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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1409: Europa auf neue Füße stellen


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6 - Juni 2010
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Europa auf neue Füße stellen

von Michel Husson


Die Krise des Euro hat die Unstimmigkeiten und Widersprüche des Euro und der Europäischen Union auf schmerzliche Weise offen gelegt. Eine gemeinsame Währung setzt einen erhöhten Grad an Übereinstimmung zwischen den beteiligten Ländern voraus - oder politische Entscheidungen und Institutionen, die in der Lage sind, eine solche Übereinstimmung herzustellen. Keine dieser beiden Voraussetzungen ist gegeben.


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Als der Euro entworfen wurde, verfolgten die Länder Europas unterschiedliche Wachstumsmodelle: In einigen Ländern war der Hauptantrieb der Binnenmarkt, andere waren eher exportgetrieben. Einige Länder hatten Nachholbedarf und deshalb eh eine erhöhte Inflationsrate. Schon vor dem Eintritt der Krise zeigten sich die Folgen dieser Divergenzen im Auseinanderdriften der Wachstumsraten - womit dem Glauben widersprochen wurde, die bloße Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Markt und einer gemeinsamen Währung werde schon eine Konvergenz der Wirtschaften bewirken.

Zwischen 1992 und 2006 lagen die jährlichen Wachstumsraten in den "Gewinner"ländern (Spanien, Finnland, Griechenland, Luxemburg, Großbritannien, Schweden) im Schnitt bei 3,5% - soviel wie in den USA. Die "Verlierer"länder (Deutschland, Österreich, Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Niederlande, Portugal) kamen lediglich auf 1,6% pro Jahr.

Ein Konvergenzprozess hätte durch eine Politik der Harmonisierung der steuerlichen und sozialen Rahmenbedingungen und durch die Schaffung geeigneter Instrumente - wie z.B. ein europäischer Haushalt, der die notwendigen Transferleistungen für eine solche Harmonisierung finanziert - unterstützt werden können. Doch die Entscheidung für ein liberales Modell der Union, das den "freien und unverfälschten" Wettbewerb privilegiert, hat von vornherein eine solche Orientierung ausgeschlossen.


Die Wirtschaften driften auseinander

Die Entscheidung für die gemeinsame Währung fiel nicht wegen der davon erhofften Vorteile. Eine Stabilisierung der Wechselkurse hätte auch durch weniger rigide Maßnahmen erreicht werden können, die regelmäßig Korrekturen zugelassen hätten.

Der Euro diente vor allem dazu, Lohndisziplin durchzusetzen; denn von nun an war es unmöglich, Ungleichgewichte zwischen den nationalen Wirtschaften durch Wechselkursoperationen auszugleichen. Die einzige Variable, die übrig blieb, waren die Löhne.

Das beantwortete aber nicht die Frage nach der zunehmenden Divergenz der nationalen Ökonomien. Bevor die Krise ausbrach, gab es zwei Mechanismen, die es ermöglicht haben, damit umzugehen. Der erste bestand für einige Länder darin, noch im Vorfeld der Einführung des Euro ihre Währung abzuwerten und dem Euro mit einem Wechselkurs beizutreten, der gewissermaßen eine Wettbewerbsreserve enthielt. Das ist der Weg, den bekanntlich Spanien und Italien in der ersten Hälfte der 90er Jahre eingeschlagen haben. Umgekehrt sind andere Länder wie Frankreich (und bis zu einem gewissen Grad Deutschland) dem Euro mit einem in Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit eher nachteiligen Wechselkurs beigetreten.

Der zweite Flexibilitätsfaktor ist zugleich der einzige Vorteil des Euro: Das Außenhandelsdefizit eines Landes belastet nicht mehr die eigene Währung, weil es diese nicht mehr gibt. Die Außenhandelsbilanz der Eurozone insgesamt ist relativ ausgeglichen, und bislang war das Problem des Euro eher, dass er im Vergleich zum Dollar zu stark war. Dieser Schutz, den der Euro gebracht hat, hat es einigen Ländern in den zurückliegenden Jahren erlaubt, ein hohes Wachstum auf der Basis eines wachsenden Außenhandelsdefizits zu erzielen. Die gemeinsame Währung sichert darüber hinaus relativ gleich hohe Zinssätze, vor allem bei der Finanzierung der Staatsschulden.

Dieses Konstrukt war nicht zu halten. Die Krise hat die divergierende Entwicklung brutal beschleunigt, und die Finanzspekulation hat die starken Spannungen, die dem neoliberalen Europa innewohnen, offenkundig gemacht.

Die Polarisierung der Eurozone in zwei Ländergruppen existierte jedoch schon vor der Krise: Auf der einen Seite profitieren Deutschland, die Niederlande und Österreich von großen Handelsüberschüssen, und ihre Staatsschulden sind moderat geblieben. Auf der anderen Seite befinden sich Portugal, Italien, Griechenland und Spanien (die berühmten "PIGS") in einer umgekehrten Situation: Sie haben große Handelsdefizite und überdurchschnittlich hohe Staatsschulden. Belgien, Frankreich, Italien und Finnland belegen einen mittleren Platz. Die Krise hat die Polarisierung verschärft: Die Staatsschulden sind überall gestiegen, aber in der ersten Ländergruppe (Deutschland, Niederlande, Österreich), die weiterhin Handelsüberschüsse erzielt, weniger. In allen anderen Ländern hat sich die Situation verschlechtert, die Staatsschulden sind explodiert und die Handelsbilanz ist zunehmend aus dem Gleichgewicht.


Der Gang in die Rezession

Heute will Deutschland die rohe Logik des Euro durchsetzen, weil alle anderen Mittel erschöpft sind. Die Länder, die am meisten von der Krise betroffen sind, müssen Strukturanpassungspläne anwenden. Die EU-Behörden haben sich den Finanzmärkten vollständig unterworfen, und Griechenland ist zu einem Laboratorium der Sparpolitik geworden, die die Regierungen in ganz Europa durchsetzen wollen.

Diese Politik ist selbstmörderisch und kann nur in eine neue Rezession führen. Die Strukturanpassungspläne werden natürlich die Binnennachfrage brechen, und Deutschland wird die Absatzmärkte, die es in Europa verliert, nicht durch vermehrte Exporte in die restliche Welt kompensieren können. Es besteht die Gefahr, dass einige Länder zum Austritt aus der Eurozone gedrängt werden, um durch einen eigenen Wechselkurs wieder Manövrierraum zu gewinnen. Aber das ist eine verzweifelte Situation, die eine Rezessionsspirale in Gang setzen und die Spekulation erst richtig entfesseln könnte.

Dabei gibt es Alternativen, die den strukturellen Asymmetrien zwischen den nationalen Wirtschaftsräumen Rechnung tragen und die Europäische Union auf neue Beine stellen würden:

Die Finanzspekulation muss (und kann) sofort durch die Einführung einer Finanztransaktionssteuer entmutigt werden. Man muss sie jedoch gänzlich verbannen, z.B. durch ein Verbot des Handels mit Kreditausfallversicherungen (CDS), die mit Staatsschulden spekulieren, und jeder Form von Leerverkäufen.
Die Staaten dürfen ihre Schulden nicht mehr über den Kapitalmarkt finanzieren, sondern über die Europäische Zentralbank. Die Banken müssen verpflichtet werden, eine Mindestmenge an Staatsanleihen zu müssen halten, zum selben Zinssatz wie der, den sie selber zahlen.
Das Prinzip der Harmonisierung muss an die Stelle des Prinzips der Konkurrenz treten. Ein europäischer Harmonisierungsfonds sollte geschaffen werden, der aus einer einheitlichen Kapitalsteuer finanziert wird. Er soll die Angleichung der europäischen Sozialstandards nach oben finanzieren.

Eine wirkliche Lösung der Krise erfordert die Rückkehr zur Vollbeschäftigung - das kann geschehen über die Schaffung von sozial und ökologisch nützlichen Arbeitsplätzen und über die Verkürzung der Arbeitszeit. Bei beiden Punkten kann Europa zu einem Motor werden, koordinierte Investitionsprogramme lancieren und gemeinsame soziale Normen einführen.

All dies ist möglich und sinnvoll, widerspricht jedoch vollständig dem Vertrag von Lissabon und der kapitalistischen Logik, die sich durch die Krise noch verhärtet. Die Reaktionen auf die Krise Griechenlands zeigen die Unfähigkeit der bürgerlichen Regierungen, zu kooperativen Formen der Politik zu finden. Diese Blindheit führt direkt ins Chaos.

Unter diesen Umständen ist die einzige plausible Strategie die des Widerstands gegen die Sparpläne - er kann die Notwendigkeit eines solidarischen Europas aufwerfen.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, 25. Jg., Juni 2010, Seite 13
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2010