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ROTFUCHS/205: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 252 - Januar 2019


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

21. Jahrgang, Nr. 252 - Januar 2019



Aus dem Inhalt

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Gegen Konterrevolution und Krieg!

Das Jahr 2019 bringt mehrere Gedenkdaten, die aktuelle Bedeutung haben: Der 100. Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar erinnert daran, daß die Novemberrevolution durch die SPD-Führung im Zusammenspiel mit der Reichswehr blutig niedergeschlagen wurde. Außerdem wurde am 5. Januar 1919 die "Deutsche Arbeiterpartei" gegründet, die ab 1920 NSDAP hieß. Sie war zunächst nur eine von zahlreichen rechtsextremen Organisationen, die mit Hilfe von Reichswehr und Großkapital "die Brutalität, den unverhüllten Zynismus, die Niedertracht aller ihrer Vorgänger" verstärkten. So hatte es Rosa Luxemburg für das Programm der KPD formuliert.

Am 9. November 2019 jährt sich der Tag, an dem die Grenzen der DDR geöffnet wurden, zum 30. Mal. Erneut siegte die Konterrevolution. In seiner ersten Regierungserklärung im "vereinten" Deutschland erhob Helmut Kohl just am 30. Januar 1991, also am Jahrestag der Machtübergabe an Adolf Hitler 1933, den erneuten Anspruch des deutschen Imperialismus auf einen "Platz an der Sonne": "Mit der Wiedergewinnung der vollen Souveränität wächst uns Deutschen nicht nur mehr Handlungsfreiheit, sondern auch mehr Verantwortung zu." Nämlich: "mehr Mitwirkung an der Lösung weltpolitischer Fragen".

So wurde der "Zeitgeist" nach rechts verschoben, d. h. "der Herren eigner Geist". Nationalismus, Herrenvolkideologie und Fremdenfeindlichkeit waren der wahre Inhalt von Kohls Anschlußprogramm. Es wird bis heute mit Lügen, insbesondere über die DDR und den Sozialismus, mit Hetze und Haß verwirklicht. CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP wurden zu Kriegsparteien, eines sozialen Kriegs nach innen und des heißen Kriegs nach außen. Ihr Werk vollendet nun die AfD. Sie stellt sich als Opfer einer "Lügenpresse" dar, wurde aber mit Hilfe von Konzern- und öffentlich-rechtlichen Medien in den Bundestag befördert.

Ihre Parlamentsfraktion tritt dort absichtlich provokant auf. Ihre grotesken, aber nicht wirkungslosen Lügen - etwa über den UN-Migrationspakt - stoßen in Teilen von CDU und CSU auf Wohlwollen. Ihre Strategie, organisierte Faschisten zusammen mit "besorgten Bürgern" auf die Straße zu bringen, hatte in Chemnitz und anderen Orten Erfolg. Erstmals seit 1945 entsteht so eine Massenbasis für eine Partei, welche die bürgerlich-parlamentarische Republik in Frage stellt. Einst erklärte der KPD-Vorsitzende Max Reimann im Parlamentarischen Rat zum Grundgesetz: "Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben!" Dieser Tag ist näher gerückt.

Denn die Kandidatur eines Friedrich Merz für den CDU-Vorsitz und die Bereitschaft der Habeck-Grünen zur Koalition mit so ziemlich jedem signalisieren, daß in Deutschland das Modell Berlusconi, Trump oder Macron Einzug halten könnte: Regieren ohne traditionelle Parteien, gestützt allein auf Fernsehen und Internet. Letzteres bedeutet: unter Einbeziehung von extrem Rechten, die durch Verbreitung von Falschnachrichten, Hetze und Haß stark werden - und durch Gewalt: Etwa 200 Menschen wurden seit 1990 in Deutschland von rechten Tätern ermordet.

Der 70. Jahrestag der DDR-Gründung am 7. Oktober ist vor diesem Hintergrund ein besonderer Gedenktag. Der erste Friedensstaat auf deutschem Boden mußte beseitigt werden, damit Kriege des deutschen Imperialismus wieder möglich werden - und Chauvinismus sowie Faschismus.

Am 1. Oktober 2019 feiert schließlich die VR China den 70. Jahrestag ihrer Gründung. Ihr Aufstieg zur Weltmacht innerhalb weniger Jahrzehnte zeigt, wie rasch historische Veränderungen möglich sind. Der Imperialismus reagiert mit Erhöhung der Kriegsgefahr, Deutschland vorne mit dabei.

Konterrevolution und Krieg sind zwei Seiten einer imperialistischen Medaille. Machen wir 2019 zu einem Jahr des Kampfes für Frieden, für den Erhalt der bürgerlichen Republik als eines Kampfplatzes von Sozialisten und Kommunisten, für einen anderen Zeitgeist!

Arnold Schölzel

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Aktiv für "Abrüsten statt aufrüsten!"

Die Protesttage vom 1. bis 4. November 2018, organisiert von der bundesweiten Initiative "Abrüsten statt aufrüsten!", wurden von den beiden großen Netzwerken der Friedensbewegung "Kooperation für den Frieden" und Bundesauschuß Friedensratschlag unterstützt und vielfach von den Gewerkschaften mitgetragen.

Die Protesttage wurden fast genau ein Jahr nach Gründung dieser Initiative durchgeführt und erbrachten bis zu den Aktionstagen schon mehr als 120.000 Unterschriften. Zu den Erstunterzeichnern gehören vier Gewerkschaftsvorsitzende, die Präsidenten wichtiger Umweltverbände, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einschließlich eines deutschen Nobelpreisträgers, führende Kirchenvertreter, Politikerinnen und Politiker mehrerer Parteien und Aktivisten der Friedensbewegung.

Schon jetzt lassen sich einige bemerkenswerte erste Punkte dieser erfolgreichen Aktion benennen.

Wir haben uns in die Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages aktiv und engagiert eingemischt, haben nein gesagt zu weiterer Aufrüstung, zu den wahnwitzigen Erhöhungen des Rüstungshaushalts auf bis zu 85 Milliarden. Allein von 2018 auf 2019 soll der Etat für Verteidigung um 11,8 % steigen; kein anderer Etatposten hat auch nur ansatzweise diese prozentuale Steigerung. - In Tausenden von Gesprächen haben wir auf den Zusammenhang zwischen Hochrüstung und Soziales hinweisen können, haben immer wieder verdeutlicht: Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden. Niemals in den letzten Jahren hatten wir eine so koordinierte bundesweite Gesprächsoffensive der Friedensbewegung hin zu den Menschen unseres Landes.

An fast 50 Orten der Republik fanden Aktionen auf der Straße statt. Oft waren es gut gestaltete Informationsstände mit aktiven Sammlerinnen und Sammlern von Unterschriften. Die bis zu 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigten die Möglichkeiten dezentraler Aktionen. Die Friedensfrage und die Abrüstung waren in der Öffentlichkeit präsent.

An vielen Orten wurde die Sammlung mit Kundgebungen und Demonstrationen verbunden. An diesen beteiligten sich in den größeren Städten immer einige hundert Menschen. Rednerinnen und Redner aus Friedensbewegung und Gewerkschaften unterstützten die Forderung nach Abrüstung.

Einige tausend, am Ende wahrscheinlich bis zu 10.000 neue Unterschriften, wurden gesammelt. Die Unterschriftensammlung stieß auf große Sympathie und Unterstützung in der Bevölkerung.

Die Protesttage haben uns einen guten Schritt vorangebracht. Es ist uns gelungen, zeitgleich an vielen Orten mit vielen Menschen ins Gespräch zu kommen. Wir konnten intensiv über die Gefahren und Kosten der Hochrüstung informieren und aufklären. Auch in vielen kleineren Städten und Orten haben wir gezeigt: Es tut sich etwas für den Frieden. Die Aktionen lokaler Friedensbündnisse auf den Straßen und Plätzen wurden unterstützt von engagierten Menschen aus Gewerkschaften, Umweltverbänden und christlichen Initiativen. Mitglieder verschiedener Parteien und politischer Bewegungen waren dabei und unterstützten aktiv unsere Proteste.

Für künftige Aktionen brauchen wir viel mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer und noch bessere Zusammenarbeit. Frieden, Klima- und Umweltschutz gehören zusammen. Mit Abrüstung werden Mittel frei für die Finanzierung des internationalen Klimafonds. Mit der Forderung nach Beendigung von Waffenexporten und Kriegen machen wir Fluchtursachen zum Thema.

Eine neue Entspannungspolitik in Europa und auch mit Rußland ist notwendig. Diese gemeinsamen Positionen werden von vielen Millionen Menschen geteilt. Knüpfen wir daran an, und bewegen bei weiteren Aktionen in den nächsten Jahren noch mehr Aktive im öffentlichen Raum auf der Straße. Nutzen wir die guten Erfahrungen der Protesttage für weitere, größere und zentrale Aktionen!

Arbeitsausschuß der Kampagne "Abrüsten statt aufrüsten!"

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Gegen die Drohnenpolitik der Kriegsministerin

Ursula von der Leyen täuscht die Öffentlichkeit und das Parlament. Oder deutlicher: Sie sagt die Unwahrheit und handelt gegen ihre eigenen Zusagen. Worte sind für die Ministerin anscheinend nur taktische Manöver zur Beruhigung der Öffentlichkeit und ihres erneut düpierten Koalitionspartners SPD.

Erinnern wir uns: Der Bundestag beschloß das Leasen von 5 bewaffnungsfähigen Heron-TP-Drohnen aus Israel für 900 Millionen Euro als Überbrückungslösung bis zur Entwicklung einer europäischen Kampfdrohne. Die bewaffnungsfähige Drohne wurde vom Verteidigungs- und Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages am 13. Juni 2018 bewilligt und ohne Waffen bestellt.

Im Juni versicherte von der Leyen noch, die Bewaffnung der Drohnen stünde derzeit nicht zur Debatte. Ohne breite gesellschaftliche Diskussion, ohne ausführliche völkerrechtliche, verfassungsrechtliche und ethische Würdigung keine Bewaffnung der Bundeswehr-Drohnen - dies alles versprach die Ministerin einer kritischen Öffentlichkeit und den besorgten Parlamentariern. So steht es auch im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD.

Die Realität ihres Handelns steht aber in klarem Gegensatz zu ihren Worten: Eine öffentliche Debatte hat es bisher nicht gegeben, aber heimlich wird die Bewaffnung vorbereitet und sogar schon vertraglich vereinbart. In Absprache mit dem Hersteller Israel Aerospace Industries (IAI) und Airbus wurden konkrete Vereinbarungen getroffen:

1. über die Bewaffnung der unbemannten Drohnen - die Art und Anschaffung der Munition

2. über die taktische Ausbildung der Soldaten an den bewaffneten Systemen

3. über Anforderungen an konkrete bewaffnete Einsätze und mögliche Ziele der Drohnen

4. über Übungseinsätze der "Drohnen-Mannschaften" für bewaffnete Einsätze

Dies ergaben Recherchen des ARD-Politikmagazins "Report" am 6. November 2018. In dem Anforderungsprofil zwischen dem Vereidigungsministerium und Airbus heißt es konkret, "die identifizierten Bodenziele mit dem vom RPA mitgeführten SP zu bekämpfen". SP ist die im Vertrag verwendete Abkürzung für Munition. Die Munition soll eingesetzt werden können zur Bekämpfung von Fahrzeugen und "weichen" Zielen, das heißt Menschen. Zu den Vereinbarungen gehört auch die Lieferung von 17 Präzisionsraketen. Für die Herstellung dieser sogenannten technischen Bewaffnungsfähigkeit sind vertraglich rund 51 Millionen Dollar angesetzt. Das Geld ist bisher nirgends bewilligt worden. Eine Stationierung dieser Drohnen in Deutschland ist nicht vorgesehen, wird doch erst gar keine Flug- und Stationierungserlaubnis für Deutschland angestrebt. Die dafür notwendigen technischen Voraussetzungen, wie z. B. ein Blitzschutz, werden aus angeblichen Kostengründen nicht angeschafft. Möglicher Stationierungsort könnte daher Israel sein. Mögliche Einsatzziele wären Afghanistan und Mali.

Drohnen sind im wesentlichen Krieg gegen Zivilisten, sie sind Teil einer völkerrechtswidrigen Interventionspolitik, und sie sind teuer. Alle unsere Vorwürfe gegen diese Militärpolitik werden durch die Enthüllung von "Report" bestätigt und untermauert. Die Bewaffnung der Bundeswehr-Drohne ist bereits hinter verschlossenen Türen beschlossen worden. Vorgesehen ist sie für Auslandseinsätze. Das Parlament wird getäuscht, die Öffentlichkeit für dumm verkauft und belogen.

Was bleibt ist der Protest. Drohnen sind ein Verstoß gegen das Völkerrecht, sie töten überwiegend Zivilisten. Ein Höhepunkt der Proteste gegen Kampfdrohnen werden sicher wieder die Aktionen der Kampagne Stopp Air Base Ramstein vom 23. bis 30. Juni 2019 sein.

Reiner Braun und Pascal Luig
Koordinierungskreis der Kampagne Stopp Air Base Ramstein

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MEINE MEINUNG

Aufstehen jetzt!

Schaut man sich die ideologischen Auseinandersetzungen um die sozialen Proteste der Gelbwesten in Frankreich an, so sind Parallelen zum Umgang mit "Aufstehen!" nicht von der Hand zu weisen. Es ist bestürzend, mit ansehen zu müssen, wie mit Verweis auf Unterwanderungsversuche des rechtsextremen Front National der Linken in Frankreich empfohlen wird, sich aus den Sozialprotesten gegen die Benzinpreiserhöhung und das autoritär-neoliberale Regime des französischen Staatspräsidenten Macron zurückzuziehen.

Wer so argumentiert, der räumt das Feld der Sozialproteste für die extreme Rechte und den Faschismus in Europa. Wer die Linke so positionieren möchte, der öffnet die Tür für eine fatale Strategie der extremen Rechten: Polemisch gesprochen müßten die fortan nur eine Handvoll Leute zu den jeweiligen Sozialprotesten schicken, um diese dann nach dem empfohlenen Rückzug der Linken übernehmen zu können.

Wie bei den Gelbwesten in Frankreich waren dieselben Diffamierungsmuster auch gegenüber der Sammlungsbewegung "Aufstehen!" von Anfang an zu erkennen. Erst wollte man hinter den mittlerweile 175.000 eingetragenen Unterstützerinnen und Unterstützern bloße Internetklicks erkennen; dann wurde mit dem Vorwurf gearbeitet, die Bewegung sei nach rechts offen, obwohl sowohl der Gründungsaufruf wie auch die 89 Erstunterzeichnerinnen und Unterzeichner klar auf dem Boden der gesellschaftlichen Linken stehen. Als diese Lügengebäude schließlich in sich zusammenbrachen, wurde der Vorwurf erhoben, "Aufstehen!" würde es um eine Spaltung der Linken gehen.

Diejenigen, die sich auf den Weg gemacht hatten, focht dies wenig an. Und so ist ganz entgegen aller Unkenrufe eine Bewegung für soziale Gerechtigkeit und Frieden in Deutschland entstanden, die mit Aktionen und Demonstrationen für eine neue soziale Demokratie oder Protesten gegen den Rüstungshaushalt der großen Koalition von sich reden macht. "Aufstehen!" will zeigen, daß es ein Programm für einen sozialen Wechsel geben könnte, und so Druck auf die Parteien, insbesondere auf SPD und Grüne, machen, endlich ihre neoliberale Agenda zu verlassen und konkrete soziale Verbesserungen auf den Weg zu bringen. "Aufstehen!" versteht sich damit explizit als Bewegung gegen die extreme Rechte. Dies kann aber nur gelingen, wenn die Linke in diesem Land sich in Bewegung setzt, wenn wir uns gleichzeitig massiv beteiligen am Kampf für bezahlbare Mieten, sichere Renten und höhere Löhne, aber nicht, indem wir uns als Linke aus sozialen Bewegungen oder auch der Friedensbewegung zurückziehen.

Viele der Kritiker von "Aufstehen!" reden sich die Situation in unserem Lande schön, nur um nicht handeln zu müssen oder um sagen zu können, wir haben doch schon immer gehandelt. Das ist grob fahrlässig auch im Hinblick auf die Gefahr von rechts. Die soziale Situation in Deutschland spitzt sich extrem zu. Auf der einen Seite leben mittlerweile 15,5 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, für normal arbeitende Familien reicht es aufgrund der massiv steigenden Mieten und des Anstiegs der Lebenshaltungskosten hinten und vorne nicht mehr. Währenddessen wachsen die Vermögen der Milliardäre und ihre Anzahl in Deutschland. Das muß sich ändern.

"Aufstehen!" tritt für eine radikale Umverteilung von oben nach unten, für eine ökologische Wirtschaft und eine Friedenspolitik ein, die ihrem Namen gerecht wird. Wir wollen Druck machen, damit in Deutschland endlich die Reichen zur Kasse gebeten werden, um die Wiederherstellung des Sozialstaats zu bezahlen. Wir brauchen endlich mehr sozialen Widerstand in Deutschland statt immer neue, sicher gut gemeinte Ratschläge vom Spielfeldrand.

Wichtig ist, daß "Aufstehen!" weiter wächst und weiter gestärkt wird. Wir brauchen Spenden und dauerhafte finanzielle Beiträge für unsere Arbeit, denn selbstverständlich nehmen und bekommen wir kein Geld von Konzernen. Noch wichtiger aber ist, daß sich noch mehr Menschen in den bisher über 100 Gruppen vor Ort engagieren oder dabei mithelfen, neue Gruppen zu gründen.

Es macht Mut, daß so viele Menschen sich in so kurzer Zeit zusammengefunden haben. Es ist ein Zeichen der Hoffnung, daß sie sich nicht mürbe machen lassen von den Diffamierungen, von tagtäglichen Unterstellungen und voreiligen Grabreden. Ich bin mir sicher, wenn wir noch stärker werden, werden die Parteien an uns nicht mehr vorbeikommen.

Es gibt ein Zerrbild von Deutschland und Frankreich, was die politische Kultur angeht: Während man in Frankreich auf die Straße geht, um die neuen asozialen Zumutungen der Herrschenden zu verhindern, räsoniert man in Deutschland im Hinterzimmer, wie denn eine solche Bewegung beschaffen sein müßte, damit sie erfolgreich sein könne, so lange, bis auch jedes Lüftchen eines Sozialprotests verflogen ist. Sicherlich ein Zerrbild, aber eben mit einem wahren Kern. "Aufstehen!" will, daß sich dies ändert.

Sevim Dagdelen
(MdB, Partei Die Linke, Mitinitiatorin der Sammlungsbewegung "Aufstehen!")

Am 18. Februar 19 Uhr findet der Jahresauftakt von "Aufstehen!" in Sachsen mit Sahra Wagenknecht, Sabine Zimmermann u. a. im Felsenkeller in Leipzig statt.

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Auch um Selbstverständliches muß gekämpft werden!

Heiner Busch (Vorstandsmitglied des "Komitees für Grundrechte und Demokratie") ging in seiner Rede während der geplanten neuen Polizeigesetze ein:

Nie in den letzten Jahrzehnten war der Widerstand gegen die Verschärfung von Polizeigesetzen so deutlich auf der Straße sichtbar wie in den letzten Monaten. Das ist erfreulich, das ist aber auch dringend notwendig. Denn hier geht es um viel: Es geht einmal mehr um den Ausbau der polizeilichen Überwachungsmethoden. Die Innenminister möchten die Polizei mit Befugnissen für präventive Telefonüberwachungen und für den präventiven Einsatz von Trojanern zur Ausforschung von Handys und Computern ausstatten. Die "intelligente" Videoüberwachung - teilweise mit Gesichtserkennung - soll in den Gesetzen verankert werden. Es geht um neue Waffen, um Elektroschockgeräte, um Explosivmittel und um schwere Waffen für die Sondereinheiten - militärisches Gerät, das nicht in die Hände der zivilen Polizei gehört.

Und es geht um Maßnahmen gegen sogenannte Gefährder. Dies sind keine Leute, die einer Straftat beschuldigt werden. Es sind Menschen, von denen die Polizei meint, daß sie vielleicht in Zukunft eine schwere Straftat begehen könnten. Und obwohl es keinen konkreten Verdacht gibt, möchten die Innenminister präventiv sogenannte Aufenthaltsanordnungen gegen diese Leute verhängen können. Das ist nichts anderes als ein mit elektronischen Fußfesseln überwachter Hausarrest. Einige Bundesländer gehen noch weiter: Sie wollen die Präventivhaft einführen. Bayern hat das schon getan: wochenlange oder gar monatelange Haft ohne konkreten Verdacht. Das ist nicht akzeptabel, erst recht nicht vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte!

Wir sind heute viele, und wir sind unteilbar. Das müssen wir auch sein. Denn wir müssen um Selbstverständliches kämpfen: um Freiheit und Gleichheit, um Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

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Vor 100 Jahren wurde die KPD gegründet

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Von ihnen lernen - in ihrem Sinne handeln!

"Die Massen sind das Entscheidende, sie sind der Fels, auf dem der Endsieg der Revolution errichtet wird."
Rosa Luxemburg, "Die Rote Fahne",
14. Januar 1919

"... unser Schiff zieht seinen geraden Kurs fest und stolz dahin bis zum Ziel.
Und ob wir dann noch leben werden, wenn es erreicht wird - leben wird unser Programm: es wird die Welt der erlösten Menschheit beherrschen. Trotz alledem!"

Karl Liebknecht, "Die Rote Fahne",
15. Januar 1919

Diese Worte aus den letzten Veröffentlichungen der beiden Arbeiterführer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sprechen mit aller Deutlichkeit vom unerschütterlichen, grenzenlosen Vertrauen in die Kraft des schaffenden Volkes und von der unbeirrbaren Gewißheit des Sieges der revolutionären Sache. Sie wurden geschrieben wenige Stunden vor dem grauenhaften Meuchelmord einer vertierten Soldateska an diesen beiden unvergeßlichen revolutionären Führern der deutschen Arbeiterklasse.

Wladimir Iljitsch Lenin schrieb damals: "Man findet keine Worte für die ganze Abscheulichkeit und Niedertracht dieser Henkertaten der Pseudosozialisten ..." Nicht zu Unrecht, denn die rechten sozialdemokratischen Führer - Ebert, Noske, Scheidemann - hatten sich mit der Reaktion verbunden, um die revolutionären Kräfte in der deutschen Arbeiterbewegung zu vernichten. So hatte Reichswehrminister Noske erklärt: "Einer muß der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!"

Der kaiserliche deutsche Imperialismus hatte seinen Weltkrieg verloren. Der Kaiser und ein Teil seiner Vasallen waren geflohen. Das Volk, vier Jahre hindurch in Not, Elend und Schrecken lebend, war eben im Begriff, seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. In den Arbeiter- und Soldatenräten hatten sich Machtorgane des Proletariats konstituiert, die die Revolution und ihre Ergebnisse festigen konnten. Aber Inkonsequenz, gespeist aus Unerfahrenheit und Unsicherheit, ließen gewonnenen Boden verlorengehen. Diese Situation nutzten politische Scharlatane, um die Führung an sich zu reißen. Rechte Sozialdemokraten waren es, die den Schwung der Massen bremsten und sich zu Verbündeten des schon geschlagenen Packs der Militaristen und Monopole machten. Wie das Bürgertum 1848 aus Angst vor dem Proletariat schnell ein Bündnis mit den preußischen Junkern einging, so verbündeten sich diese "Sozialdemokraten" mit den Hindenburg, Ludendorff, Groener und Konsorten.

Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg kämpften Zeit ihres politischen Wirkens gegen die Aggressionsvorbereitungen des Kaiserreiches und gegen den imperialistischen Krieg. Ihr Leben gehörte dem Kampf der Befreiung der Arbeiterklasse von Ausbeutung und imperialistischer Unterdrückung mit dem Ziel der Errichtung einer sozialistischen Republik. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg machten auch Front gegen jene Kräfte in der deutschen Arbeiterbewegung, die außerstande waren, den Verfall des kapitalistischen Systems als einen gesetzmäßigen Prozeß zu verstehen, den es im Interesse aller Werktätigen zu unterstützen galt, und sie entlarvten mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln die schändliche Rolle der rechtssozialdemokratischen Führer.

Logisch also, daß sich die Wut und der Haß der Reaktion mit aller Schärfe auf diese beiden revolutionären Führer der deutschen Arbeiterklasse richtete. Und in dem gegen sie geführten Verfolgungs- und Terrorfeldzug leisteten die Ebert, Scheidemann und Noske willige Hilfsdienste für den deutschen Imperialismus und Militarismus. In einem Pamphlet vom 8. Januar 1919 rief die Reichsregierung unter den rechten Sozialdemokraten Ebert und Scheidemann zur "gründlichen Abrechnung" mit den Spartakusleuten und ihren Führern auf. Es war in dieser Situation ein kaum verklausulierter Aufruf zum Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Eine feige konterrevolutionäre Soldateska erschlug, erstach, erschoß, ertränkte am 15. Januar 1919, was an Karl und Rosa sterblich war.

Dem deutschen und dem internationalen Proletariat wurde mit dem Mord an den beiden hervorragenden Revolutionären, den Mitbegründern der Gruppe Spartakus und der KPD, schweres Leid zugefügt. Aber die geschichtliche Entwicklung ließ sich nicht aufhalten. In einem Teil des ehemaligen Deutschland, in der DDR, wurde das Vermächtnis von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg erfüllt, hatte die Arbeiterklasse gesiegt.

Heute stehen alle fortschrittlichen Kräfte Deutschlands, ob Kommunisten, Sozialdemokraten oder Parteilose, vor der historischen Aufgabe, das revolutionäre Erbe der beiden unvergessenen proletarischen Führer zu Ende zu führen. Das Unterpfand für die siegreiche Bewältigung dieser Aufgabe kann nur die Aktionseinheit der revolutionären Kräfte sein. In diesem Sinne handeln, heißt das Vermächtnis von Karl und Rosa zu erfüllen.

Helmut Hellge
Berlin

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Rosa Luxemburg: Wir sind wieder bei Marx ...

Nun, Parteigenossen, heute erleben wir den Moment, wo wir sagen können: Wir sind wieder bei Marx, unter seinem Banner. Wenn wir heute in unserem Programm erklären: Die unmittelbare Aufgabe des Proletariats ist keine andere als - in wenigen Worten zusammengefaßt - den Sozialismus zur Wahrheit und Tat zu machen und den Kapitalismus mit Stumpf und Stiel auszurotten, so stellen wir uns auf den Boden, auf dem Marx und Engels 1848 standen und von dem sie prinzipiell nie abgewichen waren.

Jetzt zeigt sich, was wahrer Marxismus ist und was dieser Ersatz-Marxismus war, der sich als offizieller Marxismus in der deutschen Sozialdemokratie so lange breitmachte. ... Wahrer Marxismus kämpft auch gegen jene, die ihn zu verfälschen suchten, er wühlt wie ein Maulwurf in den Grundfesten der kapitalistischen Gesellschaft, und er hat dazu geführt, daß heute der beste Teil des deutschen Proletariats unter unserer Fahne, unter der Sturmfahne der Revolution marschiert und wir auch drüben, wo die Konterrevolution noch zu herrschen scheint, unsere Anhänger und künftigen Mitkämpfer besitzen.

Aus der Rede auf dem Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutsehlands (Spartakusbund)

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Karl Liebknecht: Die Geschlagenen von heute werden die Sieger von morgen sein

Die Besiegten der blutigen Januarwoche, sie haben ruhmvoll bestanden: sie haben um Großes gestritten, um edelste Ziele der leidenden Menschheit, um geistige und materielle Erlösung der darbenden Massen: sie haben um Heiliges Blut vergossen, das so geheiligt wurde. Und aus jedem Tropfen dieses Blutes, dieser Drachensaat für die Siege von heute, werden den Gefallenen Rächer entstehen, aus jeder zerfetzten Fiber neue Kämpfer der hohen Sache, die ewig ist und unvergänglich wie das Firmament.

Die Geschlagenen von heute werden die Sieger von morgen sein. Denn die Niederlage ist ihre Lehre. Noch entbehrt ja das deutsche Proletariat der revolutionären Überlieferung und Erfahrung. Und nicht anders als in tastenden Versuchen, in jugendhaften Irrtümern, in schmerzlichen Rückschlägen und Mißerfolgen kann es die praktische Schulung gewinnen, die den künftigen Erfolg gewährleistet ... "Spartakus niedergerungen!" O gemach! Wir sind nicht geflohen, wir sind nicht geschlagen. Und wenn sie uns in Bande werfen - wir sind da und wir bleiben da! Und der Sieg wird unser sein. Denn Spartakus - das heißt Feuer und Geist, das heißt Seele und Herz, das heißt Wille und Tat der Revolution des Proletariats. Und Spartakus - das heißt alle Not und Glückssehnsucht, alle Kampfentschlossenheit des klassenbewußten Proletariats. Denn Spartakus - das heißt Sozialismus und Weltrevolution.

Aus dem Artikel "Trotz alledem" in der "Roten Fahne" vom 15. Januar 1919

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Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht

Wie ohnmächtig sind diese trockenen Angaben, um Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs reiche, schöne Menschlichkeit zu zeigen. Aus dieser Menschlichkeit aber zogen die beiden Vorkämpfer des Sozialismus ihre beste Kraft, sie war es, die ihrem Leben und Weben Glanz, Farbe und Wärme verlieh. Karl Liebknecht war der würdige Sohn seines großen Vaters, der nach keinem anderen Ruhme verlangte, als voranstürmend "ein Soldat der Revolution" zu sein.

Karl war ein heldenhaft voranstürmender Soldat der Revolution. Er hatte das prachtvoll ungestüme, überschäumende Temperament des geborenen Kämpfers, seinen frisch-fröhlichen Wagemut und seine trotzige Ausdauer. In ihm pulsierte altes Bekennerblut, war der Glaube, der Berge versetzt.

Ihm eignete die stolze Tapferkeit, sich allein gegen eine Welt von Feinden zu stellen. Gefahren und Opfer schreckten ihn nicht, Verleumdungen und Beschimpfungen glitten an ihm ab. Er empfand es als schlichte Selbstverständlichkeit, für seine Überzeugung seine Stellung und sein Leben einzusetzen.

Rosa Luxemburg war ein Willensmensch, wie es deren nur wenige gibt. Strenge Selbstbeherrschung drängte die lodernde Glut ihres Wesens nach innen zurück, unter die Decke äußerer Gelassenheit und Ruhe. Sich selbst meisternd, konnte sie andere formen und lenken. Ihre empfindsame Natur bedurfte der schützenden Abwehr nach außen. Der Schein kühlen, abgeschlossenen Fürsichseins verhüllte ein ebenso zartes wie tiefes und reiches Gefühlsleben, das nicht bei den Menschen haltmachte, vielmehr alles Lebende, das Weltganze als fest verknüpfte Einheit erfaßte. Die "blutige Rose" konnte müde und mit Arbeit überhäuft auf ihrem Wege umkehren, um ein verirrtes Räuplein zu seinem meistzusagenden Nahrungsquell zu tragen. Nie wurde sie abgestumpft gegen menschliche Nöte, sie hatte stets Zeit und Geduld, Rat- und Hilfsbedürftige zu hören, sie entbehrte freudig, um anderen zu spenden. So streng sie gegen sich selbst war, so groß war ihre verstehende Nachsicht für ihre Freunde, deren Sorgen und Kümmernisse sie härter drückten als die eigenen Leiden. In ihrer Freundschaft war sie die Treue, Hingebung, Aufopferung und zarte Fürsorge selbst.

Clara Zetkin

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Karl Liebknechts letzte Tage

Der Aufmarsch der Mordtruppen Noskes und derer vom Edenhotel war vollendet. Der infamste, mit allen Mitteln des raffinierten Grabenkrieges geführte Generalsturm begann. Die Lage war hoffnungslos. Und so wurde dann die Parole ausgegeben: abrücken, auseinandergehen, wieder untertauchen unter der namenlosen Masse, nachdem zum Schutze alle Stellungen so lange wie möglich gehalten worden waren. Wie er an die Spitze der Kämpfe gezogen war, so trat Liebknecht jetzt auch ins Dunkel zurück. Aber er, der die Verkörperung des Aufstandes geworden war, konnte nicht so verschwinden wie die tausend einfachen Kämpfer. Alles starrte in Waffen. Der Stahlhelm, der handgranatengespickte Gürtel, das Panzerauto beherrschten die Straßen. In ihrem Schutze kroch die Bourgeoisie wieder aus ihren Verstecken. und eine tolle Hetze begann gegen die "Störer ihrer Ruhe". Während die Haubitzen gegen die Maschinengewehre donnerten, an denen treue Revolutionäre, meist Jugendliche, für den Rückzug der Genossen Leib und Leben opferten, blühte auf den Straßen das Denunziantentum. Das Pflaster trank Blut.

Liebknecht, wie alle führenden Genossen, lebte im Versteck. Auf die riesige Überanstrengung, auf die heißen Tage eines überpersönlichen fiebernden Lebens folgten zwei Tage der Zurückgezogenheit, des persönlichen Wirkens im engen Kreis der Freunde. Zwischen den verschiedenen Verstecken hin und her gehetzt, traf er noch einmal am Montag mit Rosa Luxemburg und anderen Freunden zusammen. Am folgenden Tag noch arbeitete er für die Parteiblätter.

Die losgelassene Bourgeoisie lechzte nach dem Blut der "Führer". Ihr selbst, in Gestalt von ein paar fanatischen Bürgern des Stadtteils, wo Liebknecht verborgen war, war es vorbehalten, ihn am 15. Januar ausfindig zu machen. Mit richtigem Instinkt schleppten die erfreuten Finder ihr Opfer ins Zentrum seiner wütendsten Gegner: in das Edenhotel. Man weiß wenig Genaues über diese letzten Vorgänge; kurze Zeit nur blieb er im Hotel.

Von seinen Schergen umringt, wird er in ein Auto geschoben: noch bevor er Platz nehmen kann, springt ein "Freiwilliger" hinzu, schlägt ihm das Gewehr über den Kopf. Der Blutüberströmte wird ins Auto gepackt, die Eskorte verschwindet im Dunkel. Nacht liegt über dem Ende. Zwei, drei vereinzelte Schüsse hallen aus dem todschweigenden Tiergarten - ziehen durch die ganze Welt. Eine halbe Stunde später meldet ein Offizier der Unfallstation am Zoo, "da und da läge ein Unbekannter" erschossen, er solle abgeholt werden.

Er, der Symbol und Name des revolutionären deutschen Proletariats und seines Januar-Aufstandes war, starb, ein Namenloser, als der Aufstand erstickt und das kämpfende Proletariat Berlins in das Dunkel der Knechtschaft zurückgetreten war.

Alfred Kurella

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Abgeordnetenhaus, Festsaal ...

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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A. Kollontai und die deutsche Arbeiterbewegung

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Karl-Liebknecht-Schule Leverkusen
Kommunistische Bildungsstätte erhalten!

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Die Grenzgänger: "Revolution"

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Acht Lügen über den UN-Migrationspakt

Die politische Rechte weltweit hat ein neues Kampagnenziel: die Verhinderung des UN-Migrationspakts, der im Dezember in Marrakesch verabschiedet werden sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, verbreitet sie in den "sozialen" Medien und in rechten Publikationen eine Reihe von Falschbehauptungen, die allesamt widerlegbar sind. Als Linke, welche die weltweite Durchsetzung politischer, sozialer und wirtschaftlicher Menschenrechte als ein wichtiges Mittel zur Verbesserung der Lebenssituation der Mehrheit der Menschen anstrebt, müssen wir dieser Kampagne entschieden entgegentreten, auch wenn wir den UN-Migrationspakt wegen seiner Unverbindlichkeit und der fehlenden Durchsetzungsmöglichkeiten für die dort bestätigten Rechte kritisieren.

Leider beteiligen sich auch Personen, die in der Öffentlichkeit als links wahrgenommen werden oder sich selbst als Linke verstehen, an der Verbreitung von Lügen und Halbwahrheiten über dieses Dokument.

Zunächst einmal ist es wichtig, daß man die Inhalte der Vereinbarung im Wortlaut zur Kenntnis nimmt und sich nicht ausschließlich aus bewertenden Quellen eine Meinung bildet. Was wird von den Gegnern des Paktes behauptet?

Lüge Nr. 1: "Der Migrationspakt unterscheidet nicht zwischen Flüchtlingen und anderen Migranten."

Falsch! Schon in der Präambel wird unter Punkt 4 deutlich gemacht: "Flüchtlinge und Migranten haben Anspruch auf dieselben allgemeinen Menschenrechte und Grundfreiheiten, die stets geachtet, geschützt und gewährleistet werden müssen. Dennoch handelt es sich bei ihnen um verschiedene Gruppen, die separaten Rechtsrahmen unterliegen. Lediglich Flüchtlinge haben ein Anrecht auf den spezifischen internationalen Schutz, den das internationale Flüchtlingsrecht vorsieht." Die Erkenntnis, daß es neben Krieg und politischer Verfolgung auch noch andere wichtige Fluchtursachen gibt, klingt im weiteren Text des Dokuments nur an, etwa wenn es um die Vermeidung erzwungener Migration geht. Und tatsächlich bleibt der Pakt dort vage, wo es darum geht, die Ursachen erzwungener Migration zu bekämpfen, seien es der brutale Welthandel zugunsten der Industrieländer, die Folgen der Klimakatastrophe, die globale soziale Ungleichheit und der Waffenhandel, der Kriege und Bürgerkriege anheizt.

Lüge Nr. 2: "Der Migrationspakt unterhöhlt die nationale Souveränität und verpflichtet die Länder zu einer unbegrenzten Aufnahme von Zuwandernden" in Verbindung mit
Lüge Nr. 3: "Der Migrationspakt verpflichtet Deutschland, bis zu 2,5 Millionen Menschen jährlich aufzunehmen."

Falsch! Im gesamten Dokument findet sich keine einzige Passage, aus der sich eine Verpflichtung für irgendein Land ableiten läßt, einer bestimmten Anzahl von Personen die Einwanderung zu gestatten. Im Gegenteil betont der Pakt das Recht der Nationalstaaten, über ihre Einwanderungspolitik und die Grenzsicherung selbst zu entscheiden: "Der Globale Pakt bekräftigt das souveräne Recht der Staaten, ihre nationale Migrationspolitik selbst zu bestimmen, sowie ihr Vorrecht, die Migration innerhalb ihres Hoheitsbereichs in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht selbst zu regeln. Innerhalb ihres Hoheitsbereichs dürfen die Staaten zwischen regulärem und irregulärem Migrationsstatus unterscheiden, einschließlich bei der Festlegung ihrer gesetzgeberischen und politischen Maßnahmen zur Umsetzung des Globalen Paktes, unter Berücksichtigung der verschiedenen nationalen Realitäten, Politiken, Prioritäten und Bestimmungen für Einreise, Aufenthalt und Arbeit und im Einklang mit dem Völkerrecht."

Warum diese Lügen? Weil sie so schön in die Nazi-Angstmacherei von der unbegrenzten Zuwanderung und der angeblichen "Umvolkung" passen. Umfragen belegen, wie gut diese Art der Propaganda wirkt. So schätzen nach einer internationalen Untersuchung des IPSOS-Instituts Deutsche etwa die Zahl der Muslime in Deutschland um den Faktor vier zu hoch ein. Und die Angst vor Überfremdung ist regelmäßig dort am höchsten, wo der Anteil von Migranten in der Bevölkerung am niedrigsten ist, wie eine Gegenüberstellung der FAZ zeigt.

Lüge Nr. 4: "Der Migrationspakt unterscheidet nicht zwischen legaler und illegaler Migration."

Falsch! Allerdings verwenden die Vereinten Nationen nicht das Begriffspaar "legal" und "illegal", sondern sprechen von "regulärer" und "irregulärer" Migration, was im Kern dasselbe meint, aber weniger diskriminierend ist. Die negativen Auswirkungen irregulärer Migration auf die Herkunfts-, Transit- und Zielländer, aber vor allem auf die Menschen selbst zu überwinden, ist quasi der rote Faden des Dokuments.

Lüge Nr. 5: "Der Migrationspakt verpflichtet die Aufnahmestaaten dazu, Kindern von Migranten die Staatsangehörigkeit zuzuerkennen."

Falsch! Das Gegenteil ist der Fall, die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich dazu, ihren Staatsangehörigen die nötigen Identitätspapiere auszustellen und im Ausland geborenen Kindern die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern zu gewähren. So wollen die Unterzeichnerstaaten "verstärkte Maßnahmen zur Verminderung der Staatenlosigkeit ergreifen, unter anderem, indem ... [sie] neugeborene Migranten registrieren, dafür sorgen, daß Frauen und Männer gleichermaßen ihre Staatsangehörigkeit an ihre Kinder weitergeben können, und im Hoheitsgebiet eines anderen Staates geborenen Kindern die Staatsangehörigkeit zuerkennen, insbesondere in Fällen, in denen das Kind sonst staatenlos wäre, unter voller Achtung des Menschenrechts auf eine Staatsangehörigkeit und im Einklang mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften". Tatsächlich bestärkt der Pakt damit leider Länder wie Deutschland, die sich nicht dazu durchringen können, hier geborenen und aufgewachsenen Kindern automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit zuzuerkennen. Das wäre aber ein wichtiger Baustein einer Gesellschaft, die zur Integration einlädt.

Lüge Nr. 6: "Der Migrationspakt schützt Schleuser und Schlepper."

Falsch! In Ziel 9 verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten zur Zusammenarbeit in der Vorbeugung und Bekämpfung des Schleuserund Schlepperwesens: "Wir verpflichten uns, die gemeinsamen Anstrengungen zur Prävention und Bekämpfung der Schleusung von Migranten zu intensivieren, indem wir die Kapazitäten und die internationale Zusammenarbeit zur Prävention, Untersuchung, strafrechtlichen Verfolgung und Bestrafung der Schleusung von Migranten verstärken, mit dem Ziel, der Straflosigkeit der Schleusernetzwerke ein Ende zu bereiten". Was gut ist: Der Pakt macht an mehreren Stellen deutlich, daß nicht die Migranten zu bestrafen sind, wenn sie Opfer von Schleusertätigkeit oder gar von Menschenhandel werden. Gerade im Bereich des Menschenhandels stärken die Vereinbarungen die Opfer, wenn sie denn umgesetzt werden.

Lüge Nr. 7: "Der Migrationspakt ist ausschließlich neoliberal ausgerichtet, um den Wunsch des globalen Kapitals nach billigen und rechtlosen Arbeitskräften zu befriedigen."

Falsch! Die Vereinbarung enthält in Ziel 6 eine ganze Reihe von Selbstverpflichtungen zum Schutz vor Ausbeutung und zur Sicherung von Arbeitsrechten für Migranten, sogar die Gewerkschaftsfreiheit ist explizit genannt. Die Unterzeichnerstaaten verpf lichten sich, "Arbeitsmigranten, die einer bezahlten und vertragsgemäßen Arbeit nachgehen, dieselben Arbeitsrechte und denselben Arbeitsschutz, [zu] gewährleisten, die allen Arbeitskräften im jeweiligen Sektor gewährt werden, beispielsweise das Recht auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen, auf gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit, auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zu friedlichen Zwecken und auf das erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit, einschließlich durch Lohnschutzmechanismen, sozialen Dialog und Mitgliedschaft in Gewerkschaften", und sie sollen sogar "innerstaatliche Rechtsvorschriften zur Bestrafung von Menschenrechts- und Arbeitsrechtsverletzungen, insbesondere in Fällen von Zwangs- und Kinderarbeit, erlassen und umsetzen und in Zusammenarbeit mit dem Privatsektor, einschließlich Arbeitgebern, Arbeitskräftevermittlern, Subunternehmern und Lieferanten, Partnerschaften aufbauen, die menschenwürdige Arbeitsbedingungen fördern, Mißbrauch und Ausbeutung verhindern und sicherstellen, daß die Rollen und Verantwortlichkeiten innerhalb der Rekrutierungs- und Beschäftigungsprozesse klar umrissen sind, wodurch die Transparenz der Lieferkette erhöht wird".

Das sind angesichts der Realität auf den Arbeitsmärkten der meisten Zielländer recht weitgehende Formulierungen, an denen vor allem die fehlende Verbindlichkeit und damit die fehlende Möglichkeit, sich bei Gericht darauf zu berufen, stört. Gut wäre es, wenn die Gewerkschaften international nun verstärkte Anstrengungen unternähmen, Wanderarbeiter zu organisieren und ihre grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu verbessern.

Lüge Nr. 8: "Der Migrationspakt beschneidet das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit."

Grober Unfug! In Ziel 17 verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, "alle Formen der Diskriminierung zu beseitigen und Äußerungen, Handlungen und Ausprägungen von Rassismus, Rassendiskriminierung, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz gegenüber allen Migranten zu verurteilen und zu bekämpfen". Dazu sollen unter anderem Haßverbrechen unter Strafe gestellt und in rechtsstaatlichen Verfahren verfolgt werden, eine unabhängige, objektive und hochwertige Berichterstattung durch die Medien gefördert, und Medien, die systematisch Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung gegenüber Migranten fördern, die öffentliche Finanzierung und Förderung entzogen werden. All diese Maßnahmen - das wird an verschiedenen Stellen in diesem Kapitel betont - sollen stets die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Medien achten.

Allerdings beruft sich die politische Rechte schon seit einigen Jahren auf eine verdrehte Sichtweise der Meinungs- und Pressefreiheit. Diese soll nämlich ihrer Ansicht nach auch das Recht abdecken, Lügen und Haß in die Welt zu posaunen, anders aussehende, glaubende oder denkende Menschen anprangernd der Verächtlichmachung preiszugeben und das als hochwertigen Journalismus zu verkaufen. Eine Meinung frei zu äußern und Haß und Gewalt zu predigen sind noch immer zwei verschiedene Paar Schuhe. Schließlich kann man sich auch auf Grund- und Menschenrechte nur so lange berufen, solange ihr Gebrauch gleichbedeutende Rechte anderer nicht beeinträchtigt. Wer also meint, die Meinungsfreiheit schütze auch die öffentliche Verbreitung von Haß und Hetze, irrt sich bereits jetzt. In Deutschland sind im übrigen bereits entsprechende Straftatbestände etabliert, so daß sich durch den Pakt überhaupt nichts ändern muß. Daß allerdings die bestehenden Gesetze alles andere als wirksam umgesetzt werden, kann wohl jede Person bestätigen, die bereits selbst Ziel von Haßpropaganda geworden ist und versucht hat, die Täter anzuzeigen.

Worum geht es wirklich?

Bei der Kampagne gegen den UN-Migrationspakt handelt es sich im wesentlichen um den Versuch, die Vereinten Nationen zu verunglimpfen und zwischenstaatliche und transnationale Politik zu verdammen. Besonders bitter ist die Beteiligung Österreichs unter seiner neuen nationalistisch-konservativen Bundesregierung an dieser Kampagne, denn Österreich war bislang ein Staat, der sehr großen Wert auf die Stärkung des internationalen Rechts gelegt und mit großem Ernst die Arbeit internationaler Institutionen unterstützt hat.

Daß die ungarische Rechtsregierung ebenso wie die US-Administration unter Donald Trump sich der Kampagne angeschlossen haben, war nicht anders zu erwarten. In Deutschland trifft die Kampagne auf ein breites Feld politisch extrem rechter Akteure und Medien von der AfD über die sogenannte Identitäre Bewegung bis zur militanten Neonaziszene. Um so besorgniserregender, daß inzwischen bis in christdemokratische Kreise hinein der rechten Lügenerzählung Glauben geschenkt und diese weitergesponnen wird.

Aus linker Perspektive gäbe es so manches an diesem Dokument zu kritisieren. Aber weder das gesamte Dokument noch seine Unterzeichnung eignet sich für eine Negativkampagne von links. Es bleibt ein Schritt auf dem Weg zur Anerkennung von Menschenrechten auch für die 250 Millionen Menschen, die sich bereits heute freiwillig oder gezwungen aus ihrem Herkunftsland wegbegeben haben. Es gibt keinen vernünftigen Grund zu glauben, daß das Vorenthalten von Grundrechten sie davon abgehalten hätte. Und es gibt keinen empirischen Beleg dafür, daß Migrantinnen und Migranten die Bedingungen für Einheimische auf dem Arbeitsmarkt deutlich verschlechtern würden, so ein Studienüberblick des OXI-Blog. Es besteht also kein Anlaß für Mythen, Märchen und Manipulation.

Kathrin Vogler

Kathrin Vogler ist Mitglied des Deutschen Bundestages und friedenspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke.

Der Bundestag hat am 29. November mit 372 gegen 153 Stimmen und 141 Enthaltungen den Migrationspakt begrüßt.

Am 10. Dezember stimmten in Marrakesch 164 Staaten für den Pakt.

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Weltweit gegen Faschismus und Neofaschismus!

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Erklärung der FIR zur Europa-Wahl im Mai

Für die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) - Bund der Antifaschisten, ihre Mitgliedsverbände in fast allen europäischen Ländern und Israel sowie für die Veteranen des antifaschistischen Kampfes und für die Antifaschisten heutiger Generationen sind diese Wahlen aus mehreren Gründen von großer Bedeutung.

In den letzten Jahren mußten wir oft schmerzhaft erleben, daß die gegenwärtige Politik und Entwicklung der EU nicht den Interessen großer Teile der Menschen in den europäischen Ländern entspricht. Insbesondere die Reaktion auf die Flüchtlingssituation und die finanzpolitische Knebelung einzelner Staaten haben die soziale Spaltung in Europa vertieft. Zahlreiche Entscheidungen führen zu massiver sozialer Ausgrenzung und Abbau von Rechten der Beschäftigten, gehen zu Lasten der Schwächsten der jeweiligen Länder.

Zeitgleich wird die Abschottung der "Festung Europa" massiv verstärkt und der Aufbau einer europäischen Militärmacht für internationale Einsätze vorangetrieben. Dagegen müssen auch im Europäischen Parlament die Stimmen gestärkt werden, die sich für eine demokratische, friedensorientierte, solidarische und sozial gerechte Entwicklung einsetzen.

Außerdem erleben wir in zahlreichen europäischen Ländern einen Vormarsch offen rassistischer, nationalistischer und extrem rechter Parteien und Gruppen. Sie sind nicht nur in nationalen Parlamenten stark vertreten, sondern mittlerweile in mehreren Staaten an der Regierung beteiligt und setzen dort ihre antidemokratische und rassistische Politik um.

Die antifaschistischen, antirassistischen und friedensbewegten Organisationen und Gruppen sowie Gewerkschaften, soziale und gesellschaftliche Bewegungen müssen ihre Kräfte bündeln, um solchen Entwicklungen im Wahlkampf und später im Europäischen Parlament engagiert und erfolgreich entgegenzutreten.

Die Grundlage dieses Handelns ist kein Wahlaufruf für eine einzelne Partei, sondern das gemeinsame Eintreten für ein Europa,

  • das jeder Form der rassistischen Diskriminierung oder der Fremdenfeindlichkeit entgegentritt,
  • das für vergleichbare Lebensbedingungen in allen Ländern eintritt, um Arbeitsmigration, die durch schlechte Bedingungen erzwungen wird, zu verhindern,
  • das sich für Flüchtlinge und Minderheiten einsetzt und allen eine menschenwürdige Behandlung garantiert,
  • das gegen jede Form von Nationalismus und separatistischen Bestrebungen eintritt und kulturelle Eigenheiten von Minderheiten und Regionen in Europa schützt,
  • das sich gegen jegliche Form von Holocaustleugnung, Verfälschung des Widerstandskampfes, Zerstörung von Gedenkorten, Geschichtsrevisionismus und Rehabilitierung von SS-Verbrechern einsetzt,
  • das eine soziale Politik gewährleistet, durch die allen Menschen Arbeit, Bildung, Ernährung und eine angemessene Wohnung garantiert wird als Basis für eine wirkliche Demokratie,
  • das eine Gemeinschaft im Interesse der Menschen darstellt und deutlich macht, daß Europa nicht auf die Herrschaft von Großbanken und Wirtschaftslobbyisten reduziert werden darf,
  • das für eine Friedenspolitik eintritt, die nicht auf hegemonialer Dominanz in der Außenpolitik, sondern auf nichtmilitärischer Konfliktlösung beruht.

Ein solches Europa ist möglich, wenn sich die Völker aktiv und vernehmbar für ihre Interessen einsetzen. Die FIR wird ihren Beitrag dazu leisten, damit die unterschiedlichen politischen Bewegungen und Kräfte gemeinsam auf diesem Weg vorankommen. Ebenso wie die nationalen Mitgliedsverbände sich in ihren Ländern für gesellschaftliche Bündnisse gegen Rechtsentwicklung und für die Verteidigung der antifaschistischen Grundlagen einer Gesellschaft einsetzen, so arbeitet die FIR auf internationaler Ebene auf eine Vernetzung bestehender Initiativen und Bewegungen hin, um gemeinsam als politische Stimme in Europa gehört zu werden.

(Red. bearbeitet)

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Griechenland - eine Tragödie ohne Ende?

Zur Staatsverschuldung zählen alle Schulden des Zentralstaates, der Länder, Kommunen und Gemeinden sowie der Sozialversicherungen. 2008 lag Griechenlands Staatsverschuldung bei 264,78 Mrd. €. Bis 2011 wuchs sie auf 359,29 Mrd. an. Dann erfolgte ein Schuldenschnitt, und sie sank auf 305,24 Mrd. Im vergangenen Jahr lag die geschätzte Verschuldung bei 349,9 Mrd. €.

Die Griechen standen vor dem Staatsbankrott und brauchten ein "Rettungsprogramm". Im August 2018 wurde das Land aus dem EU-Programm entlassen, das drei "Rettungspakete" beinhaltete:

Mit dem ersten - Laufzeit 2010 bis 2013 - wurden 73 Mrd. € an Athen "ausgezahlt". Es handelte sich hierbei um bilaterale Kredite der Euro-Staaten und des Internationalen Währungsfonds (IWF).

Aus dem zweiten (2012-2014) wurden 142,7 Mrd. € in Anspruch genommen. Es sind "Mittel" des ESFS (European System of Financial Supervision, 130,9 Mrd. €) und des IWF (11,8 Mrd. €). Um einen "großen" Schuldenschnitt zu erreichen, verzichteten private Gläubiger im Jahre 2012 auf Forderungen. Als Anreiz erhielten Gläubiger im Gegenzug ESFS-Papiere in Höhe von 34,5 Mrd. €. Der Schuldenschnitt war in Wirklichkeit ein begrenztes "Umtauschprogramm". Die verbleibenden 108,2 Mrd. dienten der Bankenrettung und sonstigen Verpflichtungen.

Bei den ESFS-Mitteln handelt es sich ebenfalls um Kredite, die auf dem Kapitalmarkt beschafft und der griechischen Regierung "überlassen" wurden, wobei die BRD für knapp 38 Mrd. € (29 % der Gesamtsumme) Bürgschaften leistet.

Das dritte "Rettungspaket" (2015-August 2018) stellte der ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) bereit. Er wurde per Vertrag der Finanzminister der Eurozone-Staaten am 23. Januar 2012 neu geschaffen und löste den ESFS ab. Daraus beanspruchte Athen ca. 80 Mrd. € (August 2018).

Insgesamt erhielt Griechenland Kredite in Höhe von rund 296 Mrd. €, davon 31,9 Mrd. vom IWF. Die Kreditlaufzeiten liegen bei bis zu 32,5 Jahren. Die deutsche Bundesregierung war mit insgesamt 77,7 Mrd. € dabei. Somit wird der griechische Staat nicht vor 2066 die vollständigen Rückzahlungen getätigt haben.

Um es deutlich zu sagen: Diese Kredite, Bürgschaften etc. waren und sind kein Geschenk und keine Gelder der Solidarität. Sie müssen mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt werden. Sie dienten und dienen ausschließlich dem Ausgleich der Zahlungsbilanz zur Vermeidung eines Staatsbankrotts. In einer Zahlungsbilanz widerspiegelt sich eine Gegenüberstellung sämtlicher Forderungen und Verbindlichkeiten eines Staates gegenüber dem Ausland für einen bestimmten Zeitraum.

Kein Euro der "Kredite" floß je direkt in Hellas' Volkswirtschaft. Vielmehr halfen diese "Hilfspakete" bei der "Rettung" ausländischer Banken und Konzerne, die im Falle eines Staatsbankrotts oder eines vollständigen Schuldenschnitts leer ausgegangen wären.

Für die Kredit- und Bürgschaftsgeber war es gleichzeitig ein gutes Geschäft. So machte das bundesdeutsche Finanzministerium mit dem ersten "Rettungspaket" bei einer Verzinsung von satten 4,8 % und durch den Ankauf von griechischen Staatsanleihen 2,9 Mrd. € Gewinn. Der deutsche Staat "verdiente" sozusagen kräftig am Elend eines Euro-"Freundes".

Die doppelgesichtige Europäische Zentralbank (EZB) als Steuerungsorgan für die gemeinsame Geld- und Währungspolitik vergab und vergibt gleichzeitig Kredite durch den Ankauf zweifelhafter Wertpapiere (z. B. Staatsanleihen) für bedürftige EU-Staaten zu günstigen Bedingungen. Der Leitzins für die Geldversorgung für Geschäftsbanken liegt seit März 2016 bei 0,0 Prozent.

Die Griechen zahlen im Gegensatz dazu nicht nur hohe Zinsen, sondern einen hohen Preis für die "solidarische Hilfe". Eine brutale "Troika" (EU, EZB, IWF) zwang den Griechen eine Reihe von Auflagen auf, die einen Ausverkauf des Landes darstellen. Hellas wurde erpreßt, Staatsvermögen zu schlechten Bedingungen zu veräußern. Das betraf z. B. wichtige staatliche Infrastrukturfirmen wie Häfen, Wasser- und Kraftwerke. In der Regel wurden für die Verkäufe nicht die Erlöse erzielt, die sich die griechische Regierung erhoffte. Natürlich langten auch deutsche Unternehmen zu. Die Fraport AG übernahm beispielsweise 14 profitable griechische Flughäfen für 1,234 Mrd. € mit einer Laufzeit von 40 Konzessionsjahren. Die unrentablen Flugplätze "durften" die Griechen behalten.

Mit dem Ausbruch der Krise sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 356,14 Mrd. $ (2008) auf 192,77 Mrd. (2015) dramatisch. 2017 lag das BIP bei 200,69 Mrd. $. In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird die griechische Volkswirtschaft vielleicht das Niveau von 2008 erreichen können. Die Folgen des wirtschaftlichen Einbruchs sind verheerend: Der Wirtschaftsrückgang impliziert Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, schlechtere Bezahlung, Abwanderung etc. und senkt somit die Binnennachfrage. Radikale Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen wälzen die Lasten für die "Hilfen" auf das Volk ab. Beispielsweise wurde die Mehrwertsteuer von 19 auf 23 % erhöht. Gleichzeitig senkte die griechische Regierung die durchschnittlichen Renten auf 45 %. Das Rentenalter wurde auf 67 Jahre hochgesetzt. Parallel mit dem Verkauf von Staatsvermögen ging generell die Beschäftigung im öffentlichen Dienst um ein Viertel zurück.

Die Abwanderung von Fachkräften (Ingenieure, Ärzte, Informatiker, Wissenschaftler und Betriebswirte) ist zu einem generellen Problem geworden. Das Land erlebt einen beispiellosen Brain-Drain. Mehr als eine halbe Million Griechen wanderten seit Beginn der Krise aus. Mit der Abwanderung verliert der Staat nicht nur die intellektuelle Elite. Er verliert desgleichen Investitionen in die Ausbildung. Die Ausbildung eines Arztes kostet den griechischen Staat ca. 100.000 € und die eines Ingenieurs mehr als 50.000. Von der Abwanderung von Fachkräften und Akademikern profitieren vor allem die BRD und andere große EU-Länder, aber auch wirtschaftlich starke Länder in Nordamerika, in der Golfregion und Australien. Die Hauptursachen für Abwanderung sind der Verlust von Arbeitsplätzen und die Unterbezahlung. Die Arbeitslosigkeit beträgt offiziell 20 %. In der Gruppe der 15- bis 24jährigen liegt sie sogar bei 42 Prozent. Der Mindestlohn wurde auf 3,39 € pro Stunde herabgesetzt und das zeitlich begrenzte Arbeitslosengeld auf 322 € gesenkt. Viele arbeitsfähige junge Menschen und Familien sind auf Einkommen älterer Angehörigen angewiesen, um zu überleben.

Einsparungen im Gesundheitssystem haben katastrophale Auswirkungen. Viele Menschen können sich keine Medikamente und keine ausreichende ärztliche Versorgung mehr leisten. Die Säuglingssterblichkeit stieg von 2,7 Kindern auf 1000 Lebendgeburten (2008) auf 4,2 Kinder im Jahre 2016.

Griechenland ist als Folgewirkung langfristig mit einem gravierenden Bevölkerungsschwund konfrontiert. Nach Schätzungen wird die Bevölkerung durch Abwanderung, Geburtenrückgang und Sterblichkeit von 10,7 Mill. Einwohnern auf 7,2 Mill. bis 2080 sinken. Im Jahre 2017 wurden 88.553 Kinder geboren, 4,7 % weniger als 2016. Gleichzeitig sind 124.501 Menschen gestorben, 4,8 % mehr als 2016. Die Abwanderung stellt eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Sozialsysteme dar. Es fehlen mehr und mehr Beitragszahler.

Aus diesen wenigen Fakten lassen sich eine Reihe von Schlußfolgerungen ziehen: Die hohe Verschuldung Griechenlands ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Ausplünderung durch die internationale Finanzindustrie in Verbindung mit der nationalen Oligarchie. Sie und ihre Vermögen blieben bei der vermeintlichen Rettung unangetastet. EU, EZB und IWF haben in Wirklichkeit nur Banken, Versicherungen und Hedgefonds gerettet. Den Griechen wurden dabei noch mehr Bürden aufgehalst, als es bei einem Staatsbankrott der Fall gewesen wäre. Griechenland wird aus dem Schulden-Karussell nicht herauskommen, da eine hohe Staatsverschuldung zum System gehört.

Eine wirkliche Lösung der griechischen Tragödie kann nur durch die Rückgewinnung der Souveränität über die eigene wirtschaftliche Entwicklung unabhängig von EU und Euro-Raum erreicht werden.

Dr. Ulrich Sommerfeld

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Verteidigung am Hindukusch?

Damit Deutschland zu einer Großmacht werden konnte - das erklärte Ziel der herrschenden Klasse -, war es erforderlich, das britische Imperium zu Fall zu bringen und dessen Bastion Indien, das auf dem Landweg nur durch afghanisches Territorium zu erreichen war. Aus diesem Grunde wurde Afghanistan integraler Bestandteil der militärischen Strategie Deutschlands am Vorabend des Ersten Weltkriegs. "Kaum minder aussichtsreich und gar nicht mehr so entfernt wie man glaubt", so urteilten damals deutsche Strategen, "ist die Zukunft unserer Beziehungen mit Afghanistan. Kabul aber, die Residenz des afghanischen Emirs, liegt vor dem Kaiberpaß, dem Tore Indiens!" Damit war die erste Konzeption der "Verteidigung am Hindukusch" geboren. Wilhelm II. notierte auf einem Telegramm des deutschen Botschafters in Petersburg vom 30. Juli 1914: "Jetzt muß dieses ganze Getriebe (der englischen Politik) schonungslos aufgedeckt und ihm öffentlich die Maske christlicher Friedfertigkeit in der Öffentlichkeit schroff abgerissen werden und pharisäische Friedensheuchelei an den Pranger gestellt werden! Und unsere Consuln in Türkei und Indien, Agenten etc. müssen die ganze muhammed. Welt gegen dieses verhaßte, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstande entflammen; denn wenn wir uns verbluten sollen, dann soll England wenigstens Indien verlieren. Es müssen Versuche gemacht werden, einen Aufstand in Indien zu entfalten, wenn England als unser Gegner auftritt." Um diese Vorstellungen in die Tat umzusetzen, wurde in einer geheimen Sitzung im Auswärtigen Amt am 12. August 1914 beschlossen, eine Militärexpedition nach Afghanistan zu entsenden, um dort im Sinne Deutschlands das Volk gegen England zu "revolutionieren". Anfang September 1914 reiste die erste Gruppe aus Berlin ab. Sie bestand aus 23 Personen, erfahren durch ihren Militärdienst in deutschen Kolonien in Afrika und durch Handel im Orient. Die Leitung der Expedition wurde dem ehemaligen Dragoman in Bushir in Persien übertragen, der bereits zum Konsul ernannt war. Er führte einen von Unterstaatssekretär Arthur Zimmermann entworfenen und von Wilhelm II. handgeschriebenen Brief mit sich, der das Ziel verfolgte, Afghanistan auf seiten Deutschlands in den Ersten Weltkrieg einzubeziehen. Der Brief des deutschen Kaisers endete mit folgenden Worten: "Es war von jeher [...] mein Wunsch, die muhammedanischen Nationen unabhängig zu wissen und ihren Staaten möglichst freie Kraftentfaltung zu gewähren. So liegt es Mir nicht nur für den Augenblick am Herzen, den muhammedanischen Völkern in ihrem Kampf um die Selbständigkeit zu helfen, sondern Ich werde sie mit Meiner Kaiserlichen Regierung auch in Zukunft stützen [...]. Die heute schon bestehende Interessengemeinschaft zwischen dem deutschen Volke und den Muhammedanern wird auch nach Beendigung des Krieges weiterbestehen bleiben." In dieser Zeit hielten sich der indische Revolutionär Maulawi Barakatullah in Berlin und der indische Nationalist Mahendra Pratap in der Schweiz auf. Das Auswärtige Amt und das Kaiserliche Hauptquartier hatten mit beiden Indern Verbindung aufgenommen und erreichten, daß eine zweite Expedition unter Leitung von Werner Otto von Hentig nach Afghanistan geschickt wurde. Es wurde beschlossen, die politische Leitung an von Hentig zu übertragen und die militärische an Oberleutnant Oskar von Niedermayer. Die Expedition erreichte Kabul am 30. September 1915 unter großen Verlusten an Menschen und Material, wo ihr zunächst von seiten des Amirs Habibullah erhebliche Ablehnung entgegengebracht wurde. Erst durch einen Hungerstreik konnte sie den Empfang durch Habibullah in einer Privataudienz durchsetzen. "Schon heute erkannten wir, daß wir es mit einem vorsichtig und genau Vor- und Nachteile abwägenden, raschen Entscheidungen abholden, selbst über kleinste Dinge Kontrolle ausübenden Mann zu tun hatten, der stark unter englischem Einfluß stand und gewiß nicht der Negerhäuptling war, den man mit einigen Glasperlen in wilden, fanatischen Kampf gegen unsere Feinde treiben konnte, wie sich ihn wohl manche Leute in der Heimat vorgestellt haben mochten." Die Mission der Expedition bestand in der "Revolutionierung" Afghanistans gegen Britisch-Indien. Da der Kriegseintritt Afghanistans - das Hauptziel der Afghanistan-Expedition - nicht erreicht werden konnte, verließ die Expedition am 20. Mai 1916 Afghanistan.

Der Kaiser war weg, die Strategie blieb erhalten. Afghanistan war aufgrund seiner Grenzen im Norden zur Sowjetunion und im Osten und Süden zu Britisch-Indien während der Vorbereitungsphase des Zweiten Weltkrieges fester Bestandteil der militärischen Konzeption des faschistischen Deutschlands. Im September und Oktober 1937 wurden Verhandlungen zwischen Vertretern der afghanischen Regierung und des Auswärtigen Amtes, des Außenpolitisches Amtes der NSDAP, des Reichsluftfahrtministeriums sowie des Reichsverbandes der Deutschen Luftfahrtindustrie wegen des Verkaufs deutscher Flugzeuge an Afghanistan im Werte von 180.000 RM geführt. Schon vor Ende des Jahres 1939 existierten genaue Pläne von einem direkten deutschen Angriff gegen die britischen Stellungen im Orient, womit Oskar von Niedermayer, der militärische Leiter der deutschen Afghanistan-Expedition während des Ersten Weltkrieges, beauftragt war. Dieser Angriff auf die britischen Positionen konnte zu Lande nur über afghanisches Territorium durchgeführt werden. Die deutschen Faschisten hatten schon in Erwägung gezogen, nach der erfolgreichen Durchführung des Plans "Barbarossa" Britisch-Indien anzugreifen. Mit dem Datum des 17. Februars 1941 ist folgende Notiz im Kriegstagebuch des Oberkommandos der faschistischen Wehrmacht zu lesen: "Der Führer wünscht die studienmäßige Bearbeitung eines Aufmarsches in Afghanistan gegen Indien im Anschluß an die Operation 'Barbarossa'." Nach Auffassung von Adolf Hitler war Afghanistan die Rolle eines wichtigen Stützpunktes in den strategischen Plänen zur Eroberung Indiens und der Länder Südostasiens zugedacht. Acht Tage später war die Planung einer Operation gegen Afghanistan Gegenstand einer Besprechung im Generalstab des Heeres. Seit dem Frühjahr 1941 beschäftigte sich das Auswärtige Amt intensiver als zuvor mit diesem Vorhaben. Damit entstand das Konzept zur "Verteidigung am Hindukusch II".

Kurz nach dem faschistischen Überfall auf Polen gab die afghanische Regierung am 7. September 1939 eine Erklärung ab, während des Krieges ihre eindeutige Neutralität weiter bewahren zu wollen. Allerdings widersprach diese Neutralitätserklärung den Interessen des deutschen Reiches. Das Auswärtige Amt zog in Erwägung, die afghanische Regierung unter König Mohammad Zaher zu stürzen und an seiner Stelle den ehemaligen König Amanullah, der damals in Rom lebte und in seiner Amtszeit ein gutes Verhältnis zu Deutschland hatte, als Marionette des faschistischen deutschen Regimes in Kabul an die Macht zu bringen. Die bedingungslose Kapitulation des deutschen Faschismus verhinderte schließlich die Umsetzung dieses Plans. Trotz jahrelanger Anstrengungen sowohl des Wilhelminischen als auch des faschistischen Deutschland gelang es also nicht, Afghanistan in die Kämpfe des Ersten oder des Zweiten Weltkriegs einzubeziehen.

Dennoch wurden Erfahrungen gesammelt und Verbindungen geknüpft, an welche bundesdeutsche Unternehmen in ihrem Bestreben, in Afghanistan Fuß zu fassen, später anknüpfen konnten. "Historische Verpflichtungen, Vorrechte oder Lasten hat die Bundesrepublik im Indik-Raum nirgends. Das koloniale Ostafrika gehört völlig der Vergangenheit an. Aber es war, jedenfalls bis zum Ende der siebziger Jahre, nicht belanglos, daß das Deutsche Reich in der Zwischenkriegszeit und bis in den Zweiten Weltkrieg hinein auf der Landbrücke von der Türkei über Persien nach Afghanistan politische, wirtschaftliche und kulturelle Positionen aufgebaut hatte, die sich in den fünfziger Jahren wiederbeleben ließen." Damit waren die Voraussetzungen für die "Verteidigung am Hindukusch III" geschaffen.

Die westdeutsche Seite ging unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg dazu über, ihre "Dritte Welt"-Strategie zu entwickeln, in der Afghanistan einen festen Platz einnahm. Das Land bekam eine Finanzhilfe in Höhe von 25 Millionen Mark, sogar aus den Mitteln des Marshallplans. Seit der Einverleibung der DDR in die alte BRD und die Restauration des Kapitalismus in ganz Deutschland hegen politische und militärische Kräfte erneut Großmachtambitionen. Dies geht eindeutig aus den Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verteidigung vom 26. November 1992, vom 21. März 2003 und vom 18. Mai 2011 sowie aus dem Weißbuch 2004 bzw. 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr hervor. Als Verteidigungsgrenze wird nicht mehr die vom Grundgesetz (Art. 87 a) vorgeschriebene angesehen, vielmehr werden - wie in den genannten Dokumenten nachzulesen - die Grenzen des Einsatzes der Bundeswehr für die Sicherung der ökonomischen und Handelsinteressen Deutschlands unmißverständlich global definiert. Bemerkenswert ist die Berliner Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog im Hotel Adlon am 26. April 1997, in der er mit Nachdruck auf die deutschen Ansprüche hinwies: "Ein großes, globales Rennen hat begonnen: Die Weltmärkte werden neu verteilt, ebenso die Chancen auf Wohlstand im 21. Jahrhundert. Wir müssen jetzt eine Aufholjagd starten." Afghanistan wurde erneut - nun zum dritten Mal - als Schachbrett für die globalen Ambitionen der BRD mißbraucht. Man wartete jedoch auf einen geeigneten Anlaß, der sich dann mit dem 11. September 2001 geradezu anbot. Hätte es ihn nicht gegeben, hätte man ihn erfinden müssen. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) verkündete die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Vor diesem Hintergrund wurde zum ersten Mal, gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages, der "Bündnisfall" erklärt. "Wir dürfen auch nicht vergessen: Es war nicht zuletzt Deutschland, das 2002 die NATO gedrängt hat, Afghanistan zu einer NATO-Operation zu machen. Das ist die Regierung Schröder/Fischer gewesen", erklärte der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr Klaus Naumann. Damit eröffnete sich die Möglichkeit, am Krieg gegen Afghanistan teilzunehmen und künftig auch weltweit zu intervenieren. In der Schlagzeilen machenden Formulierung des damaligen sozialdemokratischen Bundesverteidigungsministers Peter Struck nach der Verabschiedung der Verteidigungspolitischen Richtlinien im Frühjahr 2003 "Deutschland wird am Hindukusch verteidigt" kommt die fortschreitende Militarisierung der deutschen Außenpolitik prägnant zum Ausdruck. "Der Satz ist einer der törichtesten Sätze der deutschen Nachkriegsgeschichte", bemerkte dazu der ehemalige Richter und Staatsanwalt Heribert Prantl, derzeitiger Leiter des Ressorts Innenpolitik der "Süddeutschen Zeitung".

Durch das militärische Engagement der BRD am Hindukusch wurde Afghanistan zum "Türöffner" für künftige weltweite Operationen der Bundeswehr. Militärbasen in Masar-e Scharif - zuvor auch in Kunduz, Faisabad und sogar in Kabul - machen das Land zudem zu einem unsinkbaren Flugzeugträger der Bundeswehr.

Zusammenfassend kann man feststellen: Jedesmal, wenn Deutschland Großmachtambitionen hatte, war Afghanistan Bestandteil dieser Strategie.

Dr. Matin Baraki

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Sind Frieden und Einheit für Syrien erreichbar?

Hauptsächlich die US-Koalition und ihr Hörige behindern den Friedensprozeß durch Raketenschläge, Provokationen mit Chemiewaffen, militärische Unterstützung von bewaffneter Opposition und Terroristen und durch den Ausbau von US-Basen im nordsyrischen Kurden-Gebiet. Israel bombardiert völkerrechtswidrig Standorte der syrischen Armee (SAA) und der iranischen Verbündeten. Die Beschreibung dieser in Syrien wirkenden Friedens- und Einheitsbehinderer sowie der Einheitsverfechter, aber auch weitere übergreifende Faktoren sind Gegenstand dieses Artikels.

Die militärpolitische Lage in der Welt hat sich durch die aggressive Militär-, Sanktions- und Handelspolitik sowie die Ankündigung Trumps, den INF-Vertrag zu kündigen, auch in Syrien weiter zugespitzt.

Die erfolgreich abgewehrten Luftschläge der Hauptkräfte der nicht durch Syrien eingeladenen US-Koalition auf die syrische Air-Basis Schairat und der Raketenschlag vom 14. April 2018 auf Objekte der syrischen Luftverteidigung verletzten das Völkerrecht und waren Aggressionen. Letztere sowie der angekündigte neue Raketenschlag der US-Koalition gegen die SAA bargen und bergen die Gefahr der Teilung des Landes sowie die Ausweitung zu einem großen regionalen oder Weltkrieg.

Der der SAA untergeschobene Einsatz von Giftgas gegen die Zivilbevölkerung wurde bis heute nicht bewiesen. Bewiesen wurden aber Provokationen der "Weißhelme", die mit Provokationen ihren Auftraggebern aus dem Westen (USA, Saudi-Arabien, Katar, Israel und EU-Staaten) Vorwände für deren Raketenschläge geben sollen. Durch das effektive militärische Eingreifen Rußlands und seiner diplomatischen Aktivitäten mit allen in Syrien aktiv handelnden Kräfte, durch die qualitative Verbesserung der Ausrüstung der SAA sowie mit der finanziellen und ökonomischen Unterstützung Chinas konnte die Lage in Syrien teilstabilisiert werden. Mit der durch Rußland und die Türkei an der Grenze zur Türkei eingerichteten neuen Deeskalationszone konnte ein opferreicher Sturm Idlibs durch die SAA und durch die Luft- Kosmischen Kräfte Rußlands vorerst abgewendet werden. Von den USA wurde ab Ende August ein aggressiver Aufmarsch zur Verstärkung der 6. Flotte mit einem Flugzeugträger, Über- und Unterwasserschiffen sowie modernen Kampfflugzeugen und Bombern, mit fast zweihundert Tomahawk-Raketen u. a. moderner Bewaffnung in Szene gesetzt, um eine entscheidende Schlacht gegen Syrien, Rußland und Iran zu führen. Dazu kam, daß Israel Anfang September 2018 den Abschuß eines russischen Aufklärungsflugzeuges vom Typ Il-20 provozierte, wodurch 15 russische Armeeangehörigen umkamen. Dieses Ereignis verschärfte die militärische Situation in Syrien und befreite Rußland von früheren Zusagen an Israel über die Verzögerung der Lieferung von S-300-Systemen an Syrien.

Aufgrund der Aggressivität des Westens wurde die syrische Luftverteidigung radikal verstärkt und umorganisiert. So wurden in kürzester Zeit ein Regiment aus mehreren modernisierten S-300-Komplexen sowie reichweiten-gestaffelten FRK, neue FEK-Mittel, z. T. mit russischen Besatzungen, ein Freund-Feind-System sowie ein automatisiertes Führungssystem installiert. In diese Abwehrgruppierung wurden auch modernste russische Kampfflugzeuge, Flügel- und Hyperschallraketen sowie Küstenschutz-Komplexe eingegliedert. Die LV-Systeme Rußlands und Syriens wurden zusammengelegt, wodurch sich die Gesamt-Effektivität der LV in Syrien um ein Mehrfaches erhöhte. Davon konnten sich Freund und Feind Anfang September 2018 beim vor der syrischen Küste stattfindenden Manöver überzeugen. In dieser Phase führte die Luft-Kosmische Gruppierung Rußlands den bisher größten Schlag gegen die vom Westen unterstützten IS- und An-Nusra-Terroristen in Idlib; zerstörte deren Basen und Infrastruktur, was die US-Koalition nicht abwenden konnte. Besonders schwach sahen die Abwehrsysteme von USA und GB dabei aus. Russische Experten sind der Meinung, daß diese neue LV-Gruppierung ausreicht, um einen Raketenschlag der US-Koalition und Israels auf Syrien und Verbündete erfolgreich abzuwehren. Diese Abwehrstruktur soll in der Lage sein, auch die F-35-Stealth-Flugzeuge abzufangen. Die Maßnahmen zur Verstärkung der syrischen LV werden das Kräfteverhältnis zwischen den in Syrien Handelnden weiter zugunsten Syriens, Rußlands, Chinas und Irans verändern.

Während die von der SAA und Rußland geführten militärischen Operationen der Rückgewinnung der Kontrolle über das ganze Land und dem Frieden mit allen in Syrien handelnden Kräften dienten, die von politischen und humanitären Aktivitäten Rußlands und Chinas begleitet wurden, hat sich die "westliche Wertegemeinschaft" noch nicht auf einen stabilen Frieden eingelassen, so die Syrien-Korrespondentin Karin Leukefeld auf der Syrien-Konferenz in Potsdam. Die Grenze zu Jordanien und die Golanhöhen konnten durch die SAA und russische Spezialkräfte von Söldnertruppen der US-Koalition bzw. von Terroristen befreit und wieder unter die Kontrolle Syriens gebracht werden. Grenzübergänge nach Jordanien und Israel wurden eröffnet. Jetzt patrouillieren UNO- und russische Militärs gemeinsam an der Grenze zu Israel.

Der von der US-Koalition in Syrien angestrebte Regime-Wechsel wurde nicht erreicht, und es gibt auch noch keinen belastbaren Frieden und keine Einheit. Die USA und Teile ihrer Koalition wollen einen Einflußverlust in Syrien und im Nahen Osten nicht hinnehmen, obwohl sie sich in einer militärisch nachteiligen Position befinden.

Die USA wollen in Syrien verbleiben und richteten dazu in den Kurdengebieten 15 Stützpunkte ein, auf denen sich u. a. auch deutsche Spezialkräfte befinden sollen. Sie beabsichtigen, das Kurden-Gebiet östlich des Euphrats unter internationale Kontrolle zu stellen, um die Ölfelder billiger ausbeuten zu können. Eine Rückunterstellung dieser Gebiete unter die Souveränität Syriens lehnen die USA ab. Diese Pläne verstoßen gegen das Völkerrecht. Die USA belegen Syrien unberechtigt mit Sanktionen, die eine verheerende Wirkung für die Bevölkerung haben und die von der EU, Deutschland eingeschlossen, unterstützt werden. Die EU unterteilt die Syrer in Gute (die mit dem Westen kooperieren) und Böse (die wieder in ihre Heimat wollen und Assad nicht ablehnen) sowie auch nach religiöser und ethnischer Zugehörigkeit, woran zu erkennen ist, daß sich die EU auf allen Ebenen an dem Krieg gegen Syrien beteiligt.

China nimmt an der Abwehr eines US-Raketenschlags mit der Lieferung von Waffen und Instrukteuren, mit Finanzierungen von Waffen- sowie Lieferungen und Leistungen zur Aufrechterhaltung der Wirtschafts- und Lebensbedingungen in Syrien teil und hält sich für den Wiederaufbau Syriens und dessen Industrie bereit. Es steht auch Gewehr bei Fuß, um die Erdölquellen zu übernehmen. Es scheint, als ob China der große Gewinner des Syrien-Krieges werden könnte.

Schlußfolgerungen:

1. Rußland und China haben, dank ihrer militärischen und ökonomischen Stärke, ihren mitbestimmenden Einfluß auf die Weltpolitik ausbauen können. Der gewachsene Einfluß basiert nicht nur auf dem nuklearen Abschrekkungspotential, sondern auch auf den neuen konventionellen militärischen Waffensystemen Rußlands, deren Wirkungen man in Syrien, trotz der Versuche der US-Koalition, die Stärke Rußlands, Syriens, des Irans und Chinas in Syrien durch Provokationen und große militärischen Aktionen anzuzweifeln, sehen kann.

2. Die Faktenlage gestattet die Schlußfolgerung, daß Frieden und Einheit in Syrien auf der Basis des globalen strategischen Gleichgewichts der Seiten, aber auch durch die militärische Balance der Kräfte vor Ort, erreichbar sind. Das sich herausbildende neue Kräfteverhältnis wird die Kriegsparteien an den Verhandlungstisch zwingen, um Syrien Frieden und Einheit zu bringen.

3. Es scheint notwendig, diese Sicht der Dinge in Syrien in die Medien und zu den Regierenden zu bringen - eine Aufgabe für alle linken und anderen fortschrittlichen Kräfte!

Oberst a. D. Gerhard Giese
Strausberg

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Vor 60 Jahren: Sieg der Revolution in Kuba

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Keine neue Gesellschaft ohne neue Kultur

In der Geschichte haben sich die Kubaner immer gegen defätistische Erklärungen ausgesprochen:

- beim Vertrag von Zanjón (der Unterzeichnung eines Friedensvertrages ohne Unabhängigkeit mit Spanien im Jahr 1878),
- dem Protest von Baraguá im selben Jahr
- und danach beim Krieg von 1895,
- angesichts des Debakels des sozialistischen Lagers in Europa mit unserer Losung "Socialismo o muerte!" (Sozialismus oder Tod!) - eine Tradition, welche die Revolution vor und nach ihrem Sieg 1959 schuf und aufrechterhielt.

Es ist eine Kombination von Glauben an den Sieg - unvereinbar mit der Vorstellung einer Niederlage - und dem Nicht-Akzeptieren von Aufrufen, die Waffen zu strecken, was dazu führen sollte, unser erträumtes Ideal aufzugeben. "Die Niederlage in einen Sieg verwandeln", das ist der Satz, den Fidel angesichts des Scheiterns der "Zuckerrohrernte der zehn Millionen" 1970 hochhielt und den man als Symbol für den Geist der Kubanischen Revolution sehen kann.

Der Krieg um das Bewußtsein, der die bürgerlichen Medien durchläuft, versucht diesem Glauben Grenzen zu setzen und die Vorstellung des Möglichen einzuengen. In den 90er Jahren wurde das Ende der Geschichte behauptet, es sei angeblich unmöglich, den Kapitalismus zu überwinden. Trotzdem wurde etwa ab 1998 offensichtlich, daß sich die Geschichte stark bewegte, zumindest, was Lateinamerika und die Karibik angeht.

Zwanzig Jahre später spricht man vom Ende des Zyklus der Linken. Aber die Tatsachen beweisen das Gegenteil: Die Völker der Region haben ihren Traum von Frieden und sozialer Gerechtigkeit keineswegs aufgegeben, die imperialistische Offensive wird nicht durch die Wiedereroberung der Wählerschaft gestützt, sondern vorwiegend durch kriminelle Aktionen, Staatsstreiche, Anklagen gegen die linken Führer, welche die größten Chancen hätten, einen Sieg an den Wahlurnen davonzutragen, und durch die Ermordung von politischen und sozialen Aktivisten.

Die imperialistische Offensive versucht, jede Regierung und jeden rebellischen Führer zu eliminieren, sie eignet sich zynisch Elemente des traditionellen Diskurses der Linken an und beraubt ihn seines Inhalts, um seine Reichweite zu schmälern. Trotzdem hat fast die Hälfte der kolumbianischen Wähler für einen Kandidaten der Linken gestimmt, und in Mexiko ist es der Reaktion dieses Mal nicht gelungen, wie zu anderen Zeiten geschehen, Lopez Obrador den Sieg zu entreißen.

Die Wahlsiege der wahren Linken - alle jene Regierungen, die ein Glied in der imperialistischen Kette zerstören, so klein es auch sein mag - bedeuten einen "Riß im System", das angeblich unüberwindbar ist.

Das schmälert nicht das Erreichte und schätzt auch die Arbeit an der Basis nicht gering, aber es läßt das Ergebnis in einem Kontext sehen. Wenn die Linke einmal den Sieg errungen hat, darf sie nicht vergessen, daß es nicht nur darum geht, Land und Häuser zu übergeben, daß es nicht genügt, Gesetze zum Wohle des Volkes zu erlassen. Der Impuls, den der Sieg im Bewußtsein hinterlassen hat, muß zu einem Paradigmenwechsel des Lebens führen, muß die Massen in Kollektive von Individuen verwandeln, in bewußte Vorkämpfer, um so mit dem Aufbau einer Kultur zu beginnen, die sich von der kapitalistischen unterscheidet.

Vor einigen Tagen sprach ich mit einem Freund darüber, wie der Imperialismus ganz offen und straffrei lügt. Es ist völlig gleichgültig, ob wenige Tage später die Falschheit einer Behauptung entlarvt wird: Die Lüge ermöglichte die gewünschte Aktion und hinterläßt im Bewußtsein der Massen eine Spur. Er stellte Betrachtungen an, daß der Krieg, den man uns aufzwingt, im strengen Sinne kein Krieg des Denkens ist, kein Kampf um die Wahrheit, sondern darum, die Macht zu übernehmen und sie zu behalten. Dem Imperialismus sind dazu alle Mittel recht. Unser Krieg ist sehr wohl auch ein Krieg des Denkens.

Es ist ein Kampf, der nicht ohne die Wahrheit, ohne Wissen auskommen kann, aber er ist nicht mit einer akademischen Debatte zu verwechseln. Diese doppelte Bedingung - die nur auf der revolutionären Seite sichtbar ist - schafft Spaltungen, die der Feind wohl zu nutzen weiß, denn wir stimmen, was die Identifizierung der Wahrheit angeht, nicht immer überein. Der Imperialismus hingegen verachtet sie, er möchte einzig und allein die politische Macht erhalten. Ein Ergebnis davon ist, daß die Linke sich spaltet und die Rechte sich vereint.

Die revolutionäre Ideologie entsteht, nährt sich und wächst im Krieg gegen die bürgerliche Ideologie, die sie ersetzen muß und die im Wesen konterrevolutionär ist, gegen die Ideologie, die große Teile der heutigen Welt beherrscht und die für ihre Reproduktion auf einflußreiche transnationale Medien und auf die Unterhaltungsindustrie in all ihren Varianten zurückgreifen kann.

Derselbe Fernsehapparat, der eine Rede von Fidel, Chávez, Maduro oder Evo überträgt, bringt eine Stunde später einen Film, dessen verdeckter ideologischer Inhalt die Gefühle, Wünsche und Vorstellungen des Zuschauers in die entgegengesetzte Richtung lenkt.

Die revolutionäre Ideologie, auch wenn sie in einer Revolution gesiegt hat, lebt in ständigem Kampf mit der konterrevolutionären Ideologie. Sie kommt nicht als Geburtstagsgeschenk verpackt. Sie bewegt sich zwischen feindlichen Granaten und Minen voran.

In ihren Anfängen besteht der Konsens mehr auf politischer als auf ideologischer Ebene; Hauptziel ist, die Regierung zu übernehmen, was noch nicht bedeutet, die Macht zu haben. Aber sobald dieses Ziel erreicht ist, wird der Imperialismus die Regierenden zu neuen Definitionen drängen, die notwendigerweise einen ideologischen Konsens erfordern, der mehr einem Ideal verpflichtet ist. Und genau das ist die Kriegszone, in der die Revolutionäre nicht genügend Einsatz gezeigt haben, weder im vergangenen Jahrhundert noch bisher in diesem Jahrhundert: nämlich beim Kampf auf dem Gebiet der Kultur, der wahrscheinlich der schwierigste und gleichzeitig der entscheidende ist. Es gibt keine neue Gesellschaft ohne neue Kultur!

Der Sozialismus ist entweder der Sieg einer anderen Lebenskultur oder er ist gar nichts. Es handelt sich natürlich nicht um ein Ersetzen künstlerischer oder literarischer Traditionen - ich beziehe mich hier nicht auf Kunst und Literatur im strengen Sinne, und es geht auch nicht um den Anspruch, in einer immer weiter globalisierten Welt die nationale Kultur von ausländischen Einflüssen zu reinigen.

Ich spreche von der notwendigen Umwandlung des Gesellschaftsprojekts und auch von persönlichem Glück und Erfolg, was im Kapitalismus immer damit einhergeht, mehr haben zu wollen als zu sein (ein Sparkassen-Slogan aus der Zeit des westdeutschen "Wirtschaftswunders" lautete: "Hast du was, dann bist du was.", RF), mit dem räuberischen Konsumismus, dem Individualitäten zerstörenden Individualismus. Nach diesem Paradigma des persönlichen Erfolgs ist auch das Gesellschaftsmodell ausgerichtet.

Wenn es den von der revolutionären Gerechtigkeit Begünstigten nicht gelingt, ihr Lebensparadigma zu ändern - das, was in Filmen, Telenovelas, Liedern, auf den "Gesellschaftsseiten" der großen Tageszeitungen und ganz allgemein in den Kommunikationsmedien vorherrscht, also in der herrschenden Kultur, die die Werte des Systems reproduziert -, wenn das Trugbild, daß es den Ausgebeuteten einmal gelingen wird, wie ihre Ausbeuter zu leben (das Wunschbild, das die Medien immer einsetzen, um vorzutäuschen, daß das Wunder vom Aschenputtel möglich ist), nicht aufgelöst wird, wenn es nicht neu gestaltet wird, dann werden Revolutionen immer umkehrbar sein.

Deswegen ist es notwendig zu verstehen, daß der Sozialismus das höchste Maß an Demokratie umsetzen muß, aber einer Demokratie, die sich von der bürgerlichen unterscheidet, einer Demokratie, die ursprünglich einen befreienden Charakter hatte und nun einfach nur noch Beschützer ihrer Eliten ist, ein Wall gegen den Sieg der Besitzlosen. Ich habe das Zauberwort schon gesagt: Trugbild, Illusion. Davon lebt der Kapitalismus.

Der Sozialismus interessierte sich zu Beginn nicht dafür, denn die Erstürmung des Himmels verwandelte sich in Hoffnung, in eine Gewißheit, die, wie es schien, mit größeren Anstrengungen zu erreichen war. Man meinte sie nicht zu brauchen, die Illusion, denn schließlich hatte man das Sein erobert - ein großer Irrtum in einer Welt, in der die Wahrheit sich zwischen Tausenden sorgfältig gelegten falschen Spuren verflüchtigt und in der gigantische Hindernisse das Erreichen der Ziele verzögern. Der Sozialismus muß sowohl sein als auch scheinen.

Er muß am individuellen menschlichen Horizont (der kleiner ist als der der Geschichte, als der der Menschheit und deswegen direkter und fordernder) ein erstrebenswertes und erreichbares Ziel aufstellen. Der Sozialismus muß prosperierend, nachhaltig und auf eine andere Art demokratisch sein, als der Kapitalismus dies verkündet. Ohne eine sichtbare oder glaubhaft vorstellbare Ziellinie am Horizont wird niemand mit Begeisterung rudern. Schon vom ersten Tag an muß damit begonnen werden, sie zu setzen: Wenn die alternative Kultur unsichtbar bleibt, täuscht jede Eroberung im materiellen Bereich nur eine Stufe zum sozialen Aufstieg im Kapitalismus vor und "die von unten" werden weiter davon träumen, "die von oben" zu sein.

Andererseits braucht die Zukunft eine Vergangenheit, und von dort wird ein erbitterter Kampf um die Helden und die historischen Daten geführt. Die historiographische Debatte in Kuba und Venezuela über Martí und Bolivar ist voller Ideologie. Es ist auch eine Debatte über Fidel und Chávez. Jede Deutung der Vergangenheit wird bestimmt von der Zukunftsvision dessen, der sie ausspricht. In Miami und in Havanna z. B. gibt es jeweils ein Denkmal für die "Helden" von Playa Girón (oder der Schweinebucht). Ersteres wurde zu Ehren der Söldner errichtet, die von US-Schiffen aus Kuba überfielen. Das zweite zu Ehren der Milizionäre, welche die nationale Souveränität und den Sozialismus verteidigten. Zwei Sichtweisen der Geschichte, zwei Entwürfe des Landes. "Die andere Geschichte der Vereinigten Staaten" von Howard Zinn wird ein unerläßliches Buch für andere Vereinigte Staaten sein, aber das ist nicht die Geschichte, auf die sich der aktuelle "American Way of Life" stützt.

Präsident Obama hat von den Kubanern verlangt, die Geschichte zu vergessen. Kaum ein Jahr später berief sich der Außenminister des neuen US-Präsidenten wieder auf die Monroe-Doktrin. Aber unsere Kinder "lernen" Geschichte, manchmal auf die schlimmste Art und Weise: mit Videospielen, Serien, Filmen, den einzigen Orten, in denen es den US-Soldaten gelingt, die Vietnamesen zu besiegen. Die Superhelden ersetzen in vielen Fällen die wirklichen Helden der Geschichte.

Für die Linke gilt es, dieses falsche "Wissen" umzuschreiben, es neu zusammenzusetzen, den richtigen Blickwinkel und die Stimme der Unterdrückten wiederzugewinnen: zu erreichen, daß sich alle über ihre nationalen Grenzen hinweg erkennen. Wenn wir wollen, daß sie zusammen marschieren, müssen sie sich kennen.

"Die Völker, die sich nicht kennen" schrieb José Martí, "sollten sich beeilen, sich kennenzulernen als solche, die zusammen kämpfen werden." Und er fügte hinzu: "Es ist die Stunde der Zählung und des gemeinsamen Kampfes, und wir müssen so dicht aneinander sein wie das Silber im Innern der Anden."

Enrique Ubieta Gómez
(Red. bearbeitet aus "Granma", 9/2018)

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WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG
Sozialistisches Geschichtsbewußtsein und unser Geschichtsbild
Sendung des Deutschlandsenders vom 16. Januar 1975

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Franz Mehring zum hundertsten Todestag

Wissen, wofür man lebt

Am 29. Januar 1919 starb Franz Mehring, der Freund und Mitstreiter Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs, dessen marxistisches Lebenswerk entscheidend zur Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands und zu deren ideologischer Orientierung beigetragen hat. Die deutsche Arbeiterklasse verlor in ihm den nächst Marx und Engels größten marxistischen Historiker, der mit seinen Hauptwerken "Geschichte der deutschen Sozialdemokratie" und "Karl Marx" hervorragende Beiträge zur historisch-materialistischen Geschichtsschreibung lieferte. Sein Wirken als Publizist in Zeitschriften und Parteiorganen wird stets Vorbild für künftige Generationen sozialistischer Journalisten sein und bleiben.

Franz Mehring hat te das große Glück, noch an seinem Lebensabend die Bestätigung der Lehre von Karl Marx in Gestalt der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland zu erleben. Zu Silvester 1899 hat te Mehring in der "Neuen Zeit" das 20. Jahrhundert mit den optimistischen Worten begrüßt: "Es ist mächtig vorwärtsgegangen, und es wird je länger je mächtiger vorwärtsgehen. Vielleicht nicht immer in ununterbrochenem, vielleicht auch nicht in so schnellem Siegeslauf ­...

Aber mit freudigem Mute und stolzer Zuversicht überschreitet das klassenbewußte Proletariat die Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts. Wer zu seiner Fahne schwört, hat ein Ideal, wie es keine Vorzeit größer gekannt hat, und besitzt eine Bürgschaft des Sieges, wie sie der genialste Eroberer noch nie besessen hat. Er weiß, wofür er lebt, und im neuen Jahrhundert gilt ihm, wie im alten, der frohgemute Befreierruf: Es ist eine Lust zu leben!"

Die gleiche Klarsicht und unerschütterliche Überzeugung von der Schöpferkraft der Massen atmen auch seine berühmten Sätze über die Große Sozialistische Oktoberrevolut ion, die er an der Jahreswende 1917/1918 den Revisionisten aller Schattierungen ins Stammbuch schrieb:

"Revolutionen haben einen langen Atem, wenn es wirkliche Revolutionen sind; die englische Revolution des siebzehnten, die französische Revolution des achtzehnten Jahrhunderts haben jede etwa vierzig Jahre gebraucht, um sich auszuwirken, und wie - man möchte fast sagen ins Winzige - schrumpfen die Aufgaben, die die englische und selbst noch die französische Revolution zu lösen hatten, vor den ungeheuren Problemen zusammen, mit denen die russische Revolution ringen muß ..."

M. W.
(RF-Archiv)

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Das Museum für Deutsche Geschichte - "mein" Museum

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
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Erinnerung an Magda und Paul Thürey

Die ehemals so stolze Hansestadt Hamburg zeigte sich am 23. Juli 1945 von einer traurigen Seite. Die Bombenangriffe vom Juli 1943 hatten fast die Hälfte der Stadt in Schutt und Asche gelegt. Dabei waren in drei Bombennächten 40.000 Menschen ums Leben gekommen. Obdachlosigkeit, Hunger, Verzweiflung, Trauer um die Opfer nahmen den Überlebenden jeden Lebensmut. Obwohl der Himmel stark bewölkt war und es zeitweise regnete, hatten sich an diesem grauen Montag Tausende auf den Weg zum Ohlsdorfer Friedhof begeben. Magda Thürey, eine Hamburger Widerstandskämpferin, war kurz nach ihrer Befreiung aus dem Fuhlsbütteler Gefängnis an den Haftfolgen verstorben. Ihre Genossen von der KPD und viele aus der SPD waren gekommen, ihr die letzte Ehre zu erweisen.

Magda und Paul Thürey

Schon als Jugendliche hatte Magda in der Freideutschen Jugend Freunde gefunden, die wie sie etwas gegen den herannahenden Ersten Weltkrieg unternehmen wollten. Als junge Lehrerin trat sie 1925 der KPD bei und wurde in die Hamburger Bürgerschaft gewählt. 1933 wurde die engagierte Reformpädagogin wegen ihrer Parteizugehörigkeit aus dem Schuldienst entlassen. Gemeinsam mit ihrem Mann, Paul Thürey, eröffnete sie einen Seifenladen, den "Waschbär", nach ihrem Mädchennamen "Bär". Das Paar gehörte nicht zu den zwölf Millionen Deutschen, die bei freien Wahlen der Nazipartei ihre Stimme gaben, sondern sie warnten vor der braunen Gefahr: "Wer Hitler wählt, wählt den Krieg."

Der "Waschbär" sicherte nicht nur die Existenz des jungen Paares, sondern war nach der Machtergreifung Hitlers und dem Verbot demokratischer Parteien auch Treffpunkt der illegalen Widerstandsgruppe Bästlein. Hier wurden Flugblätter und illegale Druckschriften in Seifenkartons versteckt. Die Gruppe arbeitete bis zum Herbst 1943, als sie durch einen Spitzel verraten wurde. 47 Mitglieder der kommunistischen Bästlein-Gruppe wurden verhaftet und im Verlaufe der berüchtigten Hamburger Kommunistenprozesse verurteilt. Mit neun anderen Verurteilten wurde Paul Thürey am 26. Juni 1944 hingerichtet. Die an multipler Sklerose erkrankte Magda wurde im Gefängnis Fuhlsbüttel in "Schutzhaft" genommen.

Der historische Hamburger Handschlag

Viele der auf dem Ohlsdorfer Friedhof versammelten Kommunisten und Sozialdemokraten hatten gemeinsam in Konzentrationslagern oder Gefängnissen gesessen und schwere Zeiten hinter sich. Einige waren gerade aus der Emigration nach Hamburg zurückgekehrt. Hatten sie sich vor 1933 als Gegner gesehen, so überbrückte nun das gemeinsame leidvolle Schicksal die früheren Gegensätze. Eigentlich standen sie noch immer als Illegale am Grabe der Kampfgefährtin. Die britische Besatzungsmacht hatte demokratische Parteien noch nicht wieder zugelassen. Trotzdem hatte die Kreisleitung der Hamburger Sozialdemokraten Karl Meitmann, alle kannten ihn als "Jäcky", schon zum Landesvorsitzenden gewählt. Nicht weit von ihm entfernt, in der Nähe des Grabes, stand der Kommunist Friedrich Dettmann, bekannt als "Fiete". Der breitschultrige Schlosser hielt sein Markenzeichen, seine Thälmannmütze, in der Hand. Seit dem 15. Mai 1945 war er Hamburger Gesundheitssenator. Für seine Genossen war klar, daß er der designierte Landesvorsitzende der KPD war. Die letzten Worte der Trauerrede waren verklungen, als Meitmann plötzlich nach vorn, in Richtung des Grabes trat. Die Umstehenden machten Platz, als er auf Dettmann zuging und ihm die Hand reichte. Sie versprachen, sie wollten "den Bruderkampf niemals wieder aufleben lassen". Alle wußten, dies könnte ein historischer Augenblick sein. Wenn sich die beiden großen Arbeiterparteien darauf einigen könnten, gemeinsam den Faschismus auch in den Köpfen der Menschen zu überwinden und das geschundene Land wieder aufzubauen, so gab es doch wieder Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Als die Trauernden nach und nach den Ohlsdorfer Friedhof verließen, trat für einen Augenblick die warme Sommersonne hinter der dicken Wolkendecke hervor.

Am 20. August 1945 schon trafen sich die Sozialdemokraten Meitmann, Tessloff, Schmedemann, Elsner und Borchers mit den Kommunisten Dettmann, Westphal, Dethleffs, Tastesen und Grünert. Gemeinsam unterzeichneten sie einen Aufruf an SPD und KPD. Es komme nun darauf an, "die beiden großen Arbeiterparteien in kürzester Zeit beschluß- und aktionsfähig zu machen". Auf der Grundlage gemeinsamen Handelns solle eine sozialistische Partei entstehen. "Einigkeit, Einheit und nie wieder Bruderkampf!", so endete der Aufruf.

Einheitsfront und Volksfront

Die Hamburger Kommunisten und Sozialdemokraten waren durch Parteidisziplin oder einfach durch Loyalität an Beschlüsse der zentralen Gremien ihrer Parteien gebunden. Für die KPD war das der Aufruf des Zentralkomitees an das deutsche Volk zum Aufbau eines antifaschistisch-demokratischen Deutschlands vom 11. Juni 1945. Darin bekannten sich die Kommunisten zu ihrer Mitschuld an der Machtergreifung der Faschisten und am Zweiten Weltkrieg: "Wir deutschen Kommunisten erklären, daß auch wir uns schuldig fühlen, indem wir es trotz der Blutopfer unserer besten Kämpfer infolge einer Reihe unserer Fehler nicht vermocht haben, die antifaschistische Einheit der Arbeiter, Bauern und Intelligenz entgegen allen Widersachern zu schmieden ..."

Gemeinsam mit SPD-Genossen wurde 1920 der Kapp-Lüttwitz-Putsch, der Versuch reaktionärer Offiziere, die Weimarer Republik zu zerschlagen, vereitelt. Koalitionsregierungen aus Sozialdemokraten und Kommunisten regierten 1923 Sachsen und Thüringen. Aber die Einheitsfront scheiterte. Dazu trug der "Blutmai" 1929 nicht unwesentlich bei. Es gab Tote und Verwundete, als der sozialdemokratische Berliner Polizeipräsident Karl Zörgiebel am 1. Mai auf die zwar nicht genehmigte, aber zunächst friedliche Berliner Maidemonstration schießen ließ.

Nun galten die Sozialdemokraten neben den Faschisten als Hauptfeinde. Ernst Thälmann sprach wiederholt vom Sozialfaschismus, und Fritz Heckert schrieb, daß der Kampf gegen die faschistische Bourgeoisie nicht "gemeinsam mit der Sozialdemokratie, sondern gegen sie" geführt werden müsse. Erst der VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale verwarf die Sozialfaschismus-These und forderte nicht nur die Einheitsfront von Kommunisten und Sozialdemokraten, sondern darüber hinaus das Zusammengehen mit bürgerlichen Parteien in einer Volksfront wie in Spanien und Frankreich. Die Brüsseler Konferenz der KPD von 1935 nahm diesen Gedanken auf, und die Berner Konferenz von 1939 bekräftigte den Willen zur Volksfront mit der Resolution "Der Weg zum Sturze Hitlers und die neue demokratische Republik". Das Ziel der antifaschistischen Volksfront sollte nach dem Aufruf vom 11. Juni 1945 die parlamentarische Demokratie sein, in der alle bürgerlichen Grundrechte verwirklicht wären. Man strebte eine umfassende Bodenreform an, wobei zwar das Eigentum der Junker, nicht aber der Besitz der Großbauern angetastet werden sollte. Die am Krieg beteiligte Großindustrie sollte enteignet werden.

Das Scheitern der Sozialistischen Einheitspartei Hamburgs

Führende SPD-Politiker wie der frühere Reichstagsabgeordnete Kurt Schumacher hielten nicht viel von einer Aktionseinheit mit den Kommunisten oder gar einer Einheitspartei. Falls allerdings die Mehrheit der Mitglieder die Einheitsfront wolle, würde er sich dieser nicht entgegenstellen, schrieb er in den "Politischen Richtlinien" an alle SPD-Bezirke. Gegenwärtig sei das aber nicht zu verwirklichen, da die KPD an eine Siegermacht gebunden sei und nur die SPD die Interessen der deutschen Arbeiter vertrete sowie eine sozialistische Wirtschaftsordnung anstrebe. Die Haltung der KPD zur Demokratie hielt er für zweifelhaft, während für die Sozialdemokraten Demokratie und Sozialismus untrennbar verbunden seien.

Trotzdem hofften die Hamburger Genossen, sich über die Gründung der Sozialistischen Partei verständigen zu können. Am 19. September 1945 verfaßte Fiete Dettmann ein Schreiben an die "werten Genossen". In fünf Punkten griff er verschiedene Forderungen des KPD-Aufrufs vom 11. Juni auf. Jäcky Meitmann antwortete am 1. Oktober 1945, die SPD wolle erst die Partei aufbauen, bevor es zur Vereinigung kommen könne. Erneut erklärte er sich aber zur Zusammenarbeit mit jeder Partei bereit, die sich Demokratie und Sozialismus zum Ziel gesetzt habe. Erst am 21. November 1945 wurden SPD, KPD, CDU und FDP in der britischen Besatzungszone zugelassen. Am 13. Oktober 1945 gab es eine weitere Zusammenkunft des Aktionsausschusses. Danach schrieb die KPD-Leitung noch vier Briefe an die SPD, die mit einem Schreiben antwortete. Nach der Bürgerschaftswahl von 1946 plädierte Karl Meitmann für eine Alleinregierung der SPD in Hamburg. Die Sozialdemokraten hatten 83 von 110 Sitzen errungen.

Der gewählte Senat wurde von SPD, FDP und KPD gebildet. Meitmann wurde 1949 in den Bundestag gewählt. Er starb 1971 in seiner Heimatstadt Kiel und liegt in Hamburg auf dem Ohlsdorfer Friedhof begraben. Fiete Dettmann war bis 1948 Gesundheitssenator, bis er durch einen Mißtrauensantrag der anderen Fraktionen zum Rücktritt gezwungen wurde. Auf Beschluß seiner Partei übersiedelte er 1951 in die Hansestadt Stralsund, wo er Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands wurde und in der SED-Kreisleitung arbeitete. 1967 wurde er mit dem Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Gold gewürdigt und zum Ehrenbürger Stralsunds ernannt. Er starb 1970.

Geht man in Hamburg-Eimsbüttel durch die Emilienstraße, so findet man bei Nummer 30, dem letzten Wohnhaus der Thüreys, zwei Stolpersteine. Hier soll der beiden antifaschistischen Widerstandskämpfer gedacht werden.

Der Stolperstein für Magda erinnert auch an den "Hamburger Handschlag". Er fordert auf zum gemeinsamen Kampf aller Demokraten und Antifaschisten gegen den erstarkenden Neofaschismus, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassenhaß und gegen die uneingeschränkte Macht von Großbanken und Großunternehmen.

Prof. Dr. Klaus Denecke, Hamburg

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Die Grundfrage unserer Bewegung

Nun wurde die Eigentumsfrage - "die Grundfrage unserer Bewegung" aus dem "Kommunistischen Manifest" - von unten aus der neoliberalen Versenkung geholt. In der Berliner Großdemonstration von 230 Initiativen und Organisationen im April letzten Jahres hieß es: "Mietenwahnsinn widersetzen!", "Deutsche Wohnen enteignen!" und "Häuser denen, die drin wohnen!" Ein breites Bündnis arbeitet für ein Volksbegehren zur Enteignung großer börsennotierter Immobilienkonzerne. Und ein Parteitag der Berliner PDL sprach von Enteignungen, um Spekulationen mit Baugrund und Leerstand zu verhindern. Gefordert werden zudem Verkaufsvorbehalte des Abgeordnetenhauses bei Verkäufen öffentlichen Eigentums. In der Verfassung soll eine Privatisierungsbremse verankert werden. Bernd Riexinger forderte: "Immobilienkonzerne wie Vonovia, Deutsche Wohnen und Co. müssen enteignet werden."(1)

In mehreren Städten wollen Initiativen massenhaft leerstehenden Wohnraum der Spekulation von Immobilienkonzernen entziehen. Sie besetzen ungenutzte Wohnungen, und die Mieter wollen sie selbst verwalten. Einige Gewerkschafter stellen "die Eigentumsfrage" auch im Kampf gegen Gewinnspekulanten im Pflegedienst. Und wenn es wie bei Siemens, Opel oder der Leipziger Halberg um profitdiktierte Verkäufe oder massenhafte Streichung von Arbeitsplätzen geht, wird bei Streiks schon mal eine "Enteignung der Ausbeuter" gefordert. Der langgediente SPD-Landwirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern nannte nun den jahrelangen Ausverkauf des Bodens an überregionale private Kapitalanleger "alarmierend" und wollte - von CDU und Bauernverband gestoppt - dagegen gesetzlich vorgehen.(2) Und auch dies: "Enteignet Facebook!" ist eine hochmoderne Antwort auf die E-Frage.(3) Die Linkspartei in Hessen geht in ihrem Landtagswahlprogramm für den Oktober komplex, vielschichtig und konkret mit der Grundfrage um - bis hin zur Forderung, Großunternehmen in öffentliches Eigentum zu überführen. Dabei werden antikapitalistische Grundsätze der hessischen Verfassung von 1946, die soeben von Linken, SPD, Gewerkschaften und Sozialverbänden gegen die CDU u. a. erfolgreich verteidigt wurden, genutzt.(4) Der Beschluß des Leipziger PDL-Parteitages vom Juni nimmt all dies auf: Für einen notwendigen "grundlegenden Richtungswechsel", für einen neuen Weg müsse "die Eigentumsfrage in den Fokus gerückt werden".(5) Damit wird eine Grundaussage des Parteiprogramms von 2011 bekräftigt: Es geht um öffentliches und demokratisch kontrolliertes Eigentum in der Daseinsvorsorge, in Infrastruktur, Energiewirtschaft und im Finanzsektor. "Wir wollen eine demokratische Vergesellschaftung weiterer strukturbestimmender Bereiche auf der Grundlage von staatlichem, kommunalem, genossenschaftlichem oder Belegschaftseigentum."(6)

Und selbstverständlich taucht die Eigentumsfrage auch in ihrer internationalen Dimension wieder stärker auf. Auf dem Labour-Parteitag 2017 hieß es aus der Führung: Wir holen uns unsere Bahn, unsere Energie, unsere Post, unser Wasser zurück, keine Public-private-Partnership mehr! Von katalanischen Gewerkschaften wurde im Selbständigkeitsaufbruch eine öffentliche Bank unter Volkskontrolle gefordert. In der spanischen Linken geht es darum, die Daseinsvorsorge wieder in die öffentliche Hand zu nehmen und ökologische staatliche Unternehmen zu gründen. Linke in der Schweiz wollen private Unternehmen bzw. von Auslagerung oder Verkauf bedrohte Teile durch ein öffentliches Vorkaufsrecht oder eines für die Belegschaften vergesellschaften.

So setzen die Wirklichkeit und Betroffene selbst - zunächst punktuell und zaghaft - die Eigentumsfrage auf die Tagesordnung, nachdem der Neoliberalismus sie jahrzehntelang täglich in allen Lebensbereichen gegen die Erwerbsabhängigen entschieden hat und weiter entscheidet.

Wir erinnern uns: In den Jahren 2008 ff. wurde sie mit dem Schrecken der Bankenkrise aktualisiert, öffentlich thematisiert und politisiert. Eine Vergesellschaftung von Banken, zumindest Teilhabe an der Entscheidungsmacht, wenn sie mit Steuergeldern gerettet worden sind, wurde gefordert. Ebenso die Überführung der Stromleitungsnetze in öffentliches Eigentum. Oskar Lafontaine hat argumentiert, daß das Grundgesetz uns zu einer neuen Wirtschaftsordnung verpflichtet.(7) Und am 1. Mai 2015 rief er den Versammelten zu: Wer von Politik rede, aber von der Eigentumsfrage nicht, solle nach Hause gehen. 2009 erklärte der Chefökonom des DGB, daß in Zeiten der Krise die Eigentumsfrage nicht mehr tabu sein sollte. Gemahnt wurde, daß es steril sei, sie nur abstrakt zu propagieren. Eine sozialistische Organisation, die sie nicht zum Zentralpunkt mache, von dem aus alle anderen Themen beleuchtet werden, sei nicht mehr erkennbar.(8)

Thomas Kuczynski wandte sich 2008 dagegen, die Wahrheit des Satzes, daß die Eigentumsfrage die "Grundfrage der Bewegung" ist, "seit Jahren in Abrede zu stellen" und zu meinen, es genüge, die "Verfügung" über das Eigentum "sozialen Kriterien" zu unterwerfen.(9) Damit wird verbreiteten Positionen in der Linkspartei und ihrem Umfeld zu Recht widersprochen.

Täglicher sozialer Abwehrkampf und die Eigentumsfrage

Selbstverständlich geht es gegenwärtig nicht um eine generelle Vergesellschaftung machtgebenden Eigentums in Struktur und demokratischer Verfügung - und damit um die Überwindung des Kapitalismus als Tagesaufgabe.

Und es geht auch nicht um einen Ersatz für die Bemühungen um Umverteilung von oben nach unten und für politische Regulierungen der Lebensverhältnisse im Interesse der Erwerbsabhängigen, sondern es geht um Vergemeinschaftungsstrategien als Teil dieser Kämpfe. Das heißt, wir müssen uns der Tatsache stellen, daß linke Forderungen zur Steuer-, Miet-, Gesundheits-, Lohn- und Wirtschaftspolitik, zum Kampf gegen Hartz IV und Armut oder zur Einschränkung von Rüstungsexporten, den neoliberalen und militaristischen Trend der Entwicklung nicht stoppen konnten und daß wesentliche Ursachen dafür in den Eigentumsverhältnissen liegen. Und daß wir folglich über die Notwendigkeit von Vergesellschaftungen nachdenken und aufklären müssen. Nicht als Allheilmittel aller Übel und Verbrechen des kapitalistischen Systems, aber als eine konsequente Fortsetzung von Widerspruch und Widerstand, wie zum Beispiel beim Kampf um bezahlbaren Wohnraum. Das ist so, weil der Einsatz gegen Neoliberalismus antikapitalistisch werden muß, um erfolgreicher zu sein.

Und dafür gibt es ein verbindendes Interesse: Alle Bewegungen für menschenwürdiges Wohnen, für Pflege, Bildung, Umweltschutz und dafür, daß Werteschaffende über die Bedingungen und die Resultate ihrer Arbeit mitentscheiden können, sind objektiv gegen das kapitalistische Profitprinzip gerichtet. (Es wird von vielen als "Herrschaft des Geldes" empfunden.) Da sind gemeinsame Interessen bewußtzumachen, zusammenzuführen und sie so änderungsmächtig zu machen. In allen diesen Bewegungen heben sie "die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor".(10) heißt es im "Kommunistischen Manifest".

Warum es drängt

Weil sich Reichtum aus kapitalistischer Ausbeutung und Spekulation immer schneller zu destruktiver Macht zusammenballt, "öffentliche Meinung" und Lebensweise beherrscht, Staatspolitik kauft und erpreßt und die Existenz von Mensch und Natur bedroht. Wie sollen weitere Kriege verhindert werden, wenn das Rüstungskapital nicht an der Quelle seiner politischen Macht, dem Eigentum, eingetrocknet und Friedensproduktion entwickelt wird? Und wie Fluchtursachen bekämpfen, ohne die kapitalistische Ausbeutung von Mensch und Natur im Süden an der Wurzel zu packen? Und was rechtzeitig tun gegen rechtsextreme "Lösungen" gegenwärtiger Probleme und zu erwartender neuer Crashs und Gewaltantworten der Herrschenden?

Um diese Einsicht und um das Wie, ihr in der Praxis zu folgen, sollte es verstärkt in Diskussion, Forschung und politischer Arbeit gehen. Es genügt eben nicht, daß die Wirklichkeit zum Gedanken drängt, sondern der Gedanke drängt auch wieder zurück in die Wirklichkeit.(11) Dabei geht es um neue Bedingungen für das Wechselverhältnis von Ökonomie und Politik. Es geht um Konsequenzen aus neuen Dimensionen, Formen und Bereichen kapitalistischen machtgebenden Eigentums. Ebenso um neue Widersprüche zwischen Kapitalfraktionen. Ändert die Digitalisierung der Arbeitswelt und des Alltags etwas an der "Grundfrage unserer Bewegung"? Oder die Internationalisierung von Kapital und herrschender Politik? Sind alle Bestrebungen, an die Wurzel zu gehen, angesichts des Klassenkräfteverhältnisses illusionär, gar kontraproduktiv - oder braucht es Mut? Schon beim angestrebten Volksentscheid gegen die Mietspekulanten geht's um die Frage der Entschädigungshöhe für die Konzerne als vermeintlich unüberwindbare Barriere. Aber es gäbe eben auch hier kämpferische Strategien. Zu bedenken auch: Realsozialistisches Volkseigentum hat doch keine generelle Untauglichkeit von gemeinschaftlichem Eigentum bewiesen. Im Gegenteil, es war notwendig für historischen Fortschritt, wenn auch nicht hinreichend.

Kein Problem dürfen wir wegwischen oder kleinreden, und vieles kann erst im politischen Einsatz erkannt und getan werden. Die Verantwortung jedoch, bewiesene marxistische Erkenntnisse zur gesellschaftlichen Rolle kapitalistischen Großeigentums in Gegenmachtstrategien einzubringen, nimmt Sozialisten und Kommunisten niemand ab. Nach 2008 und nun wieder blitzt das auf.

Prof. Edeltraut Felfe
Greifswald

(1) Interview in "junge Welt" v. 14./15.4.2018, Berichte ebenda und "neues deutschland", vom 13.4.2018
(2) vgl. "Ostseezeitung" v. 22.3. und 6.4.2018
(3) vgl. T. Wagner, in: "neues deutschland" v. 13.4.2018
(4) vgl. www.die-linke-hessen.de/site/imagest...Landtagswahlprogramm2018_final.pdf
(5) www.die-linke.de/start/news-defaultdetailseite///die-linke-partei-in-bewegung-1
(6) S. 6
(7) Rede vor dem Bundestag, dokumentiert in: "junge Welt", 16./17.5.2009
(8) vgl. G. Fülberth, in: "junge Welt", 11.1.2012
(9) Grundfrage der Bewegung - ungelöst, in: "junge Welt", 22.8.2008
(10) MEW, Bd. 4, S. 493
(11) vgl. K. Marx, MEW, Bd. 1, S. 386

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Unter der Knute des Neoliberalismus

Gegenwärtig ist eine Entwicklung zu beobachten, die in selbstbeschleunigender Form in die falsche Richtung geht. Die Spaltung der Gesellschaft zwischen Arm und Reich - ob in Deutschland, der EU oder in den USA - hat sich weiter vertieft.

Die Hauptursache dafür ist der Neoliberalismus, wobei schon dieser Name von der Wahrheit ablenkt. Er verkörpert weder etwas Liberales noch etwas Neues. Das Wort "neo", neu, wird gewöhnlich mit etwas Positivem verbunden. Im Kontext zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung ist allerdings genau das Gegenteil der Fall. Beim Neoliberalismus handelt es sich im Kern um den "alten" Manchester-Raubtierkapitalismus, der nach der Niederlage des alternativen Systems, des Sozialismus, wieder erstarken konnte. Zu "liberal" ist ähnliches zu sagen. Wirkliche Freiheit kann es unter kapitalistischen Verhältnissen für die Menschen nicht geben. Absurd wird es, wenn Neoliberalismus und Demokratie als Einheit genannt werden. Neoliberalismus schließt Demokratie praktisch aus. Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek erklärt, "der liberale Westen ist deshalb so unerträglich, weil er Ausbeutung und Gewaltherrschaft nicht nur praktiziert, sondern diese brutale Realität wie zum Hohn als ihr genaues Gegenteil verkleidet, nämlich als Freiheit, Gleichheit und Demokratie". (Der neue Klassenkampf, Ullstein, 2015)

Die Festlegung der Zielrichtung dieser "neuen" Wirtschaftspolitik erfolgte 1938 in Paris auf einem Treffen damaliger "liberaler Wirtschaftswissenschaftler", mit dem eine Entwicklung angestoßen wurde, die zwar durch den 2. Weltkrieg unterbrochen, aber 1947 auf Initiative eines Friedrich-August von Hayek wieder aufgenommen wurde. Dieses Treffen fand im schweizerischen Ort Mont-Pèlerin statt und gilt als die "Geburtsurkunde" des heutigen Neoliberalismus.

Die Wirtschaft der USA nahm nach dem 1. Weltkrieg einen Aufschwung, der die damalige Wirtschafts- und Finanzwelt derart erstarken ließ, daß sie auch gleich die Richtung der Politik entscheidend mitbestimmen konnte, die "Laissez faire"-Politik, die praktisch den Einfluß auf die Wirtschaft immer mehr zurückfährt. Also genau das, was man heute Neoliberalismus nennt. Nun ist bekannt, daß diese Entwicklung in den 20er Jahren geradewegs in die verheerende Weltwirtschaftskrise von 1929 führte. Damals war es der amerikanische Präsident Franklin Roosevelt, der durch seine "New deal"-Politik erreichte, die Wirtschaft zu Beginn der 30er Jahre aus der Krise zu führen und für einen relativen Aufschwung zu sorgen. Im Kapitalismus jedoch führt ein Aufschwung zum Erstarken jener Kräfte, die ausschließlich am Erhalt und dem Ausbau der eigenen Macht interessiert sind, und die deshalb bestrebt sind, den verhaßten staatlichen Einfluß wieder zurückzudrängen, womit der Keim zum heutigen Neoliberalismus gelegt wurde.

Nach dem 2. Weltkrieg zeigt sich ein ähnliches Bild. Der Wiederaufbau der Weltwirtschaft wurde abermals entscheidend durch staatliche Einflußnahme beschleunigt. Diesmal war es der "Widersacher" der neoliberalen Theorie, John-Maynard Keynes, der durch Stärkung der Einflußnahme des Staates und bewußte Steuerung (Nachfrageökonomie) den Aufschwung herbeiführte und die Marktradikalen zurückdrängen konnte. Das von Keynes installierte Bretton-Woods-System fand 1972 ein jähes Ende. Es hatte im westlichen Nachkriegseuropa für relativ stabile Verhältnisse gesorgt. Der damalige USPräsident Nixon war es, der Bretton-Woods zu Fall brachte, als er unbegrenzt Geld für den Vietnam-Krieg brauchte und kurzerhand die Goldbindung des Dollars aufhob.

Daran wird deutlich, daß es stabile Finanzverhältnisse im Kapitalismus nicht geben kann. Etwa ab dieser Zeit trat der Neoliberalismus seinen vermeintlichen Siegeszug an. Auf der Gründungsveranstaltung der Mont-Pèlerin-Gesellschaft 1947 tauchte ein neuer Name auf. Milton Friedman, Professor an der Chicagoer Universität, deren Haupteigner die Rockefellers sind. Hayek und Friedman taten alles, um den Marktradikalismus zielstrebig und in großangelegten Kampagnen wie sie selbst sagen "generationsübergreifend" durchzusetzen. Über diese Privatuniversität wurden in der Folge zahlreiche zukünftige "Wirtschaftsmanager" ausschließlich im Sinne der pseudowissenschaftlichen neoliberalen Theorie für die kapitalistische Wirtschaft fit gemacht. Hayek und Friedman brauchten nur noch einen "Praxistest" ihrer Theorie. Die Schockstarre des chilenischen Volkes nach dem durch die USA unterstützten Militärputsch von 1973 brutal ausnutzend und von Pinochet persönlich eingeladen bzw. gebeten, wurden praktisch am offenen Herzen eines ganzen Landes ihre aberwitzigen Theorien ausprobiert. Mit den verheerenden Spätfolgen kämpft Chile noch heute. Der Wachstumszwang als Existenzgrundlage des Kapitalismus führt systemimmanent zu immer größerer Macht der Real- und der Finanzwirtschaft, die national wie international wirkt. Und sie eilt mittlerweile den Nationalstaaten weit voraus.

Ein weiterer entscheidender Punkt, der dem Neoliberalismus zum Durchbruch verhalf, ist die Verleihung der Wirtschaftsnobelpreise an zahlreiche Vertreter dieser Branche vor allem in den 70er Jahren. Was folgte, waren Krisen, von denen die letzte 2008, die ihren Ursprung in den USA hatte, die Welt in den Abgrund schauen ließ. Die nächste Krise, vor der renommierte Ökonomen eindringlich warnen, wirft ihre Schatten voraus. Der Steuerzahler, der bisher "aushelfen" mußte, wird dann nicht mehr helfen können. Es ist der Neoliberalismus, der in die Knechtschaft führt. Zu seinen Grundpfeilern gehört die Privatisierung auch der letzten öffentlichen Belange sowie die Deregulierung und die "Freiheit" der Finanzoligarchie, die Menschen auszubeuten.

Volker Büst, Kalbe

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GEDANKEN ZUR ZEIT

Wenn Philosophie Leben bedroht

Der Titel dieses Beitrags wird vermutlich all jene Leser verwundern, für die bisher außer Frage stand, daß Philosophie (Liebe zur Weisheit) Lebenshilfe bietet und im weitesten Sinne dem Gemeinwohl dient. Auf weite Strecken mag dies auch wohl der Fall sein, wie sich anhand zahlreicher menschenfreundlicher philosophischer Texte belegen läßt, doch ist dies leider nicht immer so.

Um dies zu verdeutlichen, sei hier auf die Schriften Friedrich Nietzsches verwiesen, in denen sich ausgeprägt Inhumanes, Sozialdarwinistisches findet, das einem jeden humanitären Ethos (vom jesuanischen Gebot der Nächstenliebe und Barmherzigkeit ganz zu schweigen) ungeniert Hohn spricht und nahezu satanisch wirkt. So etwa, wenn er das Gesunde und Starke rühmt, das Schwache und Kranke aber auszumerzen empfiehlt ("Was da fällt, das soll man auch noch treten.") Kein Wunder, daß gerade die Nazis sich auf Nietzsche beriefen, weil dieser ihrer wahnwitzigen, menschenverachtenden Ideologie Munition lieferte und sie aus seiner Lehre Gründe für die Rechtfertigung ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit herleiten konnten. Nach dem Holocaust und dem von den Nazis so genannten "Euthanasie"-Programm mit der Ermordung Hunderttausender Geisteskranker, der Vernichtung "lebensunwerten Lebens", sind Nietzsches Gedanken als ideologische Vorbereitung dieser Greueltaten schier unerträglich. Ihre Folgen (nach Alexander Gauland "ein Vogelschiß") sind ein nie zu tilgender Schandfleck der deutschen Geschichte, weshalb wir uns für diese "Liebe zur Weisheit" verächtlich bedanken und sie als das bezeichnen wollen, was sie ist: als ideologischen Unrat.

Bedrohlich nahe rückte mir lebensfeindliche Philosophie selber einmal vor Jahren, als mir ein Bekannter das Buch eines hochgebildeten Autors, des ehemaligen Intendanten einer großen ARD-Anstalt, zuschickte, in dem auf akademischem Niveau und formal durchaus schlüssig als sinnvollere Alternative zum Leben der Suizid empfohlen wurde.

Ich retournierte dieses Machwerk postwendend und erklärte, daß ich mir derlei geistige Umweltverschmutzung verbitten würde. Das aber paßte dem Lieferanten des Buches nun ganz und gar nicht. Der Autor spreche ihm aus der Seele, schrieb er, denn auch er selbst meine, wenn man schon einmal geboren sei, sei es das beste, die Welt auf dem schnellsten Weg wieder zu verlassen. - Das mir, der ich das Leben liebe, und das zu einer Zeit, da ich mich bester Gesundheit erfreute und voller Schaffenskraft und Schaffensfreude war! Ich überlegte, ob mein Bekannter vielleicht an einer Depression litt, deren er sich schämte und die er daher zu rationalisieren suchte, oder ob er sich vielleicht wie ein Geck auf einer Party mit provokanten Sprüchen interessant machen wollte. Wie auch immer - es folgte ein vermutlich für alle Beteiligten unerquicklicher Briefwechsel, in dem einer den andern mit mehr oder minder vernünftigen oder auch emotionalen Argumenten zu überzeugen suchte. Ich zitierte humanistische Psychologen sowie Jean Paul Sartre, doch mit diesen wußte mein Briefpartner nichts anzufangen. Er berief sich auf Theodor W. Adornos Satz, daß es kein richtiges Leben im falschen gebe, und meinte, daß deshalb alles Leben wert- und sinnlos sei und beendet werden müsse.

Dabei war mein Kontrahent Chefarzt einer großen Klinik, also in hochdotierter Stellung, war im besten Mannesalter, war glücklich verheiratet, hatte zwei prächtige Söhne, bewohnte eine luxuriöse Villa, kurz: er war ein vom Leben in jeder Hinsicht begünstigter Mensch. Und was die These Adornos betraf, so war diese von Erich Fromm längst widerlegt worden mit dem Hinweis auf die Männer des 20. Juli, die, umgeben von Falschheit und Lüge, durchaus richtig gelebt und genau das Richtige getan hätten.

Der brieflich ausgetragene Meinungsstreit versandete schließlich, und ich war froh, als mein Widerpart endlich Ruhe gab und mich mit weiteren nihilistischen Philosophemen verschonte.

Natürlich ist die Welt voller Leid, voller Scheußlichkeiten großen Stils, die einem den Schlaf rauben und die Lebensfreude nehmen können. Aber gerade dem gilt es im Rahmen des Möglichen entgegenzuwirken durch wertschaffende, sinnstiftende Taten. So jedenfalls verstehe ich Sartre ("... die Tat ist das einzige, was dem Menschen zu leben erlaubt").

Also suche ich nach Kräften, nicht Verzweiflung, sondern Zuversicht und Hoffnung zu verbreiten, rühme ich das Schöne, preise ich Freude und Glück, wo immer sie mir begegnen, und bringe ich eine jede positive Erfahrung in meinen Schriften zu Papier, damit andere dadurch ermutigt werden.

Im übrigen sei jedem Leser - auch und gerade philosophischer Schriften - angeraten, bei der Auswahl seiner Lektüre sorgfältig auf psychische Hygiene zu achten, zeigt doch das Beispiel nach wie vor verbreiteten NS-Schrifttums (nicht nur Hitlers "Mein Kampf"), daß es auch in der Literatur, also zwischen Buchdeckeln, versteckten ideologischen Schmutz und Schund gibt, dem man, wenn er sich schon nicht verbieten läßt, tunlichst aus dem Weg gehen sollte. Jeder Leser hat das Recht, selbst zu entscheiden, was für seine eigene seelische Gesundheit schädlich oder förderlich ist, was ihn niederzieht oder erhebt. Und so empfehle ich ihm, Goethes Ratschlag zu beherzigen, der im 2. Teil des "Faust" sagt: "Was euch nicht angehört, müsset ihr meiden, / Was euch das Innre stört, dürft ihr nicht leiden!"

Theodor Weißenborn

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Vatikanideologie und Marxismus

Zweimal ordneten Päpste in der Geschichte der katholischen Kirche ein "marianisches Jahr" an, 1954 und 1987/1988. Die jungfräuliche Muttergottes sollte die Schäfchen gegen Kommunismus, das Böse schlechthin, immunisieren. Josef Kardinal Frings aus Köln ließ 1954 zu diesem Zweck aus Portugal eine Kopie der Marienstatue von Fátima einfliegen - die Verbindungen der jungen Bundesrepublik zur faschistischen Salazar-Diktatur waren schließlich ausgezeichnet. 1987 feierte der polnische "Fátima"-Papst Johannes Paul II. die ideologische Macht der Heiligen. Die war im Verlauf des Jahres 1917 drei portugiesischen Hirtenkindern erschienen, parallel zu den russischen Revolutionen jenes Jahres, und hatte angeblich das Ende des Kommunismus prophezeit.

An solche und andere Sternstunden des siegreichen klerikalen Kampfes gegen den Marxismus erinnert der österreichische Wissenschaftshistoriker und langjährige Leiter des Archivs der Universität Innsbruck, Gerhard Oberkofler, in seinem Band "Vatikanideologie und Marxismus. Texte über Aspekte einer historischen Konfrontation". Das Buch enthält zwölf Beiträge des Autors, die er in den vergangenen Jahren während seiner Beschäftigung mit dem schweizerischen Marxisten Konrad Farner (1903-1974) verfaßt hat. Über ihn hatte der Autor 2015 eine Monographie veröffentlicht, nun folgen kommentierende, einbettende Texte - mit Bezug auf die Feuerbach-Marxsche Religionsauffassung, auf den Bildhauer Alfred Hrdlicka, den Friedenskongreß von Intellektuellen 1948 in Wroclaw, das päpstliche Dekret gegen katholische Kommunisten, den Kampf der Kurie gegen Papst Franziskus und anderes. Die Skizzen werden ergänzt durch die Dokumentation von Texten Farners, die als Typoskripte in der Zentralbibliothek Zürich in dessen Nachlaß archiviert sind.

Oberkofler erläutert im Vorwort den Buchtitel so: "Vatikanideologie und Marxismus spiegeln die Interessengegensätze der Gesellschaft wider, in der sie existieren. Der Vatikan stellte sich, angezogen von imperialer Macht und Geld, mit seiner Ideologie bis in die Gegenwart herauf in den Dienst des kapitalistischen Systems". Mehr als allgemeines Bedauern über "die schreckliche Realität der Welt" habe er nie verlautbart. Die Auffassung von Johannes Paul II. und seinem deutschen Nachfolger Benedikt XVI., der Marxismus sei satanisch, war, so Oberkofler, stets präsent.

Er räumt ein, daß mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil von 1962 bis 1965 ein Dialog zwischen christlichen und marxistischen Intellektuellen möglich wurde. Dieser sei aber über "Deklarationen des gegenseitigen Respekts" nie hinausgelangt. Neben diesen beiden sieht der Autor noch eine dritte in der Kirche verbreitete Position: die Nutzung der marxistischen Analyse "zur Entschleierung der kapitalistischen Barbarei". Oberkofler würdigt vor allem Befreiungstheologen, die "mit ihrem prophetischen Christentum zu einer revolutionären Kraft der Umkehr der Geschichte" geworden seien.

Für alle drei Richtungen im zeitgenössischen Katholizismus findet sich in diesem Band, der durch einen umfangreichen Anmerkungsapparat und ein Personenregister gut erschlossen werden kann, eine Fülle von Quellen. Oberkofler erinnert u. a. daran, daß Vertreter insbesondere des deutschen Klerus in den 50er Jahren sogar den Einsatz von Atomwaffen gegen die sozialistischen Länder rechtfertigten. Er nennt sie "Atomkanoniere", Anhänger einer "Theologie des Todes" und die lautstärksten Exemplare der Zunft "Sturmprediger".

Ähnliches wiederholt sich bis heute. Oberkofler: "Fátima ist in der Gegenwart ein Synonym für die katholischen Kampfmissionen in den Nachfolgerepubliken der früheren Sowjetunion, nicht zuletzt in Randgebieten zur Volksrepublik China." Er meint mit Recht, "die von Papst Franziskus ausgehende Inspiration hat offenkundig Grenzen".

Arnold Schölzel


Gerhard Oberkofler: Vatikanideologie und Marxismus.
Texte über Aspekte einer historischen Konfrontation.
Mit Illustrationen von Thomas J. Richter.
Studienverlag, Innsbruck/Wien/Bozen 2017, 188 Seiten, 24,90 Euro

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WANDERUNGEN DURCH WESTDEUTSCHLAND (8)

Getrübte Idylle

Auf dem Weg vom badischen Mosbach nach Heidelberg steht der Wanderer vor der Wahl: Unternimmt er einen Schlenker über Sinsheim oder durchs idyllische Neckartal über Eberbach? Schließlich läßt er Sinsheim aus, denn er kennt den Anblick des dortigen riesigen Technik-Museums, das von der Autobahn A6 nicht zu übersehen ist.

Nebenbei: Ein Teil der A6 war bis zur Einverleibung der DDR als Flugplatz für NATO-Militär vorgesehen. Zwischen Steinsfurt und Bad Rappenau gibt es ein gerades und ebenes Stück, bei dem die Mittel-Leitplanke zwecks Umfunkionierung zur Landebahn schnell entfernt werden konnte. Ausklappbare Verkehrsschilder zur Sperrung waren ebenfalls aufgestellt. Jetzt, wo sich Polen und das Baltikum der NATO unterworfen haben, müssen keine Kampfflieger mehr von westlichen Autobahnen starten.

Zurück zum Sinsheimer Technik-Museum. Es ist vollgestopft mit unzähligen Autos, Motorrädern, Lokomotiven und Flugzeugen. Und mit einer großen Ausstellung von Kriegsgerät, die seit vielen Jahren Militaristen anzieht, Nazis sowie andere Reaktionäre. Denn die Ausstellung ist völlig "unpolitisch" und entsorgt den geschichtlichen Hintergrund durch Verschweigen. Statt dessen liegen Bücher mit heldenhaften Landsergeschichten zum Verkauf aus. Das hindert den privaten Betreiber nicht, Besuchern saftige Eintrittspreise abzuknöpfen.

Der Wanderer verkneift sich die Abzocke und folgt statt dessen der Neckarschleife nach Eberbach. Kurz dahinter passiert er das Gammelsbachtal, in dem die Firma Gelita ansässig ist. Einst hieß das Unternehmen "Gelatinefabrik Stoess & Co." und lag in Ziegelhausen bei Heidelberg. Prokurist war Wilhelm Keppler, der im sogenannten Keppler-Kreis Großindustrielle und Bankiers sammelte und sie für die Finanzierung von Hitlers NSDAP begeisterte.

Es wird immer idyllischer. Heidelberg kommt in Sicht, die Stadt, auf die im Zweiten Weltkrieg nur vereinzelt Bomben fielen, statt dessen Flugblätter aus US-amerikanischen Flugzeugen: "Wir tun Heidelberg verschonen - wir wollen später bei Euch wohnen." Was dann ja auch geschah: Die Stadt war bis 2013 Sitz des US-Armee-Hauptquartiers für Europa.

Von 1928 bis 1945 regierte als Oberbürgermeister Carl Neinhaus, NSDAP-Mitglied seit 1933. Nach dem Krieg wandelte er sich zum Demokraten, trat der CDU bei und besetzte erneut den OB-Sessel von 1952 bis 1958.

Der Wanderer erinnert sich noch gut an einen seiner Nachfolger, der wie ein Despot Heidelberg von 1966 bis 1990 regierte und das mittelalterliche Städtchen, dessen Straßen einst für Ochsenkarren gebaut waren, für den Verkehr des 21. Jahrhunderts fit machen wollte. Zahlreiche historische Gebäude ließ er abreißen und durch Betonklötze ersetzen. Selbst den romantischen Neckar, der Heidelberg durchfließt, wollte er zubetonieren und darüber den Ost-West-Verkehr rasen lassen.

Anfang der 70er Jahre paradierten alte und neue Nazis durch die Stadt. Als dem damaligen SPD-OB Reinhold Zundel von Antifaschisten Untätigkeit vorgehalten wurde, meinte er: "Solange der SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund, H. D.) marschiert, kann von mir aus auch die SS marschieren."

Es sind nur rund fünfzehn Kilometer von Heidelberg bis Mannheim - zwei Städte, die seit 1935 durch eine der ersten Autobahnen Deutschlands verbunden sind. Der Wanderer begibt sich auf den Weg.

Hans Dölzer †

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Der 9. November - ein Feiertag?

Das Land Berlin möchte seinen Bürgern Gutes tun und erwägt die Einführung eines neuen Feiertags. An sich gibt es daran nichts zu kritisieren, denn in der Hauptstadt der BRD besteht diesbezüglich Nachholbedarf. Schließlich gibt es hier aktuell nur neun Feiertage im Jahr, der katholisch geprägte Freistaat Bayern hat seinen Einwohnern dagegen 14 zu bieten.

Nun hat der Berliner Landesbeauftragte zur "Aufarbeitung der SED-Diktatur" Tom Sello den 9. November vorgeschlagen. Was eigentlich sollte es an diesem Tag zu feiern geben? Ist es etwa der 9. November 1938, an dem im Dritten Reich die Synagogen in Brand gesteckt und massenhaft jüdische Geschäfte zerstört und geplündert worden waren? - ein Datum, an dem ein Grundstein für die später folgende Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden gelegt wurde.

Oder ist es die "Maueröffnung" am 9. November 1989? - ein Tag, mit dem de facto der DDR-Bevölkerung der Weg ins gesellschaftliche Abseits "geebnet" wurde. Hier stehen viele fast 30 Jahre nach dem Anschluß der DDR an die BRD noch immer.

Wenn Sello den neuen Feiertag unter Bezug auf ausgerechnet diese beiden historischen Daten auf den 9. November legen will, stellt das einen weiteren untauglichen Versuch dar, das Dritte Reich und die DDR auf eine Stufe zu stellen. Bliebe noch der 9. November 1918, der als Gründungsdatum der Weimarer Republik in die Geschichte einging. Doch was wurde aus ihr? Sie endete im Faschismus - wahrlich kein Grund zum Feiern!

Etwas mehr Taktgefühl bei den Vorschlägen für einen neuen Feiertag zeigte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller: Er nannte den 27. Januar (Holocaust-Gedenktag), den 8. März (Internationaler Frauentag, der jetzt ab diesem Jahr in Berlin Feiertag werden soll), den 18. März (Märzrevolution von 1848 in Berlin), den 8. Mai (als Tag der Befreiung von der Nazi-Diktatur) oder den Reformationstag am 31. Oktober.

Zum 8. Mai noch ein Wort: Für uns bleibt er der Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus durch die Rote Armee, auch wenn er in bürgerlichen Medien als "Tag des Zusammenbruchs und der Niederlage" betrauert oder als "Tag des Endes des Zweiten Weltkriegs" relativiert wird.

Rico Jalowietzki

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BUCHTIPS

Robert Allertz: Ich will meine Akte
Wie westdeutsche Geheimdienste Ostdeutsche bespitzeln

Die Mitteilungen über die permanente Ausspähung der Welt vor allem durch US-Geheimdienste - von Whistleblowern wie Edgar Snowden oder Julian Assange publik gemacht - empörte auch die deutsche Öffentlichkeit. Dabei wurde schon im zweigeteilten Deutschland grenzüberschreitend gespitzelt und überwacht. Mindestens 71.500 namentlich bekannte Ostdeutsche wurden systematisch observiert - vom Westen. Einer von ihnen war Hans Modrow, dem der Bundesinnenminister 2013 schriftlich bestätigte, daß Bundesverfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst seine Überwachung "schon 2012" beendet hätten.

Allertz trug unbekannte oder wieder vergessene Fakten zusammen, suchte in Archiven und sprach mit Beteiligten. So wie mit Modrow wurde auch mit Zehntausenden anderen Ostdeutschen verfahren.

Das Neue Berlin, Berlin 2018, 224 S., Abb., 14,99 €


Philipp Mattern (Hg.): Mieterkämpfe

Vom Kaiserreich bis heute - Das Beispiel Berlin

Wohnungsnot, explodierende Mieten und die Verdrängung von Mietern sind brennende Themen unserer Zeit - genauso wie der andauernde Protest dagegen. Doch daß Mieter auf die Straße gehen und Widerstand gegen Hauseigentümer, Investoren und eine unsoziale Wohnungspolitik leisten, ist nicht neu. Zahlreiche der meist vergessenen Kämpfe stellen uns die Autoren dieses Buches vor: Neben den legendären Blumenstraßenkrawallen 1872 und den Mietstreiks der Weimarer Republik wird der Widerstand gegen die Sanierungspolitik Westberlins und die Aufhebung der Mietpreisbindung thematisiert.

Das Buch nimmt eine historische Spur auf, die Berlin bis heute prägt. Es erläutert Zusammenhänge und stellt Gegenwartsbezüge her: Was waren die konkreten Anlässe und Hintergründe? Wer die Akteure und was ihre Motive? Und was läßt sich aus den Kämpfen vergangener Jahrzehnte lernen?

Bertz + Fischer, Berlin 2018, 212 S., Abb., 8 €


Moshe Zuckermann: Der allgegenwärtige Antisemit

oder Die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit

Zwischen Ressentiments und Realitätsverweigerung; ein schonungsloser Blick auf die deutsch-israelische Geschichte ... Ein Ungeist geht um in Deutschland - in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus werden wahllos und ungebrochen Begriffe durcheinandergeworfen, Menschen perfide verleumdet und verfolgt, Juden von Nicht-Juden des Antisemitismus bezichtigt. Die Debattenkultur in Deutschland ist vergiftet und die Realität völlig aus dem Blickfeld der Diskussionsteilnehmer geraten. Deutsche solidarisieren sich - auch wider besseres Wissen - mit einem Israel, das seit mindestens fünfzig Jahren Palästinenser knechtet, und wer das kritisiert, wird schnell als Antisemit diffamiert. Moshe Zuckermann nimmt in seinem Buch den aktuellen Diskurs schonungslos in den Blick und spricht sich für eine ehrliche Auseinandersetzung mit der deutsch-israelischen Geschichte aus.

Westend-Verlag, Frankfurt/M. 2018, 256 S., 20 €


Vl. Giacché: Lenins ökonomisches Denken nach der Oktoberrevolution

Edition Marxistische Blätter 115

Vladimiro Giacché, Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts Centro Europa Ricerche (Rom), stellt Lenins Überlegungen zur Fragen der sowjetischen Ökonomie von den ersten Monaten nach der Oktoberrevolution über die Zeit des Bürgerkriegs und des Kriegskommunismus bis zur Neuen Ökonomischen Politik in ihren historischen Zusammenhang. Er nimmt uns mit auf eine faszinierende Entdeckungsreise zu einem ökonomischen Aufbauprozeß, der sich an den theoretischen Postulaten von Marx und Engels orientierte, aber an seinen Knotenpunkten das Fehlen geeigneter "Karten" feststellte und deshalb nur ein Vorankommen über Versuch und Irrtum zuließ. Er zeigt, wie die ursprünglichen Postulate dabei wesentlich modifiziert werden mußten - nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit Weggefährten, die Lenin deshalb Reformismus oder Kapitulation vor der Konterrevolution vorwarfen.

Neue-Impulse-Verlag, Essen 2018, 144 S., 9,80 €


Nachruf auf einen Vielseitigen

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Zu den Karl-Liebknecht-Filmen der DEFA

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Zur Uraufführung von "Trotz alledem!" (1972)

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... leben unser Programm!

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Zwei Leben für die DDR

Die Berliner Festspiele hatten sich für den Herbst ein besonderes Grusel-Event für die Hauptstadt ausgedacht. Zwischen dem 12. Oktober und dem 9. November sollte im Zentrum (Ost) mit einem knapp einen Kilometer langen Nachbau der Berliner Mauer ein Häuserkarree abgeschottet werden. Besucher sollten täglich "Visa" (15 Euro Eintritt) kaufen und in der umschlossenen "Stadt in der Stadt" den Verlust von Freiheit erleben können, so die Freunde des neuen Mauerbaus. Ein illustrer russischer Regisseur euphorisierte mit seinem DAU getauften Projekt so manchen Kulturschaffenden. Das Kanzleramt sagte finanzielle Unterstützung für den DDR-Zoo am Kronprinzenpalais zu. Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) schwärmte, das Vorhaben verspreche in seiner Dimension, auch seiner europäischen Dimension, ein "vergleichsloses und beeindruckendes künstlerisches Unternehmen" zu sein. Am Ende siegte behördliche Vernunft über den kulturellen Mainstream-Irrsinn: Berliner Polizei, Feuerwehr und Bauamt verweigerten aus Sicherheitsgründen die Genehmigung.

Rainer Bauer hat im Verlag am Park ein Kontrastprogramm zu "DDR = Mauer, 'Stasi', Schießbefehl" vorgelegt: "Erika und Richard Arlt: zwei Leben für die DDR" heißt sein ebenso bewegendes wie aufklärendes Buch. Die Biographie zweier aktiver Antifaschisten ist für all jene interessant, heißt es im Vorwort, "die wissen wollen, wer die Leute an der Basis waren, von denen es in der DDR viele gab, namenlos, die sich mit ihrer ganzen Lebenskraft und Leidenschaft für den Aufbau einer vollkommen neuen, einer besseren und humanen deutschen Gesellschaft einsetzten".

Der "Wessi" Rainer Bauer setzt den Kommunisten Erika (1926-2015) und Richard Arlt (1911-1999) mit dem Buch ein Denkmal, und sie haben es verdient, daß man sich ihrer erinnert. Der Autor lernt die beiden kennen, weil sie die Geschichte des jüdischen Friedhofs in Tröbitz aufgearbeitet haben, für die er sich 1994 als in den Ort neu Hinzugezogener interessierte. Bauer: "Nach und nach habe ich erkannt, daß ich zwei ganz besonderen Menschen begegnet war: Richard Arlt, der sich, aus kleinen bäuerlichen Verhältnissen stammend, zu einem überzeugten Antifaschisten entwickelte, und Erika Arlt, die hochbegabt, zusammen mit ihrem Mann Richard fast ihr ganzes Leben der Überwindung des Faschismus widmete, dem sie in ihrer Jugend ausgeliefert war." Es entsteht eine langjährige Freundschaft und das Vorhaben für ein gemeinsames Buchprojekt. Nach dem Tod von Erika Arlt vor drei Jahren wird aus dem "helfenden Redakteur", der nur mitarbeiten wollte, ein Herausgeber, der zahlreiche Texte aus dem Nachlaß und Aufzeichnungen aus zahlreichen persönlichen Gesprächen mit großem Feingefühl, geschichtlicher Kenntnis und politischer Verbundenheit so zusammenfügt, daß daraus eine lesbare und stimmige Darstellung entstanden ist. Er erzählt die Geschichte zweier Menschen, die die Tatsache, daß sie beim Aufbau der DDR mitgewirkt haben, mit Stolz erfüllt hat.

Richard Arlt war Bergmann. Mit 17 ist er in die Gewerkschaft eingetreten, 1998 hat er von der Gewerkschaft IG Bergbau, Chemie, Energie die nicht häufige Urkunde über eine 70jährige Mitgliedschaft erhalten. "Die Gewerkschaft war seine Heimat", schreibt Rainer Bauer, "eine Parteikarriere strebte er nicht an." Richard Arlt war aktiv in der KPD, am 16. Mai 1936, 22 Uhr, wird er verhaftet, auf der Arbeitsstelle, nachdem er von der 2. Schicht ausgefahren war. Es folgen Zuchthaus, 1942 Zwangseinsatz im "Bewährungsbataillon 999", französische Kriegsgefangenschaft, Rückkehr in die Heimat 1947.

Und dann Aufbau der DDR. "Nach meiner Rückkehr aus der Gefangenschaft wurde ich 1947 Mitglied der SED. In Theißen bei Zeitz, auf der Grube Paul 2, hatte ich wieder Arbeit im Bergbau als Heuer gefunden." Im April 1951 erhielt er den Auftrag, als Werksleiter ins Braunkohlewerk nach Ammendorf mit einer Belegschaftsstärke von 2500 Mann zu gehen. "Die kaderpolitischen Entscheidungen wurden damals oft ohne den Beteiligten getroffen. (...) Meine Argumente, daß ich für die Aufgabe nicht die notwendigen Voraussetzungen habe, blieben ohne Wirkung." Als positive Folge der politischen Schulungsarbeit dort wertet Richard Arlt auch die Tatsache, daß es im Betrieb am 17. Juni 1953 keinerlei republikfeindlichen Vorkommnisse gab, ganz anders als in Halle, wo Erika Arlt noch bis 1957 als Stadtverordnete arbeitete.

"Richard Arlt war selbst ein bedeutender Neuerer und Erfinder", erinnert Biograph Bauer. "Für seine Erfindung, die sogenannte Streckenvortriebsmaschine, mit der man im Bergbau Entwässerungskanäle eingraben konnte, meldete er 1951 in der DDR ein Patent an ..." Kurz: "Richard Arlt war erfolgreich und seine Kompetenz anerkannt. 1954 berief ihn der Minister für Schwerindustrie, Fritz Selbmann, als Mitglied in den wissenschaftlich-technischen Rat der Hauptverwaltung Kohle." Als Werksleiter und Vertrauter Selbmanns wurde er in die politischen Machtkämpfe jener Zeit hineingezogen. Am Ende verliert Richard Arlt seinen Posten - "und, viel schlimmer, die DDR hatte einen ihrer wahrscheinlich aufrechtesten und ehrlichsten Werksleiter verloren. Die Auswirkungen dieses und ähnlicher Vorgänge waren für den Vertrauensverlust, den die SED-Führung in der Bevölkerung erlitt, enorm", urteilt Rainer Bauer.

Geschickt flicht der Herausgeber Basiswissen DDR in die Erzählung Richard Arlts ein: "Als Widerstandskämpfer gegen den Faschismus, anerkannter Verfolgter des Naziregimes (VdN), hatte er in der DDR einen hohen gesellschaftlichen Status. Nach dem Ende der Nazizeit waren es Leute wie er, die im sozialistischen Deutschland Führungspositionen einnahmen und die Gesellschaft in einem neuen Geist aufbauen wollten. Verfolgte des Naziregimes erhielten in der DDR eine Extra-Rente, durften mit dem Zug umsonst und erster Klasse fahren, hatten mehr Urlaubstage, und außerdem wurden sie bei der Vergabe von Ferienplätzen bevorzugt." In der BRD dagegen waren Antifaschisten Opfer von Berufsverboten und ein Fall für den Verfassungsschutz ...

Es folgen Exkurse zu Wohnungspolitik, Sexualität und Gleichstellung der Geschlechter, Kriminalität, Beschwerdewesen, Rhönrad, Akrobatik und Turnen. Immer kontrastiert Rainer Bauer die gelebten Realitäten der DDR mit den Zerrbildern danach, in denen z. B. Sport mit Doping gleichgesetzt wird.

Richard und Erika Arlt lebten wie Millionen andere ein normales, kaum spektakuläres Leben. Mit Leidenschaft und Überzeugung aber sorgten sie dafür, daß der "Verlorene Transport" ins öffentliche Bewußtsein gebracht und dort bis heute verankert ist: In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs blieb unweit des brandenburgischen Tröbitz ein Deportationszug mit über 2000 jüdischen Häftlingen liegen. Er war auf der Fahrt von Bergen-Belsen nach Theresienstadt. Die Dorfbewohner bestatteten die Toten, pflegten die Kranken und versorgten die Notleidenden. Richard Arlt legte als Leiter des volkseigenen Betriebs eine Gedenkstätte an, seine Frau Erika erforschte das Schicksal der Opfer, informierte über die Geschichte des Transports, unermüdlich bis zu ihrem Tod, wovon viele Dankesschreiben aus Israel, aus Kanada und den USA im Anhang beeindruckendes Zeugnis geben.

Kleiner Rekurs am Ende: Als 1961 die Mauer gebaut wurde, zelteten die Arlts gerade in Bad Saarow. Die Ferien dort bezeichnet Erika Arlt als die Zeit, in der sie am glücklichsten waren. Den Mauerbau begrüßte sie ausdrücklich, verhinderte er doch, "daß in der DDR gut ausgebildete Menschen weiterhin flüchteten, um sich die im Osten erworbenen Diplome im goldenen Westen versilbern zu lassen".

Rainer Bauer ist mit "Zwei Leben für die DDR" eine wirkliche Hommage an zwei Antifaschisten und Millionen Bürger der Deutschen Demokratischen Republik gelungen, die es verdient, verbreitet zu werden und die, lebten wir in anderen Zeiten, Schulbuchlektüre wäre.

Rüdiger Göbel
Berlin

Rainer Bauer (Hg.): Erika und Richard Arlt: Zwei Leben für die DDR.
Verlag am Park, Berlin 2018, 216 Seiten, 14,99 €

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Die Bibliothek

Neun Regalfächer vom Fußboden bis zur Decke. Ziemlich vollgestellt, manchmal noch eine kleine Lücke. Durch einen Wanddurchbruch wurde zusätzlicher Platz geschaffen, rechts und links eines schmalen Ganges zwei kleine Schränke, darüber beidseitig jeweils fünf Regalfächer. Unterm Fenster vier Jahrzehnte der Monatsschrift "Sowjetliteratur" archiviert. Auch die NDL (Neue Deutsche Literatur), Zeitschrift des Schriftstellerverbands der DDR, über fast denselben Zeitraum, dazu meine handgeschriebenen Tagebücher aus der Hütte von 1978 bis heute. CDs mit klassischer und indianischer Musik und Videos. Hier sitze ich oft und gern, fühle mich umgeben von Freunden. Dieser Raum birgt einen Teil meines Lebens.

In der Mitte ein runder Tisch und ein Sessel. Meine Augen schweifen die Buchrücken entlang. Genau im Zentrum der großen Bücherwand bleiben sie hängen, hier hat die Anna einen ihr gebührenden Platz gefunden. Die Anna, jeder Schriftsteller sprach den Namen mit Respekt aus.

Gemeint war Anna Seghers, die Präsidentin des Verbandes. Es war 1953, als ich ihr im Schloß Wiepersdorf, damals Ferien- und Arbeitsstätte des Schriftstellerverbandes, begegnete. Sie pflegte täglich eine durch Büsche uneinsichtige Nische im Schloßpark zum Schreiben aufzusuchen. Manchmal sah man sie morgens mit einem kleinen Klapptisch und einer überaus kleinen Schreibmaschine zu ihrem Arbeitsort gehen.

Der Verband hatte mir und meinem kleinen Sohn einen dreiwöchigen Urlaub in Wiepersdorf zugesprochen, mir, der jungen Nachwuchsautorin. An einem frühen Morgen wollte sich mein Söhnchen, zwei Jahre alt, absolut nicht beruhigen und plärrte laut. Ein Grund war nicht vorhanden. Unser Zimmer befand sich neben dem Speisesaal. Frühstückszeit ... und Frau Seghers fühlte sich gestört. Sie kam herein, sah das schreiende Kind und nahm es liebevoll auf den Arm. "Psst, hör doch mal, wie die Vöglein singen. Horch!" Wohl mehr verdutzt über das Auftauchen einer fremden Person wurde der Junge still, und Frau Seghers verließ befriedigt den Raum.

Über der langen Reihe der Werke von Anna Seghers stehen die beiden Strittmatters, weiter rechts übrigens Hermann Kant. So ein bißchen sollte man darauf achten, welche Autoren man zusammenstellt. Mir kam auch mal die Idee, wie lustig es wäre, wenn die literarischen Urheber auf Knopfdruck in Zwergengestalt aus ihren Werken springen würden. Doch zurück zu den Strittmatters. Der Fontaneklub hatte Eva Strittmatter zu einer Lesung eingeladen. Da ich die einzige Mitarbeiterin des Kulturbunds war, die ein Auto besaß, und Frau Strittmatter abgeholt werden mußte, wurde ich mit dieser Aufgabe betraut.

Inzwischen ging ich nicht mehr in der Friedrichstraße 177 - Sitz des DSV - ein und aus, und der "Ruhm" zweier erster Plätze beim Literaturpreisausschreiben der Stadt Stralsund war verblaßt.

Den Ort Schulzendorf, in dessen Randlage das Haus aus schwedischer Birke erbaut war, fand ich und betrachtete es ehrfürchtig, als Frau Strittmatter mich begrüßte, mich zu einem Kaffee einlud. Sie entschuldigte sich, keine Cafésahne im Haus zu haben, das sei so auf dem Lande, man könne nicht immer zum Einkaufen nach Gransee fahren. Ein großer Raum, heimelig durch das Holz ringsum. Die Fenster mit tomatenroten Schals an den Seiten, ein großer Arbeitstisch. Die Treppe nach oben führte zu Erwins Bereich, der seine Ruhe haben wollte und durch die Treppe vor Zutritten geschützt war. Wir kamen schnell ins Gespräch, über unsere Familien, weniger übers Schreiben, über Berlin, den Schulzenhof, Brandenburg und unser Grundstück in der Radewege-Siedlung, das ich allein bearbeitete und dessen Gestaltung mein Mann nicht mehr vornehmen konnte. Damals fragte sie mich, warum ich dort nicht wenigstens den Urlaub oder den Sommer verbrachte.

Das war 1978, seitdem habe ich da vom 30. April bis Anfang November gewohnt, zu DDR-Zeiten sogar als Sommerwohnung im Personalausweis vermerkt. Das wurde erst gelöscht, als der Wohnsitz Brielow eingetragen wurde.

Bis fast zuletzt blieben wir in losem Briefwechsel, und ich wandte mich in manchen Lyrik-Fragen an sie.

An einen Literaten möchte ich unbedingt erinnern: Victor Klemperer. Damals kannte jeder seine LTI: Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reichs. Ich bin sehr stolz darauf, die 1949 erschienene Erstausgabe dieses Werks vom Aufbau-Verlag zu besitzen. Klemperer erlebte ich im Eibenhof in Bad Saarow, wo 1950 der erste Schriftstellerlehrgang der DDR stattfand, zu dem ich aufgrund der erwähnten Auszeichnungen delegiert war.

Klemperer sprach über romanische Literatur, vor allem über französische, von der ich mit meinen 19 Jahren nichts kannte, nicht einmal die Namen. Unvergeßlich aber wird mir dieser Mann im Gedächtnis bleiben. Klein, ein wenig verwachsen, übers Pult geneigt, einen streichholzschachtelgroßen Merkzettel vor sich. Seine eindringliche Sprache, seine Redeweise, einmalig. Meine Scham, vom Thema nichts zu begreifen. Ihn selbst noch immer vor Augen. Sehr viel später traf ich im Brandenburger Dom anläßlich eines Vortrags über Victor Klemperer und die deutsche Sprache seine zweite Frau Hadwig, die einst seine Studentin war, ihn trotz eines Altersunterschieds von 45 Jahren geheiratet und sehr geliebt hatte. Wir kamen schnell ins Gespräch, ich erzählte von Bad Saarow. Wir hatten viele Gemeinsamkeiten, und ich denke dankbar an diesen Abend zurück.

Beate Bölsche
Brielow

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Ein Staat, in dem 40 Jahre lang Mangel herrschte

Es gab in der DDR
keine Ausbeutung
keine Arbeitslosigkeit
keinen Mietwucher
keine Obdachlosigkeit
keine Kinderarmut
keine Altersarmut
keine Geschäfte mit der Angst
keine Abzocker und Kredithaie
keine Schuldenfallen und Schuldeneintreiber
keine Diskriminierung der Frau
keine Amokläufe in Schulen
keine Naziparteien
keine Revanchistenverbände
keine Wehrmachtstraditionsvereine
keine "Pressefreiheit", denn es gab
keinen Sensations-, Gossen- und Hysterie-Journalismus
keine Klatsch-und-Tratsch-Presse
keine Kriegspropaganda
keine Waffenlobbyisten
keine Kriegsbeteiligung
keine Rassenhetze
keine Monopolkapitalisten

Aus einer Diskussion im Internet, die sich an diesem Text entzündete, der die übliche Schnappatmung bei DDR-Hassern und anderen Antikommunisten auslöste: "Totale Überwachung!" und "Keine individuelle Freiheit" waren noch die harmloseren Kommentare.

Mein Meinung dazu:
Für Antikommunisten ist es egal, welche Errungenschaften die DDR vorzuweisen hatte (neben ihren Fehlern und Fehlentwicklungen, die es - wie in jedem Staatswesen - auch gab). Die DDR-Hasser sind in ihrer Dämonisierung dieses kleinen wackeren Landes (das in so kurzer Zeit, trotz aller feindseligen Umstände, so viel erreichte) Argumenten nicht zugänglich, weil ihr Urteil schon feststeht: Verdammungswürdig, weil kommunistisch! Und was "Kommunismus" ist, wissen die Antikommunisten besser als Marx, nämlich das, was in den bürgerlichen Geschichts- und Philosophielehrbüchern steht: ein Gesellschaftssystem, das "dem Menschen" die Freiheit raubt und für lauter Mangel überall sorgt: Ende der Debatte.

Interessant übrigens: Selbst wenn man etwas zur Verteidigung des ersten Anlaufs zum Sozialismus auf deutschem Boden zu sagen hat, hat sich die Unsitte eingeschlichen, dieses Positive zunächst mit einer Distanzierung von den negativen Seiten des Arbeiter-und-Bauern-Staates zu beginnen, um der ideologischen Inquisition der bürgerlichen Meinungsdiktatoren zu entgehen.

Ich für meinen Teil mache diese servile Unterwerfungsgeste nicht mit, obwohl ich am Realsozialismus auch einiges zu kritisieren habe; ich halte es aber mit Peter Hacks, der einmal meinte, daß ein schlechter Sozialismus immer noch besser ist als der beste Kapitalismus.

Die DDR gehört verteidigt, mit all ihren Irrtümern, all ihren unschönen Aspekten, all ihrer menschlich-allzumenschlich einengenden Spießigkeit, weil sie eines nicht war: ein kriegführender aggressiver imperialistischer Staat, der nach innen Arbeiterinnen und Arbeiter als verfügbare Lohnsklavenmasse für den Dienst am Kapital rannimmt (und nach Belieben bzw. Konjunktur in die Armut entläßt) und nach außen andere Völkerschaften und Landstriche ausplündert bis aufs Blut und nach Bedarf auch mit Bomben und Soldaten beglückt.

Was dieser kleine Staat im Herzen Europas 40 Jahre lang gezeigt hat, ist, daß es auch anders geht, daß man ohne Kapitalisten, ohne Ausbeuterei und ohne permanente Angst vor Arbeitsplatz- und Wohnungsverlust ein produktives und kreatives Leben führen kann.

Dafür wird die DDR so gehaßt, dafür sind Medien, Politiker, Historiker und die ganze Hofnarrentruppe des bürgerlichen Theaters damit beschäftigt, diesen Staat täglich in den düstersten Farben zu malen und so gut wie jeden Aspekt seines gesellschaftlichen Lebens zu dämonisieren und zu delegitimieren - und das auch noch 30 Jahre nach der Konterrevolution.

Kay Strathus, Düsseldorf

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Mietenexplosion - Wohnungsnot - Obdachlosigkeit

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Was man nicht vergessen sollte

Zum Zeitpunkt der Übernahme der DDR durch die BRD zählte die ostdeutsche Wirtschaft insgesamt 12.354 Unternehmen mit 45.000 Betriebsstätten. In den VEBs arbeiteten 4,1 Millionen Beschäftigte. Volkseigene Grundstücke und Gebäude gingen als Verwaltungs- und Finanzvermögen in das unmittelbare Eigentum der BRD über. Das betraf 124.000 Immobilien, große Liegenschaften in einem Umfang von 342.000 Hektar und umfangreiches Eigentum wie Hotels, Energie- und Wasserversorgung, öffentlicher Nahverkehr. Auch das Anlagevermögen der Nationalen Volksarmee (NVA) stellte ein enormes Vermögen dar. Hierzu gehörte ein großes Arsenal an Flugzeugen, Raketen, Panzern, Hubschraubern, Schiffen und Liegenschaften (Kasernen, Flughäfen, Werkstätten). Dies wurde nach 1989/90 verkauft oder vom Bundesverteidigungsministerium einkassiert.

Eine wichtige Kennzahl betraf den hohen Beschäftigungsstand in der DDR. Mit der Verfassung wurde das Recht auf Arbeit gewährleistet, was sich in Vollbeschäftigung ausdrückte. Allein 92 Prozent der Frauen waren erwerbstätig, und alle Jugendlichen erhielten eine Facharbeiter-, Fachschul- oder Hochschulausbildung. Auch der Handel nahm eine entscheidende Rolle in der DDR-Wirtschaft ein. Im Jahr 1988 betrug der DDR-Außenhandelsumsatz 177,3 Mrd. Mark, worauf 122,5 Mrd. Mark auf das sozialistische Wirtschaftsgebiet entfielen. 30 Prozent der industriellen Warenproduktion und etwa 35 Prozent der Arbeitsplätze der Industrie waren unmittelbar mit dem Außenhandel verbunden.

Trotz der schwierigen letzten Monate der DDR wurden Löhne und Gehälter weiter pünktlich ausgezahlt, und die Grundsicherung der Bevölkerung wurde gewährleistet.

Mit dem Überstülpen der Rechtsordnung der BRD kam es zu einer Wiederherstellung des Privateigentums an den Produktionsmitteln mit Hilfe der dafür gegründeten Treuhandanstalt (THA). Mit deren Einsetzung und Neuausrichtung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière, verbunden mit dem neuen Treuhandgesetz vom 17. Juni 1990, erfolgte eine grundlegende Umwandlung der ostdeutschen Wirtschaft.

Dieses Amt wurde damit beauftragt, insgesamt 8500 Betriebe mit 4,1 Mio. Beschäftigten in AGs und GmbHs umzuwandeln. Das Gesetz vom 17. Juni ermöglichte eine Abkehr von den einstigen Vorstellungen des "Runden Tisches" und der Modrow-Regierung.

Nun übte die THA keine wirtschaftsleitenden Funktionen mehr aus, sondern diente als "Anstalt öffentlichen Rechts der Privatisierung und Verwertung volkseigenen Vermögens", die keiner parlamentarischen Kontrolle unterlag.

Bereits zu Beginn der Tätigkeit der THA hat man die Verkaufs- bzw. Privatisierungsgeschäfte zumeist mit westdeutschen Käufern abgewickelt, indem diesen die ehemaligen VEBs angeboten wurden. Die Betriebsstilllegungen betrugen 1991 bereits 993 und stiegen bis Mai 1992 auf 1496 Betriebe an, was insgesamt 245.686 Arbeitsplätze betraf.

Mit dem Einsatz von Birgit Breuel prägte die Philosophie "Privatisierung ist immer noch die beste Sanierung" die Arbeit dieser Behörde. Unter ihrer Leitung kam es zu einem umfangreichen Verkauf von ostdeutschen Betrieben und Produktionsvermögen. Bereits im Jahr 1992 wurden 10.669 ehemals volkseigene Betriebe (das sind 85 Prozent) privatisiert. Oftmals waren die Grundstücke, Gebäude und Ausrüstungen auf westdeutsche Unternehmen übergegangen, die somit ihre Absatzchancen im Inland und Ausland ausbauen konnten und ihre Marktpositionen verstärkten. Zur Beschleunigung von Privatisierungen flossen erhebliche öffentliche Mittel in Form von direkten Beihilfen, Verlustübernahmen, Entschuldung und Freistellung von ökologischen Belastungen der Immobilien an westdeutsche und ausländische Unternehmen.

Als die Treuhandanstalt am 31.12.1994 ihre Arbeit beendete, hatte sie von den in ihrem Portfolio befindlichen 12 354 Unternehmen 6546 (53 Prozent) privatisiert, 1588 (13 Prozent) reprivatisiert, 310 (2,5 Prozent) kommunalisiert und 3718 (30 Prozent) liquidiert. Insgesamt gingen bei der Umwandlung der DDR-Wirtschaft in eine Marktwirtschaft ca. 85 Prozent der ehemaligen VEBs an westdeutsche Eigentümer, zehn Prozent an ausländische Investoren und fünf Prozent an frühere DDR-Bürger über. Die Antwort Gorbatschows auf den Vorwurf, er habe die Staaten des realen Sozialismus an andere übergeben ("Wem habe ich sie übergeben? Doch nur an das eigene Volk!") erfüllte sich für die ostdeutschen Bürger nicht, da über 90 Prozent der Industrie nicht mehr im Eigentum ostdeutscher Firmen war. Die Nachfolgeorganisation der Treuhandanstalt, die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) privatisierte noch zwischen 1995 und 1998 insgesamt 4370 Unternehmen.

Mit Inkrafttreten der Währungsunion geriet die ostdeutsche Wirtschaft in eine tiefe Krise. "Allein im ersten Monat [...] ging die DDR-Industrie auf 60 Prozent des Durchschnittsniveaus des ersten Halbjahres von 1990 zurück."(1)

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank von 341 Mrd. DM (Stand: 1989) auf 242 Mrd. DM (Stand: 1990) bis zu einem Tiefpunkt von 183 Mrd. DM (Stand: 1991). Seit 1989/90 erfolgte somit ein Einbruch des BIP von ca. 40 Prozent bis zum Jahr 1991. Zur gleichen Zeit sank die ostdeutsche Industrieproduktion um ca. 65 Prozent, was vor allem das verarbeitende Gewerbe traf (hier 42 Prozent).

"Das sind Größenordnungen, wie sie bislang in Friedenszeiten für keine Industrienation beobachtet wurden. Selbst während der Weltwirtschaftskrise zum Ende der zwanziger Jahre betrug der relative Einbruch der Industrieproduktion in Deutschland [...] nur etwa 40 Prozent, und das reale Bruttoinlandsprodukt fiel damals um Werte, die zwischen 20 Prozent und 30 Prozent lagen."(2)

Dem Verlust von etwa einem Drittel der industriellen Produktion innerhalb eines Jahres nach der Währungsunion folgte ein schneller Anstieg der Arbeitslosigkeit auf eine Million Menschen. Weitere 1,5 Mio. "Arbeitnehmer" wurden auf Kurzarbeit (zumeist mit null Stunden) heruntergesetzt. Die Beschäftigungszahl nahm von 9,75 Mio. Erwerbstätigen im Jahr 1989 auf 5,85 Mio. im Jahr 1991 ab. Somit bestand 1991 lediglich ein Beschäftigungsniveau von 60 Prozent im Vergleich zum Jahr 1989. Vor allem in der Industriebeschäftigung erfolgte ein starker Rückgang um 80 Prozent. Auch in der Landwirtschaft kam es zu starken Produktionseinbrüchen, und die Beschäftigtenzahl nahm dramatisch ab. Sie verringerte sich zwischen 1989 und 1994 von 834.000 auf 165.000 Beschäftigte. Bereits 1993 mußte jeder vierte Arbeitsplatz durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erhalten werden. Die Unterbeschäftigungsquote lag zu diesem Zeitpunkt bei ca. 34 Prozent. Eine Ausnahme beim Beschäftigungsrückgang war die Baubranche, da diese von 1990 bis 1994 um 40 Prozent anstieg.

"Bereits in den Jahren 1990/91 deutet sich an, wohin der Einzug des Arbeitsmarktes [...] führt: Angesichts einer gewaltigen Beschäftigungslücke werden zwei große Gruppen, [...], aus dem Erwerbsleben mehr oder minder ausrangiert: die Älteren und ein großer Teil der Frauen."(3) Die Frauen stellten bereits im Jahr 1990 mit 54 Prozent die Mehrheit der Arbeitslosen dar, und auf sie entfielen nur 27 Prozent der Neueinstellungen. "Die Erwerbsquote der Frauen lag in der DDR rund 20 Prozent über dem BRD-Niveau, im zweiten Jahr des neuen Deutschlands ist sie im Osten unter den Stand im Westen gefallen."(4)

All dies führte zu einer hohen Abwanderung aus den neuen Bundesländern in den Westen. Allein im Zeitraum von 1990 bis 2000 verließen mehr als 1,4 Millionen ihre ostdeutsche Heimat; die steigende Arbeitslosigkeit zwang vor allem Junge und Qualifizierte zu einem unfreiwilligen Wohnortwechsel. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Ralf Jungmann

Anmerkungen
(1) Jörg Roesler: Ostdeutsche Wirtschaft im Umbruch. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2003, S. 64

(2) Hans-Werner Sinn: Volkswirtschaftliche Probleme der deutschen Vereinigung. Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, S. 7

(3) Jan Priewe/Rudolf Hickel: Der Preis der Einheit. Bilanz und Perspektiven der deutschen Einheit. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt a. M. 1991, S. 39

(4) Joachim Bischoff / Klaus Steinitz: Bevor alles zusammenbricht. VSA-Verlag, Hamburg 1993, S. 52

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Stimmen aus aller Welt über die DDR

Solange der sozialistische deutsche Staat, die DDR, existierte, haben sich immer wieder Persönlichkeiten aus der ganzen Welt bei oder nach Besuchen über die DDR geäußert. Zum 30. Jahrestag am 7. Oktober 1979 hat die Auslandspresseagentur Panorama DDR über hundert solcher Stellungnahmen in einem Buch vereint. Entstanden ist so ein Mosaik persönlicher Erfahrungen und Erkenntnisse, die jeweils ein Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit widerspiegeln. Stellvertretend für die anderen veröffentlichen wir hier einige dieser Äußerungen - Älteren zur Erinnerung, Jüngeren zur Verdeutlichung dessen, was die DDR für die Welt (und für uns) war.

Anatoli W. Filiptschenko
Fliegerkosmonaut, UdSSR

Ich bin schon mehrmals in der DDR gewesen, und es war jedes Mal ein Treffen mit einem guten Freund: man freut sich über Fortschritte, erinnert sich an Vertrautes und fühlt sich verbunden. Unsere Freundschaft lebt heute überall im gesellschaftlichen Leben, und unsere politische, ökonomische und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit wird immer wirksamer. Sie ist Folge und Ergebnis der Verbundenheit und der engen Beziehungen unserer Parteien, gewachsen aus dem gemeinsamen Kampf der Kommunisten unserer Länder für unsere Ideale.

Wir Sowjetmenschen schätzen die DDR als zuverlässigen Bündnispartner in unserem gemeinsamen Kampf für Entspannung und internationale Sicherheit, für gesellschaftlichen Fortschritt. Die DDR ist an der Westgrenze des sozialistischen Lagers ein wichtiger Friedensfaktor.

Mit ihren Sehenswürdigkeiten und Kulturschätzen ist die DDR ein ebenso interessantes Reiseland, das jedem offensteht. An allen touristischen Schwerpunkten trifft man hier Ausländer, Reisegruppen und Besucher aus verschiedenen Ländern. Mich zieht hier besonders die sorgfältige Hege und Pflege des Wildes an, denn ich liebe die Natur und bin leidenschaftlicher Jäger.

Ich möchte noch etwas erwähnen, was mir in der DDR sehr gefällt: die hohe Disziplin und Gründlichkeit bei der Erfüllung übernommener Verpflichtungen. Das spürt man überall bei der Arbeit und in der Freizeit. Diese Verläßlichkeit ist auch ein wichtiges Merkmal unserer wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit. Sie ist Ausdruck unserer gemeinsamen Ziele und unserer Übereinstimmung in allen wichtigen Fragen.

In unserem Ausbildungszentrum im Sternenstädtchen wurden auch DDR-Bürger für ihren Einsatz als Kosmonauten vorbereitet. Ich arbeitete viel mit ihnen zusammen. Unermüdlich trainierten sie, interessierten sich für jede Einzelheit und ließen nicht eher locker, bis sie alles beherrschten. Ich halte diese Gründlichkeit für eine wertvolle Eigenschaft, weil darin ein hohes Verantwortungsgefühl zum Ausdruck kommt. Die DDR-Kosmonauten haben alle Prüfungen ausgezeichnet bestanden: Wir gratulieren der DDR zu dem Flug ihres Bürgers Sigmund Jähn zusammen mit unserem Landsmann Waleri Bykowski! Ihr Flug war dem 30. Jahrestag der Gründung der DDR gewidmet.


Vladimír Remek

Fliegerkosmonaut, CSSR

Im Kreis der Kosmonauten aus verschiedenen sozialistischen Ländern, die sich gemeinsam auf einen Flug in den Weltraum vorbereiteten, lernte ich auch Oberst Sigmund Jähn kennen. Trotz der Unterschiede in der Staatsbürgerschaft sowie in Farbe und Schnitt der Uniformen fanden wir rasch eine gemeinsame Sprache und verstanden uns gut. Wir trafen uns in den Unterrichtsräumen, den Trainingsanlagen, in der Turnhalle und auf dem Sportplatz. Hin und wieder fuhren wir gemeinsam mit dem Autobus nach Moskau zu einem Theaterbesuch. Sigmund Jähn war zwar einige Jahre älter als ich, gewann aber vom ersten Tag an meine Sympathie. Uns verbanden gemeinsame Interessen. Wir kamen uns menschlich näher und wurden aufrichtige Freunde.

So empfand ich eine unbeschreibliche Freude, als ich erfuhr, daß er Mitglied der Besatzung ist, die unter Leitung von Oberst Bykowski die erfolgreichen internationalen Flüge des Interkosmosprogramms fortsetzen sollte, dessen Durchführung dank der Sowjetunion möglich wurde. Mit Recht wird auf den Symbolcharakter der Tatsache verwiesen, daß der erste Deutsche im Kosmos ein Bürger der Deutschen Demokratischen Republik und ein Kommunist ist. Außerdem freue ich mich darüber, daß er mein guter Freund ist. Ich beglückwünsche ihn von ganzem Herzen und in seiner Person das ganze Volk der mit uns brüderlich verbündeten DDR.


Prof. Jorma K. Miettinen (1921-2017)

Vorstand des Instituts für Radiochemie der Universität Helsinki, Finnland

Sehr gern erinnere ich mich an die 26. Internationale Pugwash-Konferenz in Mühlhausen, an der ich im August 1976 zusammen mit meiner Frau teilnahm. Dieses traditionelle Zentrum des deutschen Humanismus und der Demokratie bildete einen gelungenen Rahmen für die weltweite Wissenschaftlerkonferenz, auf der über die größten Probleme unserer Zeit diskutiert wurde: über die Verhinderung eines Kernwaffenkrieges, die Eindämmung des Bevölkerungswachstums im notwendigen Rahmen, die Unterstützung der jungen Nationalstaaten und die Förderung einer neuen Weltwirtschaftsordnung und nicht zuletzt über die Einsparung von Naturschätzen und den Schutz der Umwelt.

Erfreut konnten wir feststellen, daß in der DDR eine große Arbeit zur Verwirklichung jener Ziele geleistet wird, die für Ihr Land von Bedeutung sind. Wir konnten auch sehen, daß bei Ihnen das deutsche Kulturerbe und die Reinheit der deutschen Sprache mit großer Sorgfalt gepflegt werden. Gleichzeitig baut die Bevölkerung der DDR mit Fleiß und Energie weiter ihre neue Gesellschaft auf.

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Meine Sehnsucht ist noch unterwegs
Der einfache Frieden

Wenn ein Gras wächst, wo nah ein Haus steht,
und vom Schornstein steigt der Rauch,
solln die Leute beieinandersitzen,
vor sich Brot und Ruhe auch,
und Ruhe auch.

Das ist der einfache Frieden,
den schätze nicht gering.
Es ist um den einfachen Frieden
seit Tausenden von Jahren
ein beschwerlich Ding.

Wo ein Mann ist, soll eine Frau sein,
daß da eins das andre wärmt,
solln sich lieben und solln sich streiten,
von der Angst nicht abgehärmt,
nicht abgehärmt.
­...

Wo ein Ball liegt, soll nah ein Kind spiel'n,
das zwei gute Eltern hat,
und soll alle Aussicht haben,
ob im Land, ob in der Stadt,
ob in der Stadt.
­...

Wo ein Leben war, da soll ein Tod sein
unter Tränen still ins Grab,
wo der Nachfahr manchmal hingeht
zu dem Menschen, den es gab,
den es gab.

Das ist der einfache Frieden,
den schätze nicht gering.
Es ist um den einfachen Frieden
seit Tausenden von Jahren
ein beschwerlich Ding.

G. Steineckert


Zwischen Walter Kaufmann und mir gibt es einen untilgbaren Abstand durch Respekt. Der läßt sich nicht überbrücken durch unsere Freundlichkeiten als Kollegen, sogar lockeren Spaß nebeneinander beim Buchbasar, und falls man sich zufällig trifft, dort, wo man heutzutage aus Trotz hingeht, um nach links zu grüßen, und ab durch die Mitte wieder nach Hause zu gehn. Respekt ist ein großes Wort. Es muß begründet werden, also: Ich glaube daran, daß ein Mensch, von seiner Geburt an, alles speichert, was ihm zuteil wird - an Liebe, die alles richtig macht, oder Nichtachtung und Nachlässigkeit. Eine besondere Rolle spielen da die unaufhebbaren Ungerechtigkeiten. Dabei mute ich meinem Hirn jetzt nicht zu, weiter aufzuzählen, was alles wehrlosen Kindern geschehen kann.

Walter Kaufmann wurde weggegeben, als Kleinkind. Die polnisch-jüdische Rachela hat ihn nicht versorgen können, so nehmen wir an. Wir wollen ihr nicht aufladen, daß sie 1924 schon gewußt hat, was sie ihm mit seiner Herkunft mitgibt: die sichere Verfolgung durch die Nazis. Seine neuen Eltern wurden in Auschwitz als Juden umgebracht.

Der Sohn entkam den Nazis durch die Flucht nach England, im letzten Zug voller jüdischer Kinder. Von dort wurde er 1940 nach Australien deportiert. Die Lebensstufen als Gefangener, als australischer Soldat, als Seemann und schließlich als Journalist und Schriftsteller, als Walter Kaufmann. Es waren beschwerliche Stationen auf dem sicheren Weg in die Literatur. Er hatte den Blick oder gewann ihn für das Wesen dieser Welt, in die er scheinbar eintauchte. Weil er sie immer im schwierigen Fremden suchte, das er ganz begreifen wollte, und in das er gern eingegriffen hätte. Daß die schwere Arbeit, die er leisten mußte, um zu überleben, nie seinen Kopf verdunkelte, ist sehr besonders an ihm. Wenn ich mit ihm rede, kann es sein, daß es wirkt, als ob wir scherzen, uns sogar gemäßigt Klatsch erzählen, aber ich habe dann schon sein Buch gelesen, möchte gern wissen, was er vorhat und werde nie Herkunft und Lebensleistung dabei einfach mal beiseite lassen. Oder soll ich denken, daß die schönen Sonnenuntergänge reiche Entschädigung waren für den harten Job als Seemann? Ins Ziellose ist der Journalist in welcher Berufskleidung auch immer nur einmal als Gefangener gereist. Sobald es ihm möglich war, hat er immer im Weiten das Weite gesucht, jenes, das die Welt verändern könnte, ihr das Aggressive nehmen. Das doch immer wieder aufflammt. Aus Gründen, aus Interessen. Das hat ihn links und in der Hoffnung gehalten.

Kaufmann war 33 Jahre alt, als er sich für die DDR entschied, aber seinen australischen Paß behielt. Hier wurden ihm von Angela seine Töchter geboren, wohl ein Teil seiner Treue zum kleinen, später untergegangenen Land. Er stand auf dessen Seite, er wollte wohl, daß er diese Heimat lieben und sich ihr ganz zur Verfügung stellen könnte. Aber so war sie nicht. Und so war er nicht. Er hat immer an den Verhältnissen hier ehrlich und kritisch teilgenommen, hat immer auf der Seite derer gestanden, die ziemlich genau wußten, woran das bedrängte Etwas DDR krankte. Vielleicht wäre der Mann auch in jeder anderen Heimat immer wieder aufgebrochen. Denn zwei Sätze, zwei Auskünfte über das Eigene stehen auf der Eingangstür zu seinem neuen Buch: "Meine Sehnsucht ist noch unterwegs." Und: "Ein Leben auf Reisen".

Die Jahre setzen ihm Grenzen, auch ihm. Aber welch ein Mut gehört dazu, nach Hiroshima zu reisen. Ich gebe zu, daß ich mich vor den Folgen eines der größten Verbrechen an einem anderen Staat fürchten würde. Er war dort. Er schreibt: "Was mich als jungen australischen Soldaten gehindert hatte, mich zum Dienst im fernen Hiroshima zu melden, war eine Kette von Ereignissen, die sich in einem Militärkrankenhaus kurz nach der Zerstörung dieser Stadt zutrugen." Mir scheint, daß Walter Kaufmann vielen Verdrängungen, denen wir anderen scheinbar ganz normalen Menschen unterliegen, entweder nicht ausgesetzt war, oder er hat etwas entwickelt, das ist mehr als Courage. Es ist Anstand. Mit dieser zutiefst menschlichen Haltung begegnet er überall, wohin er reist, den Menschen auf Augenhöhe. Das bringt man nicht mit auf die Welt. Dazu muß einer sich schon entschließen. Es ist ein Teil der Kultur, die wir alle brauchten, um die Welt in der Richtung zu verändern, von der wir oft träumen und reden. Anzumerken wäre, daß Kaufmanns Neugierde ihn, so heißt es, in Glück und Konflikte mit schönen Frauen gebracht hat. Wie gut, daß uns das nichts angeht. Wir lesen seine Bücher. Wie der Mann schreiben kann, das ist Begabung, und davon kriegt man etwas mit auf die Welt. Vielleicht von Rachela.

Meinen Respekt! - und Walter Kaufmann ein Salute auf den weiteren Weg ins Weite. Vielleicht wird er das in der Zukunft im Nahen suchen müssen, wo es auch zu finden ist. Gerade jetzt, wo uns das letzte Jahrhundert soviel Erfahrung aufgeladen hat.

Du hast den Heinrich-Mann-Preis erhalten. Das war auch in der DDR eine Auszeichnung, die hoch angesehen war. Und in schwierigen Zeiten Generalsekretär des PEN-Zentrums der DDR ohne böse Nachrede gewesen zu sein, das spricht von Anerkennung. In der Laudatio zur Verleihung des Literaturpreises Ruhr wurde von farbiger Lebendigkeit und Leuchtkraft als seltener Teil der Gegenwartsliteratur gesprochen. Das ist wahr, und ich empfinde es auch, wenn ich nun mitten in der Nacht in seinem Buch weiterlese.

Gisela Steineckert

Walter Kaufmann: Meine Sehnsucht ist noch unterwegs.
Ein Leben auf Reisen.
Verlag Neues Leben, Berlin 2015, 256 S., 14,99 Euro

Unsere von vielen Leserinnen und Lesern seit Jahrzehnten geschätzte Autorin Gisela Steineckert hat sich aufgrund beschwerlicher gewordener Lebensumstände entschlossen, ihre "RotFuchs"-Rubrik "Hand aufs Herz" nicht fortzusetzen (siehe auch ihren Beitrag im letzten RF). Wir bedauern das nachdrücklich, bedanken uns für ihre vielen Kopf und Herz berührenden Artikel und freuen uns auf bereits angekündigte gelegentliche Überraschungsbeiträge.


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LESERBRIEFE

Die NATO führte das mit Abstand größte und aggressivste Manöver gegen Rußland durch, und die hiesige Regionalzeitung titelt im Nachrichtenteil: "Putin droht mit Atomwaffen". Und das, obwohl der russische Präsident gerade das Gegenteil verkündete. Auf der 15. Waldai-Konferenz (15. bis 18. Oktober in Sotschi) nahm er zur gegenwärtigen Situation Stellung und nannte in diesem Zusammenhang jene beim Namen, die tatsächlich für die Eskalation der Sicherheitslage verantwortlich sind. Das Verlagern von Militär und dessen Einrichtungen an die Grenzen Rußlands, das Aussteigen der USA aus Atomverträgen und deren Strategie zur Destabilisierung ganzer Staaten tragen dazu bei, daß die Welt unsicherer wird. Nur ein völkerverbindender Wille des gemeinsamen Handelns kann nach Putin zur Stabilisierung der allgemeinen Sicherheit beitragen.
Der russische Präsident erhielt für seine klaren Worte große Zustimmung vom anwesenden internationalen Publikum. Alle friedliebenden Menschen - notorische Rußlandfeinde und Kriegshetzer ausgenommen - werden die Worte Putins als das verstehen, was sie sind: eine ernste Mahnung, aber keine Drohung.

Gerhard Perlick, Bützow


Selbst in manchen linken Publikationen taucht gelegentlich das Wort "Annexion" in bezug auf die Krim auf. Daß es sich in Wirklichkeit um eine Sezession handelt, wird tunlichst verschwiegen. Diese Sezession, also Abspaltung, wurde anschließend durch eine nicht zu beanstandende Volksabstimmung legitimiert, in der sich die überwiegende Mehrheit für einen Anschluß an die Russische Föderation entschied. Annexion / Sezession - diese gar nicht so schwierige Unterscheidung wird von den bürgerlichen Medien völlig ignoriert. Paßt doch eine Annexion besser in das politisch gewollte Bild eines aggressiven Rußland. Was vielen nicht klar ist, ist die Tatsache, daß es Sezessionen im Völkerrecht gar nicht gibt. Eine Abstimmung über eine Abspaltung ist folglich auch nicht verboten. Im Falle der Krim verstößt sie also auch nicht gegen Völkerrecht, sondern ausschließlich gegen ukrainisches Recht. Wenn man dann noch den durch die USA unterstützten Putsch im Jahre 2014 berücksichtigt, in dem eine demokratisch gewählte Regierung aus dem Amt gejagt wurde - und das mit dem erklärten Ziel, eine dem Westen genehme Regierung an die Macht zu bringen -, erscheinen die Abspaltungsabsichten in einem ganz anderen Licht. Faschistoide Tendenzen im ukrainischen Parlament waren ebenfalls nicht zu übersehen, neben allgegenwärtiger Korruption im Land.
Abspaltungstendenzen gab und gibt es auch in Katalonien, in Schottland, in Südtirol und an vielen anderen Orten. Im Kosovo wurde mit EU-Hilfe eine Sezession mit militärischen Mitteln durchgesetzt. Einmal mehr wird hier die Heuchelei des Westens deutlich. Wenn es um Rußland geht, muß Putin als Aggressor dargestellt werden. Mehrfach hat der russische Präsident seinen Widersachern die Hand gereicht: in seiner Rede vor dem Bundestag 2001 oder bei seinem Auftritt vor der Münchener Sicherheitskonferenz 2007, auf der er für eine friedliche Zusammenarbeit warb. In typischer westlicher Arroganz ist er stets brüskiert worden, denn Ziel der amerikanischen Außenpolitik ist es, einen Cordon sanitaire zwischen Europa und Rußland zu ziehen, vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer. Die Heartland-Theorie eines Halford Mackinder aus dem Jahre 1904 wirkt also nach wie vor. Sie ist lediglich durch kalte Krieger wie Zbigniew Brzezinski, George Friedman oder Paul Wolfowitz aktualisiert worden. Diese Theorie besagt: Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland. Wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Welt.

Volker Büst, Kalbe


Zu Hermann Jacobs: Was ist Rentabilität?, RF 249, S. 28

Laut Fremdwörterbuch: Einträglichkeit. Im Kapitalismus = der Verwertungsgrad des Kapitals. Und in der volkseigenen Wirtschaft? = Planerfüllung und Gewinnerzielung, d. h. Deckung der gemachten Ausgaben durch die eigenen Einnahmen und damit Gewährleistung der Rentabilität der Produktion. Leider hat das in der DDR nicht so gut funktioniert wie im Kapitalismus. Dennoch kommt Hermann Jacobs zu dem Schluß, daß der Kapitalismus auf diesem Gebiet vom Realsozialismus zu lernen habe. Eine wirklich umwerfende Logik.

Dr. Manfred Höfer, Leipzig


Zu Ralph Hartmann: Schlimmer geht's nimmer, RF 249, S. 33

Die Legende von angeblich Tausenden Zwangsadoptionen in der DDR konnte auf wissenschaftlicher Grundlage nie belegt werden. Eine Doktorandin brachte mit Mühe sieben Fälle auf den Plan, die auch noch umstritten sind. Statt dessen wird nun der Weg des Krimis oder des Spielfilms gewählt, um dort das Thema "einzubauen" und weiterhin Unwahrheiten zu verbreiten, die seriöser Prüfung nicht standhalten. In mehreren Filmen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens wurde in den letzten Monaten die Thematik "bedient" und wurden alte Lügen damit neu verpackt - das alles getreu dem Motto: Wenn es dort gesagt wurde, wird es wohl stimmen ... Man fühlt sich an den Satz erinnert, welcher Napoleon III. zugeschrieben wird: "Das objektive Bild der Geschichte ist immer die Summe der Lügen, auf die sich die Gesellschaft nach dreißig Jahren geeinigt hat."

RA Ralph Dobrawa, Gotha


Zu Patrik Köbele: Es ist Krieg, RF 250, S. 6

Köbele redet Klartext. Er sagt: "Die herrschende Klasse führt den Krieg." Einige - auch linke - Politiker und Journalisten scheuen diesen Begriff. Zur Verschleierung der wirklichen Verhältnisse sprechen sie von der "politischen Klasse", was immer das sein mag. Dann muß es ja auch noch eine unpolitische Klasse geben. - Der Beitrag "Der 12. Oktober, ein Feiertag in ganz Lateinamerika" (Nr. 250, S. 13 f.) ist sehr interessant.
Der 12. Oktober wird von den Nachfahren der Eroberer als die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus gefeiert, und dabei kommt die anhaltende eurozentristische Sichtweise deutlich zum Ausdruck. Fidel Castro schätzte dieses Ereignis 1992 richtig ein, als er erklärte, daß er nichts dagegen habe, des 500. Jahrestags der Ankunft Christoph Kolumbus' in Amerika zu gedenken. Aber das dürfe nicht zur simplen Verherrlichung der sogenannten Entdeckung und ihrer Folgen werden. Tatsächlich war Kolumbus nicht einmal der erste Europäer, der den Boden Amerikas betrat. Möglicherweise segelten die Kelten bereits 1500 Jahre vor Kolumbus über den Atlantik. Sicher ist, daß die Wikinger bereits um das Jahr 1000 den Boden Neufundlands betraten und dort eine Siedlung errichteten, bevor sie plötzlich wieder verschwanden.
Die eigentlichen Entdecker Amerikas aber, die amerikanischen Ureinwohner, zogen vor rund 15.000 oder 16.000 Jahren von Sibirien aus nach Alaska und besiedelten dann den ganzen Kontinent. Ihre Nachkommen wurden von den Europäern zum Teil ausgerottet oder in Reservate getrieben. Wenn man die heutige aggressive Politik der USA betrachtet, kann man kurioserweise zu der Ansicht kommen, es wäre besser gewesen, wenn die Indianer Europa entdeckt hätten.

Dr. Kurt Laser, Berlin


Frankreichs Präsident Macron gestattete sich, anläßlich der Gedenkfeiern zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren nach Paris einzuladen. Man hatte jedoch den Eindruck, daß von den geladenen Staatsgästen eine gewisse Arroganz gegenüber der globalen Bedeutung der damaligen Ereignisse gezeigt wurde. Nicht zu übersehen bei US-Präsident Trump allein schon durch dessen Körpersprache, die ausdrückte: "Es bleibt dabei: America first!" Ob Angela Merkel, die solches Gehabe bei ihrem Auftritt zu relativieren suchte, jedoch fähig ist, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, darf bezweifelt werden.

Hans-Georg Vogl, Zwickau


Zu Harald W. Jürgensonn: 35 Jahre nach Mutlangen und Bonn, RF 250, S. 5

Ich war in Bonn und im Hundsrück dabei. Den Demonstranten von damals muß heute noch gedankt werden, auch wenn es nicht gelang, die Stationierung der Pershing zu verhindern. Die bunte Vielfalt der Teilnehmer war unübersehbar. Tausende waren mit ihrer Wut, ihrer Angst, aber auch Hoffnung gekommen und hatten große Strapazen auf sich genommen. Viele haben sich inzwischen zurückgezogen, aber die Ostermärsche und andere Friedensaktionen gibt es noch. Leider oft gestört und behindert von örtlichen SPD-Aktivisten, wie z. B. den Jusos, die uns zwar rhetorisch übertrumpfen wollten, praktisch aber unsere Arbeit torpedierten. Friedensarbeit vor Ort ist kein Spaziergang. Aber ich halte mich an Luis Fürnberg, der in einem seiner bekanntesten Lieder schrieb: "Alles hat am Ende sich gelohnt."

Liesel Bauer, Dormagen


Zu Dr. Dieter Luhn: Internationale Solidarität - ganz konkret, RF 250, S. 28

Der Artikel von Dr. Luhn hat schöne Erinnerungen geweckt. Im Frühjahr/Sommer 1970 lernten wir in Kuba die FDJ-Brigade "Ernst Thälmann" kennen, die im Rahmen der "Gran Zafra" vorbildliche Arbeit leistete. Leiter war Dr. Jürgen Queitsch von der Jugendhochschule Bogensee. Mein verstorbener Mann Jürgen Käding, damals ADN/ND-Korrespondent in Havanna, berichtete mehrmals im ND über die Jungen. Einige Wochen lang war auch ein Reporter von der "Jungen Welt", H. Wawrzyniak, vor Ort und schrieb lange Artikel über Kuba und auch über die Brigade.

Edda Käding, Berlin


Ihr Mitautor Helmuth Hellge ist ein ganz besonderer Mensch. Ich möchte ihn ganz, ganz herzlich grüßen. Er ist trotz seines hohen Alters noch immer mit Artikeln und Leserbriefen im RF und anderen linken Publikationen präsent. Ich freue mich so sehr, wenn ich seinen Namen entdecke. Schließlich war er auch mein ehemaliger Direktor am Institut für Lehrerbildung Kyritz, eine der Persönlichkeiten, die meinen Lebensweg mit prägten und mich kritisch und gut gerüstet auf die Zukunft als Lehrerin vorbereiteten. Ihm gilt mein besonderer Dank und meine Hochachtung. Auch wenn man manchmal an den heutigen politischen Wirrnissen verzweifeln könnte, gibt es Tage, da möchte man mithelfen, die Welt aus den Angeln zu heben und sie links herumdrehen lassen.
Oft frage ich mich, was kann man als alter Mensch noch für eine bessere Zukunft tun?
Wir setzen uns auf das Fahrrad, halten an - da und dort - und suchen das Gespräch. Und ganz im Ernst: Wir haben oft Erfolg und diskutieren auch mit Jüngeren. Es entstanden sogar Freundschaften. Dann gibt es die Bewegung "Aufstehen". Wir sind dabei! Außerdem ist es sehr wichtig, linke Zeitschriften zu erhalten, und sei es mit einem Abo für die "junge Welt", "Melodie und Rhythmus" und andere. Hier hilft wirkliche Solidarität.
Nur so auf dem Sofa herumsitzen und sich aufregen schadet uns allen und auch der Gesundheit.

Karin Gruhne, Burg/Spreewald


Der 85. Geburtstag des DDR-Fernsehkapitäns Gerd Peters am 8. Januar ist mir Anlaß, sein Lebenswerk mit diesen Zeilen zu würdigen. In einer MDR-Sendung "Riverboat" ließ Traumschiff-Produzent Wolfgang Rademann einst die Katze aus dem Sack: "Als das DDR-Fernsehen Mitte der 70er Jahre die Serie 'Zur See' herausbrachte, überlegten wir, was können wir dem entgegensetzen? Und kamen auf das Traumschiff." - Alles weitere ist bekannt.
Gerd Peters war von Anfang an und über mehrere Jahre Fachberater und Mitautor an dem genannten DDR-Mehrteiler mit neun Folgen. Sein Vater - ein begeisterter Segler - führte ihn schon frühzeitig an das nasse Element heran. Schon als Schuljunge fesselte ihn die maritime Literatur des Vaters.
Der Wunsch, zur See zu fahren, wurde geboren. Der Oberschule folgte eine Lehre als Stahlschiffbauer in der Yachtwerft Köpenick und der Eintritt in die Tourensegler-Gemeinschaft in Berlin-Schmöckwitz.
Das nächste Ziel: der Erwerb des Segelscheins für die ortsnahe Küstenfahrt. Nach der Facharbeiterprüfung und einer Tätigkeit als Instrukteur bei der GST (Gesellschaft für Sport und Technik) der DDR bewarb er sich bei der Volkspolizei See, und die Zeit als Offiziersschüler begann.
Das Ziel "Seefahrt" rückte näher. Der erste Einsatz als Offizier und Kommandant eines Minenräumboots in Peenemünde im Jahr 1958 war dabei ein wichtiger Meilenstein im Leben von Gerd Peters. Die Entlassung in Ehren aus der Volksmarine schon zwei Jahre später machte den Weg frei für die Tätigkeit als Zweiter Nautischer Offizier auf dem Segelschulschiff "Wilhelm Pieck". 1963 dann Anheuern bei der Deutschen Seereederei und Besuch der Seefahrtsschule Wustrow. Die dort erworbenen Patente A5 und A6 waren Voraussetzung, um nun endlich auf Große Fahrt gehen zu können.
Den Einsätzen auf der "Völkerfreundschaft", der "Berlin", der "Heinrich Heine" und der "Boitzenburg - meist als Nautischer Offizier - folgte die Berufung als Kapitän auf der "Dresden" (dem heutigen Traditionsschiff, das als solches noch in Rostock liegt) sowie als ständiger Urlaubsvertreter des Kapitäns auf der "Völkerfreundschaft". Es folgte eine mehrjährige Tätigkeit im Kombinat Seeverkehr und Hafenwirtschaft als Chefinspektor der Reederei und ab 1980 als deren Pressesprecher.
Nebenberuflich war Kapitän Peters Autor, Moderator und Fachberater für Film und Fernsehen. Die Dokumentation über die 100jährige Geschichte des Nord-Ostsee-Kanals, das Buch über die Typ-IV-Schiffe der DSR und der Bildband "Vom Urlauberschiff zum Luxusliner" zeugen von seinem vielseitigen Schaffen.
2018 erschien "Seefahrt ist für lebenslänglich", das ein großes Publikum fand. Nun arbeitet der Jubilar an seinem siebten Buch. Der Arbeitstitel "Kielwasser" sagt dem Laien zunächst nicht viel. Der Fachmann aber weiß, das Kielwasser ist ein aufschlußreiches Zeichen dafür, ob der Kapitän sein Handwerk beherrscht, ob der Kurs exakt anliegt. Auch als aktiver Segler hat Peters über Jahrzehnte Erfahrungen gesammelt. Es wird sich also wiederum um Geschichten über die Seefahrt drehen.

Ursula Rosentreter, Rostock


Das Erscheinungsbild der Partei Die Linke ist das einer in sich zerrissenen. Deren aktuelle Politik wird von Bürgerinnen und Bürgern mehrheitlich nur bedingt akzeptiert und für wählbar gehalten. Aus unserer Sicht gibt es dafür u. a. folgende Gründe:
- Das eigene Parteiprogramm wird in wesentlichen Inhalten durch Politiker unserer Partei öffentlich infrage gestellt, wenn es um mögliche Machtoptionen vor allem auf Landes- und Bundesebene geht;
- öffentliche Auseinandersetzungen über Grundfragen in der strategischen und taktischen Ausrichtung unserer Partei, verbunden mit persönlichen Anwürfen und einem gehörigen Mangel an Solidarität;
- mangelnde theoretische Arbeit für die Entwicklung und den Aufbau einer Gesellschaft, die, auch unter Berücksichtigung der Ergebnisse und Folgen des ersten Sozialismusversuchs, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse ernsthaft infrage stellt und zu deren Überwindung beiträgt.
Die Partei Linke wird zunehmend nicht mehr als Pendant zu den etablierten Parteien und deren Politik wahrgenommen, sondern als Bestandteil und als Unterstützer des gegenwärtig ungerechten Gesellschaftssystems;
- mangelnde außerparlamentarische und wenig öffentlichkeitswirksame Aktionen, die durch eine oft auf Anpassung ausgerichtete parlamentarische Arbeit sowie entsprechender Entscheidungen noch wesentlich abgeschwächt werden. Fazit: Die Partei Die Linke hat durch mangelnde Führungskompetenz, auch durch ihre bisherige praktische Arbeit und ihr nunmehriges Erscheinungsbild, den Anspruch auf eine wirkungsvolle Opposition selbst in hohem Maße verloren und teilweise aufgegeben.
Die dramatischen Stimmenverluste in den zurückliegenden Jahren, sowohl bei Sympathisantinnen und Sympathisanten als auch bei anderen, sind zuvörderst Ausdruck eines großen Vertrauensverlustes und fehlender Kompetenz sowie Integrität von Amts- und Mandatsträgern der "Linken".
Am schlimmsten ist aber der Umgang Gleichgesinnter in Parteigremien und die unwürdigen öffentlichen Auftritte bis hin zu medial vorgetragenen politischen Erpressungsversuchen.
Wir geben der Erwartung Ausdruck, daß, ausgehend von den Willensbekundungen auf dem Leipziger Parteitag, endlich mit den Hemmnissen sowie Vorurteilen in der Arbeit in den Gremien aufgeräumt und ein angemessener persönlicher Umgang zur erfolgreichen Umsetzung linker Programmatik gepflegt wird.

Mitglieder der KPF Chemnitz, i. A. Roland Fleischer und Raimon Brete


Meine Grundeinstellung als junger Mensch zur DDR - ich war Ingenieur der Deutschen Reichsbahn im technischen Dienst - war absolut negativ, aber durch ein Schlüsselerlebnis mit dem Parteisekretär, der dann später auch einer meiner Bürgen wurde, hatte sich das innerhalb von zwei Jahren grundlegend verändert. Daran hat sich - ich gehe auf die 85 zu - bis heute nichts geändert.
Die gegenwärtige BRD macht mir große Sorgen. Bei der Entwicklung und Produktion von Waffen war Deutschland noch nie zimperlich. Die Rüstungsindustrie, denken wir an Heckler & Koch, Rheinmetall und andere, hatte immer volle Auftragsbücher. Jetzt werden perfide neue Waffensysteme entwickelt, mit denen Menschen durch Hightech noch "moderater" getötet werden können. Und die bürgerlichen Medien blasen das Feuer weiter mächtig an. Schon Kinder werden mit Texten kriegerischen Inhalts, Kriegsspielzeug und dergleichen vollgestopft. Sollen sie schon wieder spielend auf das große Sterben und das Heldengedenken vorbereitet werden? Überhaupt geht es in Presse und Fernsehen viel zu viel um Gewalt.
Und wie reagieren die einfachen Menschen? Leider zu passiv. Viele sagen, man könne doch sowieso nichts ändern, wichtiger scheint das "Shoppen" zu sein. Trotz der vielen Unruheherde und Kriegsschauplätze auf der Erde scheint das nur wenige zu interessieren, aber jeder militärische Konflikt kann sich in ein atomares Inferno verwandeln, bei 300 % Rendite geht das Kapital bis zur Selbstvernichtung. Über die tatsächlichen Auftraggeber und Nutznießer an Kriegen aber wird kaum gesprochen. Wie viele Menschen wurden in den letzten 100 Jahren auf unserem Erdball in deren Interesse umgebracht! Vergessen wir nicht: Mit jedem Getöteten, mit jeder zerschossenen Anlage, Wohnung, Fabrik etc. wird Geld verdient.
All das gebiert das kapitalistische System. Es muß überwunden werden!

Gerhard Dietrich, Neustadt/Orla


Zur Beilage "Novemberrevolution", RF 250

Vielen Dank den Machern der Beilage des RF zur "Novemberrevolution" für die Idee sowie Form und Inhalt der Beilage! Mein Interesse an der Geschichte der Novemberrevolution ist sprunghaft gestiegen, als ich bereits 2017 von den Mordtaten der Soldateska im Auftrag des SPD-Kriegsministers Noske gelesen hatte, die auf dem Schulhof meiner "Andreas-Oberschule" in Berlin-Friedrichshain auch an Frauen und Kindern verübt wurden.
Nach dem Lesen weiterer Bücher über die Novemberrevolution, so auch von Sebastian Haffner, der von der durch die SPD verratenen Revolution schreibt, war mein Zorn über die derzeitige einseitige Berichterstattung über die Novemberrevolution und die Jahre danach in der Weimarer Republik für mich Anlaß, dagegen öffentlich Stellung zu beziehen.
Die eingangs erwähnte Beilage des November-"RotFuchs" ist eine hervorragende Darstellung der historischen Wahrheit in diesen Zeiten mit den Verbrechen, die die damalige SPD-Führung (namentlich Ebert und Noske) zu verantworten hat! Wir sollten die Frage stellen: Ist es gerecht, wenn die DDR-Bürger gezwungen werden, sich mehrmals im Jahr für ihre "Geschichte" zu entschuldigen, während die SPD es vermeidet, ihren Verrat an der Novemberrevolution (gemeinsam begangen mit der Generalität und den Großindustrieellen) zu erwähnen?

Harry Schröder, Berlin


Was war das Positive an der deutschen Novemberrevolution? Der Austritt Deutschlands aus dem Krieg wurde erkämpft. Am 11.11.1918 wurde in Frankreich ein Waffenstillstand mit der Entente beschlossen. Kaiser Wilhelm II. mußte abdanken und floh nach Holland. Alle deutschen Fürstenhäuser wurden entthront. Die Monarchie wurde gestürzt und eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie etabliert. Die Masse der Arbeiter und Soldaten ging auf die Straße und erkämpfte einige bürgerlich-demokratische Freiheiten: zum Beispiel den Acht-Stunden-Tag, das Wahlrecht für Frauen (ab 20 Jahre), Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit.
Es wurde der Beweis erbracht, daß ein vereintes Volk die kapitalistische Kriegsmaschine stoppen kann. Diese historische Erfahrung sollten wir heute richtig bewerten und konsequent nutzen, um die US-NATO-Aufrüstungs-, Kriegs- und provokatorische Sanktionspolitik durch klugen, vielfältigen Widerstand zu beenden.
Die Novemberrevolution blieb auf halbem Wege stehen, erreichte nicht die Ziele einer sozialistischen Revolution: Das kapitalistisch-imperialistische System der Banken und Monopole, der Ausbeuter und Profitmacher wurde nicht beseitigt. Die preußischen Militaristen, Verursacher für die zehn Millionen Kriegstoten, wurden nicht bestraft. Die preußische militaristische Staatsmacht blieb erhalten. Das alles bildete die Grundlage für das, was danach kam: deutscher Faschismus und Zweiter Weltkrieg.

Horst Jäkel, Potsdam


Der 9. November ist ein Schicksalstag der deutschen Geschichte. Die Abdankung des Kaisers als Höhepunkt der Novemberrevolution liegt genau 100 Jahre zurück, zugleich jährt sich die Reichspogromnacht vor 80 Jahren. Zwei Ereignisse, die sich diametral gegenüberstehen: Auf der einen Seite der hoffnungsvolle Aufbruch in die Demokratie, auf der anderen Seite die offene Barbarei.
Die Novemberrevolution hat sich im Herbst 1918 mit großer Geschwindigkeit über ganz Deutschland ausgebreitet, vor allem durch die Eisenbahn.
Die Flashmobaktion "Die Revolution rollt" des Vereins Weimarer Republik e. V. stellte mit Unterstützung zahlreicher Partner vor Ort die Ereignisse vor 100 Jahren an 47 Bahnhöfen in ganz Deutschland nach. Am Montag war Station in Weimar. Schauspieler Ronald Mernitz spielte die Situation wie vor 100 Jahren authentisch erlebbar für die anwesenden Schüler und Bahnhofsgäste nach.
Die Revolution setzte eine ganze Reihe von demokratischen und sozialen Errungenschaften durch, die für uns heute selbstverständlich sind. Zum Beispiel wurde die Reichsverfassung am 31. Juli 1919 in Weimar beschlossen. Mit ihr wurde das Deutsche Reich zu einer föderativen Republik mit einem gemischt präsidialen und parlamentarischen Regierungssystem.
Die Weimarer Republik gilt als ein Lehrstück für die Gefährdung und Selbstgefährdung der Freiheit. Jüngste Entwicklungen erinnern immer deutlicher an Zustände während der Weimarer Republik.

Stanislav Sedlacik, Weimar


Das eben zu Ende gegangene Jahr 2018 hatte für mich eine besondere Bedeutung, da es von großen Jahrestagen geprägt war. Wir erinnerten an den Kieler Matrosenaufstand vor 100 Jahren am 3. November 1918. Oder an den 7. November 1918, als Kurt Eisner, der spätere Ministerpräsident, vor dem Arbeiter- und Bauernrat den Freistaat Bayern ausrief. Heutzutage wird verschwiegen, daß er aus einer proletarischen Revolution entstand. Nicht zu vergessen der 9. November 1918. Die Novemberrevolution bleibt ein Fanal. Zwanzig Jahre später, am 9. November 1938, brannten in Deutschland die Synagogen, ein nicht nur symbolisches Fanal für den Vormarsch des deutschen Faschismus.
Erinnert sei an das Jahr 1968, das als "internationales Jahr der Menschenrechte" in die Geschichte einging, oder an den Mai 1968, in dem die internationale Jugend- und Studenten-Protestbewegung ihren Anfang nahm.
Für mich von besonderem Gewicht aber war das Karl-Marx-Jahr 2018. Die von Marx entwickelte wissenschaftliche Sicht auf gesellschaftliche Verhältnisse und Zusammenhänge und seine Werke sind von bleibender Bedeutung. Gemeinsam mit Friedrich Engels deckte er die Zusammenhänge zwischen den Interessen des Privateigner und der Rolle des bürgerlichen Staates auf, was Marx veranlaßte, sich ganz den Fragen der Ökonomie zuzuwenden.
Noch heute gilt sein Hauptwerk "Das Kapital" als die schärfste Kritik der kapitalistischen politischen Ökonomie und entscheidendes Fundament, um die kapitalistische Gesellschaft zu verstehen und zu überwinden. Denn eine andere Welt ist nicht nur nötig, sondern auch möglich.

Gudrun Hibsch, Cottbus


Leider bin ich gezwungen, den "RotFuchs" aus Alters- und Krankheitsgründen abzubestellen, was mir sehr leid tut. Ich werde Euch aber auch in diesem Jahr eine Spende überweisen, damit ein neuer Leser gefunden werden kann, denn mir ist sehr daran gelegen, daß eine wichtige Stimme für Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität nicht verlorengeht, wofür der "RotFuchs" seit Jahren eintritt.

Anni Peters, Suhl


Liebe Genossen, wie Ihr wahrscheinlich wißt, gab es große Probleme mit den Wahlen in Brasilien. Und es war nicht nur das Endergebnis, sondern auch das ganze Verfahren. Bolsonaro siegte mit Unterstützung ganz verschiedener Menschen, von den Finanzkapitalisten und der Elite bis zu den Armen und Arbeitslosen. Für uns, für die Linke, sind dabei nicht die Kapitalisten oder die Elite das Problem - sie sind wie immer nur an Ausbeutung interessiert, weshalb wir auf entgegengesetzten Seiten stehen. Aber es ist schlimm, wenn auch Arme und Arbeitslose ihre Stimme faschistischen Kräften geben.
Wir werden in den nächsten Jahren hart arbeiten müssen, um eine Einheit innerhalb der Linken zu erringen und zu versuchen, die Unterstützung der Mehrheit der Menschen zu bekommen, um die es wirklich geht.

Prof. Henrique Wellen, z. Zt. London


Die VVN-BdA Braunschweig hat eine Broschüre mit Texten des Zeitzeugen Robert Gehrke "Die revolutionäre Arbeiterbewegung Braunschweigs von den Anfängen bis 1919" herausgegeben. Die Erinnerungen des Arbeiters, Kommunisten und Antifaschisten ruhten lange Jahre unentdeckt im Bundesarchiv. Gehrke beschreibt die Jahre vor der Novemberrevolution. Seine Anmerkung, das habe sich "vor mehr als 35 Jahren" zugetragen, läßt den Schluß zu, daß er sie Anfang bis Mitte der 50er Jahre aufgeschrieben hat. Auch wenn er in dieser Niederschrift die Position des beobachtenden Berichterstatters einnimmt, so ist es doch sein eigenes Leben, an dem wir teilnehmen dürfen. In seiner Arbeit "Die sozialistische Jugendbewegung" beschreibt Robert Gehrke die Entstehung der organisierten Jugend im deutschen Reich und die Verhältnisse, die ihr zugrunde liegen, und geht dann detailliert auf die Braunschweiger Jugend zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein.
Bereits als Jugendlicher lernt er Martha Ahlbrecht kennen. Sie heiraten 1920. Martha war ebenfalls politisch tätig und kämpfte bis zuletzt an seiner Seite.
Die Kurzbiographie über Robert Gehrke beruht auf einer umfassenden Arbeit von Robert Seeboth, der wir Passagen entnommen haben. Wir lernen Robert Gehrke als Antifaschisten kennen, der 1933 verfolgt und verhaftet und nach Gefängnis und Zuchthaus ins KZ Buchenwald verbracht wurde, aus dem er nach zehn Jahren entlassen wurde. Wir begegneten mit ihm jemandem, der die Lehren aus Faschismus und Krieg gezogen hat, der sofort aktiv wurde, um das Ziel "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!" auch in Braunschweig zu erreichen.
Robert Gehrke erzählt authentisch von den Kämpfen der Braunschweiger Arbeiterbewegung. Es ist ein Kapitel der von Menschen gemachten Geschichte - einschließlich Verfolgung, Folter und Konzentrationslager.

Die Broschüre hat 100 Seiten und ist für 10 € zu beziehen, die Adresse entnehmen sie bitte der PDF der RotFuchs-Ausgabe 1/2019, die Linkadresse finden sie unten.

Ina Kurrat, Braunschweig

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Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.
Postfach 02 12 19, 10123 Berlin


Das Impressum für die obenstehende Ausgabe ist zu finden unter:
www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2019/RF-252-01-19.pdf

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Quelle:
RotFuchs Nr. 252, 21. Jahrgang, Januar 2019
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2019

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