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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1553: "Wir lassen nicht locker - Stuttgart 21 stoppen"


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6 - Juni 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

"Wir lassen nicht locker: Stuttgart 21 stoppen"
Der Koalitionsvertrag, die Rolle der Grünen und wie es jetzt weiter geht

Von Ursel Beck


"Stuttgart 21 wird nicht mehr gebaut". Das erklärte Gangolf Stocker, Begründer und jahrelang führender Sprecher des Widerstands gegen Stuttgart 21 Anfang Mai. Bahnchef Grube erklärte Mitte Mai: "Die DB will und muss Stuttgart 21 bauen". Es sieht danach aus, dass es unter der neuen Grüne/SPD-Landesregierung vor oder spätestens nach der im Herbst geplanten Volksabstimmung zu einer Kraftprobe kommen wird.


Die S21-Rebellen sind selbstbewusst genug, schon jetzt zu erklären, dass sie eine Volksabstimmung, die wegen des hohen Quorums verloren geht, nicht anerkennen werden. Der Optimismus, die Schlacht um den Bahnhof zu gewinnen, ist bei den Stuttgart-21-Gegnerinnen und -Gegnern ungebrochen. 7000 gingen am Samstag, dem 21. Mai, unter dem Motto auf die Straße: "Wir lassen nicht locker: Stuttgart 21 stoppen". Am Montag davor gab es in der Schwabenmetropole die 75. Montagsdemo mit 5000 Teilnehmern.


Projektbetreiber in der Defensive

Politisch sind die Projektbefürworter mehr denn je in der Defensive. Mappus wurde abgewählt. Danach traten der Sprecher des S-21-Kommunikationsbüros, der Stuttgarter Polizeipräsident und schließlich der Projektleiter von Stuttgart 21 zurück. Es vergeht keine Woche, in der nicht weitere, mitunter massive Probleme bei der technischen Umsetzung des Wahnsinnsprojekts und neue Kostenrisiken bekannt werden. Sie beflügeln den Widerstand, führen aber nicht zum Scheitern des Projekts. Denn bei Stuttgart 21 geht es nicht um Argumente und Fakten, es geht um Profit und Macht. Oder, wie der Krimiautor Wolfgang Schorlau es einmal formulierte: "S21 ist, wenn man es von den ideologischen Floskeln und dem plakativen Unsinn der Werbeagenturen befreit, nichts anderes als der Transfer von 10 Milliarden Steuergelder in private Kassen."

Seit Beginn der Planungen Mitte der 90er Jahre ist die SPD-Spitze Befürworterin von S21. Sie ist Teil des Filzes aus Wirtschaftsbossen und korrupten Politikern. Vor der Landtagswahl wurde bekannt, dass die SPD 2009 von Tunnelbohrer Herrenknecht eine Spende bekam. Nicht ganz so viel wie die CDU, aber immerhin 30.000 Euro.

Die SPD ist die eifrigste Verfechterin der Volksabstimmung, weil sie weiß, dass das hohe Quorum von 33% der Wahlberechtigten so gut wie nicht erreichbar ist. Auch wenn die SPD davon spricht, dass Stuttgart 21 dadurch "demokratisch legitimiert" würde, ist die geplante Volksabstimmung das Gegenteil von Demokratie.


Die Grünen

Die Grünen haben schon im Wahlkampf die Position der SPD zur Volksabstimmung übernommen, in voller Kenntnis dessen, dass sie eine Falle für den Widerstand ist.

Die Grünen sagen, sie hätten bei den Koalitionsverhandlungen "hart mit der SPD" verhandelt und mehr wäre nicht drin gewesen. De facto haben sie mit dem Koalitionsvertrag dem S21-Lager die Tür geöffnet. Winfried Hermann, der neue Verkehrsminister, war bisher ein Vorzeige-Grüner gegen Stuttgart 21. Bereits in den 90er Jahren war er entschiedener Gegner des Projekts. Er hat das Image eines "linken Grünen". Beim Faktencheck hat er den Unsinn der Hochgeschwindigkeitsstrecke deutlich gemacht. Er hat die Tunnelstrecke durch die Alb zu Recht als "hochriskant, finanziell gesehen abartig teuer, steiler als die Geislinger Steige und damit nicht güterzugtauglich" abgelehnt. Mehrmals ist Hermann bei Demonstrationen in Stuttgart als Redner aufgetreten.

Seit er Minister ist, schlägt er ganz andere Töne an: "Als Minister protestiert man nicht auf der Straße." Und über die geplante Volksabstimmung sagt er, genauso wie Kretschmann: "Das Votum wird anerkannt. Auch von mir als Minister."

Bei den Koalitionsverhandlungen wurde die Neubaustrecke von den Grünen durchgewunken. Während für die Abschaffung der Kindergartengebühren kein Geld da ist und viele Verbesserungen, die Geld kosten, unter Finanzierungsvorbehalt gestellt wurden, akzeptieren die Grünen, dass die von der Mappus-Regierung zugesagten 950 Millionen für die unsinnige Schnellstrecke nach Ulm und der bisher zugesagte Landesanteil von 650 Millionen für S21 garantiert sind. Dabei haben die Grünen vor der Wahl ein Gutachten eingeholt, das zu dem Schluss kommt: Der Landeszuschuss für die ICE-Strecke nach Ulm über 950 Millionen ist verfassungswidrig.

Von der Bahn wird bis zur Volksabstimmung laut Koalitionsvertrag ein Baustopp erwartet. Was die Landesregierung tut, wenn die Bahn weiterbaut, bleibt offen. Werden Kretschmann und der neue SPD-Innenminister Gall Befehl zum Einsatz von Wasserwerfern und Schlagstöcken geben, um den Weiterbau durchzuprügeln? Viele Aktivisten halten dies für unvorstellbar. Es sei aber daran erinnert, dass unter der SPD-Grünen-Bundesregierung mit Umweltminister Trittin Atommülltransporte mit Polizei, Wasserwerfern und der Aushebelung demokratischer Rechte durchgesetzt wurden.

Es ist bezeichnend, dass im Koalitionsvertrag der brutale Polizeieinsatz vom 30. September nicht verurteilt wird. Nicht Polizeigewalt und Kriminalisierung von S21-Gegnern betrachten SPD und Grüne als Problem, sondern "Gewalt gegen die Polizei". Laut Koalitionsvertrag sehen sie ihre Aufgabe darin, die Polizei vor "tätlichen Angriffen und Aggression zu schützen". Die Polizei soll personell gestärkt werden, als "Garant der Inneren Sicherheit" wird ihr eine "angemessene Ausstattung, Ausbildung und Besoldung" zugesichert. Die Landesregierung will keine neuen Lehrer, aber laut neuem Innenminister Gall 1000 zusätzliche Polizisten einstellen.


Befriedigung

Oberstes erklärtes Ziel der neuen Regierung ist es, "den Streit um Stuttgart 21 zu befrieden und die Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden". Die Spaltung der Gesellschaft besteht allerdings im unüberbrückbaren Interessengegensatz zwischen der kleinen Minderheit von Kapitalbesitzern und der Mehrheit der Bevölkerung. Und Stuttgart 21 ist Ausdruck davon.

Die prokapitalistische Politik von SPD/Grünen soll nicht so offen laufen, wie bei Mappus, und wird mit Parolen wie "Politikwechsel", "Bürgerregierung", "Musterland für erneuerbare Energien" und "Musterland für gute Arbeit" kaschiert. Die Wähler sollen eingelullt werden. Dahinter steckt das Ziel, den Widerstand gegen Stuttgart 21, gegen Atomkraftwerke und gegen Sozial- und Bildungsabbau "in geordnete Bahnen zu lenken" und dadurch unwirksam zu machen.

In den Schlichtungsverhandlungen unter Heiner Geißler wurde ein sog. Stresstest vereinbart. Die Bahn muss beweisen, dass die acht geplanten Gleise des Kellerbahnhofs 30% mehr Züge abfertigen können als die 16 Gleise des bestehenden Kopfbahnhofs. Die derzeitige Auslastung des Kopfbahnhofs liegt aber weit unter der Kapazitätsgrenze. Es könnten 58 Züge in der Stunde fahren und sind früher schon gefahren. Die Bahn erreicht die Vorgaben des Stresstest, wenn sie 49 Züge auf die acht Gleise in der Stunde liefern kann.

Manche Grüne und Aktivisten sagen, dass die Bahn den Stresstest nicht bestehen kann und das Projekt daran scheitern wird. Aber wahrscheinlich wird die Bahn mit allen Tricks ein positives Ergebnis präsentieren und behaupten, Stuttgart 21 habe den Stresstest bestanden. Dann steht wieder Aussage gegen Aussage und die herrschenden Medien werden, wie beim Faktencheck, zum Sprachrohr der Bahn.

Die Bewegung in Stuttgart kann nicht davon ausgehen, dass Stuttgart 21 an seinen Widersprüchen scheitert. Demonstrationen werden nicht ausreichen, um das Projekt zu stoppen. Blockade- und Besetzungsaktionen sind längst ein wichtiger Bestandteil des Widerstands. Bisher hat sich daran nur ein harter Kern von Aktivisten beteiligt. Falls die Bahn weiterbaut, gewinnen sie an Bedeutung.

Darauf gibt es die ersten Vorbereitungen. Unter dem Titel "Baustopp selber machen" gab es vom 20. bis 24. Mai ein Aktionscamp mit Diskussionen über zivilen Ungehorsam und Trainings für gewaltfreie Aktionen. Wenn sich herausstellt, dass die besten Argumente nichts nützen und die Bahn weiterbaut, könnten solche Aktionen eine Massenbasis bekommen. Zu recht verweisen immer öfter Redner bei Demonstrationen auf die Beispiele Wyhl und Wackersdorf.


Die Autorin Ursel Beck ist aktiv bei den "Cannstattern gegen S21" und in der Blockadegruppe.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, 26.Jg., Juni 2011, S. 9
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2011