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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1977: Die Flüchtlingswelle wirft ein grelles Licht auf längst überfällige Defizite


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11, November 2015
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Von schwarzen und braunen Nullen
Die Flüchtlingswelle wirft ein grelles Licht auf längst überfällige Defizite

Von Manfred Dietenberger


"Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
die Großen zäunen ihren Wohlstand ein."


So sang dereinst der "Troubadour der milden Mitte" genannte Udo Jürgens. Und es scheint, als bekäme er demnächst recht.

Deutschland ist eines der reichsten Länder auf der Welt. Geld ist hierzulande wirklich genug da, "nur" eben falsch verteilt. Rund 10% der Bevölkerung verfügen über mehr als 70% aller Kapital- und Privatvermögen. Und sie wissen nicht wohin mit ihrem vielen Geld. Gleichzeitig nehmen wir es hin, dass 12,5 Millionen Menschen hierzulande in Armut leben müssen und die übrigen gerade so zurechtkommen. Und ja, wenn es dabei bleibt - sprich, wir die oberen 10% ungestört auf ihren Geldsäcken sitzen lassen und also die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ändern -, dann verschärft sich durch die massenhafte Zuwanderung der abertausenden Kriegs- und Armutsflüchtlinge die gesellschaftliche Armut. Dann steigt der Druck auf die unteren sozialen Schichten weiter und die Zuwanderung der Flüchtlinge verstärkt die (bereits) vorhandene gesellschaftliche Armut. Der Konkurrenzkampf um schlecht bezahlte Erwerbsarbeit und den kaum vorhandenen bezahlbaren Wohnraum wird noch unerträglicher. Der soziale Zusammenhalt erodiert weiter.

Mit Kürzungen im sowieso unterentwickelten Sozialbereich würden nicht die Wohlhabenden getroffen. Sie treffen diejenigen, die eh schon von niedrigen Renten, schlechten Löhnen oder Hartz IV leben müssen. Die Ärmeren wohnen heute in den Wohngebieten, in denen morgen auch Flüchtlinge nach Wohnungen suchen werden, und es ist keine irrationale, sondern eine sehr realistische Angst, dass dort die Mieten dann noch mehr steigen. So ist es leicht, Flüchtlinge gegen die Einheimischen auszuspielen und umgekehrt.

Der von der arbeitenden Bevölkerung geschaffene Reichtum muss endlich denen zugute kommen, die ihn erwirtschaften. Gelingt das nicht, so ist zu befürchten, dass demnächst Stadtkämmerer ihren Bürgern erklären, auch das letzte öffentliche Schwimmbad sei leider nicht mehr zu halten, weil sonst die Mietzuschüsse für Flüchtlinge nicht bezahlt werden können. Natürlich muss das nicht sein, genauso wenig wie es sein muss, dass die Finanzierung von Deutschkursen gegen die Finanzierung von Bibliotheken aufgerechnet wird. Das ist Gift für das gute Zusammenleben.

Das hätten aber nicht die Flüchtlinge zu verantworten. Asoziale Sprücheklopfer wie der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer ("Wir sind nicht das Sozialamt für die ganze Welt") tun so. Klar, die Flüchtlingshilfe wird die Sozial- und Gesundheitskosten erstmal deutlich erhöhen, könnten wir uns aber leisten, wenn die Besserverdienenden angehalten würden, ebenfalls in die gesetzliche Sozialversicherung einzuzahlen. Was wir uns aber nicht mehr leisten können, sind die Steuerflüchtlinge. Anders als die Asylsuchenden stellen sie eine nicht mehr tolerierbare, unerträgliche finanzielle Belastung dar.

Völlig inakzeptabel ist zudem der vom Chef der stark rechtslastigen Deutschen Polizeigewerkschaft (bitte nicht verwechseln mit der Gewerkschaft der Polizei im DGB!) in die Welt gesetzte Vorschlag, einen Grenzzaum an der österreichischen Grenze zu errichten. Die "Prüfung einer Grenzbefestigung" dürfe "kein Tabu" bleiben. Ohne eine massive Sicherung der Grenzen sei die "innere Ordnung" in Gefahr, gar "soziale Unruhen" seien zu befürchten. Kanzlerin Merkel müsse jetzt handeln. Einige Parlamentsabgeordnete um den Vorsitzenden des Parlamentskreises Mittelstand der Unionsfraktion, Christian von Stetten, bereiten bereits einen Antrag dazu vor. Schäuble (die "Schwarze Null") unterstützt den Vorschlag noch nicht, will aber nicht die Bundeskasse mit den für die Flüchtlingshilfe notwendigen Mehrausgaben "belasten", sondern lieber an anderer Stelle im Bundeshaushalt Ausgaben streichen. Wo er diese "anderen Stellen" findet, kann man sich leicht ausrechnen.

Statt Kürzungen im Sozialbereich brauchen wir eine Investitionsoffensive im Sozialbereich - finanziert durch eine Reichensteuer. Warum den Armen in die Tasche greifen, solange die Millionäre bei uns über ein Vermögen von 2,5 Billionen Euro verfügen? Mit diesem Geld lässt sich bewerkstelligen, was schon lange vor der Flüchtlingswanderung fällig war: endlich ausreichend Sozialwohnungen, Schulen, Kitas und Krankenhäuser, Studien- und Arbeitsplätze. Statt Milliarden für Deportationen, Grenzzäune, Drohnen und Nachtsichtgeräte auszugeben in der naiven Hoffnung, damit Flüchtlinge von Europa fern zu halten, hätte man in den vergangenen zehn Jahre längst massiv öffentliche Sozialwohnungen bauen können. Mit jedem ankommenden Flüchtling wird eine Wende in der Sozialpolitik nur noch dringlicher. Die Flüchtlinge werden von den Unternehmern nicht im Sektor der Spitzenverdiener, sondern als Lohnkonkurrenz in den unteren Einkommensgruppen missbraucht werden.

Es ist an uns - den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen - dafür Sorge zu tragen, dass die Integration der Flüchtlinge gelingt. Und das heißt, dass sie zu tariflichen Bedingungen arbeiten und nicht eine neue Welle von Lohndumping und Sozialabbau anstoßen (müssen). Wer das zulässt, nährt genau die Ängste und Ressentiments, die rechten Hasspredigern den Boden bereiten. Wir müssen gemeinsam Schäubles "schwarzer Null" in den Rotstiftarm fallen, andernfalls haben die braune Nullen beim Stimmenfang leichtes Spiel.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11, 30. Jg., November 2015, S. 16
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2015

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