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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1416: Möglichkeiten sozialistischer Entwicklung in der DDR


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6 - Juni 2010
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Möglichkeiten sozialistischer Entwicklung in der DDR
Die Bedeutung des volkseigenen Eigentums für andere zwischenmenschliche Beziehungen

Von Edeltraut Felfe


Um es im Interesse einer produktiven Diskussion vorweg zu nehmen: Der Sozialismusversuch in der DDR kann insgesamt nicht als Vorbild für gegenwärtige sozialistische Zielstellungen dargestellt, sondern muss sehr kritisch ausgewertet werden - auch hinsichtlich des großen Schadens für emanzipative Bewegungen über die Bundesrepublik hinaus -, vor allem von denen, die an ihm mitgearbeitet und unter ihm gelitten haben. Das gehört zum Selbstverständnis gegenwärtiger antikapitalistischer Bestrebungen.

Und sicher hatte die DDR unter den konkreten Bedingungen der Entwicklung des internationalen und deutschen Kräfteverhältnisses, des Kalten Krieges und insbesondere infolge der Abhängigkeit von machtpolitischen Interessen der Sowjetunion, ihren herrschenden Sozialismusauffassungen und den damit zusammenhängenden eigenen strukturellen und erworbenen Fehlkonstruktionen und Defiziten sehr eingeschränkte Möglichkeiten sozialistischer Entwicklung.

Aus der Sicht derer, die - ohne vorher ihre Chancen genau zu berechnen bzw. voraussehen zu können - angetreten sind, aus dem kapitalistischen Weltgefüge auszubrechen, denke ich an Bertolt Brechts Gleichnis, wo jemand im brennenden Haus verharrend fragt, ob es draußen nicht etwa regnen würde. Von Walter Ulbricht ist überliefert, dass er zum Ende seines Wegs einmal gesagt haben soll: Wenn wir gewusst hätten, wie schwer Sozialismus ist, hätten wir vielleicht nie angefangen. Ähnlich die Erinnerung Arno Klönnes an einen Gedanken von Max Reimann (SoZ 4/10).


Wo gab es Möglichkeiten?

Diskussionen um die DDR, die mit antikapitalistischer Orientierung geführt werden, müssen (wie bei allen Geschichtsprozessen) detailliert für einzelne Entwicklungsabschnitte die verwirklichten und die ungenutzten, die geschaffenen und die zerstörten Möglichkeiten oder eben fehlende Voraussetzungen konkret aufarbeiten. Angela Klein nennt Beispiele für Spielräume politischer Weichenstellung, die es auch unter DDR-Bedingungen gegeben hat. Zunehmend kommen eine Reihe auch subjektiver Umstände in Entscheidungssituationen ans Licht - z.T. sind es Spekulationen, die ich nicht diskutieren will.

Generell wird der Mensch in vorgefundene Bedingungen hineingeboren, aber er kann sie verändern und ändert sich dabei selbst. Marx spricht vom Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit als Selbstveränderung [MEW 3, S.195]. Über diese «Schwierigkeiten der Ebene» oder auch die Entwicklung revolutionären Denkens und Tuns als Prozess und nicht als einmaligen Akt gab es auch in der DDR immer mehr Illusionen als Wissen und fahrlässig - später wohl auch betrügerisch - vorgegaukelte Möglichkeiten. Wichtig ist mir, dass die Hinterlassenschaft der DDR nicht a priori oder pauschal auf Chancenlosigkeit, auf Verbrechen und traurige Erfahrungen reduziert wird, weil das die Suche nach nichtkapitalistischen Alternativen einschränkt. Gerade darum geht es aber zur Zeit.

Dabei kommen mit Recht Fragen des Eigentums an machtgebenden Bank- und sonstigen Vermögen und an Produktivkapital mehr und mehr ins Blickfeld von Gegenöffentlichkeit und Aufklärung. Daran, dass es noch keine massenhaften Forderungen nach notwendigen Vergesellschaftungen und noch keine Mobilisierung dafür gibt, trägt der «Realsozialismus» ein gerüttelt Maß Schuld. Um so wichtiger, auf diesem Feld etwas zu Tatsachen, Möglichkeiten und Grenzen sozialistischer Entwicklung in die Debatte zu bringen.


Neue Ökonomische Politik

Meines Erachtens war die wichtigste Voraussetzung zunächst die Schaffung von volkseigenem und genossenschaftlichem Eigentum an grundlegenden Produktionsmitteln.

Es macht keinen Sinn, im internationalen Vergleich hoch bewertete sozial- und bildungspolitische Leistungen der DDR losgelöst vom gesellschaftlichen Eigentum anzuerkennen, auch wenn dies wesentlich Staatseigentum war.

Erwirtschafteter Mehrwert wurde vor allem in den 60er und 70er Jahren trotz aller Probleme wesentlich im Grundinteresse der Mehrheit der Bevölkerung verwendet. Darin kam der soziale Gehalt von Demokratie zum Ausdruck - bei gleichzeitiger Geringschätzung oder Unterdrückung emanzipatorischer demokratischer Entwicklung. Spätestens mit den Notwendigkeiten der intensiv erweiterten Reproduktion wurden die Grenzen der vorherrschend zentralistisch-administrativen Regulierungsweise auch Teilen der Politbürokratie bewusst.

Anfang/Mitte der 60er Jahre wurde das sog. Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖS) entwickelt. Das Potenzial des gemeinsamen produktiven Eigentums sollte durch mehr Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Teilhabe der Betriebe und Kollektive bis zum Einzelnen hin besser entfaltet werden. Es ging um die massenhafte Entwicklung von Eigentümerbewusstsein. Die ökonomische und soziale Entwicklung verlangten zwingend mehr Demokratie, nicht nur in den Betrieben und in der Wirtschaft, sondern auch im Bereich der individuellen und politischen Grund- und Freiheitsrechte. Wer sich als Eigner der Reichtümer des Landes fühlen und verhalten sollte, konnte nicht länger reglementiert und bevormundet werden.

Aber im Kern war kein neues, emanzipatorisches Sozialismusverständnis im Hintergrund. Die praktische Umsetzung des NÖS wurde spätestens mit der Niederschlagung des Prager Frühlings aufgegeben - auch auf Druck aus der Sowjetunion und aus Angst der SED-Führung, dass jeglicher sozialistische Reformversuch unter der Einwirkung des Klassengegners in sein Gegenteil verwandelt würde.


Errungenschaften

Dennoch gab es eine Reihe demokratischer Gesetzgebungen, die tief in das Alltagsleben der Bevölkerung eingegriffen haben: u.a. ein Zivilgesetzbuch anstelle des BGB - der Bibel des Privateigentums -, ein ausgezeichnetes Arbeitsgesetzbuch, ein neues Familienrecht, das eine weitere Gleichstellung der Geschlechter brachte und Familienverhältnisse aus der Herrschaft der Vermögensbeziehungen löste. In Betrieben, Verwaltungen und Wohngebieten wurden Konflikt- und Schiedskommissionen als gesellschaftliche Organe der Rechtspflege gebildet, in denen von den Kollektiven gewählte Arbeiter und andere Werktätige Arbeitsrechtsverletzungen, geringfügige Straftaten und zivilrechtliche Streitigkeiten in der überwiegenden Mehrzahl abschließend behandelten.

In den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften stellten sich aufs Ganze gesehen seit den 60er Jahren Erfolge in der Produktion und in den Lebensbedingungen vor allem der Bäuerinnen ein, die zum Ende der DDR zu 90% gut qualifiziert waren, Freizeit gestalten konnten und gegen alle Wechselfälle des Lebens gesichert waren. Die nachhaltige Überlegenheit dieses Emanzipationsprozesses auf der Grundlage genossenschaftlichen Eigentums ist gründlich aufgearbeitet und dokumentiert.

All diese Tatsachen stellen widersprechende, auch in Interviews in der SoZ wiedergegebene, Erfahrungen nicht in Abrede, alles zusammen gehörte zur Wirklichkeit.

Vielleicht war das wichtigste Potenzial des in den 80er Jahren zunehmend entfremdeten Staatseigentums, dass es trotz allem - direkt und vermittelt, zumeist sicher unbewusst - die wohl entscheidende Grundlage für ein gemeinschaftlicheres, offeneres, weniger konkurrenzgeprägtes Zusammenleben der Mehrheit der Bevölkerung, vor allem im Arbeitsprozess, war. Das wird in Reflexionen aus allen Schichten und Gruppen offensichtlich und ist nunmehr in verschiedenen Formen dokumentiert. Wenn bei einer repräsentativen Meinungsumfrage des Spiegel zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall 49% der ostdeutschen Befragten meinen, die DDR hätte mehr gute als schlechte Seiten gehabt, geht es nicht nur um die bekannten sozialpolitischen Errungenschaften, sondern ganz wesentlich um das alltägliche Verhältnis der Menschen zueinander.

Gut, dass in der SoZ-Diskussion auf den enormen Stellenwert zwischenmenschlicher Verhältnisse aufmerksam gemacht wurde. Die Auffassung jedoch, dass Sozialismus nichts mit dem Wohlstandsniveau eines Volkes zu tun habe, sondern nur eine Frage des zwischenmenschlichen Verhältnisses sei (Saral Sarkar, SoZ 4/10) wird in dieser Absolutheit durch die DDR-Erfahrungen nicht bestätigt.

Mit Sicherheit aber war die Strategie, den Westen mit seiner umweltvernichtenden und inhumanen Wachstums- und Konsumhysterie einholen zu wollen und damit spezifisch sozialistische, menschliche Werte im Zusammenleben immer mehr zu zersetzen, nicht nur ein untauglicher Versuch, sondern hat sozialistische Entwicklungspotenziale zerstört.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, 25. Jg., Juni 2010, Seite 20
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2010