der Essener Tafel Arme mit deutschem Paß gegen Arme mit anderem Paß aufgehetzt werden.

Die herrschende Klasse reibt sich die Hände, wenn, wie in Chemnitz, Menschen aufeinander losgehen, es zu Messerstechereien und Morden, zu Bandenkämpfen kommt - weil so Wut und Perspektivangst auf andere Opfer von Krieg, Flucht und Armut projiziert werden können - weg von den Verursachern, die Spaltung der Ausgebeuteten vertiefend. (...)

Die herrschende Klasse führt den Krieg. Sie führt ihn im Hambacher Forst, die Steinkohle läßt man absaufen und feiert das als Umweltpolitik. Den Widerstand gegen den unsinnigen Abbau der Braunkohle haut man kaputt, kriminalisiert man im Dienste von RWE. (...) In diesem Krieg nach innen, wir Kommunisten nennen es Klassenkampf, gibt es auch Lichtblicke, Hoffnungsschimmer. Der größte für mich in den letzten Wochen war der Kampf der Belegschaften an den Unikliniken in Düsseldorf und Essen. Die Kolleginnen und Kollegen haben gezeigt, daß man mit Kämpfen nicht nur das Tempo des Sozialabbaus verringern, sondern sogar gewinnen kann. Das muß analysiert werden, vor allem aber muß es verbreitert und weitergeführt werden. Im Saarland, in Hamburg und Berlin, im ganzen Bundesgebiet - Gratulation und Dank an die Kolleginnen und Kollegen. Herzlich willkommen auf unserem Fest! (...)

1,74 Billionen Dollar wurden 2017 in Tod und Verderben, in Rüstung investiert. Die 29 NATO-Staaten, eine kleine Minderheit unter den Staaten dieser Erde, kamen davon auf 900 Milliarden Dollar, also mehr als alle anderen Staaten der Erde zusammen.

Davon wiederum entfielen 610 Milliarden Dollar auf die USA. Im kommenden Jahr sollen dort die 700 Milliarden überschritten werden, auch um den Weltraum als Kriegsschauplatz hinzuzufügen. Das angeblich aggressive Rußland kam dagegen gerade mal auf 66 Milliarden Dollar (...).

Und warum das Ganze? Natürlich weil daran verdient wird.

Das ist aber nur ein Grund. Wichtiger ist, daß die führenden Imperialisten und ihre NATO in der Lage sein wollen, jede Unbotmäßigkeit, jedes Löcken gegen den Stachel im Blut zu ersäufen. Methoden: Krieg, wie in Libyen oder Syrien, oder samtene Revolutionen. (...) Es ist Krieg, und er ist auch in Europa. Wir trauern um den bei einem Terroranschlag ermordeten Alexandr Sachartschenko, das Staatsoberhaupt der Donezker Volksrepublik.

Es ist Krieg, und die Bundeswehr ist dabei. Wir müssen uns abgewöhnen, von Auslandseinsätzen zu reden, es sind Kriegseinsätze. Die Kriegsministerin meint, nun wäre bei diesen begrenzten Kontingenten genug gelernt, man müsse sich wieder der Feldschlacht großer Heere widmen - es geht gegen Rußland. (...)

Der Menschheit drohen Kriege,
gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind,
und sie werden kommen ohne jeden Zweifel,
wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten,
nicht die Hände zerschlagen werden.

Bertolt Brecht

Aus der Rede von Patrik Köbele, Vorsitzender der DKP, auf dem 20. UZ-Pressefest

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Eine neue Internationale ist nötig

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Den Befreiungskampf der Kolonisierten vollenden! Ein Nachruf

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Geostrategische Hintergründe des USA-Iran-Konflikts
Regime Change in Iran?

Die Region um Iran ist wohl eine der bedeutendsten Konfliktherde im 21. Jahrhundert. Der kalte Krieg, den die Vereinigten Staaten von Amerika gegen Iran führen, ist in erster Linie mit der geostrategischen Bedeutung des Landes zu erklären. Vorrangig geht es in diesem Raum um die Rohstoffe Erdöl und Erdgas. Zudem ist von Iran aus die gesamte Region - Mittelasien, der Kaukasus, der Nahe und Mittlere Osten sowie Rußland - erreichbar.

Die USA verfolgen insbesondere seit dem Ende der Sowjetunion mit großem Interesse die Entwicklung auf dem Gebiet des Rohstoffsektors in und um Iran, im Kaukasus sowie in Zentralasien. Der Staatssekretär im U.S. State Department, Stuart Eizenstat, hob 1997 vor dem US-Kongreß hervor, daß "das Kaspische Meer potentiell eine der wichtigsten neuen energieproduzierenden Regionen der Welt" ist. Und der Globalstratege Zbigniew Brzezinski hat das ökonomische Interesse der USA an diesem Raum unmißverständlich formuliert: Wir wollen "ungehinderten Zugang zu dieser dem Westen bisher verschlossenen Region" haben! Er bezeichnete sie als "Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird". Brzezinski beruft sich ohne Skrupel auf Hitler und dessen Ansicht, daß Eurasien der Mittelpunkt der Welt sei und mithin derjenige, der Eurasien beherrsche, die Welt beherrsche. Nach seiner Einschätzung ist "eine Dominanz auf dem gesamten euroasiatischen Kontinent noch heute die Voraussetzung für eine globale Vormachtstellung" der USA. Brzezinski kommt zu dem Schluß, daß das erste Ziel der US-Außenpolitik darin bestehen müsse, "daß kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen".

Um diesem Anspruch Geltung zu verschaffen, wurde schon 1997 durch US-Außenministerin Madeleine Albright die gesamte Region um Mittelasien und Südkaukasus "zur geostrategischen Interessenzone der USA" deklariert. Iran war stets Bestandteil dieser Strategie, die unter dem US-Demokraten Bill Clinton entwickelt und von den Neokonservativen um Cheney und Bush umgesetzt wurde.

Die Anschläge des 11. September 2001 waren dann der Anlaß des Krieges zunächst gegen Afghanistan, obwohl dieser schon 18 Monate vorher noch unter US-Präsident Clinton geplant war. Ende September 2006 gab er dies offiziell zu. Erst im Juni 2001 hatte dann die Bush-Administration ihren regionalen Verbündeten Pakistan über solche Pläne informiert, wie der damalige Außenminister Pakistans Naiz Naik bestätigte.

Der Krieg gegen Afghanistan war der Auftakt des militärischen Eroberungskurses der USA in neuer Dimension. Sowohl dieser Krieg als auch der gegen Irak waren Bestandteil der als "Greater Middle East Initiative" (GME) bezeichneten Strategie der Neokonservativen in den USA. Wären die USA in Irak halb so erfolgreich gewesen wie zu Beginn in Afghanistan, hätten sie schon längst Iran, Syrien, Jemen und andere Länder der Region überfallen.

Atomstreit zwischen USA und Iran

Es ist fast in Vergessenheit geraten, daß der Grundstein des iranischen Atomprogramms mit US-amerikanischer Hilfe gelegt wurde. Im Jahre 1959 war der Universität Teheran im Rahmen des "Atoms for Peace"-Programms von US-Präsident Dwight D. Eisenhower ein Forschungsreaktor geschenkt worden. 1967 wurde aus den USA ein weiterer Forschungsreaktor (Leichtwasserreaktor) mit einer Leistung von 5 Megawatt geliefert und im Teheran Nuclear Research Center (TNRC) in Betrieb genommen. Der ehemalige USAußenminister Henry Kissinger sagte 1973, daß es gut wäre, wenn Iran Atomenergie nutzen würde, damit die USA von dort billiges Öl geliefert bekämen.

Am 1. Juli 1968 unterzeichnete die iranische Regierung den Atomwaffensperrvertrag, der nach der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde bei den Signatarstaaten am 5. März 1970 für den Iran in Kraft trat. Signatarstaaten haben dem Vertrag zufolge das Recht, Kernenergie ausschließlich für zivile Zwecke einzusetzen. Iran hat sich strikt an diese Regeln gehalten. 1975 unterzeichnete der amerikanische Außenminister Henry Kissinger das National Security Decision Memorandum 292 zur amerikanisch-iranischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Nukleartechnologie. Es sah den Verkauf von Nukleartechnik im Wert von über 6 Milliarden US-Dollar an Iran vor. Bis in die 70er Jahre wurden zwischen den USA und Iran diesbezüglich mehrere Abkommen geschlossen. Im Jahre 1976 hat man Iran angeboten, eine Anlage zur Extraktion von Plutonium von den USA zu kaufen und zu betreiben. Die Vereinbarung bezog sich auf einen kompletten Nuklearkreislauf. Im Oktober 1976 wurde dieses Angebot von Präsident Gerald Ford zurückgezogen. Da die Verhandlungen mit den USA nicht zum Abschluß gebracht werden konnten, waren es dann westdeutsche Unternehmen, namentlich die Kraftwerk-Union AG, die 1974 einen Vertrag über den Bau des ersten iranischen Kernkraftwerks nahe der Stadt Buschehr unterzeichneten.

Schon zu Zeiten von US-Präsident Bill Clinton galten Nordkorea, Iran und Irak als "Schurkenstaaten". Sein Nachfolger George W. Bush nannte sie im Januar 2002 "Achse des Bösen", die den "Weltfrieden bedroht". Erst nach dieser "Einstufung" nahm Iran die Forschung zur militärischen Nutzung der Atomenergie auf. Als der damalige Ministerpräsident Indiens Atal Bihari Vajpayee in einem "Spiegel"-Interview gefragt wurde, warum Indien die Atombombe gebaut habe, fragte er den Journalisten: "Wäre Jugoslawien von der NATO angegriffen worden, wenn das Land die Atombombe gehabt hätte?"

Iran zog aus dem Krieg gegen Jugoslawien den Schluß, daß zum eigenen Schutz die atomare Bewaffnung seiner Streitkräfte notwendig ist. Experten gehen davon aus, daß Iran selbst dann, wenn man es in Ruhe forschen lassen würde, mindestens 13 Jahre bräuchte, um Atombomben bauen zu können.

Internationale Atomverhandlungen mit Iran

Im Juli 2016 wurde in Wien ein umfassendes Abkommen verkündet, mit dem der seit 13 Jahren schwelende Atomstreit mit Iran beendet wurde. Dies haben auf einer Pressekonferenz die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und der iranische Außenminister Dschawad Zarif in der UN-City in Wien bekanntgegeben. Das sei ein Zeichen der Hoffnung für die ganze Welt, sagte Mogherini unmittelbar vor der formalen Verabschiedung des Abkommens durch die beteiligten Staaten. "Wir starten ein neues Kapitel der Hoffnung", betonte Zarif. Er sprach von einem historischen Moment. Die Verhandlungen wurden 13 Jahre lang von einer internationalen Sechsergruppe, den Vereinigten Staaten, Rußland, der VR China, Großbritannien, Frankreich und Deutschland mit Iran geführt. Durch das Abkommen sollte das iranische Atomprogramm so eingeschränkt werden, daß sich das Land nicht heimlich oder schnell das Material zum Bau von Atomwaffen verschaffen könne. Im Gegenzug sollten die Wirtschaftssanktionen gegen das Land aufgehoben werden. Bekanntlich ist das Gegenteil eingetreten. Die Sanktionen wurden seitens der USA sogar weiter verschärft, obwohl sich Iran strikt an alle Vereinbarungen gehalten hat. Dies bestätigte die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) insgesamt elfmal seit Mitte 2015, als das Atomabkommen unterzeichnet wurde. Die IAEA konnte jederzeit und unangemeldet die iranischen Atomanlagen inspizieren. Selbst die USA-Geheimdienste attestierten mehrfach, daß Iran alle Auflagen erfüllen würde.

Von den Sanktionen sind nicht nur Iran und Europa, sondern die ganze Welt betroffen. "Die USA haben mit schierer Macht die Herrschaft des Unrechts über Europa [und die Welt] etabliert. Denn die Sanktionen sind flagrant illegal", weil die internationalen und europäischen Unternehmen nicht US-amerikanischer Rechtsprechung unterliegen. Der Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier ist jedoch "notorisch knieweich". Er hätte die deutschen Firmen schützen müssen. Auch die Politiker in Brüssel, "ansonsten notorisch geschwätzig", schweigen dazu. "Sie haben den Nacken gebeugt", kommentiert "Stern"-Redakteur Hans-Ulrich Jörges.

Regime Change in Iran?

Das internationale Atomabkommen ist der israelischen und der saudi-arabischen Regierung ein Dorn im Auge. Hätte der ehemalige US-Präsident Barack Obama grünes Licht gegeben, hätte die israelische Luftwaffe schon längst die Atomforschungsanlagen Irans zerstört. Der junge, unerfahrene und emotional agierende saudische Kronprinz Mohammad bin Salman rief die USA offen dazu auf, "den Kopf der Schlange", womit Iran gemeint ist, abzuschlagen. Nun hat US-Präsident Donald Trump im Einvernehmen mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und dem saudischen Kronprinzen Salman weitere Befürworter eines Regime Change sogar in seine Administration aufgenommen: Mit John Bolton als Nationaler Sicherheitsberater und Milke Pompeo als Außenminister sind radikale Verfechter eines iranischen Regime Change in Schlüsselpositionen ins Weißen Haus eingerückt. Die Annahme der Trump-Administration, daß durch Wirtschaftssanktionen der Druck auf die iranische Bevölkerung zunehmen würde und damit ein Regime Change von innen erfolgen würde, ist nicht nur naiv, sondern auch gefährlich. Der Krieg, den Saddam Hussein in den 80er Jahren mit US-Unterstützung gegen Iran begonnen hatte, stabilisierte seinerzeit ein in einer tiefen Krise steckendes Mullah-Regime. Bei einer Intervention von außen würden sich die iranischen Völker zusammenschließen. Außerdem wissen die Iraner genau, daß die Kriege der Vereinigten Staaten gegen Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien Chaos und Zerstörung in diesen Ländern brachten. Darüber hinaus würde ein Krieg gegen Iran die gesamte Region nicht nur destabilisieren, sondern möglicherweise in Flammen ersticken.

Die bevorstehende und endgültige Zerschlagung der mit den USA, Saudi-Arabien und anderen arabischen Scheichtümern verbündeten Islamisten in Syrien ist die größte Niederlage des US-Imperialismus nach dem Vietnamkrieg. Dies hat die Trump-Administration Iran nicht verziehen, da neben Rußland als Hauptakteur auch Iran bei der Zerschlagung der islamistisch orientierten Gegner der syrischen Regierung eine wichtige Rolle gespielt hat.

Da im Weißen Haus Irrationalität vorherrschend ist, ist es nicht ausgeschlossen, daß US-Präsident Donald Trump Iran bombardieren läßt, um die bevorstehenden Kongreßwahlen zu gewinnen, meinte der US-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Josef Braml.

Eine Lösung ist möglich, ist sie auch gewollt?

Die iranische Regierung und der oberste geistliche Führer Irans Ayatollah Chatami haben immer wieder Vorschläge unterbreitet, mit den USA und mit Israel Frieden zu schließen, was beide Seiten bisher kategorisch ablehnen. Die internationale Gemeinschaft muß die Kriegstreiber dazu zwingen, die Friedensangebote Irans anzunehmen und am Verhandlungstisch zu erscheinen, um die Konflikte zu lösen.

Dr. Matin Baraki

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"Drei-Meere-Initiative"
Das "neue" ist das alte Europa

Mitte September fand in Bukarest das dritte Gipfeltreffen der 2016 von 12 Mitgliedstaaten der EU ins Leben gerufenen "Drei-Meere-Initiative" statt. Zu dieser Initiative gehören, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und der Adria, Polen und Kroatien als Hauptinitiatoren, die drei baltischen Staaten, Österreich, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Slowenien. Außer Österreich sind es alles Staaten, die nach 2004 dem Lockruf von den "blühenden Landschaften" gefolgt und Mitglied der EU geworden sind. Sie vertreten 28 Prozent der Fläche und 22 Prozent der Bevölkerung der EU, erwirtschaften aber nur 10 Prozent des BIPs dieser "Gemeinschaft". Es ist also der ärmere Teil der EU. Die Gründung der Initiative ist auch Ausdruck der unerfüllten Hoffnungen und der Zunahme divergierender Interessen innerhalb der EU und in Gesamteuropa. Die Rückkehr der kapitalistischen Verhältnisse in ganz Europa beseitigte die Perspektiven von friedlicher Zusammenarbeit und Entspannung auf dem Kontinent, wie sie z. B. mit der Helsinki-Konferenz ermöglicht wurde.

Die USA sind schon von Anfang an daran interessiert, diese Verhältnisse zur Durchsetzung ihrer imperialistischen Interessen auszunutzen. Der frühere Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sprach schon 2004 in Zusammenhang mit dem Krieg gegen Irak von einem "neuen" und einem "alten" Europa. Am zweiten Treffen der "Initiative" 2017 in Warschau nahm Präsident Donald Trump persönlich teil und unterstrich damit das Interesse der USA gegenüber dieser Staatengruppe in der EU als einem Bogen an der Grenze zu Rußland und quer durch Europa.

In einem Grußschreiben an die jetzige Bukarester Zusammenkunft erneuerte Trump die Bereitschaft der USA zur Zusammenarbeit und betonte besonders ihre Erweiterung auf den Gebieten des Ausbaus der Infrastruktur im Bereich der Energie (als Gegenprojekt zu Nord-Stream 2 vielleicht?), des Transports und der digitalen Infrastruktur. Die USA erweitern bestehende und bauen zugleich neue Militärstützpunkte in diesen Ländern bilateral und als Bestandteil der NATO-Strategie. Es ist nicht nur diplomatische Symbolik, sondern die Idee eines regionalen Bündnisses wird zu einem gefährlichen Politikum.

Die Initiative ist zu gleicher Zeit entstanden, in der in Berlin und Brüssel die Auffassung immer breiteren Raum gewinnt, sich "von den USA emanzipieren" zu müssen. Die Regierungen der "Drei-Meere-Initiative" suchen aber den Zusammenschluß und die Nähe der USA.

Der Blick der BRD auf diese Initiative war bis jetzt mit Skepsis verbunden. In Zusammenhang mit den neuesten Entwicklungen erklärte die BRD-Regierung plötzlich ihre Absicht, "Partner" dieser Staaten werden zu wollen. Der deutsche Außenminister Maas bemühte sich persönlich und erklärte sogar für die BRD-Regierung: "Das ist das, was wir als eine neue Ostpolitik bezeichnen." Die deutsche Regierung wolle das Forum nutzen, "um uns stärker einzubringen bei den Diskussionen, die unsere osteuropäischen Nachbarn führen". Deutschland wolle eine "aktive Rolle" spielen.

Ein Grund mehr, sich ernsthafte Sorgen um die friedliche Zukunft zu machen!

Prof. Dr. Anton Latzo

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John McCain - der verklärte Held

Der Tod des US-amerikanischen Senators John McCain Ende August wirbelte in den Vereinigten Staaten Staub auf. Eine Phalanx von Politikern beider um die Präsidentschaft streitenden Lager blies dem aktuellen Wüterich im Weißen Haus einen Abglanz der angeblich in McCain personifizierten amerikanischen Freiheitsideale ins Gesicht. Sie tat es so, als wehte da ein sakrosankter Goldstaub, der freilich an Trump nie haften würde. Eine große amerikanische Zeitung meinte, McCains Beerdigung sei das bisher größte Widerstandsmeeting gegen die blonde Fehlbesetzung im höchsten Amt der USA gewesen.

Leider verwundert es nicht, daß sich der Mainstream der bundesdeutschen Medien in diese geschichtsvergessene Konfettiparade einreihte. Der nüchterne Betrachter indes schaute auf McCains Leben vor allem mit den bitteren Erinnerungen an einen jungen Bomberpiloten, der vietnamesische Erde in Schutt und Asche legte. Er war dort ein Täter und blieb anderswo lebenslang ein geistiger Parteigänger amerikanischer Aggressionen. Und er fand - anders als der amerikanische Ex-Kriegsminister McNamara gegen Lebensende - niemals ein Wort der Reue für die von ihm begangenen oder begrüßten Verbrechen gegen andere Völker. Und so ist der vermeintliche Goldstaub eben eingefärbte Brandasche.

John McCain, der verklärte Held der westlichen Welt, wurde 1936 in der Panamakanalzone geboren. Er war Sohn des Admirals John Sidney McCain Jr., der von 1968 bis 1972, also auch zur Zeit der Aggression in Vietnam, als Oberbefehlshaber des US-Pazifikkommandos diente. Als Berufssoldat der US-Navy überlebte der Filius die Katastrophe auf der USS Forrestal im Juli 1967 um Haaresbreite. Drei Monate später wurde er beim Angriff auf ein Wasserwerk in Hanoi abgeschossen. Er geriet verletzt in eine fünfeinhalbjährige Gefangenschaft, aus der er nach einem Suizidversuch im März 1973 freikam. Eine frühere Entlassung hatte er wegen der Funktion seines Vaters abgelehnt. Wieder auf amerikanischem Boden, wirkten Vorwürfe wegen seiner Haftbedingungen oder mangelhafter medizinischer Fürsorge in Vietnam angesichts der unvorstellbaren Bluttaten von My Lai oder der anhaltenden Schädigungen des menschlichen Erbgutes durch Millionen Liter versprühter Herbizide (zynisch Agent Orange genannt) wie ein Hohn. Da war kein Held heimgekehrt, sondern ein gescheiterter Aggressor, dem das Schicksal so vieler in den Krieg gepreßter Altersgenossen erspart geblieben war: der Tod.

Als er seine militärische Berufslaufbahn beendete, wandte er sich der Politik zu - ohne freilich den alten Hochmut von der Legitimität der US-amerikanischen "Weltgendarmen"-Rolle abzulegen. Wo traumatisierte Kriegsheimkehrer ihre Skrupel gegen den Interventionskurs Washingtons herausschrieen, blieb McCain, verstärkt noch seit den 90er Jahren, dessen überzeugter Befürworter. Beim NATO-Angriff auf Jugoslawien ebenso wie bei der aus herbeigelogenem Kriegsanlaß begonnenen Invasion im Irak. Später in Syrien stand er unablässig auf der Seite der zu "Rebellen" aufgehübschten Anti-Assad-Söldner. Und als Obama gar von einem Regimewechsel in Damaskus abrückte, kam es am lautesten von ihm: Doch! Sturz der Regierung Assad!

McCain wäre gern Präsident der USA geworden. Scheiterte seine Bewerbung für 2000 bereits in den Vorwahlen an George W. Bush, so unterlag er acht Jahre später dem Kandidaten der Demokratischen Partei, Barack Obama. Schwer vorstellbar, daß es die Öl- und Rüstungslobby der Vereinigten Staaten nicht auch bei ihm geschafft hätte, den Irakkrieg anzuzetteln. Was der Welt sonst noch gedroht hätte, demonstrierte McCain während seiner Kampagne für die Präsidentschaftswahlen 2008, als er "Barbara Ann", den Song der "Beach Boys", als "Bomb Iran!" herausgrölte, schließlich hielt er einen Krieg gegen Teheran, als Ultima ratio deklariert, für eine schlüssige Denkoption. In der Ukraine posierte er mit der Führung der ultrarechten "Swoboda"-Partei, von der ihm Kenner bestimmt gesteckt hatten, daß die für den Faschisten Bandera schwärmt. Putin hielt er natürlich für einen Mörder und Verbrecher. So paßte der verhinderte Präsident wie die tatsächlichen Amtsinhaber seither oder die gleichfalls gescheiterte Hillary Clinton vortrefflich in den außenpolitischen US-Sumpf, der die Welt nervös macht und die Vernünftigen fragen läßt, was man nur tun kann, damit der eben noch kalte Krieg in keinen heißen umschlägt.

Die gegenseitige Abneigung zwischen McCain und Trump war zuletzt tief. McCain hielt seinen zunächst unterstützten Parteigänger bald für einen Förderer der innerparteilichen Bekloppten. Gegen Trump, der ihm wegen seiner Gefangennahme jedes soldatische Heldentum absprach (was wir aus anderen Gründen tun), opponierte McCain während dessen Amtszeit zum Teil wirkungsvoll. Er kritisierte das Einreiseverbot von Bürgern muslimischer Länder, verurteilte Trumps Medien-Bashing oder sprach sich - entgegen dem Votum seiner eigenen Partei und als Zünglein an der Waage - für die Beibehaltung von "Obama-Care" aus. Auch wandte er sich gegen die Einsetzung von Gina Haspel (die Folter durch die Geheimdienste billigte) als Direktorin der CIA. Das setzte positive Akzente und brüskierte Trump. Der wurde zu einer Ehrung des verstorbenen McCain buchstäblich genötigt. Zu dessen Trauerfeier war er ausgeladen.

Viele Trump-müde Beobachter der politischen Szenerie in den USA - im Inland wie in der Welt - bejubelten den Vorgang. Und wenn unter dem Applaus der Ex-Präsidenten Bush junior und Obama die Tochter McCains auf den Trump-Slogan "Make America great again!" trotzig erwiderte, Amerika sei immer groß gewesen, so klang dieses Statement in den Medien wie ein Gong.

Immer groß? Dem wird ein keineswegs kleiner Teil der Menschheit widersprechen. Man lese nur Tim Weiners Bericht über die Verstrickungen der CIA in die elendsten weltpolitischen Schurkereien seit 1945. Aggressionen gegen souveräne Staaten, Putsche gegen frei gewählte Regierungen, Mordaufträge gegen volksnahe Politiker, Kriege zu globalstrategischen und wirtschaftlichen Zwecken, neokoloniale Unterdrückung von jungen Nationalstaaten, Destabilisierungen des Nahen Ostens oder die Inszenierung sanft klingender "Revolutionen" in Osteuropa lassen erkennen, daß der Beitrag der Vereinigten Staaten zu einer friedlichen und gerechten Weltordnung nach ihrem Kampf in der Anti-Hitler-Koalition erloschen ist.

Kann dieses "Duell" am Grabe McCains irgendeine Hoffnung geben? Die geblendete Wählerschaft in einem Amerika, das seine besten Gründungsideale verschüttet hat, denkt noch nicht um. Wirkliches Umdenken hieße, McCains Erbe so wie Trumps politisch-subjektivistisches Mäandern, das bedächtigere Justieren der strategisch Gleichgesinnten dahinter, die Einf lußnahme der Öl- oder Rüstungslobbyisten, die Szenarien kalter und potentiell heißer Konfrontationen, vornehmlich mit dem selbstbewußteren Rußland und der immer mächtigeren Volksrepublik China, als Symptome einer einigen imperialen Herrschaftsstrategie zu begreifen und abzulehnen. Hin zu einem USAmerika, das der Welt nichts diktieren will, das seine Weltgendarmenrolle ablegt und im Brechtschen Sinne nicht über und nicht unter andern Völkern sein will - das wäre ein Regime-Change, der Amerika und der Welt guttäte!

Dr. Hartmut König
Panketal

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Folgen der "Transformation" oder Was geht in Polen vor?

Wenn sich Politiker, Medien, Stiftungen usw. im Westen heute mit Entwicklungen in der polnischen Gesellschaft und Politik beschäftigen, erklären sie diese allein mit subjektiven Faktoren - mit der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und ihrem Vorsitzenden, Jaroslaw Kaczynski.

Richtig daran ist: In der Politik und in der Verwaltung, in den Medien und in der Armee, in der Rechtspolitik und in der Wirtschaft finden seit dem Wahlsieg der PiS im Jahre 2015 radikale Umgestaltungen statt, die von Nationalismus geprägt sind, den ganzen Staat umwälzen und Auswirkungen auf die Positionen des ausländischen Kapitals in Polen und auf die Außenpolitik Polens haben.

Aufgrund der ausbleibenden Erfolge im Sinne der Ende der 90er Jahre versprochenen "blühenden Landschaften" im Kapitalismus und der sich daraus ergebenden widersprüchlichen Prozesse, die zu Unzufriedenheit in der Gesellschaft führten, kamen schon 2005 mit der PiS kleinbürgerlich-nationalistische Kräfte zum Zuge, welche die Politik der vorangegangenen Regierungen kritisierten und mystifizierten. Nach einer Zwischenperiode, in der eine andere bürgerliche Gruppierung unter dem jetzigen EU-Präsidenten Donald Tusk die Regierung führte, wurde die PiS 2015 erneut Sieger der Wahlen, indem sie verstärkt auf die Angst setzte, um die Menschen zu mobilisieren. Einerseits wurden angesichts der sich verschlechternden inneren Lage die sozialen Fragen demagogisch mißbraucht. Andererseits behaupteten sie, Deutschland und die EU sowie Rußland würden die Souveränität Polens akut gefährden. Aus den USA sah man dagegen keine solche Gefahr kommen. Die katholische Kirche unterstützte diese Richtung. Antikommunismus diente als zentrale Argumentationslinie.

Dieses ideologische Konglomerat erwies sich zugleich als nützliches Material, um zu verdecken, daß die tatsächlichen Probleme Polens durch die ökonomischen und politischen Prozesse der Restauration des Kapitalismus hervorgerufen wurden. Die als "Transformation" umschriebene Rückkehr zum Privateigentum an den Produktionsmitteln und zur Ausbeutung des Menschen war für die Mehrheit der Bevökerung außerordentlich schmerzhaft. Der Beitritt Polens zur EU (2004) brachte für diese Mehrheit auch nicht die von den einen versprochene und von den anderen erhoffte Besserung. Der Beitritt führte nicht zu Lösungen, sondern schuf zusätzliche Probleme. Es zeigt sich, daß die kapitalistische Integration weder den inneren Widersprüchen des Systems begegnen noch den nationalen Interessen der einzelnen Länder und ihrer Bevölkerung dienen kann.

Die wichtigsten Wirtschaftszweige wurden wegrationalisiert, weil sie die Profiterwartungen nicht erfüllten oder der ausländischen Konkurrenz, großen Kapitalgesellschaften, Hedgefonds und dergleichen, im Wege standen. Das ausländische Kapital und seine Interessen wurden weitgehend zum bestimmenden Faktor bei Entscheidungen (auch der Regierung) über die Wirtschaft Polens, über Löhne, soziale Maßnahmen usw. Laut Angaben des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung von Anfang 2017 stammen 50 % der "polnischen" Industrieproduktion von ausländischen Firmen. Sie erbringen zwei Drittel des "polnischen" Exports. Die in den ausländischen Firmen erarbeiteten Profite fließen in die Mutterländer zurück.

Es entstand eine große Kluft zwischen Wirtschaftszentren und der Peripherie. Der Widerspruch Stadt/Land wurde wieder aktuell. Beträchtliche Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen Polens gewinnen an politischer Relevanz. Es entstand ein Milieu aus Arbeitslosen, Menschen mit geringem Bildungsstand und Landbevölkerung. Die Gesellschaft ist ökonomisch und sozial gespalten und polarisiert.

Die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise der 90er Jahre haben diese negativen Folgen zusätzlich verstärkt. Sie hat aber vor allem die Hauptargumente für die Restauration des Kapitalismus in Polen delegitimiert. Das sind einige Züge der ökonomischen, sozialen und politischen Wirklichkeit in Polen. Auf dieser Grundlage entwickelten sich unterschiedliche und konträre Interessen und Vorstellungen über die weitere Entwicklung und Politik Polens. Die 2001 gegründete PiS forderte einen "patriotisch" genannten nationalistischen Kurs - gestützt auf eine Umdeutung der Geschichte. Sie verwies darauf, daß die Regierungen nach 1990, die von der Sozialdemokratie und von der als liberal bezeichneten Bürgerlichen Plattform (PO) gestellt wurden, nicht in der Lage waren, die Probleme zu lösen. Damit rechtfertigt sie ihre eigene Konzeption, verdeckt aber zugleich die Unfähigkeit des restaurierten Kapitalismus, im nationalen Interesse, d. h. im Interesse der Menschen und ihres Landes, zu handeln.

Zur Begründung ihrer Vorstellungen verwendet die PiS Auffassungen aus der Soziallehre des Katholizismus sowie solche des Nationalismus und mißbraucht progressive Traditionen des opferreichen Kampfes des polnischen Volkes. Sie argumentiert mit einem Gemisch aus Ideen des Staatsgründers Józef Pilsudski (1867-1935) und Roman Dmowskis (1864-1939), der Fürsprecher eines ethnisch reinen und strikt katholisch geprägten polnischen Staates war und im zaristischen Rußland einen natürlichen Partner gegen westliche "Dekadenz" sah. Auf dieser Grundlage weist sie auch auf eine angebliche Bedrohung der Souveränität des polnischen Staates durch die EU sowie die Politik Deutschlands und Rußlands hin.

Die PiS nutzt die durch den Wahlsieg von 2015 gegebene Gelegenheit, allein zu regieren, um ihre Macht auszubauen und längerfristig zu sichern. In diesem Sinne werden innenpolitische Maßnahmen durchgesetzt, und in diesem Sinne greift sie auch auf die "Sonderbeziehung" zwischen Polen und den USA zurück, die z. B. schon Walesas Solidarnosc geholfen haben.

Mit dieser Sonderbeziehung sollen auch Voraussetzungen geschaffen werden, Polen in die Lage zu versetzen, sich gegen Rußland und die EU bzw. Deutschland politisch zu behaupten und militärisch zu verteidigen. Das ist die Grundlage für die militärisch gestützte Sicherheitspartnerschaft zwischen Polen und den USA, die Raketenschirm und Militärstützpunkte auch außerhalb der NATO-Maßnahmen vorsieht. Unter diesem Schirm der USA glaubt die PiS ihr "Intermarium" genanntes Konzept verwirklichen zu können, das seinen Ursprung in den 20er Jahren hat und vom Staatsgründer Pilsudski entworfen wurde. Es zielte auf eine Konföderation von skandinavischen, baltischen und slawischen Staaten von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und zur Adria. Diese Vision, die die Sonderrolle Polens betont, wurde vom polnischen Außenminister 2016 als "Allianz vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer" verkündet und umfaßt alle Staaten entlang der westlichen und südwestlichen Grenzen Rußlands.

Eine realistische Beurteilung der Politik Polens erfordert, zwischen den Maßnahmen zur Verwirklichung solcher Vorstellungen und der Unzufriedenheit der Mehrheit des polnischen Volkes und seiner politischen Vertreter mit der sozialökonomischen und politischen Wirklichkeit in Polen zu differenzieren.

Prof. Dr. Anton Latzo

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Putschversuch in Nikaragua abgewehrt

Ziel des massiven Drucks seitens der nikaraguanischen Opposition und Oligarchie waren in den letzten Monaten Daniel Ortega und seine Regierung mit der Absicht, diese zu Fall zu bringen. Doch ab Mitte Juli wurde deutlich, daß das Land auf den Weg der Normalität, der noch lang sein wird, zurückkehren würde. Die Troika von Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften, die wertvoll für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes war, wird es in dieser Form wohl nicht wieder geben. Die Unternehmerverbände beugten sich dem Willen der US-Administration.

Bis zum 18. April dieses Jahres war Nikaragua das zweitsicherste Land Lateinamerikas, obwohl es auch eins der ärmsten der Region ist. Die unter Ortega geschaffene Popular-Wirtschaft versorgt das Land zu 90 Prozent mit Nahrungsmitteln und produziert 64 Prozent des BIP.

Das ist einzigartig in Lateinamerika. Ortegas Regierung erneuerte eine marode Energieversorgung. Drei Viertel des Energieaufkommens haben ihre Quellen in erneuerbaren Energien. Für jede und jeden waren und sind der Zugang zu Bildung und Gesundheitsbetreuung garantiert. Umfangreiche soziale Programme trugen dazu bei, daß die extreme Armut zurückgedrängt werden konnte. Der Tourismus war gut in Gang gekommen, die in- und ausländischen Investitionen begannen zu fließen. Mit dem Projekt des Großen Interozeanischen Nikaraguakanals hatten die Sandinisten vor, ihre Volkswirtschaft noch robuster und ertragreicher zu machen.

Was in Nikaragua zunächst wie eine Protestwelle gegen die Reform der Sozialversicherung aussah, weitete sich zu einer Terrorwelle und einem Putschversuch zum Sturz der sandinistischen Regierung aus. Das 21. Forum von São Paulo 2015 in Mexiko-Stadt schätzte ein, daß die Offensive der neoliberalen kapitalistischen Kräfte und des Imperialismus eine der Tendenzen in der Entwicklung Lateinamerikas ist. Diese Einschätzung bestätigte sich mit den Niederlagen der Linken in Argentinien, Brasilien, Chile und Honduras. Die Angriffe auf die Bolivarische Revolution in Venezuela nahmen zu. Es war nur eine Frage der Zeit, daß die Rechten auch in Nikaragua zuschlagen würden.

Der Putsch kostete dem nikaraguanischen Volk 198 Menschenleben, in der Mehrzahl das von Polizisten und Sandinisten. Die Putschisten zerstörten 88 Rathäuser, 46 Polizeiämter, vier Gebäude des Landwirtschaftsministeriums, zwei Gebäude des Familienministeriums, ein Gebäude des Verkehrsministeriums, 47 Schulen und 21 Gesundheitsstützpunkte. Die Volkswirtschaft war zeitweise gelähmt. Die Zentralbank Nikaraguas beziffert die volkswirtschaftlichen Schäden auf 600 Millionen US-Dollar. 60.000 Menschen verloren ihre Arbeitsplätze. Der Landwirtschaftszyklus wurde empfindlich gestört. Die Nationalversammlung mußte den Staatshaushalt neu ordnen. Der Staat kann nicht mehr so viel ausgeben, wie er vorhatte. Die sozialen Programme sollen aber nicht angerührt werden.

Was zerstört und beschädigt wurde, gehörte zu den Errungenschaften der neuen Phase der Sandinistischen Revolution. Nun wird behauptet, Daniel Ortega hätte die Revolution verraten. Es gibt auch hierzulande "Linke", die das glauben und dazu aufriefen, die Solidarität mit Nikaragua einzustellen. Statt dessen sollte eine "Zivile Allianz", die den Putsch trug und in der sich die Vertreter der rechten Opposition, der reaktionären politischen Organisationen "Bürger für die Freiheit" (CxL) und der selbsternannten "Sandinistischen Erneuerer" (FAD-MRS), die Studenten der Privatuniversitäten und der Katholischen Universität und die Unternehmerverbände versammeln, unterstützt werden. Bischöfe der Katholischen Bischofskonferenz, die den nationalen Dialog moderieren sollten, schlugen sich auf die Seite der rechten Zivilallianz.

Dagegen solidarisieren sich Kuba, Venezuela und Bolivien, das Forum von São Paulo, die Mitgliedsstaaten von ALBA, die Solidaritätsbewegungen aus Costa Rica, El Salvador und Panama, Teilnehmer des Treffens der kommunistischen Parteien in Moskau, der Weltbund der Jugend und Studenten, das Treffen der Vertreter der lateinamerikanischen Solidarität in London und viele andere mit der Sandinistischen Revolution in Nikaragua. Die Organisation "Chicago Anti-War-Coalition" erklärte: "Wir, die einfachen Leute, müssen diesen schwarzen Krieg gegen Nikaragua verurteilen, der mit unseren Steuern gefördert und für andere genutzt wird, um deren Ziele durchzuführen. Die USA wollen in Nikaragua eine Pro-USA-Regierung, die mit den Banken und Konzernen der USA vollständig zusammenarbeiten, um die Ressourcen, die Menschen und die Wirtschaft zu dominieren. Dieses Ziel verletzt das internationale Recht. Die Nikaraguaner haben das Recht, ihre eigene Zukunft zu bestimmen und nicht von äußeren Mächten kontrolliert zu werden."

Was den mit China vereinbarten Bau eines Kanals zwischen dem Atlantik und dem Pazifik betrifft, wird der uralte Traum, mit einem interozeanischen Kanal zu gesellschaftlichem Wohlstand zu kommen, wieder aufgenommen. Dieses Projekt verfolgt die Absicht, die Armut zu bekämpfen und die Mittel zu erarbeiten, die notwendig sind, um den Folgen des Klimawandels zu trotzen. Die sandinistische Regierung fand dafür in der Hongkonger Company HKND eine wirtschaftlich starke Partnerin.

Wie nicht anders zu erwarten, sehen mit dem Kanalprojekt sowohl die einheimische Oligarchie ihre nationalen Interessen wie auch die USA ihre geostrategischen Interessen bedroht.

Mit der zerstrittenen rechten Opposition konnten die Oligarchen keinen Staat mehr machen. Diese verlor nach 2006 sowohl auf nationaler wie auf kommunaler Ebene eine Wahl nach der anderen gegen das Wahlbündnis der FSLN. Die Oligarchie hat aber entscheidende wirtschaftliche Positionen inne und verfügt mit dem Medienkonzern La Prensa über eine große Tageszeitung und einflußreiche Fernsehkanäle. Außerdem ist die Bischofskonferenz der katholischen Kirche ihr starker politischer Verbündeter.

Die nikaraguanische Oligarchie unterhält enge Verbindungen zu Somoza-Anhängern, die ihren Hauptsitz in Miami haben. Sie sind diejenigen, die mit den reaktionärsten US-Kongreßabgeordneten und US-Senatoren paktieren. In diesem Nest wurde und wird alles zur Organisierung und Finanzierung des nikaraguanischen Widerstands ausgebrütet. Zu diesen Leuten reisten Abgesandte der "Sandinistischen Erneuerer" und gingen mit ihnen den Pakt ein.

Carlos Fonseca Terán, der Sohn des Begründers der FSLN Carlos Fonseca Amador, meinte, daß in Nikaragua Klassenkampf stattfindet. Mit dem Putschversuch hatte er eine extreme Form angenommen. Ich erinnere mich daran, was Comandante Israel Galeano (Franklin) von der Nikaraguanischen Resistenz (Contra) zu Comandante der Revolution Daniel Ortega Saavedra unmittelbar nach den für die FSLN verlorengegangenen Wahlen 1990 sagte: "Die Oligarchie bootete Somoza mit der Hilfe von euch Sandinisten aus. Euch Sandinisten bootete sie mit unserer Hilfe aus. Wir gewannen nicht; nicht ihr Sandinisten, nicht wir Contras. Es gewann die Oligarchie."

Die FSLN und ihre Regierung haben den Putschversuch fürs erste abgewehrt; die Oligarchie ist immer noch da, und der Klassenkampf geht weiter.

Wolfgang Herrmann
Dreesch

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Der 12. Oktober, ein Feiertag in ganz Lateinamerika

Kaum ein anderes Datum hat so unterschiedliche Inhaltsveränderungen erlebt wie der 12. Oktober 1492. Bleibend ist dabei die anhaltende eurozentristische Sichtweise und damit unterschwellig das Überlegenheitsgefühl der Europäer bzw. der "weißen Rasse". Jahrhundertelang wurde der 12. Oktober als Tag der Entdeckung Amerikas gefeiert. Kolumbus setzte damals seinen Fuß auf eine von den Eingeborenen Guanahani genannte Insel, die er in San Salvador umbenannte.

1507 erschien eine Weltkarte des Freiburger Kartographen Martin Waldseemüller mit der Bezeichnung Amerika für den neuen Kontinent, weil sein Kollege, der Dichter Matthias Ringmann, Amerigo Vespuccis Reiseberichte gelesen hatte und diesen fälschlicherweise für den Entdecker der neuen Welt hielt. Mit dieser Benennung wurde die arrogante Tradition fortgesetzt, die von den Eingeborenen benutzten Bezeichnungen durch europäische Namen zu ersetzen. Die Bewohner des nördlichen Südamerikas nannten ihren Kontinent Abya Yala, aber das interessierte die europäischen Eroberer ebensowenig wie andere Kulturgüter, die im Zuge der als Christianisierung verbrämten Eroberung gnadenlos als Teufelszeug vernichtet wurden. In letzter Zeit wird die Bezeichnung Abya Yala (aus der Kuna-Sprache übersetzt: "Land in voller Reife" bzw. "Land des lebensnotwendigen Blutes") von den Lateinamerikanern benutzt, die sich bewußt von der Bevormundung durch die Europäer absetzen wollen.

Anfang des 20. Jahrhunderts kam der ehemalige spanische Minister Faustino Rodríguez auf die Idee, den 12. Oktober als "Día de la Raza" (Tag der Rasse) im gesamten iberoamerikanischen Bereich zu begehen. Damit waren aber mitnichten die eingeborenen Völker gemeint, sondern die neu entstandene "Rasse" der Mestizen, also der Nachkommen aus Verbindungen zwischen Indios und Spaniern. Da die aus den ehemaligen spanischen Kolonien hervorgegangenen lateinamerikanischen Nationalstaaten überwiegend von eben diesen Mestizen regiert wurden, versäumten sie es nicht, in ihren Ländern diesen Tag als Feiertag einzuführen.

In Spanien beging man den "Tag der Rasse" von 1914 bis 1957 als nationalen Feiertag. 1958 - während der Franco-Diktatur - wurde er in "Día de la Hispanidad" (Tag der Hispanität) umbenannt. Das blieb so bis 1987. Heutzutage wird der 12. Oktober wiederum als spanischer Nationalfeiertag begangen. Er ersetzt in dieser Funktion den "Tag der Nationalen Erhebung", der von Franco in Erinnerung an seinen Putsch am 18. Juli 1936 zum Nationalfeiertag erklärt worden war und als solcher bis zum Ende der Franco-Diktatur begangen wurde.

Der sich im Zuge der verstärkten Besinnung auf die eigene Geschichte Anfang des neuen Jahrtausends herausbildende Bewußtseinsstand in Lateinamerika spiegelt sich in den einzelnen Ländern in einer neuen Bezeichnung des Tages sehr unterschiedlich wider:

  • in Argentinien seit 2010 "Tag des Respekts der kulturellen Diversität",
  • in Bolivien seit 2011 "Tag der Entkolonialisierung",
  • in Chile seit 2000 "Tag des Treffens zweier Welten",
  • in Costa Rica 1994 "Tag der Kulturen",
  • in der Dominikanischen Republik zwei Bezeichnungen: "Tag der Identität und kulturellen Diversität" und "Tag des Treffens zweier Welten",
  • in Ecuador seit 2011 "Tag der Interkulturalität und der Plurinationalität",
  • in Nikaragua seit 2008 "Tag des indigenen Widerstandes",
  • in Peru seit 2009 "Tag der originären Völker und des interkulturellen Dialogs",
  • in Uruguay "Tag der (beiden) Amerikas",
  • in Venezuela seit 2002 "Tag des indigenen Widerstandes".
  • Honduras, Kolumbien und Mexiko begehen den 12. Oktober weiterhin als "Tag der Rasse".
  • Auf Kuba wird der 12. Oktober durch das Gedenken an zwei andere Oktobertage überlagert, durch den 10. Oktober, Beginn des Befreiungskrieges gegen die spanische Kolonialmacht 1868, und durch den 20. Oktober, der seit 1980 als "Tag der kubanischen Kultur" in Erinnerung an das erstmalige Ertönen der Nationalhymne 1868 gefeiert wird.

Gegenwärtig ist es noch immer in vielen lateinamerikanischen Ländern so, daß ein Abiturient mehr über die griechische Mythologie und das Altertum weiß als über die präkolumbische Geschichte und die originären Traditionen. Das ist der Übernahme europäischer Schulsysteme und Lehrinhalte geschuldet, was auch Ausdruck der Anerkennung und Hinnahme einer Überlegenheit der europäischen Geisteswelt war. Die Besinnung auf eigene Werte setzte vor allem mit der Regierungsübernahme von Mitte-Links-Regierungen in Venezuela, Argentinien, Bolivien, Ecuador und Nikaragua ein, die der politischen Unabhängigkeit eine wirtschaftliche Selbständigkeit hinzufügen und damit eine wahrhaftige Unabhängigkeit ihrer Länder erreichen wollten. Mit den neuen Verfassungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador, in denen die Rechte der originären Völker verankert wurden, erfuhren die Indigenen in den anderen Ländern eine starke öffentliche moralische und politische Unterstützung bei ihrem Kampf um ihre Rechte und gegen die Zerstörung der Umwelt, welche die Zerschlagung ihrer Kultur und Identität zur Folge hat. Da geht es um Widerstand gegen umweltzerstörende Großprojekte, die ohne Rücksicht auf die Lebensgewohnheiten der Indigenen mit Bestechung, Terror und Mord durchgeboxt werden, trotz der von vielen lateinamerikanischen Ländern ratifizierten Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO (ILO), der zufolge die betroffenen Eingeborenen befragt werden müssen. (Die BRD hat diese Konvention nicht ratifiziert, weil die Regierung befürchtet, die Sorben könnten als nationale Minderheit eingestuft werden und sich dann auf diese Konvention bei ihrem Kampf gegen Tagebauerweiterungen in der Lausitz berufen.) Diese Großprojekte - in ihrer Mehrzahl Staudämme und Megatagebaue - kommen nicht den betroffenen Anwohnern zugute, sondern dienen den Interessen internationaler Konzerne und der mit ihnen verbandelten herrschenden Oligarchien.

Schon Karl Marx führte im 23. und 24. Kapitel des "Kapitals" die Eroberung und Ausplünderung Amerikas als krasses Beispiel für die ursprüngliche Akkumulation an. "Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation." "Der außerhalb Europas direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord erbeutete Schatz floß ins Mutterland zurück und verwandelte sich hier in Kapital." (MEW, 23/779 bzw. 781) Ohne diese ursprüngliche Akkumulation durch Ausplünderung anderer Nationen wäre die kapitalistische Entwicklung zum heutigen industrialisierten Europa nicht möglich gewesen.

Aus heutiger Sicht kann der 12. Oktober 1492 durchaus als Beginn der Globalisierung angesehen werden. Sie ist eine Fortsetzung des Kolonialismus mit den Mitteln des technischen Fortschritts und neuer Handelsformen wie den sogenannten Freihandelsverträgen, die das Ziel haben, die Länder der Dritten Welt in ökonomischer Abhängigkeit als Rohstofflieferanten zu halten. Papst Franziskus urteilte im Juli 2015 bei seinem Bolivienbesuch über die "neuen Formen, den Kolonialismus auszuüben", mit den Worten, daß der Neokolonialismus "unterschiedliche Fassaden anwendet; manchmal ist es die anonyme Macht des Idols Geld: Kapitalgesellschaften, Pfandleiher, einige sogenannte Freihandelsverträge und die Auferlegung von Austeritätsmaßnahmen, in deren Folge immer die Werktätigen und die Armen den Gürtel enger schnallen müssen".

Zwar kommt es im Rahmen der Globalisierung auch zu einem gewissen kulturellen Austausch, jedoch überwiegt bei weitem die massive Verbreitung "westlicher" Werte. Hugo Chávez drückte das wie folgt aus: "Die Globalisierung hat nicht die angebliche gegenseitige Abhängigkeit gebracht, sondern eine Verschärfung der Abhängigkeit. Weit davon entfernt, den Reichtum zu globalisieren, hat sich die Armut weiter ausgebreitet. Die Entwicklung wurde weder verallgemeinert, noch wurde sie geteilt. Ganz im Gegenteil, die Kluft zwischen dem Norden und dem Süden ist so gigantisch geworden, daß die Unhaltbarkeit der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung und der Blindheit derjenigen offensichtlich ist, die danach trachten, sie zu rechtfertigen, um weiterhin in Überfluß und Verschwendung zu schwelgen."

Und genau gegen diese Globalisierung westlicher Art wehren sich die "entdeckten" Völker in Lateinamerika immer hör- und sichtbarer. In zunehmendem Maße besinnen sie sich auf ihre Traditionen, bekennen sich zu ihrer Geschichte, reklamieren ihre Rechte. In diesem Prozeß ist mit einem Male von Völkerschaften die Rede, die vor einigen Jahren in der veröffentlichten Meinung kaum eine Rolle spielten, z. B. die Mapuche im Süden des südamerikanischen Kontinents, die jetzt auf beiden Seiten der Grenze zwischen Argentinien und Chile um die Rückgabe ihres Landes und gegen industrielle Großprojekte kämpfen.

Um die Vormachtstellung der internationalen Konzerne abzusichern, scheut man nicht vor Terror, Einschüchterung, der Ermordung und dem Verschwindenlassen von Aktivisten zurück - immer im Namen des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts westlicher Prägung. Viele der eingeborenen Völker wollen diese westliche Zivilisation nicht; sie möchten vielmehr gemäß ihren Traditionen im Einklang mit der Natur und der Umwelt leben, diese nicht für den Wohlstand saturierter Bewohner der sogenannten Ersten Welt opfern. Von den indigenen Völkern werden das kapitalistische Ausbeutungssystem und die jetzigen Regierungsformen zunehmend infrage gestellt. In diesem Bewußtsein haben die Völker begonnen, auch ihren Kampf zu "globalisieren". Über bilaterale und lateinamerikanische Zusammenarbeit hinaus gab es bereits internationale Treffen wie das Welttreffen 2013 in Cochabamba/Bolivien, wo es nicht nur um Souveränität und ein würdiges Leben der Völker, um eine demokratischere und solidarische Gesellschaft im Einklang mit der Natur ging. Ganz gezielt wurden die Ursachen angegangen, die im kapitalistischen Ausbeutersystem verortet werden, und die Herrschaftsinstrumente wie NATO und Freihandelszonen angeprangert.

Die Notwendigkeit grenzübergreifender lateinamerikanischer Zusammenarbeit der indigenen Völker ergibt sich schon allein aus der Tatsache, daß viele originäre Ethnien durch willkürliche Grenzziehungen auseinandergerissen wurden (z. B. verteilen sich Quechua-Angehörige auf Ecuador, Bolivien, Peru, Chile; Guaraní leben in Bolivien, Paraguay und Argentinien.) 2014 gab es in Lima einen alternativen Klimagipfel, auf dem 3000 Vertreter von gesellschaftlichen Organisationen und indigenen Völkern in ihrem Abschlußdokument eine größere Verantwortung der Industrienationen gegenüber den Ländern des globalen Südens einforderten.

Der 12. Oktober ist immer wieder eine Gelegenheit, über die Auswirkungen der Entdeckung Amerikas durch die Europäer nachzudenken. Da die mit der Entdeckung verbundene Eroberung einen schalen Beigeschmack hat, begann man auch in Europa nach einer neuen Bezeichnung zu suchen. Zum 500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas 1992 sprach man bevorzugt von der Begegnung bzw. vom Aufeinanderprallen zweier Kulturen, womit vornehm verschwiegen wurde, welche "Kultur" sich auf welche Art und Weise und zu welchem Preis durchsetzte. In der Erklärung des 3. kontinentalen Treffens der Kampagne "indianischer, schwarzer und Volkswiderstand" vom 12. Oktober 1992 in Managua heißt es: "Wir Männer und Frauen der Völker und Nationen des großen Kontinents Abya Yala sind die Erben der ursprünglichen Zivilisationen, die die höchsten Stufen des Wissens und der kommunalen Organisation erreicht und die Flüsse, Pflanzen und Tiere in enger Harmonie mit dem Kosmos und unserer Mutter Erde domestiziert haben. ...

Nach 500 Jahren sind wir präsent! Wir lehnen die Feiern der Kolonisatoren und ihrer Komplizen ab. Wir fordern unser Recht, über unsere Zukunft selbst zu bestimmen. Hier sind wir, um die Träger unserer Utopie zu ehren, die während der Invasion, der Kolonialzeit und während der Unabhängigkeit fielen und die heute noch im offenen Kampf gegen die neue Eroberung, ihre Götter, ihre Könige, ihre Monumente und die Schwarzseher fallen. ... Nach 500 Jahren sind wir hier präsent! Frauen und Männer entdecken unsere Wurzeln wieder, ohne Unterscheidung nach Hautfarbe, Sprache, Kulturen, Gebiets- und Ländergrenzen. Wir gewinnen das wieder, was uns gehört. Wir entwerfen ein neues Projekt gegenüber dem, das uns bedroht und angreift. Ein Projekt, das Elend und Leid ausschließt; mit dem wir die alten Formen der Autonomie wieder aufgreifen, die uns in der Vergangenheit groß gemacht hatten; mit dem die Kinder und die jungen Generationen eine Zukunft haben."

Gemäß dem Prinzip "Teile und herrsche!" wird der auf 500 Jahre kolonialer Ausbeutung anderer Völker beruhende vergleichsweise relative Wohlstand der Arbeiter in den entwickelten Ländern dazu genutzt, sie gegen die Werktätigen der Dritten Welt auszuspielen. Den Bürgern hier wird suggeriert, auch Nutznießer der kolonialistischen Globalisierung zu sein, zusammen mit den Konzernen in einem Boot zu sitzen, das voll sei und auf dem kein Platz mehr sei für Ärmere. Diese ideologische Klammer aufzubrechen, ist ungeheuer schwierig. Man sieht es an den Wahlerfolgen der AfD und anderer rechter Parteien in Europa. In dieser egoistischen Gesellschaft fällt es vielen schwer, über die eigene Nasenspitze hinauszudenken, wobei die konzern(ge)hörigen Medien darauf hinarbeiten, den Menschen das eigenständige Denken abzugewöhnen und sie auf die Denkmuster der Herrschenden einzuschwören.

Fidel Castro sagte 1992 bei der Einweihung eines Denkmalparkes an der Stelle, wo Kolumbus 500 Jahre zuvor zum ersten Mal seinen Fuß auf kubanisches Territorium setzte: "Ich bin nicht dagegen, des 500. Jahrestages der Ankunft Christoph Kolumbus' in Amerika zu gedenken, und viel weniger dagegen, die historische Transzendenz des Ereignisses anzuerkennen. Doch dieses Gedenken darf nicht zur simplen Verherrlichung der sogenannten Entdeckung und ihrer Folgen werden, es sollte eine kritische Erinnerung an das Ereignis sein ..."

Gerhard Mertschenk
Berlin

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Stimme der Unterdrückten in Brasilien

Die Show ist vorüber, im Oktober hat Brasilien gewählt. Was seine Volksvertreter insgesamt nicht widerspiegeln: Es ist ein Land zweier Welten. Seine mehr als 200 Millionen Bewohner sind scharf voneinander getrennt. Sichtbar ist diese soziale Spaltung besonders in den Metropolen - etwa 80 Prozent der Bevölkerung des flächengrößten Landes Südamerikas leben in großen Städten. Diese sind das Produkt von Planungen, die sich zuerst an den Interessen einer wohlhabenden Minderheit orientierten, und der jahrzehntelangen Spekulation mit Grund und Boden. Besonders Rio de Janeiro und São Paulo erlebten im vergangenen Jahrzehnt eine Mietpreisexplosion. Der Wohnort ist um so mehr ein Ausweis für die Klassenzugehörigkeit. Landbesitzer und die großen Baukonzerne haben sich ihren politischen Einfluß gesichert, im Kongreß zieht neben Evangelikalen, Latifundisten und der Waffenlobby auch eine "Betonfraktion" weiter Strippen.

Die besseren Viertel in Brasiliens Großstädten verfügen über eine moderne Infrastruktur, bieten durch Polizei und privaten Wachschutz öffentliche Sicherheit - während in den riesigen Peripherien, den Favelas und Satellitenstädten die Situation prekär und das Leben gefährlich ist. Es herrschen Kriminalität und die Gewalt des Antidrogenkrieges. In den Städten der Armen landeten im Zuge der Industrialisierung Unzählige aus den zurückgebliebenen Landesteilen. Hier leben die Angehörigen der größten Dienstbotengesellschaft weltweit: 6,7 Millionen, überwiegend Frauen, bestreiten ihren Lebensunterhalt als häusliche Angestellte. Sie putzen, kochen, sind Kindermädchen und pflegen die Alten. Ihre Rechte zählen wenig, häufig sind sie ohnehin nur informell beschäftigt. Diesen Teil ihres Landes, ihrer eigenen Stadt, kennen viele Angehörige der überwiegend weißen Mittel- und Oberschichten, die solche Dienste in Anspruch nehmen, nur aus der Ferne und aus reißerischen Kriminalberichten im Fernsehen. Der tägliche Kampf ums Überleben für die Menschen dort schließt lange Arbeitswege in die Innenstädte mit einem kostspieligen und oft unzureichenden Kollektivverkehr ein. Und nicht selten sind sie konfrontiert mit der hier tiefverwurzelten Kultur der Gewalt und des Machismus: Stunde für Stunde werden in Brasilien Hunderte Frauen auch im öffentlichen Raum Opfer verbaler und körperlicher Übergriffe. Daß die Metro von Rio besondere Waggons für weibliche Fahrgäste anbietet, spricht für sich. Die große politische Bühne gehört weiterhin dem Patriarchat. Obwohl Frauen in Brasilien 53 Prozent des Wahlvolkes stellen, sind sie in Parlamenten und Machtpositionen vollkommen unterrepräsentiert. Die Geisteshaltung der Eliten demonstrierte Michel Temer 2016 nach dem parlamentarischen Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT, als er ein Kabinett berief, dem ausschließlich reiche weiße Männer angehörten.

Dennoch verschaffen sich Brasiliens Frauen politisch immer stärker Gehör. Sie sind Hauptakteure in den sozialen Bewegungen. Auch der vielfältige Widerstand gegen den faschistischen Kandidaten zu den Präsidentschaftswahlen, Jair Bolsonaro, wurde stark von ihnen geprägt. Ein Beispiel dafür ist der MTST: Landesweit organisiert die städtische Wohnungslosenbewegung Menschen, denen das in Artikel 6 der brasilianischen Verfassung von 1988 garantierte Grundrecht auf menschenwürdiges Wohnen vorenthalten wird. Denn in der Realität regiert der kapitalistische Markt. Fast sieben Millionen Brasilianer können sich nach offiziellen Statistiken keine eigene Bleibe leisten. Die Wirtschaftskrise und die neoliberalen Reformen der vergangenen Jahre haben zu einer Ausweitung von Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung geführt. Eines der gravierendsten sozialen Probleme wurde so weiter verschärft. Theoretisch fehlt es nicht an Wohnraum: In Brasiliens Städten gibt es millionenfachen Leerstand. Gegen die Politik im Interesse der Spekulanten geht der MTST mit genau geplanten Aktionen vor. Mit Tausenden Aktivisten werden immer wieder leerstehende Gebäude besetzt oder Brachflächen, um dort Wohncamps zu errichten. Es sind politische Lernorte, an denen Gleichberechtigung und Autonomie - eine Art Volksmacht von unten - praktiziert werden. Sie dienen als Ausgangspunkt für Demonstrationen und Straßenblockaden zur Unterbrechung ökonomisch wichtiger Verkehrsverbindungen. Das schafft Verhandlungsmacht gegenüber den Autoritäten, wie sich im April 2018 zeigte. Nach sieben Monaten Besetzung einer Fläche in São Bernardo do Campo durch rund 4000 Familien mußte die Regierung des Bundesstaates São Paulo diesen in einem Abkommen mit dem MTST die Zuweisung von Wohnungen zusagen. Mitte September begann mit dem Einzug Hunderter Aktivisten in eine frühere Textilfabrik in der Mooca-Straße im Osten der Metropole eine neue große Aktion.

Für die ökonomisch Mächtigen, für konservative Politiker und die Konzernpresse ist der MTST eines der größten Feindbilder. Dieses Schicksal teilt die Bewegung mit dem bereits seit Mitte der 80er Jahre aktiven MST, der Landlose organisiert, für die Rechte der Indigenen eintritt, gegen die Agrarmultis und für eine ökologische Wende und eine Agrarreform streitet. Für Hunderttausende Familien konnte durch den MST bereits eine neue Existenzgrundlage erkämpft werden. 1997 wurde der MTST als Ableger gegründet. Die territoriale Organisation von Menschen in den städtischen Quartieren war auch eine Antwort auf die Schwächung der Gewerkschaften. Lokal ist es möglich, auch jene zu erreichen, die keine Arbeit haben, im informellen Sektor tätig oder von Outsourcing und Scheinselbständigkeit betroffen sind. Die Wohnungslosen haben sich nicht nur eine bessere Art von Stadt, sondern die Überwindung der Ungleichheit und den Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben.

In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober war mit Guilherme Boulos ein führender Kopf des MTST vertreten. Sônia Guajajara, die als seine Vize-Kandidatin antrat, ist eine Repräsentantin der Urvölker Brasiliens. Sie war die erste Indigene in der Geschichte des Landes, die für ein solches Amt kandidierte. Beide gingen für die Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) ins Rennen, die gerade bei jüngeren Wählern Zulauf hat und die mit der kleineren der beiden kommunistischen Parteien, PCB, verbündet ist. Mehr als um den symbolischen Erfolg ging es um die Mobilisierung des radikal linken Spektrums. Trotz ideologischer Differenzen und viel Kritik an der Arbeiterpartei, die in ihrer Ära viele Prinzipien auf dem Altar der Regierungsfähigkeit opferte, leisten sich Boulos und Genossen nicht den gefährlichen Luxus des Sektierertums. PSOL ebenso wie die sozialen Bewegungen standen von Beginn an in der ersten Reihe des Widerstands gegen den institutionellen Putsch und des Kampfes für die Befreiung von PT-Mitbegründer Lula da Silva aus der politischen Haft. Auf Lösungen von oben setzt dieser Teil der brasilianischen Linken nicht, sondern auf den alltäglichen, kreativen Widerstand an der Basis. Er vereint feministische, indigene, afrobrasilianische Kräfte und Bewegungen von Schülern und Studenten, die von alternativen Medien, Künstlern und Intellektuellen unterstützt werden.

Peter Steiniger

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Gertrud Rast, eine unbeugsame Genossin

Das Gesicht der Novemberrevolution scheint uns bis heute überwiegend männlich gewesen zu sein. Auch auf den Fotos der Massendemonstrationen und der Räte dominieren Männer. Frauen und Mädchen wurden deshalb beim Betrachten der Fotos häufig ganz übersehen. Man nimmt sie oft erst bei genauerem Hinsehen wahr.

So auch bei diesem Foto des Arbeiter- und Soldatenrates im Hamburger Rathaus, bei dem fast alle Männer stehen. In der Mitte des Bildes ist der Vorsitzende Heinrich Laufenberg mit seinem markanten Schnurrbart gut zu erkennen. Aber wer sitzt direkt vor ihm? Ein junges Mädchen, dessen Gesicht etwas unscharf ist. Es sitzt an einer Schreibmaschine mit einem eingespannten Blatt. Die junge Frau ist Gertrud Graeser, 21 Jahre alt und Sekretärin Laufenbergs.

Sie wurde am 25. Mai 1897 in Hamburg geboren. Ihr Vater war Tischler, die Mutter Dienstmädchen und später Putzfrau. Gertrud besuchte seit 1904 die Volksschule und wechselte im Oktober 1909 in eine Seminarschule, die auf das Lehrerseminar vorbereiten sollte. Trotz ihrer schlechten finanziellen Verhältnisse wollten die Eltern ihrer Tochter diesen Berufswunsch erfüllen. Es kam aber anders: In ihren handschriftlichen Aufzeichnungen berichtete sie darüber: "Da das Geld meiner Eltern nicht reichte für eine fünfjährige Ausbildung zur Lehrerin, verließ ich die Schule im Oktober 1911 und wurde Kontoristin."(1)

Im April 1912 trat das wißbegierige Mädchen dem sozialdemokratischen Jugendbund bei. Drei Jahre später auch der Gewerkschaft. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Burgfriedenspolitik der Sozialdemokratie verschärften sich bereits schon länger schwelende Konflikte zwischen der SPD-Führung und ihrer Jugendorganisation. Dies führte trotz massiver Proteste der Jugendlichen am dritten März 1916 zur Auflösung des Jugendbundes. Bereits vierzehn Tage später gründeten oppositionelle Jugendliche die "Freie Jugendorganisation von Hamburg-Altona". Ihr gelang es schnell, den gesamten aktiven Mitgliederstamm des aufgelösten Bundes zu gewinnen. Zu den bald 1500 Mitgliedern gehörte auch Gertrud. Bald wurde sie in dieser neuen Organisation aktiv, was auch eine kurze Notiz im monatlichen Mitteilungsblatt "Proletarier-Jugend" belegt. Dort hieß es u. a. über einen Elternabend: "In einer zündenden Rede führte die Genossin Gertrud Gräser unsere Gedanken zum Frühling aus und forderte zur lebhaften Unterstützung unserer Sache auf."(2) Die junge Frau engagierte sich besonders in der politischen Bildungsarbeit. Noch im hohen Alter berichtete sie darüber: "Wir haben uns einmal in der Woche getroffen, in einem Gasthaus. Wir nannten es 'Leseabend', weil es so schön bürgerlich klingt. Alle dachten, wir studierten dort Goethe. Aber wir haben heimlich das Kommunistische Manifest und Arbeiterliteratur gelesen. Manchmal haben wir auch Reichstag gespielt. Jeder mußte 'ne Partei übernehmen. Dann haben wir gestritten, bis die Stühle zu Bruch gegangen sind."(3)

Das Generalkommando der Wehrmacht (IX. Armeekorps) nahm die erste Hamburger Friedensdemonstration während des Krieges, die hauptsächlich von Mitgliedern der "Freien Jugendorganisation" durchgeführt worden war, zum Anlaß, diese Gruppierung am 28. August 1916 aufzulösen. Viele Mitglieder, auch Gertrud, arbeiteten aber konspirativ weiter. Sie vertrat zusammen mit ihrem Jugendgenossen Heinrich Sehlmann die oppositionelle Hamburger Arbeiterjugend auf einer Jugendkonferenz in Halle, die am achten und neunten Juli 1917 stattfand. Diese Konferenz rief zu verstärkten Aktionen gegen den Krieg auf und beschloß u. a. am nächsten Internationalen Jugendtag, Anfang September, Antikriegsdemonstrationen zu organisieren. Für diese Aktion wurden illegal Flugblätter mit einem Aufruf gedruckt und versandt. Gertrud Graeser war unter einer Deckadresse, die aufflog, Adressatin der aus Dresden nach Hamburg verschickten Flugblätter. Am 24. August 1917 wurde sie zusammen mit sechs weiteren oppositionellen Jugendlichen auf Antrag des Hamburger Polizeipräsidenten in Schutzhaft genommen.(4)

Gertrud und die anderen Verhafteten kamen in das Gefängnis in der Straße Hütten. Die Haftbedingungen waren hart: Einzelhaft, teilweise Dunkelhaft und sehr schlechte Ernährung.(5)

Die Sozialistin Erna Halbe, die 1916 wegen ihrer Opposition gegen die Kriegskredite aus der SPD ausgeschlossen worden war, befand sich im selben Gefängnis und hörte von der Einlieferung Gertruds. Die am Fröbelseminar ausgebildete Kindergärtnerin übte mit der jüngeren Frau Solidarität: "Erna Halbe schickte mir am zweiten Tag durch die Kalfaktorin eine Scheibe Schwarzbrot, eine Tomate und außerdem den ersten Band von Marx 'Das Kapital' sowie das Buch von (Otto) Rühle 'Das proletarische Kind'".(6) Nach zwei Monaten konnte Gertrud das Gefängnis verlassen und ihre Aktivitäten konspirativ im "Wanderverein Jungvolk" fortsetzen. Erna Halbe, die wegen angeblichen Landesverrats zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, wurde erst durch die Revolution befreit.

Sicherlich kein Zufall: Die beiden ehemaligen Leidensgenossinnen begegneten sich beim Arbeiter- und Soldatenrat wieder. Erna Halbe war lange Zeit die einzige Frau in diesem Gremium.(7) Die Kontoristin Gertrud Graeser arbeitete nun als Sekretärin Laufenbergs. Über diese Zeit gibt es nur eine kurze Interviewpassage: "Das war 'ne komische Sache: Wir saßen im Rathaus, in großen Sälen, und haben getippt. Protokolle und so was, Korrespondenz, Beschlüsse. Alle Türen standen offen, keiner hat uns bewacht. Da konnte jeder reinkommen und zusehen, auch die Reaktionäre."(8)

Anfang 1919 war Gertrud ebenso wie Erna Halbe Mitbegründerin der KPD in Hamburg, arbeitete politisch aber weiter in der Arbeiterjugendbewegung. Anfangs in der Freien Sozialistischen Jugend (FSJ), später in der Kommunistischen Jugend (KJD), in deren Reichszentrale sie Ende März 1923 gewählt wurde. Dort leitete sie zeitweilig das Publikationsorgan "Junge Garde". Mitte der zwanziger Jahre war die Hamburgerin einige Zeit in Moskau Mitarbeiterin der Kommunistischen Jugendinternationale und später der Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter (ISH). Nach dem Machtantritt der Nazis arbeitete sie für die ISH in Kopenhagen.

Später emigrierte Gertrud (mittlerweile verheiratet mit Richard Rast) weiter nach Frankreich, wo man sie 1939 inhaftierte und 1943 nach Deutschland auslieferte. Stationen ihres weiteren Leidensweges waren das KZ Fuhlsbüttel und das Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg, dessen Bombardierung sie nur durch großes Glück überlebte. Über den Zeitabschnitt 1939 bis 1945 hat Gertrud Rast 1972 lesenswerte Erinnerungen unter dem Titel "Allein bist du nicht" veröffentlicht. Insbesondere die kleinen Porträts ihrer weiblichen Mithäftlinge, zumeist Jüdinnen, sind sehr eindrucksvoll. Nach der Befreiung war Gertrud einige Jahre erste Vorsitzende der KPD in Schleswig-Holstein und Chefredakteurin der KPD-Tageszeitung "Norddeutsches Echo". Die stets diskussionsfreudige, aber sehr bescheidene Frau starb hochbetagt am 24. September 1993 als Mitglied der DKP in Hamburg.

Hans-Kai Möller
Hamburg

Anmerkungen

(1) Gedenkstätte Ernst Thälmann (GET), Bestand Gertrud Rast geb. Graeser, handschriftliche Aufzeichnungen von Gertrud Rast, 19.12.1978

(2) Fritz-Hüser-Institut, Dortmund, Bestand XA Arbeiterjugendbewegung / vor 1945: "Proletarier-Jugend, Mitteilungsblatt der Freien Jugendorganisation von Hamburg-Altona und Umgebung", 1. Jg. 15. Mai 1916, Nr. 2

(3) GET, Bestand G. Rast, Magazin "Tempo", November 1988

(4) Volker Ullrich: Die Hamburger Arbeiterbewegung vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zur Revolution 1918/19, Diss. phil., Teil 1, Hamburg 1976, S. 484 f.

(5) Volker Ullrich: Kriegsalltag. Hamburg im ersten Weltkrieg. Köln 1982, S. 139

(6) GET, Bestand G. Rast, maschinenschriftliche Aufzeichnung von Gertrud Rast (Graeser) vom Februar 1968

(7) Volker Stalmann (Bearb.): Der Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat 1918/19 (= Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19, Bd. IV). Düsseldorf 2013, S. 171

(8) GET, Bestand G. Rast, Magazin "Tempo", Nov. 1988

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Novemberrevolution in Rüdersdorf

Als Theodor Fontane im Juli 1887 zu einem Sommerurlaub in Rüdersdorf weilte, verglich er den Ort mit seinen Seen, Wäldern, Kanälen, Heideland und Hügeln, seiner Vielfalt von Pflanzen und Tieren mit Kurorten wie Interlaken und Biarritz. Nun mag ja der Vergleich mit den Modebädern der damaligen Zeit ein wenig anspruchsvoll ausgefallen sein. Was Fontane jedoch in seiner Liebe zur märkischen Landschaft über die Naturschönheiten der Berliner Umgebung berichtet, hat schon seine Richtigkeit. Allerdings fehlt in seiner liebevollen Schilderung der hiesigen Kalkberge ein Hinweis auf das karge Leben der Rüdersdorfer Arbeiterschaft.

Im Herbst 1918, nach vier Jahren Krieg, ist die nationale Begeisterung, die im August 1914 die Deutschen über alle traditionellen Schranken hinweg zu einen schien, der vollständigen Ernüchterung und Erschöpfung gewichen. Die Gewißheit der bevorstehenden militärischen Niederlage reißt alte Gegensätze verstärkt wieder auf. Sie führen schließlich Anfang November zu einem spontanen revolutionären Aufbegehren in weiten Gebieten des Reiches. So auch in Rüdersdorf.

Brutale Ausbeutung, schlechte Wohnverhältnisse, ungesunde Ernährung prägten die Lebensverhältnisse der einfachen Menschen. Schon früh regte sich Widerstand. Die katastrophalen Arbeitsbedingungen führten zu Protesten und Streiks.

Im April 1917 bildete sich in Rüdersdorf eine Gruppe der USPD. Am 5. Januar 1919 demonstrierten 1000 Arbeiter von Kalkberge für ihre Rechte. Ihnen standen etablierte Bürger und die Berginspektion gegenüber. Zwischen den Arbeitern und der Leitung der Preußischen Berg- und Hüttenaktiengesellschaft kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen. Es ging nicht nur um soziale Mißstände, sondern auch um politische Forderungen. Nach der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands im Ergebnis der Novemberrevolution standen die Rüdersdorfer Kommunisten an vorderster Front bei der Formierung der revolutionären Kräfte.

Am 17. Januar 1919 versammelten sich in Schulzenhöhe Arbeiterinnen und Arbeiter zu einer der größten Kundgebungen, die Rüdersdorf in seiner Geschichte erlebt hat. Dem Aufruf von hiesigen Mitgliedern des Spartakusbundes folgend, vereinigte man sich zu einer großen Protestversammlung, um den Abscheu gegen die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht öffentlich zu bekunden. Einmütig protestierten die Teilnehmer der Versammlung gegen dieses Verbrechen und forderten nachdrücklich die Bestrafung der Mörder.

Sie verabschiedeten eine Resolution, in der es um den sofortigen Abzug der reaktionären militärischen Einheiten aus Berlin ging. "Ferner verlangen wir", hieß es weiter in dem Schreiben, "daß eine Regierung eingesetzt wird, welche uns die Errungenschaften der Revolution sicherstellt, und sprechen hiermit der Regierung Scheidemann und Ebert unser Mißtrauen aus."

Dieser großen Protestkundgebung waren schon in den Kriegsjahren harte Auseinandersetzungen mit der Berginspektion vorausgegangen. Die dramatische Verschlechterung der Lebenslage der Arbeiter und ihrer Familien trieb die Werktätigen aus ihren Betrieben. Zweimal demonstrierten sie vor der Verwaltung, wo sie ihre Forderungen stellten.

Ein deutsch-nationaler kaisertreuer Lehrer brachte seinen Mißmut darüber in der Tasdorfer Schulchronik mit den Worten zum Ausdruck: "Immer neue Lohnforderungen bringen die Arbeiter vor und drohen bei Nichterfüllung mit Streiks. Alle Übelstände wurden durch die Spartakisten, wie man die Unruhestifter nannte, verursacht."

Das waren jene Tage und Wochen, in denen Karl Liebknecht verkündet hatte: "Der Tag der Revolution ist gekommen ... Das Alte ist nicht mehr ... In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik Deutschland."

Mitten in den revolutionären Wirren finden die Wahlen zu einer verfassungsgebenden Nationalversammlung statt, welche die Sozialdemokratie als stärkste politische Kraft bestätigen. Mit Friedrich Ebert stellt sie auch den ersten Reichspräsidenten.

Von 4435 Wählern aller Rüdersdorfer Ortsteile wählten 1817 die SPD, 1618 die Unabhängige Partei.

Ebert und die rechten Sozialdemokraten, die bereits zu Beginn des Krieges mit ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten das deutsche Volk den Militaristen, Kapitalisten und Junkern ausgeliefert hatten, dachten nicht daran, den Forderungen der Bergleute zu folgen. Im Gegenteil! Ebert und Noske schlossen einen Pakt mit der obersten Heeresleitung und wollten die in der Novemberrevolution errungene Macht so schnell wie nur irgend möglich an eine Nationalversammlung übergeben.

Mit der Demonstration vom 17. Januar protestierten die Rüdersdorfer Arbeiter auch gegen diesen feigen Verrat der rechten sozialdemokratischen Führer. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Am 10. März 1919 wurden in Kalkberge, Tasdorf und Rüdersdorf eine von dem sozialdemokratischen Reichswehrminister Gustav Noske unterzeichnete Bekanntmachung veröffentlicht, in der angedroht wurde, "die kämpfenden Spartakisten sofort zu erschießen". Das war keine leere Drohung.

Bis 1920 gab es eine Hetzjagd gegen die Organisatoren der Großkundgebung und der Streiks. Karl Schröder und Wilhelm Watermann, die roten Betriebsräte der Zementfabrik und der Berginspektion, wurden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Weitere Rüdersdorfer kamen in Köpenick vor Gericht. Aber damit gab sich die Reaktion noch nicht zufrieden. Die Verfolgung der Linken, die sich für die Interessen der Arbeiter einsetzten, ging weiter und nahm immer brutalere Formen an, je näher die Faschisten an die Macht kamen. Im Mai 1932 wurde der Kommunist Hans Schröder von der SA erschossen, sein Genosse Willi Müller von den Faschisten erschlagen. Erwin Schulze von der SPD, Mitglied der Ortsvereinsleitung in Rüdersdorf, wurde in Berlin von SA-Leuten zwischen Bellevue und Friedrichstraße aus der S-Bahn gestoßen und erlag seinen Verletzungen. Selbst den parteilosen Straßenbauarbeiter Richard Meyer haben sie verschleppt und ermordet, weil er Flugblätter gegen die Nazis verteilt hatte.

Offensichtlich hatte Rosa Luxemburg recht, als sie feststellte: "Der Sozialismus ist keine Frage der parlamentarischen Wahl, sondern eine Machtfrage." Sich der revolutionären Ereignisse in der Kalkberggemeinde und der Ermordung von Karl und Rosa erinnernd, ehren nicht wenige Rüdersdorfer alljährlich die Vorkämpfer für ein friedliches, freies Leben an der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde mit roten Nelken.

Heinz Pocher
Strausberg

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BUCHTIPS

Stefan Dietl: Die AfD und die soziale Frage
Zwischen Marktradikalismus und "völkischem Antikapitalismus"

Die besorgniserregenden Wahlerfolge und die zunehmende Verankerung der AfD in der deutschen Parteienlandschaft führen unter ihren Gegnern zu Debatten darüber, wie der Rechtspartei zu begegnen sei. Während einige darauf setzen, die AfD als unsozial zu brandmarken und über ihre neoliberale Programmatik aufzuklären, verweisen andere auf die teils antikapitalistische Rhetorik führender Parteifunktionäre und warnen vor der gefährlichen Kombination aus rassistischer Hetze und sozialer Demagogie.

Dem Autor gelingt eine anschauliche Darstellung der aktuellen sozial- und wirtschaftspolitischen Programmatik der AfD vor dem Hintergrund des Kräftezerrens zwischen Marktradikalen und völkischen Nationalisten. Doch Dietl liefert auch eine Problemanalyse bisheriger Versäumnisse der Gewerkschaften in der Auseinandersetzung mit der AfD und ihrer Klientel - und entwirft gewerkschaftliche Gegenstrategien.

Unrast-Verlag, Münster 2018, 176 S., 14 €


Lena Kreymann/Paul Rodermund (Hg.): Eine Welt zu gewinnen

Marx, der Kapitalismus von heute und was wir tun können
Mit einem Vorwort von Dietmar Dath

Wer die Welt verändern will, muß sie erkennen. Dieser Sammelband regt dazu an, sich selbst ein Bild von der Welt zu machen und sich eingehender mit den Erkenntnissen von Karl Marx auseinanderzusetzen. Er ist für all diejenigen, die meinen, daß eine andere Welt nötig und möglich ist. Ein einführender Beitrag behandelt die Entwicklung des Dialektischen und Historischen Materialismus, die Analyse der Grundstruktur der kapitalistischen Produktionsweise, den Kampf für den Sozialismus vom Bund der Gerechten bis zur Pariser Kommune.

Der zweite Teil des Buches befaßt sich mit den grundlegenden Widersprüchen und Problemfeldern unserer heutigen Gesellschaft und diskutiert mögliche Lösungen.

Der dritte Teil beginnt mit der russischen Oktober- und der deutschen Novemberrevolution und beleuchtet die Debatten um eine antifaschistische Strategie vor 1933.

Ein weiteres Thema ist die unterschiedliche Entwicklung in der DDR und der BRD.

Mit Beiträgen von Hans-Peter Brenner, Dietmar Dath, Georg Fülberth, Patrik Köbele, Lena Kreymann, Beate Landefeld, Jürgen Lloyd, Paul Rodermund, Arnold Schölzel, Werner Seppmann u. a.

PapyRossa-Verlag, Köln 2018, 232 S., 10 €


Stefan Bollinger: November '18

Als die Revolution nach Deutschland kam

Im November vor 100 Jahren zerbrach die Monarchie, weil die Deutschen es leid waren, weiter Krieg zu führen und zu hungern. Nach russischem Beispiel entstanden Arbeiterund Soldatenräte. Und während die einen die sozialistische Republik Deutschland gründen wollten, kanalisierten die anderen den revolutionären Furor und gründeten zu Weimar einen bürgerlich-demokratischen Staat. So blieb die Weltrevolution aus, auf die die Russen gesetzt hatten. Stefan Bollinger untersucht Umstände und Konsequenzen dieser halben oder doch ganzen Revolution und analysiert die Auswirkungen in der Gegenwart.

Edition Ost, Berlin 2018, 256 S., 14,99 €

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In memoriam

Aus Anlaß unseres 250. Heftes (die selbständigen Beilagen nicht mitgerechnet) veröffentlichen wir hier eine kleine Ehrentafel einiger Autorinnen und Autoren, die seit unserer Gründung 1998 im "RotFuchs" publiziert haben und mittlerweile verstorben sind. Sie alle haben sich in unserer Tribüne für Kommunisten und Sozialisten an der Diskussion großer und kleiner Fragen beteiligt, ließen die Leserinnen und Leser mit ihren Kommentaren und Analysen an ihren Erfahrungen, Kenntnissen und Meinungen teilhaben und trugen mit ihren Beiträgen zum unverwechselbaren Profil des RF bei. Wir gedenken ihrer und verneigen uns vor ihnen in Dankbarkeit.

Peter Abraham / Willi Belz / Gerhard Bengsch / Manfred Böttcher / Isolda Bohler / Gerhard Branstner / Elfriede Brüning / Günter Buschow / Vera Butler / Wolfgang Clausner / Almos Csongar / Rudolf Dix / Georg Dorn / Martin Dressel / Rudolf Drux / Eberhard Esche / Klaus Feske / Bernd Fischer / Arno Fleischer / Walter Florath / Peter Gingold / Kurt Gossweiler / Georg Grasnick / Peter Hacks / Heinz-W. Hammer / Ernst Heinz / Manfred Hocke / Hans Heinz Holz / Ulrich Huar / Klaus Huhn / Heinz Kamnitzer / Heinz Keßler / Gerda Klabuhn / Erich Köhler / Hans Kopistecki / Hans-Dieter Krüger / Bruno Laub / Hans Lebrecht / Karl Leonhardt / Heinz Marohn / Herbert Mies / Harry Milke / Frank Mühlefeldt / Karl Mundstock / Dieter Noll / Norbert Pauligk / Norbert Podewin / Walter Ruge / Host Schneider / Joachim Spitzner / Robert Steigerwald / Klaus Steiniger / Karl Stiffel / H.-G. Szalkiewicz / Fritz Teppich / Herbert Thomas / Peter Tichauer / Kurt Tiedke / Rolf Vellay / Karl-Eduard von Schnitzler / Ingo Wagner

Redaktion und Förderverein

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WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG
Die Lehre vom Kettenglied
Sendung des Deutschlandsenders vom 19. Dezember 1974

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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"Verfassungsschutz" - Gefahr für die Demokratie

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Diesen "Verfassungsschutz" endlich abschalten!

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Opfer politischer Justiz fordern Rehabilitierung

In ihrer akribisch recherchierten dokumentarischen Schriftenreihe "Das Landgericht Lüneburg als Spitze der justizförmigen Kommunistenverfolgung der 1950er/1960er-Jahre", hat die VVN-BdA Lüneburg im Juli Teil II b: "Verfahren - Prozesse - Angeklagte" veröffentlicht. Teil I "Das Personal" erschien 2015. Teil II a rezensierte Prof. Dr. Ekkehard Lieberam im "RotFuchs" 11/2017. Geplant ist, 2019 Teil III mit einem Resümee und einer Übersichtstabelle der Kommunisten-Prozesse von 1951 bis 1968 abzuschließen.

Die neue Folge untersucht ausschließlich die Verfahren wegen sogenannter SBZ-Kontakt-Taten: Verstöße gegen ein nach § 100 d Abs. 2 StGB faktisch "strafbewehrtes Ausreiseverbot zur Verhütung politisch unerwünschter Kontakte". Das betraf nach willkürlicher Auslegung jede Art von Kontakten zu DDR-Bürgern, zu politischen, kulturellen, betrieblichen, medialen, Sport und Freizeit betreffenden, bisweilen sogar kirchlichen Körperschaften und Personenkreisen. Denn nach dem KPD-Verbot wurde 1956 die ganze Partei- und Staatsstruktur der DDR mit sämtlichen gesellschaftlichen Einrichtungen juristisch als eine "Gesamtorganisation" zur "illegalen Ersatzorganisation" der verbotenen KPD erklärt. In diesem Zusammenhang hat man auch Bürger der DDR während ihrer BRD-Aufenthalte verhaftet und abgeurteilt.

Dazu gehörte ebenso die Beschlagnahme von Millionen Postsendungen aus der DDR, Briefkontrollen und Telefonüberwachung. Die Methoden dieser systematischen Bespitzelung dokumentieren eindrücklich auch die Prozeßakten, soweit sie nicht vernichtet worden sind. 2017 waren von ca. 13.000 Ermittlungsverfahren und 100 Prozessen - allein der 4. Kammer am Landgericht Lüneburg (!) - nur noch 68 Akten auffindbar.

Die Broschüre dokumentiert die Verfolgung, Verfahren und Urteile gegen Gewerkschaftler, Sportler, kulturell oder kirchlich Engagierte, Pazifisten, jungen Menschen wie deren Eltern, die um Völkerverständigung und Entspannung in der Zeit des kalten Krieges bemüht waren. Selbst Teilnehmer von internationalen Jugendtreffen in Helsinki oder Wien wurden verurteilt, da dort auch die FDJ anwesend war. Schon bei der offenen Einreise in die BRD sind FDGB-Gewerkschafter wie Gerhard Flöter, Willi Valdix, Franz Mühlbauer, Kurt Leopold und Horst Kühnemann aus dem Zug verhaftet und dem Lüneburger Gericht zur Aburteilung als "Zonen-Spione" zugeführt worden.

Auch der Zeitzer Bergmann Arthur Meckert wurde 1959 auf seiner Reise nach Aachen verhaftet und starb im Lüneburger Gefängnis am 29. April mit durchschnittenen Puls- und Schlagadern. Darüber schwieg die West-Presse. Der Darlegung der politischen Hintergründe dieser teilweise absurden Gesetzgebung einer von NS-Juristen vollstreckten Justiz der Adenauer-Regierung widmen die Verfasser viel Aufmerksamkeit: In der westdeutschen BRD wurden das Strafrechtsänderungsgesetz, die "Hallstein-Doktrin" unter Anmaßung der "Rechtsnachfolge des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937" und die Wiederbewaffnung von 1951 bis 1968 juristisch umgesetzt. Freislers Personal sorgte in seinem Geiste wieder dafür, daß Kommunisten, Widerstandskämpfer und Pazifisten weiter als "Verbrecher" stigmatisiert und behandelt wurden. Von Rehabilitierung oder gar Entschädigung der Opfer kann bis heute keine Rede sein. Statt dessen kamen 1968 erst einmal Willy Brandts Berufsverbote.

Heute bedient man sich schon wieder solcher und verschärfter Repressionsmittel: fortgesetzter Abbau vieler Grundrechte, rigide Polizeigesetze mit Schutzhaft für angebliche "Gefährder", brutale Strafrechtsverschärfungen und perfektionierte Totalüberwachung für alle (siehe hierzu auch RF 249, S. 12).

Jobst-Heinrich Müller


Das Landgericht Lüneburg als Spitze der justizförmigen Kommunistenverfolgung der 1950er/1960er-Jahre. Teil II b.
Für 5 € (incl. Porto) zu bestellen unter vvn-bda-lg@web.de oder über Büro der VVN im DGB-Haus, Heiligengeiststraße 28, 21335 Lüneburg

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Eine sozialpsychologische Begriffsklärung
Ressentiment und Vorurteil

Nicht immer liefern Nachschlagewerke bestmögliche Informationen. Dies wurde mir bewußt, als ich auf der Suche nach einer brauchbaren Definition des Wortes Ressentiment in vier verschiedenen Lexika die nahezu gleichlautende Erklärung "Wiedererleben schmerzlicher Gefühle wie Groll, Haß, Mißgunst, Rachsucht" fand, so, als hätten die Autoren allesamt voneinander abgeschrieben. Diese Worterklärung konnte mir nicht genügen, da meine eigene Lebenserfahrung mehr umfaßte als nur diese Negativa. Gewiß, was den obengenannten Gefühlen zugrunde liegt, das sind (oft bis in die frühe Kindheit zurückreichende) leidvolle, traumatisierende Erfahrungen. Aber Menschen machen ja nicht nur leidvolle, sondern auch erfreuliche Erfahrungen, so daß der Begriff Ressentiment mit der oben zitierten Erklärung zu eng gefaßt ist.

Das Wort Ressentiment ist französischen Ursprungs. Sentiment heißt Empfindung, Gefühl, Emotion - und diese sind auf der ganzen Skala des menschlichen Gemütslebens angesiedelt, von der zartesten seelischen Regung bis zum stärksten Affekt.

Freude und Leid, beide sind mir im Leben widerfahren, und aufs Ganze gesehen ist die Zahl meiner guten Erfahrungen weit größer als die meiner schlechten, so daß ich die obengenannten negativen (schmerzlichen) Ressentiments ausdrücklich um die nachstehend genannten positiven (höchst erfreulichen) erweitern und ergänzen möchte: Dankbarkeit, Zuneigung, Sympathie, Freude (zumal Wiedersehensfreude), Wohlbehagen, Glück, Liebe, Bewunderung und Begeisterung - Gefühle, die durch Erinnerungen und Assoziationen jederzeit wiederbelebt und aufs neue, erneut oder einmal mehr (eben das steckt ja in der Vorsilbe "re") erlebbar und erfahrbar gemacht werden können. So ist also der Begriff Ressentiment für mich eher positiv als negativ besetzt und steht in einer ungleich weiteren Dimension, als die spärlichen lexikalischen Angaben vermuten lassen. Höchst verschieden vom Ressentiment ist nun das Vorurteil: Während das Ressentiment in den Bereich der Emotionalität gehört, in aller Regel einfühlbar und nachvollziehbar ist und als individuelle Erfahrung zumindest relative Bedeutung hat, geht es beim Vorurteil, das Allgemeingültigkeit beansprucht, um selektive und daher getrübte oder gar verzerrte Wahrnehmung und deren sprachlichen Ausdruck in positiven (bejahenden) oder negativen (verneinenden) Sätzen. Das Vorurteil gründet (sofern es überhaupt Gründe nennt) auf der Beobachtung von Einzelfällen und besteht aus Aussagen, die vorschnell, d. h. ohne Prüfung des objektiven Sachverhalts verallgemeinert werden und dann als schreckliche Vereinfachungen jede auf Erkenntnis zielende sprachliche Kommunikation stören. Die "Wahrnehmung", die dem vorangeht, ist dabei stets durch Affekte getrübt: entweder durch irrationale Ängste oder (im Falle positiver Vorurteile) durch ein ausgeprägtes Wunschdenken. Das Ergebnis ist im einen wie im anderen Fall Realitätsblindheit, die sich zeigt in Sätzen wie diesen: "Mein Kind lügt nicht!" - "Priester sind moralisch integer." - "Die Juden sind an allem schuld." - "Frankreich gefährdet unser Vaterland." - "Die Türken, die Polen, die Deutschen, die Schwarzen, die Weißen ..." usw. usf. so daß der Satiriker fragt: "Warum nicht auch die Vegetarier, die Diabetiker oder die Philatelisten?"

Wer immer ein Vorurteil zuerst formuliert hat - ist es einmal in der Welt, so wird es von andern kritiklos, ungeprüft und ohne Kenntnis des wahren Sachverhalts übernommen und weiterverbreitet. Es ist dann nichts weiter als ein Gerücht, eine haltlose Behauptung ohne Erkenntniswert.

Dabei muß man wissen, daß nicht jedes abwertende Urteil ein Vorurteil sein muß, obwohl dies von interessierter Seite oft so hingestellt wird. Es gibt abfällige Urteile, die auf Erfahrung beruhen und die objektiv verifiziert sind, so z. B. wenn Ärzte sagen: "Rauchen schadet der Gesundheit und führt in erschreckend vielen Fällen zum Herzinfarkt oder zum Lungenkrebs." Entscheidend für den Wahrheitsgehalt eines Urteils ist weder der formale Unterschied zwischen negativ (verneinend) oder positiv (bejahend) noch der inhaltliche Unterschied zwischen aufwertender und abwertender Beurteilung des jeweiligen Gegenstands, sondern einzig und allein, ob das Urteil sachlich begründet ist und den wahren Sachverhalt trifft.

Was aber Ressentiments ebenso wie Vorurteile so gefährlich macht, ist der Umstand, daß quälende Ressentiments wie Haß, Neid, Groll oder Rachegelüste sowie abwertende Vorurteile von Demagogen geschickt für deren womöglich menschenverachtenden Zwecke ausgenutzt und geschürt werden können, so daß sich die feindseligen Gefühle im Zuge einer ungezügelten systematischen Volksverhetzung dann auf der Suche nach Sündenböcken gegen irgendwelche ethnischen, religiösen oder andersartigen Minderheiten richten können. Man denke an Haßparolen wie: "Ausländer raus!" - "Asylantenpack!" - "Lügenpresse!" und ähnliche im Chor gebrüllte Rufe, wobei es dann oft nicht bei Worten bleibt, sondern zu Straftaten und Verbrechen (Mord und Totschlag, Brandstiftung, Pogromen oder gar Völkermord) kommen kann.

Wer das nicht wünscht, der sorge dafür, daß er seine unerfreulichen, leidvollen Ressentiments auf erlaubte Weise abreagiert (durch Kritik, Zivilklagen bei Gericht, Strafanzeigen oder politische Arbeit). Er überprüfe seine Urteile, frage nach ihrem objektiven Wahrheitsgehalt, checke die Fakten und stelle sich rationaler Kritik, damit jede irrige, vielleicht vorschnell gebildete Meinung fundierter Sachkenntnis weiche.

Theodor Weißenborn

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AUS MEINER SICHT
Vorkriegszeit, Faschisierung, Einheitsfront

Mein Gefühl ist, daß wir nicht nur in einer Vorkriegszeit leben, sondern auch in einer Gesellschaft, die teils schleichend und unmerklich, teils offen und sichtbar in Richtung Faschismus gleitet. Nicht der alte Braunhemd- und Hakenkreuzfaschismus, sondern ein moderner, legaler und mit rechtsstaatlichem Prozedere institutionalisierter Faschismus.

Dagegen müssen alle, welche die menschliche Verrohung des Neoliberalismus, die ganze brutale Verachtung der sozial Benachteiligten des bürgerlichen Staates in der Krise (ausgedrückt z. B. durch das Hartz-IV-Regime) wahrnehmen können, gemeinsam opponieren und wenigstens an dieser Stelle den Vormarsch der kapitalistischen Unmenschlichkeit stoppen. Und wenn's geht, umkehren. Dabei dürfen wir - sofern wir uns als Sozialisten oder Kommunisten empfinden - nicht eine sozialistische Rechtgläubigkeit der Bündnispartner einfordern oder voraussetzen.

Das heißt aber ja nicht, daß man nicht bei jeder Gelegenheit die Klassengegensätze und die Eigentumsfrage thematisiert!

Ich meine es ernst: Ich denke, wir befinden uns in einem antifaschistischen Abwehrkampf und brauchen eine Einheitsfront aller linken, humanistischen, im guten Sinne demokratischen Kräfte gegen das Rollback zur gnadenlos brutalen Version der Kapitalherrschaft.

In meiner Familie gab es vor 1933 dieselben Diskussionen zwischen den sozialdemokratisch und den kommunistisch orientierten Antifaschisten (Großvater und Großonkel). Ergebnis: Der eine landete in Gestapo-Haft und im Strafbataillon 999 (der Sozialdemokrat), der andere tauchte nach Frankreich ab und schloß sich dort der Résistance an. Beide überlebten, zum Glück.

Was ich sagen will: In einer solchen geschichtlichen Situation ist keine Zeit für ideologische Streitereien und Rechthabereien, sondern wir sollten alle Menschen guten Willens sammeln, um Bürger- und Arbeiterrechte zu verteidigen und zumindest die Voraussetzungen für Klassenkampf unter bürgerlich-demokratischen Bedingungen - also im Rahmen der "freiheitlich-demokratischen" Grundordnung - zu erhalten.

Kay Strathus
Düsseldorf

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Ein solches Chemnitz gab es in der DDR nicht

Chemnitz ist eine kreisfreie Stadt im Südwesten des Freistaates Sachsen. Zweimal frei also ist diese Stadt. Und nun fühlen sich dort auch Neonazis, fremdenfeindliche Pegidas und die rechtspopulistische AfD frei und wohl, um Front zu machen gegen Ausländer, Kriegsflüchtlinge aus Asien und Afrika. Tausende faschistoide deutsche Nationalisten dürfen in Chemnitz unter dem Feigenblatt "Demokratie" den Hitlergruß zeigen und Naziparolen grölen, Ausländer jagen und verprügeln, die unschlüssige Polizei mit Flaschen und Steinen bewerfen. Da üben führende AfD-Funktionäre politisch den Schulterschluß mit nazistischen Gruppierungen. Und der sächsische CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer behauptet allen Ernstes (assistiert vom deswegen inzwischen abgelösten Verfassungsschutzpräsidenten und seinem Innenminister), es wäre alles nicht so schlimm: "Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd ..." Entschuldigend meinte er hinterher, er habe damit doch nur zur "Beruhigung" der Lage beitragen wollen ...

Das bisher noch geduldete Karl-Marx-Denkmal im Zentrum der Stadt krümmt sich vor Entsetzen und Empörung, aber auch aus Furcht, es könnte demnächst vom Sockel gestürzt werden wie das Lenin-Denkmal in Berlin nach der Konterrevolution 1990. Es wehrt sich gegen seinen Mißbrauch durch den rechten Mob auf dem Platz vor ihm und in den Straßen der einstigen erstrangigen Industriestadt der DDR. Und es erinnert sich an die Zeit, in der es errichtet und geachtet wurde. Damals gab es keine Neonazis, keine Fremdenfeindlichkeit. Sozialismus war die Alternative für Deutschland. Fremdenhaß und Fremdenfeindlichkeit waren Fremdwörter, erst recht in der sächsischen Stadt Chemnitz, die damals Karl-Marx-Stadt hieß.

Da stand Achmed aus dem Irak neben Paule an der Werkbank des VEB ROBOTRON, um zu lernen, wie man mit modernen elektronischen Maschinen umgehen muß. Im Hörsaal der Technischen Universität saß Elani aus Ghana neben Ilona, um sich Wissen anzueignen, wie man im eigenen Land die Industrie aufbauen kann. Und in einer der gemütlichen Eckkneipen prosteten sich Ibrahim aus Syrien und Peter freundschaftlich zu.

Freundschaft und solidarische Hilfe für die Völker Afrikas und Asiens waren nicht schlechthin politische Losungen, das war vor allem Herzenssache einer großen Mehrheit der DDR-Bevölkerung - die Einwohner von Karl-Marx-Stadt eingeschlossen.

Angesichts der aktuellen Ereignisse in Chemnitz frage ich mich, wodurch sich die Haltung mancher Bürger gegenüber Ausländern, speziell Flüchtlingen aus den Regionen der modernen Kolonialkriege der USA und einiger europäischer Länder in Afrika und Asien, derart gewandelt hat, daß sie die neofaschistischen Ausschreitungen Ende August und Anfang September dieses Jahres ohne aktiven Widerstand duldeten oder gar daran teilgenommen haben.

Die einstige Industrie-Großstadt gehört seit der Konterrevolution und dem Schleifen der volkseigenen Industrie durch die "Treuhand" 1990 zu den bundesdeutschen Städten mit dem größten Sozialabbau. Die Arbeitslosenquote in Chemnitz lag 2017 um fast 2 % über der offiziellen durchschnittlichen Arbeitslosenquote in der BRD von 5,3 %. Etwa 10.000 arbeitsfähige Bürger der Stadt müssen mit Arbeitslosengeld oder Hartz-IV-Bezügen leben. Ein gesellschaftlicher Frust mit sozialen Wurzeln hat sich entwickelt. Fremdenfeindlichkeit ist für viele im Osten zum Ventil geworden, diesen Frust abzulassen und sich polit ischen Strömungen anzuschließen, die geschichtlich rückwärts fließen.

Bedauerlicherweise finden sich in dieser gefährlichen Situation noch zuwenig politische Kräfte, die das Steuer in eine friedliche, solidarische und sozial gerechte Zukunft herumreißen könnten. Die Partei Die Linke wäre theoretisch dafür geeignet, aber sie ist zu unschlüssig, zu uneinig und zerstritten, als daß sie gegenwärtig die Massen für eine gesellschaftliche Veränderung in der BRD mobilisieren könnte.

Leichte Hoffnung, daß sich eine wirksame Gegenkraft gegen rechts entwickelt, erzeugt die von Sarah Wagenknecht initiierte Sammlungsbewegung "Aufstehen!" Allerdings bräuchte sie ein klares Ziel. Der erfreuliche Zustrom von politisch erfahrenen Persönlichkeiten macht zuversichtlich, daß bald Ziel und Strategie der Bewegung sowie ihre Taktik deutlicher erkennbar werden.

Es ist anerkennenswert, daß in Chemnitz die evangelische Kirche zu einer Aktion gegen Fremdenfeindlichkeit und Fremdenhaß aufgerufen hatte und diesem Aufruf mehrere tausend Chemnitzer Bürger gefolgt sind. Andererseits sind linke politische Kräfte in Chemnitz und Sachsen überhaupt zu fragen, warum sie sich nicht an die Spitze der Protestbewegung stellen. Viele warten ungeduldig auf ein linkes politisches Signal: Laßt das fortschrittliche, aufgeklärte, friedliche Chemnitz nicht allein! Laßt Karl Marx auf seinem Sockel in Chemnitz stehen! Mit seinen Ideen sind auch viele aktuellen Probleme lösbar.

Manfred Wild
Berlin

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Chemnitz: Erinnern und nicht vergessen!
Was mich umtreibt

Angesichts des Todes des 35jährigen Deutschkubaners Daniel H. empfinde ich genau wie die meisten Chemnitzer Trauer und Mitgefühl mit den Angehörigen. Gleichzeitig bin ich voller Bitternis und Entsetzen, daß solches Geschehen unsere Stadt erschüttert.

Was wir erleben, zwingt zum Nachdenken und Handeln. Es schließt Unduldsamkeit und eindeutige Ablehnung jeglicher Formen des Rassismus und eines wiedererwachenden Faschismus ein. Ich frage die Verantwortung Tragenden: Wie wird dem offensichtlich der Demokratie und dem Frieden schadenden Denken und Handeln radikal rechter Kräfte Einhalt geboten, auch im Stadtparlament?

Die Mehrheit der Menschen auf unserer Erde hat keinen oder wenig Besitz, lebt in Armut an oder unter der Grenze lebenswürdiger Bedingungen. Sie sind aber nicht arm an Geist und Fähigkeiten. Sie sind arm durch die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in bezug auf die Eigentumsverhältnisse. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung wird angetrieben und bestimmt durch Profitmaximierung und Kämpfe um Einfluß und Machterhalt. Manch einem, der am Monument im Stadtzentrum in der Brückenstraße von Chemnitz vorbeigeht, dort kurze Zeit verweilt, wird bewußt, wie präzise, weitsichtig und visionär Karl Marx diese Prozesse analysierte. Wenn heute wieder der Gedanke laut wird "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!", dann unter veränderten Bedingungen.

Wie lange wird es noch dauern, bis die Besitzlosen und Armen neuer Prägung sich mit ihren Verhältnissen nicht mehr zufriedengeben? In welche Richtung wird dann gedacht und "marschiert"? Nicht "die Migration ist die Mutter aller Probleme", sondern diese Gesellschaftsordnung, die eine zunehmende Zerrissenheit und Gefährdung von Völkern und Staaten spürbar werden läßt, ob durch militärische Aktionen, durch den Umschlag von guten Handelsbeziehungen in sich gegenseitig bekämpfende Partner oder die immer deutlicher werdende Veränderung im natürlichen Lebensraum der Menschheit und des Klimas unserer Erde. Erinnere ich mich einiger Aussagen verantwortlicher Politiker zu den Ereignissen in Chemnitz, so erfaßt mich eine große Unruhe. Anstelle eines klaren Bekenntnisses gegen Rassismus, Faschismus und deutsche Nazi-Vergangenheit ist Zurückhaltung, ja Befangenheit spürbar. Es sind vor allem Verantwortliche von CDU und CSU, denen es offenbar schwerfällt, "Sehstörungen" auf dem rechten Auge anzugehen und zu behandeln. Gerade von den Parteien, die sich christlichen Werten verschrieben haben, erwarte ich mehr Beachtung der berechtigten Sorgen und Nöte der Mehrheit der Bevölkerung.

Diese betreffen das Familieneinkommen, die Wohnungssituation, Alterssicherung, gesundheitliche Betreuung und Ordnung und Sicherheit im Alltag - auf den Punkt gebracht Wesenselemente der sozialen Frage. Werden doch viele Menschen durch diese Sorgen und Nöte verunsichert und verängstigt und geraten so leicht in die Fänge von Provokateuren, Unruhestiftern und Feinden der Demokratie. In Chemnitz wurden und werden die Widersprüche und Verwerfungen deutlich, die auch in anderen Teilen Deutschlands mehr oder weniger offen zutage treten.

Für viele Bürger der DDR ist die Beantwortung der Frage wichtig, wie es wirklich bestellt ist mit der "Einheit" nach dem "Anschluß". Warum sollte nichts Bemerkenswertes, Nachdenkenswertes, Weiterzuführendes aus der DDR übrigbleiben?

Integration kann doch nicht verstanden werden als Unterordnung des einen unter den (stärkeren) anderen nur um dessen Vorteile willen, sondern als ein Sich-vertraut-Machen mit der Geschichte Gesamtdeutschlands und dem Bekenntnis zu all dem, was dem Lande nützt und den Frieden stärkt.

In Chemnitz vollziehen sich in besonderer Dichte auch aus dieser Problematik entstandene und vom Westen hineingetragene Widersprüche. Ist es nicht an der Zeit zu begreifen, daß niemand das Recht hat, die Lebensarbeit und -leistung von Millionen Ostdeutschen infrage zu stellen, ja zu negieren? Die DDR hatte aufgrund der Bedingungen des kalten Krieges und ihres eigenen anderen Weges auch eine Vorstellung von Demokratie, auch wenn diese von manchen nur als Diktatur einer Partei über eine ihr angeblich gedankenlos folgende Masse bewertet wird.

Auch die Entwicklung der Demokratie in der jetzigen Bundesrepublik ist ohne Ordnung und Sicherheit und ihr gemäße Gesetze und Verordnungen nicht möglich. Da entscheidet nicht eine Kultur der Diskussionen, sondern eine bewußte Ordnung und Disziplin der Bürger über den Hausfrieden. Wie sähe es in unseren Städten angesichts des zunehmenden Straßenverkehrs und möglicher abweichender Vorstellungen über "Freiheit" des Verhaltens denn aus ohne die Straßenverkehrsordnung? Hier werden nicht nur Gebote und Verbote genannt, Grenzen und Begrenzungen verdeutlicht, sondern mit mehr oder weniger Konsequenz Verstöße und Verletzungen auch geahndet. Das gilt (zumindest auf dem Papier) für jedermann ohne Rücksicht auf Vermögen und Stellung.

Wenn wir schon von einer Kultur der Diskussion und des anständigen Umgangs miteinander sprechen, so muß gerade hier die klare Abgrenzung von primitiven rassistischen und faschistischen Äußerungen und Entartungen ebenso wie von getarnten, oft nicht auf den ersten Blick als solche erkennbaren neofaschistischen Tönen und Methoden vorgenommen werden.

Die Geschichte von Chemnitz ist reich an Werten menschlicher Arbeit, an Solidarität und Zukunftsdenken. Wir Chemnitzer haben durch unsere Leistung und unsere Arbeit von uns reden gemacht. Laßt uns auf diesem Weg weitergehen!

PS: Seit 1953 lebe und arbeite ich in dieser Stadt. Sie wurde mein Zuhause nach dem Verlust meiner schlesischen Heimat. Sie war und ist mir nahe in guten wie in weniger guten Tagen.

Dr. Wilfried Meißner
Chemnitz

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W. I. Lenin: Kapitalismus und Arbeiterimmigration

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Barlachs Güstrower Dom-Engel-Mahnmal und Denkzeichen

Aus Anlaß des 700jährigen Bestehens des Güstrower Doms beschloß der Kirchenrat 1926, einen großen Findling als Ehrenmal für die Gefallenen des 1. Weltkrieges aufzustellen. Ernst Barlach (1870-1936), um seine Meinung befragt, erklärte, "Nein, ... das geht nicht. Vor dieses gewaltige Bauwerk kann man keinen Naturstein legen." Auf die Frage, ob er bereit sei, etwas zu machen, erwiderte er lakonisch: "Da muß einem mal was einfallen."

Der Pastor der Domgemeinde notierte in seinen "Erinnerungen an Barlach": "Seit langem wartete er auf den Raum, in den hinein er seine schwebende Gestalt schaffen konnte, wie er sie in Graphik und Plastik schon mehrfach gestaltet hatte." Barlach schlug "im niedrigen Gewölbe des Seitenschiffes eine schwebende Figur vor, die ganz in sich geschlossen sei und ein Höchstes an Konzentration darstelle. Sie solle über den Alltag hinausführen in eine andere Welt." Der Vorschlag wurde angenommen, Barlach konnte an die Arbeit gehen.

Bereits im April 1927 schreibt er an seinen Bruder Hans: "Hoffentlich wird der Guß der Figur bald vollendet." Seinem Verleger Piper teilt er mit: "... mein Engel für den hiesigen Dom ist fertig, er wird in vier bis sechs Wochen gegossen sein und das Drum und Dran dann als ein schweres Stück von mir in das Fach der besonderen Erinnerungen gelegt werden können." Voll Freude schreibt er im Juli seinem Vetter Karl: "Mein Bronzeengel hängt unter dem Domgewölbe und tut es so bewegungslos, als täte er es schon hundert Jahre."

Die Resonanz auf Barlachs Werk war von Anfang an extrem widersprüchlich - von großer Zustimmung bis zu haßerfüllten Kommentaren zog sich die Spannbreite. Die schönsten und wertvollsten Urteile stammen von Friedrich Schult, Barlachs Freund und späterem Nachlaßbewahrer, und Ricarda Huch. Schult resümierte: "Hier hängt seit kurzen, als ein Denkmal für die Gefallenen des Doms, ein bronzener Engel von Ernst Barlach. Ein altes, schmiedeeisernes und schon lange verlassenes Füntengitter umschließt, zu neuem Sinn geheiligt, den beherrschten Raum. Der flache, runde Stein in seiner Mitte trägt keine Schrift als das Gedächtnis der vier ewigen heroischen und martervollen Jahre. Die drohende Figur, in strenger und unbewegter Waage schwebend, gekettet an den Schlußstein des Gewölbes, ruht ungeheuer in sich selbst, geschlossenen Auges, kreuzweis und dicht die Hände an die Brust gezogen aus einer höheren Welt beschworene Gestalt und über tausendfachem Opfer, als ein trauerndes und sichtbares Zeichen aufgehangen ..."

Ähnlich empfand Ricarda Huch: "... Ganz im Schatten des Schiffes befindet sich das Denkmal für die Gefallenen des Weltkrieges. Auf einem Stein, den die wundervollen Arabesken eines alten Füntengitters umgeben, stehen die verhängnisvollen Jahreszahlen 1914 bis 1918 eingegraben. Darüber hängt an einer Kette ein geisterhaftes Gebilde: Ist es ein Bote Gottes, der das unentrinnbare Verhängnis verkündet? Sind es die hoffnungslos trauernden Gedanken eines zerschlagenen Volkes? Wie eine schwere Wolke über einem Schlachtfeld voll Sterbender und Toter hängt es über dem unheilvollen Stein."

Käthe Kollwitz sagt von Barlach: "In ihm ist alles eins, das Äußerste und das Innerste, Gebärde der Frömmigkeit und Ungebärde der Wut." Die beiden waren sich in vielem ähnlich. Das war wohl auch der Grund dafür, warum Barlach in den Engel das Gesicht der Käthe Kollwitz hineinbekommen hat, "ohne daß ich es mir vorgenommen hätte", wie er sagt. "Hätte ich so was gewollt, wäre es wahrscheinlich mißglückt. ... Übrigens, ganz nebenbei, ist die Kollwitz ja wohl eine Ehrung wert."

Der Wertschätzung, ja Bewunderung seines Werkes durch die humanistische geistige Elite seiner Zeit steht die wütende Ablehnung durch nationalistische Gruppierungen und Bösartigkeit eines durch die Nazis aufgeputschten Mobs gegenüber.

Barlach hat das schmerzlich und entsetzt, aber keineswegs unvorbereitet erfahren. Bereits Ende Januar 1929 wendet er sich voller Sorge an seinen Bruder: "Ich müßte endlich nach Kiel, um nach dem Rechten zu sehen. Die Aufnahme der Gruppe ist, wie die des Engels im Dom frostig und ablehnend ... alle Rechtsparteien ziehen gegen mich vom Leder. Jede Art Dummheit wird laut und mit Behagen austrompetet. ­... Die Direktiven geschehen vertraulich, niemand will's gewesen sein."

Eine Woche vor dem Machtantritt Hitlers schrieb er an einen Freund: "Wir fühlen uns hier alle wie auf dem Vulkan sitzen. Was bisher nur heranplätschert von draußen, spürbar, aber leidlich auszuhalten, ohne Schrecken zu bringen, kommt jetzt mit aller Gewalt und droht den Bau des Glückes zu unterspülen. Das Radio schleudert Wut, Haß und Rachetöne, schnaubt Mord, und man flüchtet ins Ausland, um nicht immer militärisch angeschnauzt zu werden. Wir hören uns die Gewalthaber an und riechen Lunte."

Sein Gespür hat ihn nicht getäuscht. In der Mecklenburgischen Tageszeitung wird Pfingsten 1935 angekündigt: "Wir hoffen, daß die letzten Spuren seiner schrecklichen Werke bald beseitigt werden, vor allem diese Kriegermale in der übelsten, verzerrten, bolschewistischen Weise!" Der neue Domprediger schlägt scharfe Töne gegen Barlach an: "Da das Bildwerk von dem größten Teil der Volksgenossen nicht verstanden werden kann, weil es in keiner Weise der inneren Haltung des deutschen Frontsoldaten entspricht, auch nicht im entferntesten ein Ausdruck des großen Geschehens im Kriege sein kann, sondern höchstens ein Ausdruck der damaligen individualistischen und pazifistischen Zeit ist und dem Geiste entspricht, in welchem das Buch von Remarque 'Im Westen nichts Neues' geschrieben ist, da sich das Bildwerk weiter auch sowohl seinem Kunstwert wie in der Formgebung wie in der inneren Haltung nicht in das Innere des Doms einfügt, wäre es an der Zeit, es aus dem Dom zu entfernen."

Der Güstrower Bürgermeister legt nach: "... 'ne Beleidigung für jeden Soldaten - ganz unheldisch - überhaupt unverständlich - soll eine gewisse Käthe Kollwitz darstellen, ich kenne die Dame nicht ... Alles was Barlach macht, ist abscheulich! Er sollte überhaupt nicht bildhauern. Und dieses hier soll Göring man lieber zu Granatringen umschmelzen, da dient es dem Vaterland besser."

Wir wissen, wie alles geendet hat und wie Barlach geendet ist. Man hat ihn zum "entarteten Künstler" erklärt, sein Werk und sein Wesen verteufelt. Man hat ihm die Luft zum Atmen geraubt, ihn gejagt, bis sein Herz nicht mehr konnte. Er hat sich nicht mehr auf die Straße getraut und vor den meisten Leuten seiner Stadt gefürchtet.

Barlachs Engel schwebt für uns und - wie man bangen muß - auch noch für künftige Generationen als notwendiges Mahnmal, als Denkzeichen im Güstrower Dom.

Es genügt nicht, sein Werk zu bewundern, wir müssen es als Aufforderung zum Widerstand, als persönliche Herausforderung, als Aufruhr, als Protest begreifen. Das verlangt Zivilcourage, eine eigene Meinung, Mut zum Andersdenken, Anderswollen und Andershandeln.

Wenn wir das aufbringen, sind wir bei Barlach, seinem Dom-Engel und der darin aufgehobenen Idee.

Prof. Dr. Benno Pubanz,
Güstrow

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WANDERUNGEN DURCH WESTDEUTSCHLAND (6)
Eine offiziell zerstörte Kriegssäule

Aufgewachsen in Westdeutschland, bis in die 70er Jahre unterrichtet von Nazi-Lehrern, belegt mit Ausbildungsverbot, entdeckt der Verfasser negative, aber auch positive Seiten an diesem Land. In einer Reihe von Beiträgen berichtet er über Entdeckungen auf seinen Wanderungen durch Westdeutschland.


In unzähligen Orten, auf unzähligen Plätzen Westdeutschlands stehen klotzige "Kriegerdenkmäler" und beschwören die "fürs Vaterland gefallenen Helden" des deutsch-französischen Krieges von 1870/71, des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. Sie werden regelmäßig gepflegt und gereinigt, jedoch nicht etwa durch Erklärungstafeln in geschichtliche Zusammenhänge gestellt.

Immer wieder einmal starten Friedensinitiativen den Versuch, ein solches "Heldenmonument" schleifen zu lassen. Manchmal wird es gar heimlich zerstört oder mit Farbe "verziert". Ganz selten sind die Proteste von Erfolg gekrönt. Auch in etlichen Kirchen Westdeutschlands läuten noch Glocken mit eingegossenem Hakenkreuz.

Der Wanderer ist - entgegen der Einstellung vieler Gesinnungsgenossen - kein Freund von Denkmalstürzen. Auch die Symbole reaktionärer bis faschistischer Zeiten gehören zur deutschen Geschichte. Leider. Man sollte sie nicht entfernen, sondern erklären und als Mahnmale erhalten. Übrigens wäre es auch mit der Dresdener Frauenkirche besser dabei geblieben, wenngleich sie ursprünglich kein "Heldendenkmal" war.

Um so erstaunter war der Wanderer, als er zufällig in der kleinen Stadt Lauffen am Neckar, nördlich von Stuttgart, auf ein anderes, wenn auch originales Kriegerdenkmal stieß. Vor dem dortigen Rathaus, angesiedelt in einer alten Burg, liegen, künstlerisch gestaltet, Bruchteile einer dort 1922 errichteten martialischen "Helden-Gedenksäule" für deutsche Gefallene des Ersten Weltkriegs. Die unzähligen Toten französischer, britischer und anderer Staatsbürgerschaften, die von ihren Herren auf die Schlachtbank geschickt worden waren, ließ man natürlich unerwähnt. Das Volk sollte ja moralisch auf neue Opfer eingeschworen werden.

1949 allerdings, nach Millionen Toten des Hitlerfaschismus, hatten die Bürger die Nase voll von schwülstigen Heldensteinen, und die Lauffener brachen die Säule ab. Der Schwur "Nie wieder Krieg!" war noch zu gegenwärtig, und die Hintermänner und Profiteure des Massenmordes hatten sich verkrochen.

Bald jedoch rochen die alten Herren wieder Morgenluft, wurden bis in höchste Regierungsämter gehoben und rasselten erneut mit Kriegsgerät. Da entschloß man sich 2004 in der kleinen Stadt - die oft dem Schwäbischen zugeordnet wird, aber zum fränkischen Unterland gehört -, die Säule wieder aufzustellen, aber so, daß erkenntlich wird, daß man mit dem Militarismus gebrochen hat. Das Kriegerdenkmal wurde so zu einem seltenen Mahnmal - und das in einer Stadt, in der die CDU die größte Gemeinderatsfraktion stellt.

Lauffen, die Geburtsstadt Friedrich Hölderlins, ist mit ihren schmucken Fachwerkgäßchen ohnehin eine Reise wert, und mit der zerstörten Kriegssäule erst recht.

Hans Dölzer

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Der gewöhnliche Ossi und der gemeine Wessi?

Vor zwanzig Jahren hörte ich zum ersten Mal diese Unterscheidung: "Ossi" - "Wessi" und machte gleich dicht. Ist das eine Abgrenzung oder eine Ausgrenzung? Inzwischen weiß ich, daß das Wort Wessi früher von den Westberlinern für Bundesbürger aus der BRD-Provinz gebraucht wurde. Die Bezeichnung Ossi kam später.

Bei "gemein" und "Artbeschreibung" im Titel denke ich an Pflanzen, beim Wort "gewöhnlich" eher nicht. Gemeiner Huflattich, Tussilago farfara, kommt häufig vor. In meinen Bestimmungsbüchern findet sich kein Gewöhnlicher Huflattich, wohl aber im Internet, es ist der Tussilago farfara. Das wäre also klar, beim Huflattich ist gemein und gewöhnlich das gleiche. Nicht so beim Ossi und Wessi, die sind durchaus nicht das gleiche, wie sich an zahlreichen Witzen erkennen läßt. Die Anzahl der Witze über Ossis ist unvergleichlich größer als die über Wessis. Der Grund dürfte in unserer kolonialen Einvernahme und den damit verbundenen zahllosen Ungerechtigkeiten zu finden sein, gegen die wir uns oft nur mit Mutterwitz zur Wehr setzen konnten bzw. können. Manche ließen sich sogar im Geschichtsunterricht anwenden. "Sagt der Ossi zum Wessi: 'Wir sind ein Volk!', antwortet der Wessi: 'Wir auch!'"

Die Zuordnung "gewöhnlich" für Ossi und "gemein" für Wessi trifft für mein Empfinden ganz gut. Gewöhnlich bedeutet laut Duden erstens: generell, allgemein, im großen und ganzen, mehr oder weniger, durchweg - und erst in zweiter Bedeutung - gemein. Für das Wort gemein aber gibt es nur eine Bedeutung, wenn auch in zahlreichen Varianten: niederträchtig, schurkisch, infam, schäbig, schmutzig, feige, schimpflich ...

Aber das ist wohl doch zu einseitig. War es nicht mein Cousin in Kiel, der mir als erster vom bevorstehenden drohenden Sozialabbau nach dem Untergang der DDR sprach? Und ist nicht die junge Diana aus Hessen in unserem aus vergangenen Tagen stammenden DDR-Chor schon heimisch?

Ich bin mit der Kennzeichnung für mich zufrieden: gewöhnlicher Ossi, lieber noch gewöhnlicher DDR-Bürger. Auf keinen Fall nenne ich mich Ex-DDR Bürger oder ehemaliger DDR-Bürger. Hast du schon mal gehört, Helmuth Kohl sei ein Ex-Bürger der alten BRD gewesen? Siehste!

Bis heute hat sich wenig geändert für den gewöhnlichen Ossi, bittere Witze mehren sich: "Wenn sich ein Ossi mit 'nem Wessi kreuzt, was kommt dabei raus?" "Ein arroganter Arbeitsloser!"

Edda Winkel

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Internationale Solidarität - ganz konkret

Am 15. September trafen sich die Mitstreiter des Arbeitskreises Geschichte der Jugendhochschule "Wilhelm Pieck" zu einem Treffen in Berlin. An ihm nahmen ehemalige Lehrer, Mitarbeiter und Absolventen der Jugendhochschule, Funktionäre des ehemaligen Zentralrates der FDJ, Mitglieder und Leiter von Freundschaftsbrigaden der FDJ und weitere Aktivisten teil. Anlaß war der 70. Jahrestag der Aufnahme der Freien Deutschen Jugend in die Weltorganisation der demokratischen Jugend, dem WBDJ, der 60. Jahrestag des Beginns der internationalen Ausbildung an der Jugendhochschule am Bogensee und der 55. Jahrestag des Einsatzes der ersten Brigaden der Freundschaft der FDJ in den vom Kolonialismus befreiten jungen Nationalstaaten in Afrika, Lateinamerika und Asien.

Das Anliegen der Zusammenkunft bestand darin, die internationale Tätigkeit der sozialistischen Jugendorganisation der DDR zu erkunden, Ergebnisse ihres internationalen Handeln aufzuzeigen, zu würdigen und gewonnene Erfahrungen zu verallgemeinern. Der von Vertretern mehrerer Generationen auf dem Treffen geführte Gedanken- und Meinungsaustausch über die vierzigjährige internationale Arbeit der DDR und ihrer Jugendorganisation war eindrucksvoll.

Die Zusammensetzung des Teilnehmerkreises ermöglichte es, das breite Spektrum der internationalen Arbeit der FDJ und das solidarische Handeln der DDR zu den unterschiedlichsten Zeiten der nationalen und internationalen Entwicklung und den damit verbundenen Herausforderungen aufzuzeigen. Das reichte von einer politisch-moralischen Unterstützung des Kampfes der friedliebenden demokratischen Kräfte in der Welt bis hin zur Hilfe für die vom Kolonialismus befreiten Völker beim Aufbau eigener ökonomischer Grundlagen und gesellschaftlicher Einrichtungen auf dem Gebiet der Bildung und Ausbildung, des Gesundheitswesens, der Kultur u. a. m. zur Sicherstellung einer eigenständigen Entwicklung ihrer Länder.

Das Treffen machte deutlich, für die Mehrheit der jungen Generation der DDR war das Eintreten für Frieden, Völkerverständigung und internationale Solidarität eine Frage ihrer Lebenseinstellung und des tagtäglichen Handelns. Die demokratischen Jugendorganisationen aller Kontinente und die Weltorganisation der Jugend, der WBDJ, hatten in der FDJ einen zuverlässigen Partner in ihrem Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, für die Durchsetzung der Grundrechte der Jugend auf Arbeit, Bildung und Ausbildung, politische Mitbestimmung, Freude und Frohsinn, für eine Zukunft in Frieden und sozialer Geborgenheit an ihrer Seite.

Besondere Aufmerksamkeit widmete das Treffen den Ergebnissen und Erfahrungen der Ausbildung von Mitgliedern und Funktionären mit der FDJ befreundeter demokratischer Jugendorganisationen aus über 80 Ländern an der Jugendhochschule "Wilhelm Pieck" am Bogensee und dem Einsatz von Brigaden der Freundschaft der FDJ in vom Kolonialismus befreiten jungen Nationalstaaten in Afrika, Lateinamerika und Asien. (Siehe "RotFuchs" Nr. 247/248, S. 31) Für die meisten Teilnehmer des Treffens verband sich der geschichtliche Rückblick auf über 40 Jahre erfolgreiche internationale Arbeit der FDJ mit dem Stolz, durch eigene langjährige Tätigkeit als Jugendfunktionär zu diesen Ergebnissen mit beigetragen zu haben.

Auf dem Treffen wurde u. a. die qualitative Differenz zwischen der Politik der DDR und derjenigen der BRD gegenüber den jungen Nationalstaaten herausgearbeitet. Im Unterschied zur jahrelangen Aufbauhilfe der Brigaden der Freundschaft der FDJ ist heute die Bundeswehr mit modernster Kriegstechnik vor Ort. Zum Teil handelt es sich um Länder, in denen unsere FDJ-Brigadisten bis 1989 eine erfolgreiche Aufbauarbeit geleistet haben. Bei ihren Einsätzen klirrten keine Waffen, rollten keine Panzer oder andere Kriegstechnik durch diese Länder.

Die von Werner Laube für das Treffen aufgebaute Ausstellung über die Entwicklungshilfe der DDR und die Tätigkeit der Brigadisten in Mali zeigte, wie wahre Entwicklungshilfe funktioniert. Mali ist nur eines der vielen Länder, in denen Freundschaftsbrigaden tätig waren. Heute, 28 Jahre nach deren Einsatz, befinden sich in Mali Einheiten der Bundeswehr mit dem Auftrag, den Abbau der einheimischen Rohstoffe und den Erhalt des Absatzmarktes im Interesse der Konzerne und Banken der BRD zu sichern.

Das Treffen des Arbeitskreises und seine Ergebnisse regen dazu an, weiterhin Teile der Geschichte der Freien Deutschen Jugend, ihrer höchsten Bildungseinrichtung, der Jugendhochschule, und die der Brigaden der Freundschaft weiter zu erforschen und zu dokumentieren.

Alle Mitstreiter aus FDJ-Zeiten, die uns dabei unterstützen wollen, laden wir herzlich ein: www.ak-geschichte-der-jhs.de oder per Mail: kontakt@ak-geschichte-der-jhs.de

Dr. Dieter Luhn
Berlin

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9. November 1938: Pogromnacht in Halberstadt

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, der "Reichskristallnacht", brannte die Synagoge in Halberstadt nicht. Sie wurde allerdings vom braunen Mob geplündert, die Torarollen wurden auf der Straße verbrannt. Die Tora, die fünf Bücher Moses', bilden im Rabbinischen Judentum die Grundlage der gesetzeskonformen Religionsauslegung. In den Augen der Halberstädter Juden war die Verbrennung ihrer Heiligen Schrift ein von Menschenverachtung, Intoleranz und Gewaltbereitschaft zeugender Frevel des Faschismus, der in Deutschland bereits fast sechs Jahr am Werk war. Die Synagoge wurde 1712 vom sächsischen Hofjuden Berend Lehmann (1661-1730) gestiftet und im barocken Baustil in der Halberstädter Unterstadt errichtet. Sie stand inmitten der durch Fachwerkhäuser geprägten Altstadt und wurde zur Zeit ihrer Entstehung zu den schönsten jüdischen Gotteshäusern Europas gezählt. Ihre Kuppel überragte die umstehenden Gebäude um das Doppelte. Die Jüdische Gemeinde war bis zu Beginn der 30er Jahre ein fester Teil der Geschichte der Stadt und galt im 18. Jahrhundert als eine der bedeutendsten im mitteleuropäischen Raum.

Die Synagoge ging am 9. November 1938 deshalb nicht in Flammen auf, weil sie eng von Fachwerkhäusern umgeben war - diese wären durch eine Brandstiftung ebenfalls ein Raub der Flammen geworden. So faßte die kommunale Bauaufsicht am 18. November 1938 den Entschluß, das jüdische Gotteshaus abreißen zu lassen. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde mußten den Abriß selbst bewerkstelligen und bezahlen. Als am 23. November 1942 die letzten von ihnen nach Warschau und Auschwitz deportiert wurden, war die Jüdische Gemeinde in Halberstadt, der im Jahr 1933 noch 706 Menschen angehört hatten, ausgelöscht.

Der Halberstädter Altstadt blieb das Inferno am Ende dennoch nicht erspart. Sie wurde von B-17-Bombern der 8. US-Luftflotte am 8. April 1945 in Schutt und Asche gelegt.

Seit dem Jahr 2001 erinnert das Berend-Lehmann-Museum in der Judenstraße, benannt nach dem Stifter der Synagoge, an das Schicksal der Jüdischen Gemeinde. Im Mikwehaus präsentiert das Museum in einer historischen Ausstellung ihre Geschichte. Kern der Ausstellung ist die in Teilen erhaltene Mikwe, das rituelle Tauchbad der Juden.

Heute leben wieder 120 jüdische Familien in der Kreisstadt am Harz.

Peter Böhm
Berlin

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Stimmen aus aller Welt über die DDR

Solange der sozialistische deutsche Staat, die DDR, existierte, haben sich immer wieder Persönlichkeiten aus der ganzen Welt bei oder nach Besuchen über die DDR geäußert. Zum 30. Jahrestag am 7. Oktober 1979 hat die Auslandspresseagentur Panorama DDR über hundert solcher Stellungnahmen in einem Buch vereint. Entstanden ist so ein Mosaik persönlicher Erfahrungen und Erkenntnisse, die jeweils ein Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit widerspiegeln. Stellvertretend für die anderen veröffentlichen wir hier einige dieser Äußerungen - Älteren zur Erinnerung, Jüngeren zur Verdeutlichung dessen, was die DDR für die Welt (und für uns) war.


Walter M. Diggelmann (1927-1979)

Schriftsteller, Schweiz

So ganz bedenkenlos ging ich den kurzen Weg vom Hotel "Stadt Berlin" zum "Palast der Republik" an jenem frühen Märzabend 1977 nicht. An zwei Abenden hintereinander sollte ich im "Theater im Palast" (TiP) lesen. Wenn man's richtig anstelle, gingen da rund vierhundert Leute 'rein. Das machte, rechnete ich aus, an zwei Abenden achthundert Zuhörer. Und ich warnte die Veranstalter. Woher so viele Leute nehmen, wenn nicht stehlen? In Zürich zum Beispiel müßten wir schon mit Goethe daherkommen, um den Zuschauerraum des Schauspielhauses einigermaßen voll zu kriegen. Dichterlesungen sind bei uns in der Schweiz nicht so gefragt.

Um acht Uhr bereits war das TiP übervoll. An der Kasse hatte sich ein Rückstau von über hundert Leuten gebildet. Das verwirrte mich, und ich dachte, diese Menschen müßten sich im Datum geirrt haben. Aber ich ließ mir nichts anmerken, ich saß komfortabel auf meinem Stuhl, das rechte Bein über das linke geschlagen. Eine Stunde vorher hatten sich nicht weniger als fünf Helfer für meinen Komfort abgemüht: Mikrofonproben, Beleuchtungsproben, Sitzproben.

Der Beginn der Lesung verzögerte sich um einige Minuten. Man trug zusätzlich Stühle herein. Um mich von mir selbst abzulenken, musterte ich das Publikum. Auf einmal traute ich meinen Augen nicht mehr: Rechts von mir, etwas im Hintergrund, waren vier Reihen von Soldaten besetzt. Darauf konnte ich mir keinen Reim machen. Soldaten und Dichter? Doch noch während ich nach einem Reim suchte, kam leise einer der Helfer zu mir und flüsterte, ich möchte doch kurz vor zehn eine Pause einlegen, denn es seien von Leipzig fünfzig Brigadiers angereist gekommen, und ihr Bus müsse um zehn abfahren können. Brigadiers, Arbeiter also? flüsterte ich ungläubig. Ja, doch, Männer vom Baufach, die befänden sich zur Zeit an einem Fortbildungskurs in Leipzig. Und haben sich heute einen schönen Tag in Berlin gemacht und sich dummerweise in meine Lesung verirrt?

Ich stellte mich nicht bewußt oder gar provozierend dumm. Schließlich war ich nicht zum erstenmal in der DDR. Ich habe hier meine Kollegen und meine Freunde, und in Zürich lese ich natürlich das ND und wöchentlich den "Horizont", wir haben "Sinn und Form" und die "neue deutsche Literatur" und den "Sonntag" abonniert. Wir, und ich meine damit meine Frau und mich, sind gut informiert, wir wissen, wie ernst hier in der DDR die Schriftsteller genommen werden. Wir wissen auch, daß sie gehegt, aber auch gefordert werden. Wir wissen, daß die Schriftsteller der DDR dazugehören, zur Gesellschaft, zum Staat, wir wissen, daß die Dichter hier keine Exoten und keine nur so nebenbei geduldeten Randfiguren sind wie bei uns, wo einer erst zu Ehren kommt, wenn ihm ein Bestseller gelungen ist, der dem Verleger, dem Druckereigewerbe und dem Sortiment Profit bringt.

Das wissen wir, das weiß ich. Aber es ist ein fundamentaler Unterschied zwischen solchem Wissen und dem realen Erleben. Ich habe nicht alles und doch sehr vieles erlebt an diesen beiden Leseabenden. Mir wurde, noch während ich las, bewußt, daß alle diese Menschen wirklich meinetwegen gekommen waren. Ich wußte auf einmal, daß sie alle, die mir mit fast angehaltenem Atem zuhörten, mich brauchten. Und ich konnte ihnen nicht sagen, wie sehr ich sie brauche.


Dr. Charles White (1918-1979)

Maler und Grafiker, USA

Meine erste Begegnung mit der DDR fand 1951 statt. Damals lag ein gewisser Zug von Müdigkeit auf vielen Gesichtern. Ostberlin war ein riesiger Trümmerhaufen. Heute sieht man nur noch sehr wenige Zeugnisse davon. Natürlich gibt es noch immer ein Wohnungsproblem. Aber in der Einstellung der Menschen fühlt man, daß sie achtgeben auf das, was ihr Eigentum ist, und sie tun das voller Stolz und Würde. Ich hatte jetzt Gelegenheit, Weimar, Karl-Marx-Stadt, Halle und Dresden zu besuchen, alles große Städte. Und meine Beobachtungen wurden in allen Städten aufs neue bestätigt. Was mich als Künstler besonders beeindruckt hat, waren die Gesichter der Menschen und vor allem die der Jugend. Sie widerspiegeln den Geist der DDR - den Reichtum des Landes. Ich sah Gesichter, die sehr schön waren, insofern, als sie ein Gefühl der Freiheit ausdrückten. Mir scheint, diese Menschen sollten hier einen Künstler anregen. Wäre ich ein Künstler der DDR, dann würde ich danach streben, mit meinem Werk dazu beizutragen, daß sie so gesund, so schön, so frei aussehen.

Als korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste der DDR hatte ich Gelegenheit, während einer Tagung der Akademie die Kunstausstellung der DDR zu sehen. Es gab dort viele Bilder, darunter einen Teil schlechter Bilder, aber das ist ganz natürlich, wenn man so viele Werke zeigt. Aber der größere Teil war ausgezeichnet; sie scheinen die Menschen in der DDR richtig darzustellen, das Leben ehrlich widerzuspiegeln.

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Peter Hacks - ein Klassiker des 20. Jahrhunderts

Seit des Dichters Tod vor 15 Jahren am 28. August 2003 ist nicht wenig an neuer Hacks-Literatur erschienen. Nun liegt - herausgegeben vom Eulenspiegel-Verlag - eine Auswahl politischer Schriften vor, in denen Hacks in scharfer und parteilicher Polemik mit Freund und Feind die Dinge auf den Punkt bringt und die sich überaus spannend lesen. Zumindest für jene, welche die Geschichte des 20. Jahrhunderts zum größten Teil selbst miterlebt haben. Aber auch für Nachgeborene.

Es handelt sich um Arbeiten aus den Jahren 1955 bis 2003, die von Heinz Hamm im Auftrag der Peter-Hacks-Gesellschaft zusammengestellt worden sind.

Man entdeckt: Hacks war nicht nur ein begnadeter Literat, er war auch ein ausgezeichneter Kenner der wissenschaftlichen Theorie von Marx, Engels und Lenin. Was Imperialismus bedeutet, hat er am eigenen Leib erlebt. Bis zum Schluß lag ihm daran, den menschenverachtenden Kapitalismus zu geißeln, was er mit bestechender Scharfsicht tat, den Sozialismus in seiner Größe zu verteidigen, dessen Grenzen, Schwächen und Fehler beim Namen zu nennen und immer wieder klarzustellen, woran die DDR letztendlich zu messen ist: an der Tatsache, daß es gelang, dem Kapital das Privateigentum an Produktionsmitteln und die politische Macht für 40 Jahre zu entreißen.

Schon 1955, gerade 27 Jahre alt, wendet er sich ab von der Adenauer-Politik, der gegen heftigen Widerstand durchgesetzten Remilitarisierung und den Umtrieben neofaschistischer Kräfte, die offen verkündeten, den Osten "befreien" zu wollen. Als Dramatiker weiß er, was gespielt wird auf Europas Bühne. Er verläßt München und zieht in die DDR-Hauptstadt Berlin. Dort erobert sich Hacks schnell ein begeistertes Publikum, u. a. mit den Stücken "Columbus oder die Eröffnung des indischen Zeitalters", "Die Schlacht bei Lobositz" und "Der Müller von Sanssouci". Schon 1956 erhält er den Lessing-Preis der DDR und wird ein würdiger, herausragender Dramatiker und Lyriker in der Nachfolge von Bertolt Brecht und Friedrich Wolf. Sein Witz und seine sprachliche Brillanz finden großen Anklang.

Doch es gab auch harsche Auseinandersetzungen mit Verantwortung tragenden Führungskräften der SED, die bis ins Politbüro der SED reichten. Anlaß war sein unbestechlicher Standpunkt, den er zu Fragen von Politik, Literatur und Kultur einnahm. Doch der Dichter hat nie aus den Augen gelassen, was man - mit Blick auf die Geschichte der Menschheit und ihre Zukunft - die große Grundfrage der Gegenwart nannte. Höchst aufschlußreich in diesem Zusammenhang sind die ca. 200 Seiten "Texte von Hacks aus dem Nachlaß", die er für eine geplante Dokumentation über die Vorgeschichte der Konterrevolution 1989/90 gesammelt hatte.

In dem Buch findet sich vieles bisher Unbekannte aus seinem Nachlaß, das ein klares und differenziertes Bild von der Suche nach der ihm eigenen Ästhetik gibt. Ermöglicht werden Einblicke in interne und halböffentliche Debatten um den weiteren Weg der DDR in den Jahren nach der Konferenz von Helsinki 1975. Die Krisenjahre der 70er und 80er Jahre charakterisiert Hacks unnachgiebig als von verhängnisvollen Illusionen geprägt.

Hacks läßt sich nicht blenden. In einem Brief schreibt er 1989: "Was mir zu Deutschland einfällt? Ich wundre mich und sage: Goethe und die DDR ..." Und: "Der gesellschaftliche Raum meiner ästhetischen Entwürfe ist die DDR. Als Schriftsteller danke ich der DDR mein Dasein."

Werner Voigt

Peter Hacks: Marxistische Hinsichten.
Politische Schriften 1955-2003.
Eulenspiegel-Verlag, Berlin 2018, 608 S., 19,99 €.
ISBN 978-3-359-01329-7

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Aus Peter Hacks: Marxistische Hinsichten

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Man muß den Spuren der Lieder folgen
da kommt man zu den Leuten
die verstecken ihr Leben nicht
unter satten Häuten
genügt nicht: lernen und auszuruhn
und dann langsam abzukühln
Sinn und Sinnlichkeit und Tun
dorthin wollen die Lieder
in ihren sonderbaren Schuhn
ob aus Bast, aus Samt oder Seide
oder Holzpantinen

Die Lieder der Alten
mit ihren Zornesfalten
haben wie die Jungen
von Liebe und Leid gesungen
wie wir's nicht anders tun
den Liedern dienen
und hellhörig bleiben
neben den Schienen

Dies ist die vorläufig letzte Fassung eines Textes, mit dem ich seit Jahren eine rechte Plage habe. Es nützte nichts, Wörter auszutauschen, er wurde nicht glaubhafter. Also packte ich ihn in eine Mappe und schlug ihn mir aus dem Kopf. Aber das Blatt flatterte mir nachts ins Hirn.

Als Autor gesteht man sich lange zu, der gute Wille sei doch auch schon was, und das Ergebnis so schlecht nicht.

Wenn genügend Erfahrung vorliegt, reicht das nicht.

Es beginnt schon mit der ersten Zeile. Wer ist "man"? Wer muß irgendwem irgendwohin folgen? Ich habe gelernt, daß man die meisten nach Pflicht aussehenden Unternehmungen grad so gut unterlassen kann, und da kommt gar nichts nach.

Wieso verlange ich als Autorin "Man muß den Spuren der Lieder folgen"? Ich denke, es gibt mindestens eine Milliarde Menschen, die singen die Lieder ihres Stammes, Volkes, Landes, die singen im Karneval oder beim Saufen von Sangria, ohne darüber nachzudenken, wo das Lied hergekommen ist, und erst recht nicht, wo es hinwill.

Nun geht es in meinem armen Text weiter mit der Behauptung, auf den Spuren der Lieder kommt "man" zu den Leuten, die ihr Leben nicht unter den satten Häuten verstecken. Weil sie singen? Wie überhaupt kann jemand sein Leben tarnen, unter satter Haut oder verlogener Miene, falschen Worten oder Getue, wenn ein einziger scharfer Blick doch beweist, daß da kein Selbstbewußtsein, keine glaubhafte Bildung, Haltung, Meinung ist? Es gibt zwar berühmte Falsch- oder Nichtsinger, die einen durch brauchbare Vorschläge ein Stück weiterbringen. "Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad", das ist eine Info, die eigentlich kein Mensch braucht. Aber ein Beweis dafür, daß dies auf die meisten Texte zutrifft, ist es nicht.

Fast jeder Erwachsene weiß, daß es nicht genügt, nur zu wissen oder nur zu fühlen. Aber wenig ist das nicht. Wissen besitzen kann man nur durch Erwerben, sagt Goethe. Und mit Fühlen sind ja wohl Gefühle gemeint, da wird jemand angesprochen, der Verstand und Gefühle hat.

Ich rufe also als Autorin einem "Viel" zu, es sei zu wenig, und zottele etwas heran, was bis dahin niemand angezweifelt hat: Sinn, Sinnlichkeit und Tun. "Dorthin wollen die Lieder ..."

Es ist ja nicht zu bezweifeln, daß Lieder Empfindungen wecken, die sogar Handlungen auslösen. Meine Schwester Sonja hat es mit dem unermüdlichen Abdudeln des Schlagers "Tränen lügen nicht" sogar geschafft, daß ihr Sohn nach langem Zaudern sein altes Elend wieder aufnahm, indem er zu seiner Ehefrau zurückkehrte. Dank eines Schlagers konnten sie wieder so unglücklich werden, wie sie es vorher waren.

Nachdem ich also eine überflüssige Forderung "an alle" rausgerückt habe und aus ihr Verallgemeinerungen ableite, will ich in die Politik. Woran ist das zu erkennen? An den "sonderbaren Schuhn", die hier nicht als Rennsemmeln oder Schmuckstücke für den Fuß gemeint sind, sondern als Beweis für Klassenzugehörigkeit. Dabei - was man möglichst nie tun sollte - setze ich voraus, daß es im Hirn des Zuhörers oder Lesers sofort klick macht, wenn Schuhe aus Bast erwähnt werden. Es hätte auch Stroh sein können, solches Fehlen des Nötigsten spielte beim Sturm auf das Winterpalais eine Rolle. Auch wieder nur Behauptung, denn ich war nicht dabei.

"Samt und Seide" doppelt sich - und was ich mit den Holzpantinen gemeint habe, weiß ich nicht. Wir liefen als Kinder neun Monate des Jahres auf dem Land in Holzpantinen herum, aber das hatte nur traditionelle, keine zur Revolution anstiftende Bedeutung. Vermutlich fiel mir beim Schreiben in der Eile keine andere Fußbekleidung mehr ein, also Holzpantinen.

Die Entdeckung der Lebensfremdheit in Liedern soll uns nicht hindern, auf Gegenbeispiele zu achten. "Nur die Liebe läßt uns leben" stimmt zwar auch nicht, aber die Sänger singen diese Behauptung glaubwürdig.

In die Aufzählung der Fußbekleidungen hätten Stiefel gehört. Sie haben mir wohl nicht ins Metrum gepaßt. Wie aber kann ich es wagen, über die politische Wirkung von Texten zu schreiben, ohne die Stiefel zu erwähnen, die doch am ehesten zum Thema gehören? Mein Übergang von den Holzpantinen zu den Zornesfalten der Alten verkündet: "daß jede Generation von Liebe und Leid gesungen hat" - "wie wir's nicht anders tun".

Setzen, bitte! Denn wer ist "wir"? Ich und du? Du und die Menschheit? Mein ernüchterter Blick fällt auf den lyrischen Höhepunkt "... den Liedern dienen ..." Sich also in den Dienst der Lieder stell'n? Indem man sie schreibt oder indem man sie singt? Die Lieder dienen doch uns. Die alten Küchenlieder waren Trost für die Seele der Küchenmädchen, die sehnsüchtig waren, aber auch berechtigte Angst um ihre Zukunft hatten.

Und die Lieder aus den Bauernkriegen und Walter von der Vogelweides Tandaradei, und einige Songs aus unserem gewesenen Land wird es auch nach uns noch geben. Manchmal reißen sie uns heute sogar heraus aus der alltäglichen Besorgtheit, dienen sie uns.

Daß die Lust am Lied mißbrauchbar ist, das wußten wir, es hing uns als bekannt genug zum Hals heraus. Aber nun gibt es auch neue Nazilieder. Schlimm, aber ich mußte einem Zuhörer recht geben, als er schüchtern äußerte: "Mal vom Inhalt abgesehen, klingt's fast wie früher ..." Nun ja, Gitarre, Baß und Schlagzeug erzeugen einen bestimmten Klang. Da müssen wir wirklich "hellhörig bleiben / neben den Schienen". Nicht, daß ich mich in die Schlußfolgerung verliebe, aber mir ist so recht nichts dagegen eingefallen. In der Nazizeit gab es "Kampflieder der HJ". Eines hieß "Nun laßt die Fahne fliegen!" Da wurde gesungen: "Deutschland, sieh uns, wir weihen / dir den Tod / als kleinste Tat / grüßt er einst unsere Reihen / werden wir die große Saat." Er hat nicht gegrüßt, der Tod, etwa mit Blümchen am Straßenrand. Er hat gemäht. Fünfzig Millionen Menschen. Eine unfaßbare Zahl. Jede einzelne meint einen einzelnen Tod.

Wir können unser Gehirn nicht zwingen, etwas von dem zu vergessen, was wir wissen. Daß wir Mitsinger damals Kinder waren, ist für die Gegenwart so wahr wie unwichtig. Was tun? Fang bei dir selber an, das ist immer richtig. Schreib einen besseren Text, und tu den untauglichen weg.

Von aller Heimat
ist dir eine zubemessen
der Teil der Kinderzeit
auf immer unvergessen
das war nur dort und auf der Welt
sonst nirgendwo

Ob schwach, ob starker Streiter
ob glücklich, ob allein
das trägst du in dir weiter
es wird bis hin zum letzten Atem
dein Stück Heimat sein

Die erste Liebe
ihr Erwarten, ihre Klagen
zu früh, und doch und doch
es war ja zu ertragen
hier war sie dein und auf der Welt
sonst nirgendwo

Von aller Heimat
kannst du dies nie von dir trennen
wo zum Gedenken dir
zur Schneezeit Lichter brennen
das war nur dort und auf der Welt
sonst nirgendwo

Ob klein, ob als der Größte
ob glücklich, ob allein
der Teil, der sich nie löste
der wird bis hin zum letzten Atem
dein Stück Heimat sein

(1987)

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LESERBRIEFE

Jahr für Jahr erheben wir an der Weltfriedensglocke im Berliner Volkspark Friedrichshain mit vielen friedensengagierten Bürgern die Stimme für Frieden, für Abrüstung und für das Verbot und die Abschaffung aller Atomwaffen.
So auch am 6. August dieses Jahres mit einer Veranstaltung, auf der wir der Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki vom 6. und 9. August 1945 gedachten, uns bewußtmachten, daß jeder Gewaltkonflikt in der atomaren Katastrophe enden kann, und uns erinnerten, daß kein Krieg je den erhofften Frieden, sondern nur Tod und unermeßliches Leid brachte.
Chiyoji Nakagawa, der Schöpfer der Glocke, gründete 1982 die World Peace Bell Association, die mehr als zwanzig von ihnen in Japan und in anderen Ländern als Gedenkstätten einrichtete. In Berlin wurde sie am 1. September 1989, dem 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges, im Volkspark eingeweiht.
Im Juni 2012 hat man das historische und mit japanischen Motiven reich verzierte Kupferdach geraubt. Auf vielen Veranstaltungen und bei unseren Bündnispartnern werben wir seitdem um Spenden, um eine Instandsetzung, Restaurierung und Sanierung des Japanischen Pavillons, der baulichen Hülle für unsere Weltfriedensglocke, durchführen zu können. 2019 werden wir den 30. Jahrestag seiner Einweihung begehen.
Als Friedensglockengesellschaft fühlen wir uns verpflichtet und herausgefordert, dieses Geschenk der Organisation der Vereinten Nationen wieder in altem Glanz erstrahlen zu lassen. Dazu benötigen wir die finanzielle Solidarität vieler, um die Kosten von ca. 25.000 Euro für die Restauration aufbringen zu können. Wir bitten die "RotFuchs"-Leser nach dem Maß ihrer Möglichkeiten sehr herzlich um Unterstützung und bedanken uns bereits jetzt dafür.

Anja Mewes, Berlin

Spendenkonto:
Friedensglockengesellschaft
DE97 1001 0010 0026 4571 08
Kennwort: Kupferdach


Seit Wochen erleben wir einmal mehr ein politisches Betroffenheitsszenario. Allen Ernstes behauptet der sächsische Ministerpräsident, das habe es alles nicht gegeben: Kein rechter Mob auf den Straßen, keine Hetzjagd auf Ausländer, keine Aufforderungen zu Gewalt gegen Fremde ... Von Seehofer bis Maaßen kolportieren sie: Schuld sind die Migranten, mindestens 99 Prozent der Flüchtlinge wären kriminell, gewalttätig, Messerstecher, Vergewaltiger und Sozialschmarotzer. Während dieser Stimmungsmache und Diffamierung freier Lauf gelassen wird, während die Medien, allen voran "Bild", jeden Tag mindestens eine Schlagzeile zu bieten haben, die den braunen Sumpf aufheulen läßt, die immer mehr "besorgte Bürger" auf den Plan rufen, laufen zeitgleich Betroffenheitssendungen, Politrunden und Heuchlerszenarien der scheinbar ahnungslosen, ratlosen und "besorgten" erschreckten Politiker. In trauter Einigkeit sitzen sie beisammen und heucheln Sorge um die "Demokratie im Lande". Wer die wahren Schuldigen an dieser Entwicklung sind, fragen sie nicht. Dabei liegt es auf der Hand: In der rassistisch ausgerichteten Politik, der antisozialen und Kriegspolitik liegen die faulen Wurzeln. Wen kann es noch wundern, wenn Bürger mehr und mehr nur noch einen Parteiensumpf wahrnehmen, sich abwenden und eine "Alternative" gern annehmen? Welche der Parteien erweckt den Eindruck, aufhalten zu können, was längst im Lande die AfD und noch rechtere Gruppen an die Macht spült? Es ist der reinste Hohn, wenn Politiker zu Bürgerengagement gegen rechts aufrufen, wenn jedes wirkliche Engagement dagegen sogleich das Gewaltmonopol des "Rechtsstaates" erfährt. Wirklich besorgt müssen wir sein, wenn auch in führenden Etagen der politischen Linken das heuchlerische Lied von der Sorge um die Demokratie gesungen wird, einer Demokratie, der sich die Herrschenden gerade zu entledigen suchen, womit sie nicht mehr zu regieren vermögen ... Gehört das nicht mehr zu Wissen und Erfahrung der Linken?

Roland Winkler, Aue


In den "sozialen Netzwerken" tobt ein Krieg gegen alle, die nicht ausländerfeindlich sind. Blut- und Boden-Rhetorik steht auf der Tagesordnung. Jene, welche einen "Rechtsstaat" fordern, meinen ihre Gesetze: "Ausländer raus!", "Deutschland zuerst". Beleidigungen gegenüber Migranten werden von Administratoren geduldet, mit dem Argument, die Meinungsfreiheit nicht einschränken zu wollen. Wo bleibt sie denn, die "wehrhafte Demokratie"? In entscheidenden Momenten der Geschichte war die bürgerliche Demokratie nie wehrhaft. Die AfD ist gerade dabei, mit "demokratischen Mitteln" diese Demokratie abzuschaffen.
Die Verletzungen demokratischer Grundsätze und humanitärer und sozialer Rechte durch die Regierenden in Deutschland und Europa werden offensiv und aggressiv von rechten Parteien und Gruppierungen für ihre menschenverachtenden politischen Aktivitäten mittels Rassismus und Ausländerfeindlichkeit genutzt. Die AfD ist zur Heimat für Staatsanwälte, Richter und Polizisten geworden.
Eine solche Entwicklung sollte eigentlich das Grundgesetz verhindern. Warnende Hinweise gab es genügend: 1953 formulierte Max Reimann, Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der KPD, zur Ablehnung des Grundgesetzes durch die KPD: "Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben!"
Seine wohl bekannteste Rede hielt Richard von Weizsäcker zur Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages anläßlich des 40. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges: "Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ... Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren."
Vor fünfzig Jahren, am 2. Juli 1965, wurde in Ostberlin das "Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin (Staat, Wirtschaft, Verwaltung, Armee, Justiz, Wissenschaft)" vorgestellt. In seiner ersten Auflage listete es die SS-Dienstränge und NS-Parteiämter von 1800 Wirtschaftsführern, Politikern und führenden Beamten der Bundesrepublik Deutschland auf, in der dritten Auflage von 1968 sogar von über 2300 Personen - darunter von 15 Ministern und Staatssekretären, 100 Generälen und Admirälen der Bundeswehr, 828 Richtern, Staatsanwälten und hohen Justizbeamten, 245 leitenden Beamten des Auswärtigen Amtes und 297 hohen Polizeiangehörigen und Mitarbeitern der Verfassungsschutzbehörden. Die Angaben wurden detailliert mit Aussagen und Zitaten aus Gerichts-, Militär- und Gestapoarchiven und teilweise mit Faksimiles belastender Dokumente belegt. "Das ganze System ist braun", erklärte Herausgeber Albert Norden auf der internationalen Pressekonferenz anläßlich der Buchvorstellung.
Erst im vorigen Jahr formulierte die Kommunistische Plattform Chemnitz unter der Überschrift: "Ehrlich und kritisch Ursachen für Rechtsentwicklung in Deutschland benennen": "Der rechte Virus, oft zu hören und zu lesen, grassiert wohl besonders im Osten Deutschlands, dessen Herkunft aber zu hinterfragen ist. Bei genauerer Analyse fiel uns spontan der Slogan 'Die Rechten kommen aus dem Westen' ein. Dies ist sicher eine sehr verkürzte Sichtweise, aber es ist auffallend, daß die Führungsriege der AfD mit westdeutschen Biographien, also einer von westlichen Werten geprägten Zeit ihrer Bildung und Sozialisierung, aufwartet. Sie sind Kinder einer Zeit, wo Nazis (Globke, Kiesinger, Speidel ...) in der Bundesrepublik führende Positionen in Politik, Justiz, Polizei, Geheimdiensten, Bundeswehr, Bildung usw. innehatten und somit für eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung verantwortlich zeichneten. ...
In den Betrachtungen bleibt völlig ausgeblendet, daß nach 1990 ein Heer von westdeutschen Beamten in ostdeutsche Führungspositionen drängte. Sie haben dort ihre Wertevorstellungen eingebracht und mit zum Teil drakonischen Maßnahmen ... Entlassungen durchgesetzt und dafür gesorgt, daß personalpolitisch ein Kahlschlag in Bereichen wie Wissenschaft, Bildung, Kultur, Medien, Justiz, Polizei ... erfolgte ­..."

Jonny Michel und Raimon Brete, Chemnitz


Der "braune Terror" in Chemnitz, wie es die "junge Welt" in einem Beitrag am 28. August hervorhob, demonstrierte die organisierte Schlagkraft rechter Gewalt in Deutschland. Wenn Regierungssprecher Steffen Seibert im Fernsehen nur erklären kann, Rassenhaß und Attacken gegen Menschen mit anderer Hautfarbe "gehen gar nicht", muß die Frage gestellt werden, warum erst jetzt und nicht schon viel früher?! Und warum so halbherzig? Sieht man nicht, daß Aufmärsche und der wachsende Einfluß rechter, faschistoider und faschistischer Kräfte eine echte Gefahr für die BRD geworden sind?

Hans-Georg Vogl, Zwickau


Die Geister, die ich rief, werd ich nicht mehr los. Kann es sein, daß die Flüchtlinge die Bevölkerung von der aktuellen Politik ablenken sollen, wo die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinandergeht, die Lage geprägt wird von unsicheren Arbeitsplätzen, niedrigen Löhnen, sinkenden Renten und Kürzungen bei sozialen Leistungen?
Fast jeder Vierte arbeitet im Niedriglohnsektor für weniger als zehn Euro die Stunde. Dabei ist die deutsche Wirtschaft Jahr für Jahr leistungsfähiger. Das zeigt das erwirtschaftete Bruttoinlandsprodukt (BIP), welches von 1991 mit 1579,8 Mrd. Euro im Jahr 2016 auf 3133,9 Mrd. Euro anstieg. "Im Jahr 2015 waren die realen Bruttolöhne der unteren 40 Prozent der Beschäftigten zum Teil deutlich niedriger als 1995. Ihr Arbeitsentgelt besitzt heute weniger Kaufkraft als vor 20 Jahren" ("Süddeutsche Zeitung": Deutschland hat ein Lohnproblem).
Aber für die Rettung der Banken von einem Tag auf den anderen standen mehrere hundert Milliarden sofort zur Verfügung. Eine dringende und umfassende Steuerreform, welche seit Jahren überfällig ist, um ausreichende Staatseinnahmen sicherzustellen, wurde immer wieder verzögert. Und welche Vorschläge hatte dafür Herr Mike Mohring (CDU)? Er will einen härteren Kurs in der Flüchtlingspolitik führen, aber die soziale Frage entscheidet die nächste Wahlen und nicht der Haß gegen Flüchtlinge.
Die größte Flüchtlingskrise seit dem 2. Weltkrieg ist vom syrischen Bürgerkrieg ausgelöst worden. Bis 2017 wurden über dreizehn Millionen Menschen vertrieben, von denen 5,6 Millionen ins Ausland gingen. In Libanon mit mehr als 6 Millionen Einwohnern (2016) leben ca. 1.750.000 syrische Flüchtlinge. Und was ist los in Deutschland mit 82,67 Millionen Einwohnern (2016)? Ein Jahr vor dem Krieg des Westens gegen den Terrorismus stellten 78.564 Menschen, 2016 bereits 722.370 Flüchtlinge einen Asylantrag in Deutschland.
Darüber wird nicht polemisiert, aber über die Kosten der Flüchtlinge äußern die "besorgten Bürger" immer lauter ihren Unmut. Da heißt es: "Flüchtlinge wollen sich nicht integrieren, sie leben auf unsere Kosten." Doch wer als Asylbewerber nach Deutschland kommt, darf erst einmal drei Monate nicht arbeiten und hat es auch danach sehr schwer, einen Job zu bekommen. Gäbe es für sie Arbeit und eine Perspektive, wäre die Grundlage dafür entzogen, sie als Sozialschmarotzer zu bezeichnen.
Sagen wir mit Goethe: "Es ist nicht genug zu wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muß auch tun."

Stanislav Sedlacik, Weimar


Der zweite Sonntag im September ist seit 1993 bundesweit der "Tag des offenen Denkmals", der Interessierte einlädt, sich über wichtige Bauten zu informieren. Journalisten und Redakteure von Presse, Rundfunk und Fernsehen erscheinen zahlreich, um ausführlich und umfangreich zu berichten.
Der Tag der Opfer des Faschismus (OdF) findet zeitgleich, am 9. September, statt. In der Presse gab es dazu nicht eine Notiz. Wäre das nicht gerade in der jetzigen Situation, wie das Geschehen in Chemnitz und Köthen deutlich macht, unbedingt nötig gewesen? Dresdner Bürger versammelten sich am 9. September zu einer Gedenkstunde an der FIR-Stele. Silvio Lang, stellvertretender Vorsitzender der Partei Die Linke in Sachsen, würdigte ausdrucksstark den Kampf der Antifaschisten und sprach zu den Vorgängen in Chemnitz und in anderen Städten. Aktiv gegen diese Entwicklung auftreten, das ist das Gebot der Stunde.

Dietrich Holz, Dresden


Die heutigen bürgerlichen Parteien sind nicht imstande, ihre Geschichte aufzuarbeiten und Lehren zu ziehen. Man verteufelt lieber die Linken und stellt den Sozialismus mit dem Faschismus gleich. Das ist die Propagandalüge, mit der die "Demokraten" arbeiten und damit den Nazismus gesellschaftsfähig machen. Wie damals schon, als begonnen wurde, die Sowjetunion mit Hitlerdeutschland zu vergleichen. Thomas Mann wies diese "Demokraten" hart zurecht, indem er schrieb: Das Dritte Reich habe sich durch den "Rassen-Größenwahn" der sogenannten Herrenrasse ausgezeichnet, die eine "teuflische Entvölkerungspolitik" und vorher noch die Ausrottung der Kultur in den jeweils eroberten Gebieten praktizierte. Hitler habe sich auf diese Weise an das Motto Nietzsches gehalten: "Will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man Herren erzieht." Genau entgegengesetzt sei die Orientierung des russischen Sozialismus gewesen, der Bildung und Kultur verbreitete und damit gezeigt habe, keine Sklaven zu wollen, sondern denkende Menschen, und der, trotz allem, den Weg zur Freiheit eingeschlagen habe. Unannehmbar sei daher die Gleichstellung der beiden Regime.
Eine Erde ohne Faschismus kann es nur geben, wenn sich die linken Kräfte in Deutschland und in der Welt endlich damit beschäftigen, die Geschichte des realen Sozialismus, wie er in der DDR, den osteuropäischen Ländern und in der Sowjetunion praktiziert wurde, richtig zu bewerten. Diese Alternative zum jetzigen System muß wieder in die Köpfe der Menschen. Dafür ist nicht zuletzt auch Die Linke im Bundestag mitverantwortlich.

Hannes Färber, Grafenwöhr
(Stadtrat der Partei Die Linke)


Immer wieder ist von führenden Kräften der Linkspartei zu hören, man könne dies oder jenes nicht so machen, "weil uns dann die Leute weglaufen ..." Da frage ich mich, ob es noch eine Steigerungsform des "Weglaufens" gibt? Verursacht die anhaltende Fluktuation in der Linkspartei und deren Wählerschaft nicht schon genug Schaden bezüglich ihrer Glaubwürdigkeit? Dem Hinweis, es müsse sich ein klassenbewußter Kern in der Partei Die Linke bilden, stimme ich voll zu. Leider gibt es zu wenige, die den Marxismus-Leninismus verteidigen und als Handlungsmaxime verstehen. Mit dem Untergang des Sozialismus sei auch seine Gesellschaftstheorie gescheitert, behauptet man in den Führungsetagen der Partei.
Gewiß, auch ein Mathematiker macht mitunter Fehler, unterliegt manchem Irrtum, deshalb wurden jedoch noch nie die Gesetze der Mathematik infrage gestellt oder gar außer Kraft gesetzt.
Kommunisten und Sozialisten jedoch, die sich auf Marx, Engels und Lenin berufen, werden als "Dogmatiker", "Unbelehrbare", "Ewiggestrige" stigmatisiert. Gern bin ich ein "Unbelehrbarer", wenn ich auf die Logik der Mathematik baue oder die wissenschaftliche Erkenntnis, daß die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel ist, verteidige. Es bleibt dabei: Für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit einzutreten heißt, die Lehren von Marx, Engels und Lenin nicht in der Versenkung verschwinden zu lassen, sondern sie für den heutigen Kampf weiterzuentwickeln.

Peter Dornbruch, Schwerin


Rico Jalowietzki hat recht. (RF Nr. 247/248) Elke Breitenbach sorgte auf dem Parteitag für Randale. Ihr hysterisches Geschrei hat ihr und der Partei geschadet. Man muß ja nicht alle Ansichten vorn Sarah Wagenknecht teilen, aber ihr Nationalismus, Rassismus oder AfD-Nähe zu unterstellen, ist absolut abwegig. Auch in der Frage der Sammlungsbewegung muß man Sarah nicht in allen Punkten folgen. Aber wenn es um höhere Löhne, bessere Renten und gegen die deutsche Kriegspolitik geht, sollte doch Einverständnis bestehen. Wenn der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann erklärt, "Aufrüstung ist die dümmste Antwort!" verdient das volle Zustimmung. Bezeichnenderweise sind in der Linkspartei diejenigen die entschiedensten Gegner einer Sammlungsbewegung, die immer noch von einer Koalition Rot-Rot-Grün auf Bundesebene träumen.

Dr. Kurt Laser, Berlin


Verkehrte Welt. Die Sammlungsbewegung von Sahra Wagenknecht will eine Linksregierung in der Bundesrepublik erreichen. Die Spitzen von SPD, den Grünen und der Partei Die Linke sind gegen diese Initiative - schlimmer geht's nimmer.

Günther Röska, Leipzig


Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe.
Rußland setzte das Rentenalter hoch, was auch hiesige Politiker zu lautem Protest veranlaßte. Mit dem "Beitritt" der DDR zur BRD erhöhte sich bei uns schlagartig das Rentenalter für Frauen von 60 auf 65 Jahre. Inzwischen ist das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre gestiegen. Von Protest oder Widerstand hierzulande keine Spur. Die NATO rückt trotz anderslautender Verträge angeblich auf Wunsch der osteuropäischen Länder immer näher an die russische Grenze heran. Jetzt führte Rußland ein Manöver durch. Was folgte, war Aufruhr und Protest aus dem Westen. Viele wundern sich, warum in Sachsen die Rechten so stark werden konnten. Aber fast 28 Jahre schielte die CDU-Regierung nach links, währenddessen sich die Rechten sammeln konnten. Dazu kommen die vielen Einbrüche in das Leben der Bürger: Arbeitslosigkeit, Strafrenten, Ausverkauf der Betriebe, ein marodes Bildungs- und Gesundheitswesen, steigende Mieten und vieles mehr. Gründe über Gründe für die einheimischen Politiker, vor der eigenen Haustür zu kehren.

Marianne Wuschko, Hoyerswerda


Es waren interessante Abschnitte in meinem Leben, auf das ich nun Rückschau halte. In Böhmen geboren, als es noch tschechisch war, 1945 in die sowjetisch besetzte Zone ausgewiesen, Eisenbahner-Lehre in der DDR und Studium in Gotha und in Leipzig. Schließlich Chefredakteur und Einsatz in Polen. Und danach Pressechef und Redenschreiber für Minister. Anschließend wieder bei der Bahn, dieses Mal als Bauüberwacher im Westen und im Osten. Biographien wie diese sind im Osten Deutschlands nicht ungewöhnlich, für den Rest des Landes schon. Deshalb kam wohl auch von dort die Anregung, ich solle das alles mal niederschreiben.
Meine Haltung ist klar: Die beste Zeit war in der DDR.
Unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen sammelte ich Erfahrungen, auf die ich gern verzichtet hätte. In meiner Autobiographie "Jahrgang '39. Mein Leben in Böhmen, der DDR und der BRD" aber teile ich sie mit - im Kontext mit meinem früheren Leben in der DDR sehr erhellend ...

Das Buch ist erschienen im Verlag am Park,
300 Seiten, 18 Abb., illustriert, 16,99 €,
ISBN 978-3-947094-18-9

Karl-Heinz Holub, Berlin


Zu Kurt Laser: "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" oder Konterrevolution?, RF 247/248, S. 11
Was sollte der "Prager Frühling" wirklich bringen, einen modifizierten Sozialismus oder die Rückführung ins kapitalistische Lager? Im ersten Fall hätte es wohl kaum die Unterstützung des Westens, allen voran der USA, gegeben. Denen ging es nie um Menschenrechte, schon gar nicht um irgendeinen Sozialismus, sondern stets um die Rückgewinnung verlorener Macht- und Einflußsphären. Ein "menschlicher Sozialismus", getragen von Personen, die im Dienst und Auftrag von Sendern des ausländischen Kapitals arbeiteten, ist ein Widerspruch in sich. Es wird so hingestellt, als sei nahezu das ganze Volk der CSSR für diese Entwicklung gewesen. Mir ist bekannt, daß viele Bürger dieser geplanten Veränderung skeptisch gegenüberstanden.

Jürgen Förster, Dresden


Am 22. Februar 1990 (also noch zu DDR-Zeiten) berichtete das "Neue Deutschland" von einer "Nacht-und-Nebel-Aktion", bei der BRD-Staatssicherheitsorgane gegen Mitglieder der DKP vorgingen.
"Wie in den schlimmsten Zelten des kalten Krieges üblich, durchwühlten Kommandos des Bundeskriminalamtes am Dienstag im ganzen Bundesgebiet die Wohnungen von DKP-Mitgliedern und Büros der Partei. Was war geschehen? War da ein politischer Umsturz vorbereitet worden, oder sollte gar die Verfassung aus den Angeln gehoben werden?
Das Nachrichtenmagazin 'Der Spiegel' hatte vor Wochen den Ballon steigen lassen, in der Bundesrepublik existiere eine starke 'DKP-Kampfgruppe', die in Krisenzeiten Terroranschläge, Sabotageakte auf militärische und zivile Einrichtungen verüben wollte. Tatsächlich lagen weder damals noch heute Fakten oder Beweise vor. Doch das hinderte das Kriminalamt nicht, eine großangelegte Nacht-und-Nebel-Aktion gegen die DKP zu starten. Die Praxis folgt einem bewährten Muster. Überfälle auf Kommunisten auf Grund bloßer Verdächtigung hat es in der BRD gegeben, solange sie existiert, in den 50er Jahren ständig. Das widerrechtliche Verbot der KPD ermunterte geradezu zu Terroraktionen gegen ihre Mitglieder und andere Demokraten. Gleichzeitig wurden subtilere, wirkungsvollere Methoden entwickelt. Das Berufsverbot ist wohl die berüchtigtste davon. Seit einigen Jahren haben Leute verschiedenster Couleur versucht, die DKP aus dem politischen Leben der Bundesrepublik herauszukatapultieren.
Der gewünschte Erfolg blieb aus. Nun setzt man wieder auf die alten, bewährten Polizeiaktionen. Jene aber, die wirklich Gefahr für Land, Leute und Verfassung in der BRD heraufbeschwören, die Neonazis, die Republikaner, bleiben ungeschoren."
Ich frage mich, gingen dagegen "Bürgerrechtler" in der DDR auf die Straße? Schließlich wurden Menschen in der Alt-BRD mittels staatlicher Gewalt massiv an der Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung gehindert. Mir ist nichts bekannt davon. Deshalb denke ich darüber nach, was das für "Bürgerrechtler" waren. Menschen- und Bürgerrechte sind nach meiner Meinung nicht teilbar.

Johann Weber, Ruhstorf/Niederbayern


Im März 1996 wandte ich mich zum CDU-gesteuerten Rentenüberleitungsgesetz an Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Seine Antwort erhielt ich vier Monate später am 3. Juli 1996. Die SPD lehne dieses Gesetz ab. Mehrere SPD-Bundestagsabgeordnete hätten einen eigenen Gesetzesentwurf eingebracht, den er dem Schreiben beifügte. Es handelte sich um die Drucksache 13/1542 vom 31.5.1996, Sachgebiet 826, Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, mit dem Titel "Entwurf eines Gesetzes zur Korrektur des Rentenüberleitungsgesetzes". Darin heißt es:
A. Allgemeiner Teil
Das Rentenüberleitungsgesetz von 1991 hat zwar den meisten Rentnerinnen und Rentnern in den neuen Bundesländern eine deutliche Erhöhung und ein schnelles Wachstum ihrer Altersversorgungsbezüge gebracht. Es enthält jedoch zahlreiche Vorschriften, die von den Betroffenen nicht zu Unrecht als Diskriminierung und als politisches "Rentenstrafrecht" empfunden werden. Es liegt im Interesse der inneren Einheit Deutschlands, diese Diskriminierungen zu beseitigen.
Dazu dienen folgende Maßnahmen des Gesetzentwurfs:
1. Beseitigung der Entgeltpunktbegrenzung für die "systemnahen" Angehörigen der Sonder- und Zusatzversorgungssysteme der ehemaligen DDR. / 2. Beseitigung der Benachteiligung der "systemnahen" Angehörigen der Sonder- und Zusatzversorgungssysteme bei der Obergrenze (derzeit 2700 bzw. 2010 DM) für den bestandsgeschützten Zahlbetrag alten Rechts. / 3. Überführung der Dienstbeschädigungsteilrenten aus den Sonderversorgungssystemen in die gesetzliche Unfallversicherung. / 4. Beseitigung von Härten für die Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post in den Jahren 1971 bis 1973.
Zu Nummer 2 (§ 7 AAÜG) Auch für Angehörige des Sonderversorgungssystems der Mitarbeiter der Staatssicherheit soll, dem Prinzip der Trennung von Straf- und Sozialrecht folgend, die Entgeltpunktbegrenzung aufgehoben werden.
Zu Nummer 2 (§ 10 AAÜG)
Die Änderung soll die Diskriminierung beim Bestandschutz für Leistungen aus Sonder- und Zusatz-Versorgungssystemen beseitigen. Nach heutigem Recht beträgt die Zahlbetrags-Obergrenze bei "systemnahen" Personen 2010 DM gegenüber 2700 DM bei "nicht systemnahen" Personen (bei Hinterbliebenen jeweils anteilig entsprechend). Durch die Änderung von § 10 Absatz 1 wird diese Diskriminierung beseitigt. Dieser Gesetzesentwurf sei gegenwärtig (1996) aber nicht umsetzbar, da die SPD in der Opposition sei und keine Mehrheiten fände.
Auf meine Anfrage von 1998 - die SPD war jetzt in der Regierung - ließ der Bundestagspräsident mir mitteilen, es müsse "das Ergebnis einer Klage beim Bundesverfassungsgericht abgewartet werden".
Das endgültige Begräbnis der Drucksache 13/1542 erfolgte dann 1999, als Wolfgang Thierse erklärte, "unser Koalitionspartner (Bündnis 90/Die Grünen) trägt unser Anliegen nicht mit".

Joachim Heimer, Berlin


Wie ein Junge mit 15 Jahren zum Volkssturm "geholt" wird, seinen Weg in die neue Zeit findet, 45 Jahre für den Sozialismus in der DDR lernt und arbeitet und nach der Vereinnahmung der DDR durch die BRD mit 61 Jahren unsanft landet, beschreibe ich in meinen biographischen Skizzen mit dem Titel "Unsanfte Landung". (Nora-Verlag, Berlin 2002, 116 Seiten, 11 €)
In einem weiteren, zweibändigen Werk "Der Stern der Zukunft" unternehme ich den Versuch, darzustellen, wie sich marxistisch gebildete Menschen eine kommunistisch organisierte Gesellschaft und den Weg dahin vorstellen.
Die Handlungen der beiden spannungsgeladenen Bände spielen sich im Kontakt mit einem Planeten aus unserem Nachbarsystem "Alpha Centauri" ab. (Nora-Verlag Berlin, Band 1, 2002, 266 Seiten, 14,90 Euro; Band 2, 2010, 198 Seiten, 14,90 €)

Dr. Werner Kulitzscher, Berlin


Über den Rausschmiß von Hubertus Knabe empfand nicht nur ich große Freude, sondern gleich mir viele tausend andere, die ihre Genugtuung über das Verschwinden dieses Herrn geäußert haben.
Als ich diese Neuigkeit einem zur Zeit in Vietnam tätigen früheren Kollegen übermittelte, meinte er, daß ihm diese Nachricht einen guten Kognak wert sei. Dennoch wissen wir, daß Knabe garantiert nicht mit Strafrente abgespeist, sondern zu gegebener Zeit gut versorgt in den Ruhestand gehen wird.
Es ist beschämend, daß diese Leute seit Jahren versuchen, aus ihrem Haß gegen alles, was mit DDR und Sozialismus zu tun hat, nicht nur Profit (gut dotierte Stellen und Renten) zu schlagen, sondern auch die Kühnheit besitzen, uns ihre Regeln von Recht und Unrecht aufzuzwingen. Dabei haben sie keine Hemmungen, das "Dritte Reich" mit der DDR gleichzusetzen, was sich u. a. darin zeigt, daß an den Autobahnen im Land Brandenburg gleichgestaltete Hinweisschilder auf die Gedenkstätte KZ Sachsenhausen und die "Gedenkstätte Hohenschönhausen" angebracht sind.
Ich frage mich: Ist Knabes "Abgang" nicht die beste Gelegenheit, endlich dieses vor allem aus Steuergeldern finanzierte Gruselkabinett zu schließen und das so eingesparte Geld für die Rentenkasse der Ostrentner zu nutzen?

Heinrich Steffen, Falkensee

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Korrektur

Im Beitrag von Klaus Kukuk "Mlynár, Gorbatschow und das Polit-Puzzle" (RF 249, Seite 9, zweite Spalte oben) wird der Beginn der Gespräche Gorbatschow - Mlynár für das Buch "Reformer pflegen nicht glücklich zu sein" mit 1983/84 angegeben. Richtig muß es heißen: 1993/1994. Autor und Redaktion bitten um Nachsicht.


Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

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Das Impressum für die obenstehende Ausgabe ist zu finden unter:
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Quelle:
RotFuchs Nr. 250, 21. Jahrgang, November 2018
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Dezember 2018

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