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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1910: Ukraine - "Die Gewerkschaft ist dagegen, dass Krieg geführt wird"


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3 - März 2015
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

"Die Gewerkschaft ist dagegen, dass Krieg geführt wird"

Pawlo Lysjanskyj (NPGU) antwortet auf Fragen zur sozialen und politischen Lage in der (Ost-)Ukraine

Aufgezeichnet und redaktionell bearbeitet durch Jochen Gester


Auf Einladung der Jakob-Moneta-Stiftung kam der stellvertretende Vorsitzende der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft der Ukraine (NPGU), Pawlo Lysjanskyj, Ende Januar nach Deutschland und sprach dort in vier Städten: Berlin, München, Stuttgart und Köln. Jedesmal ging es um dieselben zwei Fragenkomplexe: Informationen über die Gewerkschaft und die Lage der Bergarbeiter; die Folgen des Krieges. Auf der Veranstaltung in Berlin antwortete Lysjanskyj u.a. auf die nachstehenden Fragen; wir haben sie ergänzt durch einige zusätzliche Informationen aus Köln.


SoZ: Warum habt ihr einen unabhängigen Gewerkschaftsverband gegründet?

Pawlo Lysjanskyj: Die Unabhängige Bergarbeitergewerkschaft der Ukraine (NPGU) wurde im Juni 1991 nach einem Bergarbeiterstreik gegründet. Ziel der neuen Organisation war es, die Rechte der Bergleute zu schützen und zu verteidigen. Der alte Gewerkschaftsbund war zu einer rein formalen Organisation geworden, es ging bei ihm nur noch um die Verteilung von Kuren, die Überweisung an Krankenhäuser usw., nicht mehr um reale Rechte von Bergleuten. Viele Bergarbeiter folgten deshalb der Idee einer unabhängigen Gewerkschaft und wurden Mitglied. In der ganzen Ukraine bildeten sich örtliche Gruppen. Zur Zeit hat die Gewerkschaft 53.000 Mitglieder, in der Ukraine insgesamt gibt es 145.000 Bergleute.

Mit der Zeit begriffen wir, dass es nicht reicht, nur Bergleute zu organisieren, sondern dass auch andere Industriezweige organisiert werden müssen. Und so kam es zu einer Vereinigung von Gewerkschaften aus zehn Industriezweigen, die KWPU, die insgesamt 240.000 Mitglieder umfasst. Dabei sind u.a. Lehrer, Beschäftigte aus dem medizinischen Bereich, aus der Landwirtschaft, Eisenbahn und Häfen.

Die Gewerkschaft der Bergarbeiter ist nach Betrieben organisiert; Delegierte aus diesen Betrieben bilden den Rat, das oberste Entscheidungsgremium.


SoZ: Wie sieht die aktuelle Situation der Bergleute aus?

Pawlo Lysjanskyj: Die Situation der Bergleute ist in der ganzen Ukraine schwierig und prekär, nicht nur in den Bergwerken der selbsternannten Lugansker und Donezker Volksrepubliken. Durch Verfügung der Regierung in Kiew wurde die Finanzierung der staatlichen, aber von den Volksrepubliken kontrollierten Bergwerke gestoppt.(*) In diesen Gebieten gibt es auch private Bergwerke, die dem Oligarchen Rinat Achmetow gehören, da läuft der Betrieb weiter. Die Bergleute bekommen ihren Lohn, aber sie müssen dafür nach Russland fahren und dort das Geld von einem Bankautomaten abheben. Das wurde deshalb so geregelt, weil es unsicher ist, Geld dort auszuzahlen, wo es Kämpfe gibt. Es gibt auch ein Gesetz, das regelt, dass die Bergleute im Falle höherer Gewalt Anrecht auf zwei Drittel ihrer Löhne haben.

In anderen Bergwerken werden die Löhne auch teilweise ausgezahlt, zumeist mit Geldern aus dem Verkauf der Kohle. Das ist aber jetzt weniger als im Jahr 2014. Es gibt auch Zechen, die nicht mehr funktionieren, weil sie unter Wasser stehen. Viele Bergleute sind deshalb in andere Bergwerke gewechselt oder nach Russland gegangen.


SoZ: Wie sieht es in den sog. Volksrepubliken aus?

Pawlo Lysjanskyj: In der letzten Zeit hat sich die Situation durch erneute Kämpfe zwischen den sog. Volksrepubliken und der ukrainischen Regierung sehr verschlechtert. Die Kiewer Regierung hat jetzt die Reisefreiheit in die selbsternannten Republiken aufgehoben. Reisende werden kontrolliert und einige werden abgewiesen. Das ist auch der Grund, warum manche Bergwerke nicht funktionieren. Entweder hat man so eine Art Genehmigung, um aus der Lugansker oder Donezker Republik einzureisen, oder man reist über Russland ein. Umgekehrt ist es genauso schwierig zu reisen.

Es kam auch zu einem Treffen zwischen den Direktoren der Bergwerke in den Volksrepubliken und Vertretern der Gewerkschaften. Die Direktoren wollen die Gewerkschaften zu einer Union zusammenfassen. Der Arbeitstag der Bergleute soll von sechs auf acht Stunden täglich erhöht werden, um drei Schichten fahren zu können. Der Urlaub soll um zehn Tage verkürzt werden. Für uns sind alle ukrainischen Bergleute Helden. Denn sie arbeiten trotz der militärischen Auseinandersetzungen weiter. Das habe ich im Sommer des letzten Jahres auch gemacht. Es gab Situationen, in denen 1.000 Bergleute unter Tage waren und die Stromleitungen durch Beschuss unterbrochen wurden. Die Kumpel waren in einer Geiselsituation, bis der Strom wieder floss. Auch die Arbeiter, die die Stromversorgung wieder hergestellten, taten dies unter Einsatz ihres Lebens. Auch sie sind Helden.


SoZ: Wie ist es im restlichen Teil der Ukraine?

Pawlo Lysjanskyj: Auch dort ist die Lage nicht gut. Die Regierung will nicht mehr so viel Subventionen zahlen und viele Bergleute entlassen [die Rede ist von 100.000. Die Kiewer Regierung will sog. unrentable Zechen schließen - das ist eine Auflage des IWF und Teil des Assoziierungsabkommens mit der EU]. Sie versucht ein neues Arbeitsgesetz durch die Rada [das Parlament] zu bringen. Im Entwurf steht, dass die Arbeiter auch ohne Zustimmung der Gewerkschaften entlassen werden können. Auch sollen bestimmte Vergünstigungen für Arbeiter gekürzt werden. Dann geht es um die Frage, was Arbeitern an Leistungen zusteht, wenn sie arbeitsunfähig werden. Wir sind strikt gegen den Entwurf. Hier arbeiten wir auch mit der alten Gewerkschaft, dem Gewerkschaftsbund der Kohleindustrie, zusammen.

Unser Vorsitzender war beim Regierungschef mit Forderungen. Am 28. und 29. Januar wollen wir streiken dafür, das die Zechen nicht massenweise geschlossen werden. Das würde eine soziale Explosion hervorrufen. Ergebnis unserer Gespräche mit der Regierung ist: Die ausstehenden Löhne der letzten drei Monate werden nachgezahlt. Wir kämpfen dafür, dass in die Zechen investiert wird und geschlossene Zechen wieder aufgemacht werden.(**)


SoZ: Wem gehören die Bergwerke?

Pawlo Lysjanskyj: 65-70% der Bergwerke sind in staatlichem Eigentum. Der Rest ist privater Besitz, vor allem von Rinat Achmetow. Ihm gehören 30% der Bergwerke. Wir als Gewerkschafter kämpfen gegen die Direktoren der Bergwerke, wenn sie vom Staat angestellt sind, genauso wie gegen die privaten Besitzer.


SoZ: Wie ist das Verhältnis der Gewerkschaft zu den politischen Parteien, insbesondere zur Vaterlandspartei?

Pawlo Lysjanskyj: Die NPGU hat in ihren Statuten stehen, dass sie keine Politik macht. Unser Vorsitzender Mychajlo Wolynez, der auch Vorsitzender des Dachverbands KWPU ist, hat 2002 als Parteiloser auf der Liste der Vaterlandspartei kandidiert; er war Abgeordneter bis 2012. Er sah darin eine Möglichkeit, seiner Gewerkschaft im Parlament eine Stimme zu geben. Andere Parteien haben ihm das nicht angeboten. Die Gewerkschaft sieht ihre Aufgabe darin, die wirtschaftlichen und sozialen Interssen der Bergleute zu vertreten.


SoZ: Was sagt die NBGU zum Krieg und den Kriegsparteien?

Pawlo Lysjanskyj: Ich vertrete als stellvertretender Vorsitzender der unabhängigen Gewerkschaft die Interessen der Bergleute auf beiden Seiten des Konflikts, sowohl in den Territorien, die von Kiew, als auch in jenen, die von den Volksrepubliken kontrolliert werden. In diesem Sinne sind wir neutral. Unsere Mitglieder haben sehr unterschiedliche Sichtweisen auf den Krieg. [In Köln sagte Pawlo, etwa 10% der Mitglieder seiner Gewerkschaft würden die Positionen der Separatisten unterstützen. Die anderen seien dennoch vielfach unzufrieden mit der Kiewer Regierung, aus unterschiedlichen Gründen: Die einen lehnen ihre Einmischung im Osten ganz ab, andere finden, die Regierung tue zu wenig oder nicht das Richtige.]

Ich bin unzufrieden mit der Sozialpolitik, die die ukrainische Regierung verfolgt. Und was die Regierung der selbsternannten Republiken von Donezk und Lugansk betrifft, so habe ich zu diesen Regierungen keinen Kontakt. Denn es gibt dort keine einheitliche Regierung, sondern nur Unterstrukturen, z.B. eine Kosakenkommandantur, eine Stadtkommandantur u.a. Sie bilden nicht eine Regierung, und man weiß nicht, mit wem man zusammenarbeiten kann.

Die Gewerkschaft ist dagegen, dass der Krieg geführt wird. Vielleicht können die deutschen Gewerkschaften uns einen Rat geben, was wir in dieser Situation machen können.

Sie wollen wissen, auf welcher Seite ich stehe, auf der Seite der ukrainischen Armee oder auf Seite der Separatisten? Ich war am 22. Juni in der Stadt Debalzewe. Dort kam ein Separatist in meine Wohnung und wollte von mir den Autoschlüssel haben, und zwar von meiner Freundin. Und er wollte es mit Gewalt. Dann wurde diese Stadt von der ukrainischen Armee befreit. Ich war zu diesem Zeitpunkt in der Zeche. Irgendwann bekam ich einen Anruf, jemand von der ukrainischen Armee habe meine Wohnungstür aufgebrochen, ich soll schnell dorthin kommen. Etwas später stellte sich heraus, dass die jemand anderen gesucht haben. Ich will mit diesem Beispiel nur deutlich machen, dass das mit der Parteinahme nicht so eindeutig ausfällt. Es ist problematisch mit beiden Seiten. Es gibt natürlich Gewerkschaften in der Ukraine, die in Gebieten arbeiten, wo es keinen Krieg gibt. Sie verteidigen die Kiewer Regierung, obwohl es dort auch andere Auffassungen gibt.

Als Organisation insgesamt haben wir eine eindeutige Position: Wir möchten, dass die Ukraine souverän bleibt und die Territorien behält, die sie 1991 hatte. Es gibt sehr viele Treffen und Verhandlungen, in denen es um die föderalen Ansprüche der Donezker und Lugansker Volksrepubliken geht. Sie sollten Teil einer föderierten Ukraine sein.


SoZ: Mit welchen politischen Kräften habt ihr es im Osten zu tun?

Pawlo Lysjanskyj: Ich kann jetzt nicht genau beschreiben, wie das in der Donezker Volksrepublik ist. In der Lugansker Volksrepublik, aus der ich stamme, ist die Verteilung der politischen Kräfte etwa so: Ein Teil steht unter der Macht der Lugansker Regierung, der andere Teil sind Kosaken. Zwischen diesen zwei Mächten gibt es Widersprüche und Konflikte. Hier passieren öfter auch Morde. So wurden einige Führer der Kosaken getötet. Diese Kräfte repräsentieren jedoch keine sozialen Bewegungen, sondern die Macht.


SoZ: Gibt es politische Kräfte, die die Interessen der Arbeiterklasse vertreten?

Pawlo Lysjanskyj: Meine politischen Überzeugungen sind links. Auch mein Wunsch wäre, dass dieser Krieg durch Arbeiterparteien [danach wurde mehrfach gefragt] gestoppt werden könnte. Aber kennen Sie irgendeine politische Partei in der Ukraine, die zu so etwas fähig wäre? Wie kann eine Arbeiterpartei in der Lugansker Republik funktionieren, wenn es dort keine Gesetzgebung gibt? Was da passiert, ist total willkürlich. Es gibt keine Gerichte oder Gesetze. Vor kurzem gab es einen Streik von Frauen. Die wollten Hilfe für Mütter haben und haben die Antwort bekommen: Ihre Aktion würde nur den Zustand der Lugansker Republik verschlechtern. Das sei jetzt nicht die Zeit für so etwas.

Ich bin in Lugansk geboren, ich liebe meine Stadt. Das ist meine Heimat und ich persönlich sehne mich nach Frieden. Es ist mir aber klar, dass der Frieden nur erreicht werden kann, wenn der Propagandakrieg gestoppt wird. Sonst wird der Hass dazu führen, dass der Krieg weiter geht. Sicher wäre es gut, wenn es eine Arbeiterpartei gäbe, die die Macht übernimmt. Aber die gibt es nicht.


SoZ: Gibt es Bereitschaft zu einer übergreifenden Friedensinitiative zur Beendigung des Krieges?

Pawlo Lysjanskyj: Ich kann mir nicht recht vorstellen, was wir mit der Friedensbewegung machen können. Hier läuft ein richtiger Krieg. Ich war ein halbes Jahr dort, wo unmittelbar gekämpft wurde [in Debalzewe] und habe auch erlebt, wie einige meiner Bekannten getötet wurden. Die Verhandlungen, die in Minsk geführt werden, sind das einzige, was gemacht werden kann. Als hier Vereinbarungen getroffen wurden [zum ersten Abkommen von Minsk vom September 2014], gab es weniger militärische Aktivitäten im Kampfgebiet. Es ist ein wirklicher Krieg, da kann man nicht einfach friedlich irgendetwas versuchen.


SoZ: Was können wir hier in Deutschland zur Unterstützung der ukrainischen Kollegen tun?

Pawlo Lysjanskyj: Gut wäre es, wenn die deutsche Regierung ihren Einfluss auf die ukrainische Regierung nutzen könnte, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Als zweites wäre eine direkt humanitäre Unterstützung an die Menschen, die leiden, sinnvoll. Ich kenne die Situation in vielen Städten. Überall brauchen die Menschen Hilfe.


(*) Die Regierung hat auch die Rentenzahlungen in die Gebiete der Volksrepubliken eingestellt.
(**) Am 29. Januar demonstrierten in Kiew mehrere zehntausend Bergarbeiter gegen diese Pläne. Aufgrund des öffentlichen Drucks gab die Regierung nach.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3, 30. Jg., März 2015, Seite 14
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. März 2015

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