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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2043: Niedrigzinsen - Der Streit um die Politik der Europäischen Zentralbank


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, Juni 2016
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Niedrigzinsen
Der Streit um die EZB-Politik

Von Ingo Schmidt


"Das Geld erklärt dem ganzen Menschengeschlecht den Krieg"
(Pierre de Boisguillebert, 1704)  


Ist die deutsche Kritik an der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) gerechtfertigt?

Spare in der Zeit, dann hast du in der Not, sagt das Sprichwort. In einem Land, dessen kollektive Erinnerung von Hyperinflation und Währungsreformen im Gefolge zweier mit Staatskredit finanzierter und verlorener Weltkriege verfolgt wird, ist die Sparsamkeit zur Volkstugend avanciert. Regierungen werden zu Tugendwächtern. So auch Kanzlerin Merkel und ihr damaliger Finanzminister Steinbrück, die während der Großen Rezession 2008 erklärten, dass "die Sparerinnen und Sparer in Deutschland nicht befürchten müssen, einen Euro ihrer Einlagen zu verlieren".

Konkreter Anlass für diese Versicherung war allerdings nicht der Crash an der Wall Street, sondern die Pleite der vermeintlich biedermännlich-soliden Hypo Real Estate in München. Den Gedanken, dass die Heuschrecken mitten unter uns sind, hatte SPD-Parteichef Müntefering schon ein paar Jahre vor der großen Krise mit dem Argument abgewehrt, Spekulanten würden wie Heuschrecken von außen über ein hart arbeitendes und eisern sparendes Volk herfallen.

Die Warnung vor äußeren Gefahren gehört in dieser Nation von Kriegsverlierern zum Standard politischer Rhetorik. Neben amerikanischen Heuschreckenschwärmen und syrischen Flüchtlingsströmen gibt es da noch die Griechen, die auf unsere Kosten faulenzen, und einen italienischen EZB-Präsidenten, der die deutschen Sparer enteignet. Wenn man Merkels gegenwärtigem Finanzminister Schäuble glauben darf, bringt Draghis Nullzinspolitik Sparer um ihre wohlverdienten Zinserträge und treibt sie damit so lange in Rage, bis sie AfD wählen. Deutsche Bankenvertreter stimmen in Schäubles Klage ein, unter den niedrigen Zinsen würden sie ebenso leiden wie ihre Kunden.


Draghis Konter

Wissend, dass die tatsächliche Ertragslage der Banken deutlich besser ist als ihre öffentlich beklagte, hat sich Draghi hierzu nicht geäußert. Dafür drehte er Schäubles Vorwürfe um und erklärte nun seinerseits, die niedrigen Zentralbankzinsen würden lediglich den grundlegenden Verhältnissen zwischen dem privaten Angebot an Geldmitteln, Ersparnissen, und der Nachfrage nach Krediten folgen.

Die Deutschen, so Draghi, sparen zu viel, investieren zu wenig und führen die niedrigen Zinsen, über die sie nun klagen, selbst herbei. Sie hätten es aber in der Hand, diesem Zustand Abhilfe zu schaffen, indem sie ihre Ersparnisse auf den Finanzmärkten anlegen. Aktien bringen tatsächlich mehr ein als Sparbücher - doch nur solange die Finanzblasen nicht platzen, zu deren Entstehen die extrem lockere Geldpolitik in Europa, den USA und Japan nach der Großen Rezession beigetragen hat.

Draghis Argument, dass ein Überangebot an Ersparnissen gemessen an der Nachfrage nach der Finanzierung von Investitionen niedrige Zinsen zur Folge hat, ist nicht verkehrt. Seine Schlussfolgerung, diesem Zustand sei durch vermehrte Börsenanlagen, also durch weiteres Hochtreiben der Kurse in einer eher stagnierenden als wachsenden Wirtschaft beizukommen, ist allerdings gewagt. Immerhin hat Ben Bernanke, von 2006 bis 2014 Chef der amerikanischen Zentralbank, Wall-Street-Crash und Große Rezession damit erklärt, ein Überangebot an chinesischen Ersparnissen habe amerikanische Anleger zu übermäßig riskanten Geschäften verleitet.

Der Wirtschaftsprofessor Larry Summers sieht im Überschuss an Ersparnissen, unabhängig davon ob sie auf Sparbüchern oder an Börsen landen, sogar die Ursache für wirtschaftliche Stagnation. In einem früheren Leben, als Finanzminister unter US-Präsident Clinton, glaubte er noch, über hohe Börsennotierungen die Konjunktur ankurbeln zu können. Entsprechend trieb er die Deregulierung der Finanzmärkte voran.


Niedrige Sparzinsen, satte Bankengewinne

Negative Zinsen hat die EZB nicht erst in diesem Frühjahr sondern bereits im Sommer 2014 eingeführt. Damals betrug der Einlagezinssatz, zu dem Banken Guthaben bei der EZB parken können, -0,1%, er wurde jetzt auf -0,4% gesenkt. Damit soll den Banken ein Anreiz gegeben werden, die bei ihnen angelegten Guthaben möglichst schnell und vollständig in Form von Krediten auszuleihen, statt sie auf EZB-Konten zu horten.

Die Ersparnisse privater Haushalte wären von den Negativzinsen, die Banken an die EZB zu zahlen haben, nur betroffen, wenn die Banken diese Zinsen, die für sie Kosten darstellen, an private Haushalte in Form höherer Gebühren weitergeben oder mit einer weiteren Senkung der Zinsen auf Spar- und andere Einlagen reagieren würden. Das haben sie bisher allerdings nicht getan. Wozu auch. Öffentlichen Wehklagen zum Trotz erfreuen sich die Banken in Deutschland guter Erträge. Anders als bei privaten Ersparnissen, an denen sich derzeit tatsächlich nichts verdienen lässt, ist für die Erträge im Bankgeschäft nicht die absolute Höhe der Zinsen entscheidend, sondern die Differenz von Einlage- und Kreditzinsen. Und seit dem Frühjahr 2012 wurden die Kreditzinsen mehrfach angehoben. Entsprechend positiv haben sich die Bankengewinne entwickelt.

Ökonomen streiten darüber ob und in welchem Umfang diese Erhöhung der Kreditzinsen für die acht Jahre nach der Großen Rezession und sechs Jahre nach der Euro-Krise immer noch schleppende Kreditvergabe verantwortlich zu machen ist. Klein- und Mittelbetriebe haben schon vor 2012 darauf hingewiesen, dass eine steigende Zahl ihrer Kreditanträge abgelehnt wird. Großbetriebe stellen solche Anträge oftmals gar nicht erst, da ihre Gewinnlage ausgezeichnet ist und sie die Investitionen aus Eigenmitteln finanzieren können.

Nur im Immobiliensektor hat die Kreditvergabe einen merklichen Effekt. Sie liefert den finanziellen Treibstoff für steigende Mieten und Immobilienpreise. Wie bei der amerikanischen Immobilienblase, deren Platzen 2007 die Große Rezession 2008 auslöste, werden den unteren Einkommen die Luft abgeschnürt und mittlere Einkommen an den Rand gedrängt, während sich die gut Betuchten in den Innenstädten breit machen. Neben der schleichenden Entwertung von Sparguthaben, die viele Haushalte in Erwartung weiterer Kürzungen der gesetzlichen Rente und nach dem Floppen der Riester-Rente zurückgelegt haben, ist das ein weiterer Grund, die Geldpolitik der EZB mit Skepsis zu betrachten.


Kapitalexport und Stagnation

Allerdings sind die geldpolitischen Macher im Frankfurter EZB-Tower selbst Getriebene. Mit dem Versuch, Sparguthaben in Immobilien- und Börsenanlagen umzuwandeln, trägt die EZB zur Bildung von Finanzblasen bei und bereitet kommenden Finanzkrisen der Weg.

Unbeschadet davon hat Draghi aber recht, wenn er auf die destabilisierende Wirkung des Überhangs an Ersparnissen in Deutschland hinweist. Zu diesem Überhang tragen aber nicht nur die Sparer bei, sondern auch Unternehmen und öffentliche Haushalte, die mit den angebotenen Spargeldern im Inland nichts anzufangen wissen. Was an Ersparnissen im Inland keine Verwendung findet, wird ins Ausland geschafft und finanziert die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse, die Unternehmer und Politiker stets als Ausweis deutschen Fleißes darstellen.

Deutsche Überschüsse in Leistungs- und Kapitalbilanz führen zu einem Export von Arbeitslosigkeit und treiben andere Länder in die Verschuldung. Deren Märkte werden mit Waren und Kapital Made in Germany überflutet. Wenn die deutschen Kreditgeber und ihre Kumpane in anderen Überschussländern kalte Füße kriegen, malen sie das Gespenst der Zahlungsunfähigkeit an die Wand und fordern die Politik zum Versenden von Sparpaketen auf. Die arbeitenden Klassen in den Schuldnerländern, an die diese Pakete adressiert sind, nehmen Deutschland nicht als Vorbild von Sparsamkeit und Fleiß wahr, sondern als Heimatbasis von Heuschreckenschwärmen, die periodisch über sie herfallen.

Die Verlagerung überschüssiger Ersparnis und Produktion von einem oder mehreren Ländern in andere ist eine Hauptursache für die internationalen Schulden- und Finanzkrisen, aber dennoch nur Teil eines größeren Problems.

Die Hoffnung, den Ersparnisüberschuss des Nordens in den aufstrebenden Ländern des Südens anlegen zu können, hat sich mit der Abkühlung der chinesischen Wirtschaft und den Rezessionen in Brasilien, Russland und Südafrika nämlich zerschlagen. Die armen Länder des Südens sind selbst den wagemutigsten Finanzjongleuren zu unsicher, und so bleibt nach Meinung von Larry Summers nur ein Ausweg zur Überwindung der Stagnation: die Ausweitung kreditfinanzierter Staatsausgaben im Norden - eine Neuauflage der Keynesschen Diagnose und Therapie aus den 30er Jahren.

Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs haben sich nur die Nazis an dieser Politik versucht. Welteroberungspläne nach Hitlerschem Vorbild sind heute jedoch obsolet, weil die vereinten imperialistischen Nationen längst über weltweite Marktzugänge verfügen. Der permanente Krieg gegen den Terror hat sich eher als Kostenfalle, denn als Wirtschaftsmotor erwiesen. Die Frage, ob unter diesen Bedingungen ein ziviler Keynesianismus möglich ist, stellt Summers nicht.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, 31. Jg., Juni 2016, S. 18
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2016

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