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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1697: Warum Chávez gewonnen hat - Interview mit Dario Azzellini


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11 - November 2012
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Wahlen in Venezuela
Warum Chávez gewonnen hat
Interview mit Dario Azzellini

Von Alf Zachäus



Gegen zahlreiche Unkenrufe der internationalen Massenmedien hat Hugo Chávez am 7. Oktober auch seine vierte Wahl zum Staatspräsidenten mit klarer Mehrheit gewonnen: 54,4% stimmten für ihn, 45% für seinen bürgerlichen Gegenkandidaten Capriles. Chávez ist seit 1999 im Amt. Die Wahlbeteiligung lag bei 81%. Vor allem die Armenviertel stehen nach wie vor fest zu ihm. Chávez gewann in 22 von 24 Bundesstaaten (er verlor in Mérida und Táchira). Chávez besiegte Capriles auch in Miranda, wo Capriles Gouverneur ist.
Dario Azzellini erklärt im Gespräch mit Alf Zachäus, warum Chávez gewonnen hat.


Alf Zachäus: In Venezuela wird sich am 7. Oktober entscheiden, wer als neuer Präsident das Land für die nächsten sechs Jahre regieren wird. Welche grundlegenden Spaltungslinien bestimmen bis heute die gesellschaftlichen Verhältnisse in dem südamerikanischen Land?

Dario Azzelini: Die grundlegendste Spaltungslinie macht sich vor allem an der Frage fest, wovon man eigentlich lebt. Die Quelle des eigenen Einkommens bestimmt immer noch hauptsächlich, zu welchem gesellschaftlichen Sektor man gehört. Da sind zum einen die Bevölkerungsgruppen, die nach wie vor von dem alten und bis heute vorherrschenden Modell der rohstoff-fixierten, exportorientierten Rentenökonomie profitieren. Und eben die Mehrheit, welche dabei außen vor bleibt.

Die traditionell sehr enge Verzahnung der Rentenökonomie mit dem Staatsapparat ist ja wesentliche Ursache dafür, dass der von der bolivarischen Regierung angestrebte Umbau der venezolanischen Wirtschaft bisher eher schleppend voranging. Obwohl es z.B. bezüglich der Frage der Partizipation von Belegschaften und Marginalisierten mittlerweile eine ganze Menge von Selbstverwaltungsinitiativen unterschiedlichster Art im Lande gibt, nur um auf diesen wesentlichen Punkt kurz einzugehen.

Alf Zachäus: Wie groß sind denn die sozialen Unterschiede zwischen diesen beiden grob skizzierten Sektoren?

Dario Azzelini: Im Stadtbild von Caracas manifestiert sich diese grundlegende Spaltung innerhalb der venezolanischen Gesellschaft auf sehr eindrucksvolle Weise. Die moderne Innenstadt liegt in einem langgezogenen Tal, die Armenviertel erstrecken sich auf den Hängen darüber. Auf einer Anhöhe im Osten der Metropole wiederum konzentrieren sich die Villen der Reichen. In den Armensiedlungen wohnen allerdings etwa 80 Prozent der 5 bis 8 Millionen Einwohner der Metropole. Wobei es innerhalb dieser Viertel natürlich ebenfalls erhebliche Unterschiede gibt. Also da gibt es eben Leute, die faktisch nichts besitzen und solche, die durchaus über einen bescheidenen Besitz verfügen.

Bei letzteren handelt es sich z.B. um Eigentümer von einem oder mehreren Häusern, Wohnraum, der häufig untervermietet wird. Aber trotz dieser Unterschiede teilten in der Vergangenheit alle Bewohner eines Armenviertels die Erfahrung der Marginalisierung. Das bedeutete ganz konkret Folgendes: Früher konnte man als Einwohner eines Armenviertels z.B. de facto kein Bankkonto eröffnen. Schon allein aus diesem Grund hatte man kaum Chancen einen halbwegs einträglichen Job zu bekommen. Grundlegende Bildungsangebote waren häufig kaum wahrnehmbar, die medizinische Versorgung war äußerst schlecht, die Wasser- und Stromversorgung ebenso usw. usf. Das hat sich in den letzten 14 Jahren erheblich zum Besseren gewandelt.

Alf Zachäus: Wie sieht die Situation derzeit in den industriellen Ballungsräumen aus?

Dario Azzelini: Zunächst einmal muss man festhalten, dass es neben den immer schon staatlichen Unternehmen (z.B. PdVSA) und dem traditionellen privaten Sektor eine ganze Reihe wichtiger Firmen gibt, die jetzt wieder teilweise oder völlig in öffentlicher Hand sind (z.B. Siderúrgica de Orinoco C.A. / Sidor, die Telefongesellschaft Cantv, Banken), nachdem sie in den 80er und 90er Jahren privatisiert worden waren. Im Zuge der Privatisierungen hatte sich auch in den industriellen Leitsektoren Venezuelas innerhalb der Arbeiterschaft eine Zweiklassengesellschaft herausgebildet: Auf der einen Seite sind da die besser verdienenden und sozial einigermaßen abgesicherten Kernbelegschaften in den Staatsbetrieben, auf der anderen Seite die Beschäftigten in den privatisierten Firmen, die häufig als ausgegliederte Subunternehmen der Großbetriebe fungieren.

Die Arbeiter in den privatisierten Unternehmen mussten über Jahre hinweg eine erhebliche Verschlechterung bei den Realeinkommen, Arbeits- und Lebensbedingungen hinnehmen. Sie sind im hohen Maße prekär beschäftigt. Im Zuge der Neuausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik vollzieht sich heute ein grundlegender Wandel. Trotz aller Schwierigkeiten geht der jetzige Transformationsprozess zweifelsohne viel schneller vonstatten als Reformprozesse in anderen demokratischen Staaten. Hinsichtlich der sozialen Situation der Mehrheitsbevölkerung sind nicht zu übersehende Fortschritte erreicht worden. Zahlreiche Berichte der UNO und anderer internationaler Organisationen sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Venezuela verzeichnet in ganz Lateinamerika die größten Erfolge bei der Verbesserung der sozialen Lage seiner Bevölkerung.

Aber auch im internationalen Vergleich ist seine Entwicklung vorbildlich. Venezuela ist heute z.B. eines der zehn Länder mit dem höchsten Anteil von Studierenden an der erwachsenen Bevölkerung. Ebenso beeindruckend sind die Erfolge bei der Verbesserung der medizinischen Versorgung. Ich war vor nicht allzu langer Zeit in Griechenland und ich war schockiert. Es geht den Menschen in Venezuela heute zweifellos besser als in Hellas. Soviel sichtbares Elend auf den Straßen, wie in Athen z.B., so niedrige, ja häufig absurd geringe Reallöhne wie dort gibt es heute in Venezuela und zum Teil auch in anderen lateinamerikanischen Ländern nicht.

Alf Zachäus: Welche Bevölkerungsgruppen repräsentieren die beiden Präsidentschaftskandidaten Hugo Rafael Chávez Frías und Enrique Capriles Radonski? Wie hoch ist die reale Mobilisierungsfähigkeit?

Dario Azzelini: Radonski repräsentiert ohne Zweifel die wohlhabende, weiße und europäisch-stämmige Elite, die traditionell auch über das größte ökonomische Kapital verfügt. Hugo Chávez hingegen die ärmere Bevölkerungsmehrheit, häufig wie er afro-indigener Herkunft. Er steht aber auch für ein auf die umfassende wirtschaftliche wie infrastrukturelle Entwicklung des Landes ausgerichtete Strategie. Interessant ist ja, dass zu allererst weite Teile der Mittelschicht von dieser Politik profitieren. Wenn z.B. irgendwo eine neue Brücke gebaut wird, woher kommen dann die Ingenieure? Sie kommen natürlich aus der Mittelschicht.

Nichtsdestotrotz gibt es gerade in den gebildeten Mittelschichten nach wie vor erhebliche Ressentiments gegenüber der jetzigen Regierung. Da spielt vor allem die Angst vor dem Verlust des eigenen gehobenen Status eine Rolle: Die Eltern gebildeter Akademiker z.B. mussten früher enorme finanzielle Aufwendungen auf sich nehmen, um ihre Kinder zum Studium schicken zu können. Je mehr Leute aus den Unterklassen heute studieren können, desto weniger exklusiv ist die gesellschaftliche Stellung eines Absolventen einer höheren Bildungseinrichtung. Und so bleibt man trotz materiellen Gewinns gegenüber der Regierung auf Distanz. Glaubt man jedoch den aktuellen Umfragen, so hat Chávez eine Stammwählerschaft von etwa 40 Prozent, während hinter Capriles Radonski etwas weniger als 20 Prozent stehen.

Es wird vor allem darauf ankommen, wer von den beiden wie viele der bisher unentschlossenen Wählerinnen und Wähler für sich mobilisieren kann. Wenn nichts Außergewöhnliches passiert, müsste eigentlich Chávez die Wahl gewinnen, so die einhellige Meinung der Beobachter. Aber genau das ist der springende Punkt: Man muss damit rechnen, dass die Opposition mit Hilfe der USA, Kolumbiens etc. alles daran setzen werden, das zu erreichen: Unvorhergesehene Zwischenfälle provozieren, damit sich die Stimmung gegen Chávez wendet.

Alf Zachäus: Vielen Dank für das Gespräch.


Der Schattenblick veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Alf Zachäus das Interview aus dem Originalbeitrag "Erhebliche Ressentiments gegenüber der Regierung".
Quelle: http://amerika21.de/analyse/62165/erhebliche-ressentiments

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KASTEN
 
Venezuelas "schlechte" Beispiele

Von Dario Azzellini


Gegen Venezuela läuft die größte Propagandakampagne seit dem Vietnamkrieg. Das ist wichtig. Es soll niemand wissen, was wirklich los ist in dem Land. Und je tiefer die Krise, desto größer die Lügen und Unterschlagungen in der Presse.

Gegen jede Vernunft haben sich die deutschsprachigen Medien zum Sprachrohr der venezolanischen Opposition gemacht. Die Wirtschaft liege am Boden und sei zerstört worden, weil Chávez das Geld aus dem Ölgeschäft durch Geschenke an die Armen verpulvere. Die Rede war von Repression gegen Oppositionelle und vieles mehr. Den Preis für die dümmste Venezuela-Propaganda hat wohl die New York Times verdient, die sich kurz vor den Wahlen nicht zu blöd war zu behaupten, in Venezuela würden viele Leute für Chávez stimmen, weil die Regierung das Abstimmungsverhalten kontrolliere und wer gegen Chávez stimme, keinen Job mehr bekomme. Wenig nutzte es da, dass das Carter-Zentrum und Jimmy Carter selbst, die seit Jahren zu den intensivsten Wahlbeobachtern gehören, im Vorfeld die Wahlen in Venezuela als die demokratischsten der Welt bezeichnete. Ebenso wenig beeindruckte es die Schreiberlinge im Dienste des Kapitalismus und des Profits, dass Venezuela in den ersten neun Monaten diesen Jahres auf 5% Wirtschaftswachstum blickt, im vergangenen Jahrzehnt die größten Fortschritte aller lateinamerikanischen Länder in Armutsbekämpfung und Verteilungsgerechtigkeit gemacht hat und mittlerweile zu den zehn Ländern der Welt mit dem höchsten Anteil an Studierenden gehört. Die Zahlen lassen sich etwa bei der UNO nachlesen. Die deutschsprachige Presse ist in dieser Hinsicht weitgehend realitätsresistent.

Als ich vor einigen Monaten in Athen war, war ich geschockt über das Ausmaß an Armut. So etwas habe ich in Venezuela in den vergangenen Jahren nicht gesehen. Selbstverständlich sind dort nicht alle Probleme gelöst, und es gibt auch noch Armut. Aber niemand muss hungern. In den Schulen gibt es jeden Tag kostenlos Frühstück, Mittagessen und Nachmittagssnacks für die Kinder, staatliche Supermärkte verkaufen (durch die Ausschaltung von Zwischenhändlern) Grundnahrungsmittel zu Preisen, die 40-70% unter dem Marktpreis liegen, und für die, die sich auch das nicht leisten können, werden in Ernährungshäusern täglich eine Million Mahlzeiten kostenlos abgegeben. Es gibt ein kostenloses Gesundheitssystem, auch Brillen und Zahnersatz sind kostenlos (ich habe deutsche Bekannte, die sich beim Besuch in Venezuela eine Brille haben machen lassen, weil sie sich die Brille in Deutschland nicht leisten können).

Studierende zahlen keine Studiengebühren, im Gegenteil, Hunderttausende bekommen kleine Stipendien... Chávez "verpulvert" das Geld für die Armen? Das ist ja wirklich ein schlechtes Beispiel für Europa! Das Geld muss doch in die Banken, damit die weiterzocken können. In Venezuela wurden viele Großbanken verstaatlicht, strenge Finanzauflagen haben verhindert, dass es Bankenpleiten gab (sicher, die Gewinne der Banken sind dafür auch kleiner als in Deutschland oder in den USA). Einige betrügerische kleine Privatbanken, die kurz vor der Pleite standen, wurden verstaatlicht und die Einlagen den Sparern ausgezahlt.

Banken enteignen und Geld in Sozialausgaben stecken? Das ist in den Augen der Mainstream-Presse ein ganz, ganz schlechtes Beispiel. Auf die Idee soll in Europa oder in den USA bloß niemand kommen. Deswegen die große Propagandaschlacht. Und für die Linken immer wieder das Märchen, in Venezuela gebe es den irrsinnigen Versuch einer Neuauflage des gescheiterten Staatssozialismus. Dieser ausgemachte Blödsinn wird auch von einer Reihe von Schreiberlingen behauptet, die sich selbst noch als Linke bezeichnen. Partizipation, lokale Selbstverwaltung, Arbeiterkontrolle - egal.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11, 27.Jg., November 2012, S. 16
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. November 2012