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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1870: Des Sultans Scheindemokratie


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10 - Oktober 2014
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Die Türkei nach den Präsidentschaftswahlen
Des Sultans Scheindemokratie

Von Murat Çakır



Am 10. August 2014 fanden in der Türkei die ersten Wahlen zum Staatspräsidenten in der Geschichte der Republik statt. Bis dahin wurden alle Staatspräsidenten vom Parlament gewählt. Recep Tayyip Erdogan konnte nach fast zwölfjähriger Amtszeit als Ministerpräsident diese Wahlen mit 51,8% der Stimmen im ersten Wahlgang für sich entscheiden. Damit ist Erdogan an seinem Ziel angekommen: Er ist Staatspräsident und hat in seinem Nachfolger, dem ehemaligen Außenminister und heutigen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, einen loyalen Statthalter gefunden.


Dem Anschein nach folgt ihm seine AKP (Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung), doch es machen sich erste Risse bemerkbar, und im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen in 2015 sind parteiinterne Konflikte nicht auszuschließen. Zwar konnte Erdogan seinen Widersacher in der AKP, Abdullah Gül, mit dem vorgezogenen Parteitag aus dem Rennen werfen, da Gül noch als Staatspräsident amtierte und deshalb nicht für den Parteivorsitz kandidieren durfte. Aber inzwischen wird erwartet, dass Gül Anspruch auf die Führung erhebt und 2015 als Parteivorsitzender für das Amt des Ministerpräsidenten kandidieren will - ob für die AKP oder für eine noch zu gründende neue, konservative Partei, steht jedoch noch offen. Fest steht, dass für Erdogan das "Problem Gül" noch nicht ausgestanden ist.

Das Gül-Lager formiert sich. Gül rechnet wohl damit, dass er gegen Davutoglu, dem Erdogans charismatische Führungsqualitäten gänzlich fehlen, bei einer Gegenkandidatur gute Chancen hätte. In diesem Fall wäre ein Richtungskampf in der AKP unausweichlich. Erdogan und Davutoglu stehen für eine (sunnitische) konfessionell-konservative Politik, die neoosmanische, regionalimperialistische Ambitionen hegt und mit Hilfe eines autoritären Konservatismus neoliberale Wirtschaftspolitik durchzusetzen versucht.

Gül und die ihn unterstützende Kreise wie etwa die Bewegung des Predigers Fetullah Gülen stehen für einen "gemäßigten", scheinbar liberalen Islam neoliberaler Prägung, welcher zeitweise als "Modell" für die gesamte arabische Welt gepriesen wurde. Das Modell sollte ein Beispiel sein, wie der muslimische Konservatismus mit der kapitalistischen Moderne im Einklang gebracht und damit ein wirtschaftlicher Aufschwung samt Gewährung bürgerlicher Freiheiten erreicht werden kann.

Doch mit der zunehmenden Islamisierung des Alltagslebens in der Türkei wird klar: Der sunnitisch-konservative politische Islam ist mit der bürgerlichen Demokratie nicht kompatibel.


Außenpolitisch im Abseits

Spätestens die Entmachtung der Muslimbrüder in Ägypten hat das gezeigt. Saudi-Arabien und die Golfkooperationsstaaten haben dabei eine wichtige Rolle gespielt. Insbesondere für Saudi-Arabien stellten die Muslimbrüder eine Gefahr für die innere "Stabilität" und die eigenen Machtverhältnisse dar.

Aufgeschreckt von den Umwälzungen in der arabischen Welt nach 2011 und im Bemühen, die "schiitische Achse" zu brechen, um den Einfluss des Iran zurückzudrängen, suchte es die Annäherung an Israel und unterstützte den scheinbar säkularen ägyptischen Putschisten-General as-Sisi. Die Förderung salafistischer Terrorbanden in der islamischen Welt wurde verstärkt.

Inzwischen ist sogar in den bürgerlichen Medien des Westens zu lesen, dass Saudi-Arabien, die Türkei und die Despoten am Golf die Terrorbanden des sog. "Islamischen Staates" (IS) in Syrien und im Irak tatkräftig unterstützen.

Erdogan und Davutoglu haben sich sehr früh auf die Seite von Saudi-Arabien, Qatar und der anderen Golf-Despoten gestellt. Binnen weniger Monate wurde die Türkei zum Logistikzentrum der IS-Terroristen, aus der sie militärische, finanzielle und personelle Ressourcen nach Syrien und in den Irak einschleusen können.

Das Ergebnis ist, dass die "Null-Probleme-Politik mit den Nachbarstaaten" nun in Trümmern liegt. Hinzu kommt, dass die Bündniskonstellationen in der Region sich durch die "pazifische Orientierung" der USA verändert haben: Anzeichen dafür sind die US-iranische Annäherung, die mögliche Einbeziehung Assads in den Kampf gegen die IS, der Umgang mit den kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen im Nordirak und den kurdischen Autonomieversuchen in Nordsyrien, die Neuformierung der irakischen Zentralregierung, schiitisch-sunnitische Zweckbündnisse gegen die IS usw.

Heute wird die Türkei von westlichen bürgerlichen Medien als "das schwächste Glied in der Kette" bezeichnet (FAZ, 11.9.2014): Davutoglu lehnt eine Beteiligung an der US-geführten "Koalition der Willigen" gegen die IS nämlich ab und gerät damit zunehmend in Bedrängnis.

Gül dagegen wartet ab. Er weiß, dass Davutoglu sich außen- wie innenpolitisch auf sehr glattem Terrain bewegt und den Herausforderungen nicht gewachsen ist. Die Tatsache, dass die neue AKP-Regierung die Zerschlagung der Gülen-Bewegung als "neuen Unabhängigkeitskrieg" bezeichnet und zur obersten Priorität erklärt hat, zeigt, dass Erdogan und Davutoglu Gül durchaus Chancen einräumen. Noch sitzen Erdogan und Davutoglu fest im Sattel, doch schon die nächsten Monate werden zeigen, wie trügerisch das sein kann.


Alarmglocken in der Wirtschaft

Ein kurzer Blick auf die wirtschaftliche Lage bestätigt dies. Selbst regierungsnahe Medien problematisieren die Schuldenentwicklung. Hier bricht die Türkei ihre eigenen Rekorde: In den letzten zehn Jahren ist die Verschuldung der öffentlichen Haushalte von 49 auf 111 Milliarden Dollar gestiegen. Das Handelsbilanzdefizit betrug nach Angaben der türkischen Zentralbank im Juni rund 8% des Bruttoinlandsprodukts.

Für die Bevölkerung hat vor allem die Verschuldung der privaten Haushalte fatale Folgen: Im letzten Jahrzehnt ist sie auf 151,6 Mrd. Dollar angewachsen (2003: 4,5 Mrd. Dollar). Im März 2014 berichteten türkische Medien, die Konsumentenkredite seien auf 113,4 Mrd. und die Kreditkartenschulden auf 38,2 Mrd. Dollar gestiegen. Rund 3 Millionen Personen, die ihre Schulden nicht mehr begleichen können, wurden von den Banken auf Schwarze Listen aufgenommen. Einschließlich derer, die auf "grauen Listen" geführt werden, und ihrer Familienangehörigen wären damit rund 30 Millionen Menschen überschuldet. (Die Türkei hat 77 Millionen Einwohner.)

Die Bauwirtschaft, die in der AKP-Ära mit durchschnittlich 5% des Bruttoinlandsprodukts zum Flaggschiff der türkischen Wirtschaft aufgestiegen ist, ist inzwischen ebenfalls in Bedrängnis geraten. In den ersten sieben Monaten des Jahres 2014 gingen der fremdfinanzierte Wohnungsverkauf um 48% und die Pkw-Verkäufe um rund 30% zurück.

Diese Tatsachen, die immense Auslandsverschuldung, die Abhängigkeit der Türkei von Energie- und Lebensmittelimporten (die Türkei zahlt jedes Jahr über 60 Mrd. Dollar für Energielieferungen), der Rückgang der Produktion und die steigende Inflation (ca. 10% im August) zeigen, wie brüchig die wirtschaftliche Lage ist. Die türkische Wirtschaft, insbesondere die Exportwirtschaft, ist stark von Auslandskapital abhängig; derzeit stagniert sie. Inzwischen steht die Türkei auf der Liste der Risikoprämien für Kreditausfallversicherungen an vierter Stelle. Der aktuelle Run auf den Dollar verstärkt den Trend, ausländisches Kapital aus der Türkei abzuziehen.

Erdogan übt Druck auf die türkische Zentralbank aus, damit sie die Leitzinsen senkt - was von den internationalen Finanzjongleuren argwöhnisch beobachtet wird. Doch deren Chef Erdem Bagçı beugt sich nicht und erklärte am 10. September 2014, "eine Zinssenkung [sei] aufgrund der aktuellen Inflation ausgeschlossen". Gleichzeitig wurde bekannt, dass die Wachstumsprognosen von 4,7% korrigiert werden müssen und das reale Wachstum nur 2,1% beträgt.


Der "Geist von Gezi" ist noch lebendig

Die wirtschaftliche Entwicklung ist einer der wesentlichen Gründe, weshalb sich in verschiedenen Regionen wieder Unmut bemerkbar macht. Zwar hat der Juni-Aufstand um den Gezi-Park in Istanbul im letzten Jahr nicht vermocht, "entlang der Klassenlinien in den Block der 'schwarzen Türken' eine Bresche zu schlagen" (Nick Brauns in junge Welt, 20.6.2013; mit der Bezeichnung "schwarze Türken" sind vorwiegend arme, sunnitisch-konservative Bevölkerungsteile gemeint), doch der Schock der Protesttage sitzt Erdogan und seinen Mannen noch tief in den Knochen. Trotz massiver Polizeigewalt und mehrerer Toter konnte die AKP den Protest nicht ganz zum Schweigen bringen. Auch wenn die an den Protesten beteiligten unorganisierten Massen in den Kommunal- und Präsidentschaftswahlen gewisse Resignationstendenzen zeigten, ist das Protestpotenzial weiter vorhanden.

In den letzten Wochen gingen wieder Menschen auf die Straßen - etwa wegen dem Tod von zehn Bauarbeitern am 8. September. Auf einer Hochhausbaustelle, auf der Luxusresidenzen für jeweils mehrere Millionen Dollar entstehen, waren Arbeiter bei einem Aufzugunfall ums Leben gekommen. Es stellte sich heraus, dass der Bauträger die Sicherheit vernachlässigt hatte.

Aziz Torun, Chef der Bauholding und ehemaliger Schulkamerad von Erdogan, wird seit mehreren Jahren mit solchen tödlichen Arbeitsunfällen in Verbindung gebracht. Torun ist einer der vielen Baulöwen, die in der AKP-Ära große Profite eingefahren und Erdogan finanziell unterstützt haben. Dieser "Arbeitsunfall" ist symptomatisch für die unsäglichen Zustände in der türkischen Arbeitswelt, weshalb Oppositionelle sie als "Mord mit Ansage" bezeichnen.

Zu Recht, wie die Zahlen beweisen: In der Liste der tödlichen Arbeitsunfälle belegt die Türkei seit langem den ersten Platz in Europa und in der Welt. Laut Angaben der türkischen Statistikbehörde TUIK kamen zwischen 2002 und 2012 rund 10.600 Beschäftigte bei "Arbeitsunfällen" ums Leben. Allein im vergangenen August starben 158 Arbeiter, zehn davon waren Kinder. Damit ist die Zahl der tödlichen "Arbeitsunfälle" 2014 auf 1270 gestiegen. Das ist die Bilanz der AKP als Fahnenträgerin des ungehemmten Neoliberalismus.

Trotzdem kann von einer breiten gesellschaftlichen Protestbewegung nicht gesprochen werden. Dass der "Geist von Gezi" dennoch lebendig ist, zeigt das Wahlergebnis des Co-Vorsitzenden der HDP (Demokratische Partei der Völker), Selahattin Demirtas, bei den Präsidentschaftswahlen: Er gewann 9,8% (3,9 Millionen) Stimmen und zeigte damit, dass die HDP als vereinigte Partei der kurdischen Bewegung und verschiedener sozialistischer Parteien durchaus in der Lage ist, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Für die Parlamentswahlen in 2015 macht das Hoffnung.

Aber um den Aufbau einer starken Wahlalternative, die etwa in der Lage ist, die rund 14 Millionen Nichtwähler anzuziehen, vorantreiben zu können, müsste die HDP, aber auch die kurdische Bewegung, die soziale Frage in den Mittelpunkt ihrer politischen Aktivitäten stellen. Sie müsste durch eine stärkere Verbindung der außerparlamentarischen Kämpfe mit der parlamentarischen Tätigkeit als deren Interessenvertretung sichtbarer werden und die Herausforderung meistern, einerseits laizistisch-moderne urbane Schichten anzusprechen, andererseits eine klassenbezogene Verbindung zu den noch AKP wählenden, verarmten und hochverschuldeten religiös-konservativen Massen herzustellen, um neue Bündnisse schmieden zu können. Das ist sicher eine Herkulesaufgabe, für deren Bewältigung es jedoch aufgrund der verschärften Klassenwidersprüche, der anhaltenden mehrfachen Krisenlagen (ökonomisch, ökologisch, gesellschaftlich sowie friedenspolitisch) und der geopolitischen Großwetterlage reale Chancen gibt.


Murat Çakır ist Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen. Der Artikel wird in der Novemberausgabe fortgesetzt mit einer Betrachtung über den strukturellen sunnitischen Konservatismus.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 10, 29. Jg., Oktober 2014, Seite 17
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2014