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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2134: Martin Schulz - vom neoliberalen Mittäter zum sozialdemokratischen Erneuerer?


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 · April 2017
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Martin Schulz - vom neoliberalen Mittäter zum sozialdemokratischen Erneuerer?

von Ingo Schmidt


Die Jahre der Selbstverleugnung sind vorbei. Seit Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten gekürt wurde, hat die SPD ihre sozialdemokratische Sprache wiedergefunden. Schulz' Absicht, die Agenda 2010 wenigstens in Teilen rückgängig zu machen, hat im Unternehmerlager heftige Proteste ausgelöst. Sein Anspruch, nicht Genosse der Bosse, sondern Freund der kleinen Leute zu sein, wurde dadurch nur glaubhafter. In Wahlumfragen und in der Mitgliederstatistik geht es nach vielen Rückschlägen endlich wieder voran.


Die CDU ist alarmiert: Seit Schröder die SPD mit seiner im Volk ungeliebten Agendapolitik zu einer Immerhin-mehr-als-20%-Partei gemacht hat, konnten sich die Konservativen als das kleinere Übel, vielleicht sogar als die bessere Sozialdemokratie präsentieren und manch ehemalige SPD-Wähler für sich gewinnen. Kein Wunder, dass Merkel Schröder und die Agenda 2010 jetzt in den höchsten Tönen lobt und die SPD zum Festhalten an der sozialpolitischen Gegenreformation auffordert.

Die Linke ist irritiert: Schröders Agendapolitik hatte eine erkleckliche Zahl langgedienter Sozialdemokraten aus der Partei getrieben und damit die Voraussetzungen geschaffen, die ostdeutsche PDS zur gesamtdeutschen Linken weiterzuentwickeln. Seit aus der SPD neue alte Töne zu hören sind, sorgt sich DIE LINKE, das für sich reklamierte Alleinstellungsmerkmal «soziale Gerechtigkeit» wieder an die SPD zu verlieren.

Und die AfD fürchtet, dass der linke Streit um den besten Sozialdemokraten im Land ihre Angstmacher Islamisierung und Untergang des Abendlands in den Hintergrund drängt. Oder dass ein auf die Frage soziale Gerechtigkeit ausgerichteter Wahlkampf die marktradikale, antisozialstaatliche Stoßrichtung der AfD deutlich werden lässt.


Widerstreitende Hoffnungen

Einen so plötzlichen Stimmungsumschwung an der Wählerbasis der SPD hat es seit dem Sommer 2005 nicht mehr gegeben. Damals erholte sich die vom Schock der Agenda 2010 auf Umfragewerte von 26% zurückgeworfene SPD innerhalb weniger Wochen auf 34%. Mit einem Anstieg von 20% auf 31% sind die jüngsten SPD-Gewinne in der Wählergunst zwar um einiges höher als im Sommer 2005. Der bisherige Spitzenwert bleibt aber immer noch hinter den damals erreichten 34% zurück.

Durchaus möglich, dass Merkel gegen Schulz gewinnt und die gerade proklamierte Resozialdemokratisierung der SPD der politischen Stabilität, sprich: Fortführung der Großen Koalition, geopfert werden muss. Wählerbetrug wäre das nicht. Die gleichen Umfragen, die Schulz und der SPD steigende Unterstützung attestieren, zeigen auch, dass die Unterstützung für die Große Koalition seit der letzten Bundestagswahl kaum gesunken ist. Paradoxerweise sind eine sozialdemokratische Politik, die diesen Namen verdient, und eine Große Koalition, die nur im Vergleich zu Schröders Kahlschlagpolitik als sozialdemokratisch wahrgenommen werden kann, gleichermaßen populär.

Schulz steht vor dem Widerspruch, dass es einerseits einen verbreiteten Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit gibt, aber gleichzeitig die Angst, dass jede Veränderung zu noch mehr Ungleichheit und Ungerechtigkeit führen wird. Auf die Unterstützung des Genossen Trend, der seinem Vorbild Brandt 1969 die Befreiung aus der Großen Koalition ermöglichte, muss Schulz verzichten. Dafür fehlen die Zukunftsvisionen. Dass Schulz Menschen auch in Ermangelung solcher Vorstellungen begeistern kann, deutet darauf hin, dass nach Jahren echter und gefühlter Krisen die Erwartungen der Wählerschaft drastisch gesunken sind.

Zu diesen Krisen gehört auch die Krise der Sozialdemokratie. Im Nachhinein ist nur noch schwer vorstellbar, wie der von Schröder gewiesene Dritte Weg einmal als Wegweiser in eine bessere Zukunft gelten konnte. Doch genau so war es. Nachdem die deutsche Einheit die ostdeutsche Wirtschaft weitgehend zerstört und den aus Westdeutschland importierten Sozialstaat an den Rand der Pleite gebracht hatte, galt das Umverteilungsmodell aus der Ära Brandt als veraltet.

Staatsschuld, Arbeitslosenversicherung und Tarifverträge wurden immer mehr als Wettbewerbsnachteile auf einem Weltmarkt gesehen, auf dem sich das Arbeitsangebot nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Öffnung Chinas quasi über Nacht verdoppelt hatte. Der Dritte Weg versprach eine politisch regulierte Globalisierung, die dem schwer verschuldeten Sozialstaat entkommen würde, ohne sich auf die Niedriglohnkonkurrenz mit den Weltmarktstandorten des Südens einzulassen.

Allerdings versuchten die Sozialdemokraten - und das nicht nur in Deutschland - auf dem Dritten Weg soziale Kräfte zusammenzuführen, die nicht so recht zusammengehörten. Die alte Arbeiterklasse bzw. was davon nach Jahren der Rationalisierung und des Strukturwandels noch übrig war, erhoffte eine Absicherung ihrer sozialen Standards gegen die Niedriglohnkonkurrenz. Die neue Mittelklasse war darauf aus, sich ihren Anteil am Finanzgeschäft zu sichern oder sogar zum Kern einer Solarbourgeoisie in der Nachfolge der Schlotbarone und Atomtechnokraten zu werden. Diese Mittelklasse unterstützte die drastische Senkung von Unternehmenssteuern und die völlige Steuerfreistellung von Spekulationsgewinnen - womit Hans Eichel, Nachfolger von Lafontaine im Amt des Finanzministers, einem ohnehin verschuldeten Staatshaushalt ein massives Einnahmeproblem bescherte.

Durch die Rezession 2001 wurde das Problem noch verschärft und führte zur Agenda 2010, der damit verbundenen Entkoppelung von Lohn und Lohnersatzleistungen, verbreiteten Zukunftsängsten bis in höhere Lohn- und Gehaltsgruppen hinein, massiven Wählerverlusten bei der SPD - aber auch zur Gründung der Partei DIE LINKE.


Soziale Gerechtigkeit?

Als Abgeordneter, Präsident und Fraktionschef der Sozialdemokraten ist Schulz im Europaparlament weder als Opponent der Agenda 2010 aufgefallen, noch hat er den neoliberalen Elitekonsens in Brüssel im Namen eines endlich durchzusetzenden Europäischen Sozialmodells aufgekündigt. Es stimmt zwar, dass er sich für Eurobonds, einen europäischen Schuldentilgungsfonds und für eine weniger harte Linie in den Verhandlungen mit Griechenland eingesetzt hat. Damit gehörte er innerhalb der EU-Institutionen aber durchaus zum Mainstream.

Ob er im Rennen um die Kanzlerschaft des Exportweltmeisters Deutschland diese europazentrierten Forderungen beibehalten oder versuchen wird, seinen Wahlkampf auf die Frage der sozialen Gerechtigkeit zu konzentrieren, muss sich zeigen. Unabhängig von Persönlichkeit und Partei stellen die Hoffnungen der Wähler auf soziale Gerechtigkeit und Sicherheit bei einer gleichzeitigen, fast schon zur Sucht gewordenen Abhängigkeit der Wirtschaft von Exportüberschüssen eine Herausforderung dar. Dass Deutschland besser durch die Krisen der vergangenen Jahre gekommen ist, lag ja nicht zuletzt am massiven Export von Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und Lohndruck in andere Länder.

Unter der großen Mehrheit, die nicht ökonomisch abgehängt ist, herrscht das Gefühl vor, noch mal davon gekommen zu sein. Aber auch die Angst, dass es einen beim nächsten Mal genauso hart erwischen könnte wie die Abgehängten im eigenen Land oder Griechenland. Zusammengenommen liegen die Umfragewerte von SPD und Union seit Jahren bei mindestens 60% und strafen die Rede vom Ende der Volksparteien Lügen. Politische Stabilität scheint garantiert. Wenn es für Mitte-Links- oder Mitte-Rechts-Koalitionen nicht reicht, bleibt immer noch die Fortsetzung der Großen Koalition. Aber die soziale Grundlage der politischen Mehrheitsfindung ist brüchig. Das wilde Auf und Ab kleinerer, vor allem auf die Mittelklasse ausgerichteter Parteien gibt einen Hinweis darauf, wie sehr es dort rumort.

In Umfragen lag die FDP im Februar 2009 bei 18% und konnte bei den Wahlen im September noch knapp 15% erzielen. Danach verschwand sie in der wahlpolitischen Versenkung. Unter dem Eindruck von Eurokrise, Reaktorkatastrophe in Fukushima und Arabischem Frühling überholten die Grünen im März 2011 vorübergehend die SPD und erreichten Umfragewerte von 28%. Heute liegen sie bei 7-8%. Dem grünen Umfragehoch folgte der kurze Aufschwung der Piraten, die es im Mai 2012 in Umfragen auf 13% brachten, bei der Bundestagswahl 2013 aber schon wieder unter der 5%-Hürde verschwanden.

Dafür begann der Aufstieg der AfD, die mit 13% schon mal bis auf einen Prozentpunkt an den Spitzenwert der LINKEN herankam, den diese im Juni 2008, also ein Jahr nach ihrer Gründung, erreichte. Gegenwärtig dümpelt DIE LINKE bei Werten um 8% vor sich hin. Es ist ihr nicht gelungen, die Wähler am unteren Ende der Einkommensskala dauerhaft an sich zu binden, die sie in ihren ersten Jahren für sich gewinnen konnte.

Dabei ist der Wunsch nach mehr Gerechtigkeit und Sicherheit weit verbreitet - das zeigt der von der SPD selbst nicht erwartete Schulz-Boom.

Ob Schulz und Wagenknecht im Herbst zusammen am Kabinettstisch sitzen, ist unsicher bis fraglich. Gleichwohl stehen SPD und DIE LINKE dem gleichen Problem gegenüber: Weder die eine noch die andere hat bislang herausgefunden, wie sich das laut Umfragen überaus beliebte Thema soziale Gerechtigkeit in politische Mehrheit umsetzen und die dazu passende Politik gegen den Widerstand von Konzernen und Mittelstand durchsetzen lässt.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 32. Jg., April 2017, S. 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2017

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