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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2140: 100 Jahre russische Revolution - Teil 2


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 · April 2017
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

100 Jahre russische Revolution, Teil 2
Februarrevolution und Aprilthesen

von Manuel Kellner


Der Sturz der Kapitalherrschaft durch Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte hat viele spätere antikapitalistische Bewegungen beflügelt. Die bürokratische Diktatur diskreditierte jedoch die sozialistische Idee. 1991 wurde die Sowjetunion aufgelöst. Was bleibt - 100 Jahre nach der Oktoberrevolution?(*)


Im Jahr 1916 hatte es in Russland wieder viele Streiks gegeben. Mit den Niederlagen im Krieg wuchs die Unzufriedenheit in den Städten und auf dem Land. Russland war in Gärung. In der Hauptstadt St. Petersburg wurden die Schlangen um Brot immer länger. Am 23.Februar 1917 war Internationaler Frauentag. Die Textilarbeiterinnen einiger Fabriken traten an diesem Tag in den Streik. Sie gehörten zu den am schlechtesten bezahlten und behandelten Arbeiterinnen. Viele von ihnen waren zugleich Ehefrauen von Soldaten. Sie schickten Delegationen zu den Belegschaften der Metallarbeiter mit der Aufforderung, sich der Streikbewegung anzuschließen. Das Komitee der Bolschewiki von Wyborg, einem rein proletarischen Bezirk St.Petersburgs, hatte sich gegen solche Aktionen ausgesprochen (die Stadtleitung der Partei war wegen Verhaftungen handlungsunfähig). Nach seiner Einschätzung mussten sie zu einer verfrühten Konfrontation mit dem Zarenregime führen. Doch an diesem Tag streikten 90000 Arbeiterinnen und Arbeiter, ihre Hauptforderung war «Brot!» Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass das Zarenregime fünf Tage später hinweggefegt sein würde.

Die Bewegung steigerte sich von Tag zu Tag, bis sie faktisch zum Generalstreik wurde und unter anderem das Ende der Selbstherrschaft des Zaren forderte. Die Polizei, die in die Menge schoss, wurde entwaffnet. Die Schlüsselfrage war jetzt das Verhalten der Armee. Im Kontakt mit den Aufständischen wechselten die Soldaten der Garnisonen nach einigem Zögern das Lager und schlossen sich dem Aufstand an. Die Truppenteile, die die Regierung ausschickte, um die Bewegung niederzuschlagen, lösten sich eins nach dem anderen auf. Das Zarenregime brach zusammen.

Nach dem Sieg in der Hauptstadt dehnte sich die Bewegung auf Moskau und die Provinzstädte aus. Große Teile der Bauernschaft setzten sich gegen die Großgrundbesitzer in Bewegung und forderten Land und Frieden. Bald war ganz Russland von Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten überzogen.

Diese bildeten eine demokratisch organisierte Gegenmacht von unten, während die Provisorische Regierung der Konstitutionellen Demokraten («Kadetten») von den «gemäßigten» Sozialisten (Menschewiki und Sozialrevolutionäre) gestützt wurde, die schließlich auch in sie eintraten. Die «Kadetten» repräsentierten das Kapital bzw. das liberale Bürgertum und führten den Krieg fort.

Damit entstand eine Situation der «Doppelherrschaft». Bis zur Rückkehr Lenins aus dem Exil verhielten sich die Bolschewiki gegenüber dieser Regierung als konstruktive Opposition. Ihre Perspektive war von der alten bolschewistischen Losung der «demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft» geprägt, die den Weg für eine normale kapitalistische Entwicklung frei machen sollte, bevor eine sozialistische Revolution vorbereitet werden konnte.

Lenin schlug mit seinen «Aprilthesen» eine ganz andere Orientierung vor. Da mit der bürgerlichen Regierung das Kapital an der Macht war, war der Krieg für ihn auch auf Seiten Russlands ein imperialistischer Krieg, der aufhören musste. Die Doppelherrschaft musste beendet werden mit der Eroberung der politischen Macht durch die «Sowjets» - alle Macht den Räten!

Damit käme die Arbeiterklasse zusammen mit den ärmsten Teilen der Bauernschaft an die Macht. Grund und Boden sollten verstaatlicht und den Bauernfamilien gegeben werden. Statt der sofortigen sozialistischen Vergesellschaftung sollte zunächst die «Kontrolle» der Produktion eingeführt werden: Keine Entscheidung gegen den Willen der Belegschaften! Entscheidend sei das Heranreifen der sozialistischen Weltrevolution (vor allem der Revolution in Deutschland), für die die russische Revolution nur der Auftakt sein könne. Zugleich betonte Lenin in seinen Thesen, dass eine geduldige Überzeugungsarbeit erforderlich sein würde, um in den Räten Mehrheiten für diese Perspektiven zu erringen.

In der Tat waren die Bolschewiki zu dieser Zeit noch eine kleine Minderheit in den Räten. Die Führer der «gemäßigten» Sozialisten warfen Lenin wegen seiner Thesen «Fieberphantasien» vor. Aber auch in der Führung der bolschewistischen Partei stieß er zunächst auf ungläubiges Staunen, Widerspruch und Widerstand. Vor allem gestützt auf die politisch fortgeschrittensten Arbeiter und Arbeiterinnen in der Partei, die auch in der Februarrevolution eine führende und politisch inspirierende Rolle gespielt hatten (sie hatten die Erfahrungen von 1905 verarbeitet), konnte Lenin schließlich die Mehrheit der Bolschewiki für seine Orientierung gewinnen.

Bis zum Oktober der alten Zeitrechnung gab es noch viele Wendungen, bis die von Lenin ausgegebene Orientierung die Mehrheit in den Räten eroberte und die Oktoberrevolution die Kapitalherrschaft in Russland stürzte. Diese viel diskutierten Erfahrungen stützten die bolschewistischen Positionen. Lenins «Fieberphantasien» wurden wahr.


Anmerkung:
(*) In Teil 1 wurde die Russische Revolution von 1905 dargestellt.

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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2130: 100 Jahre russische Revolution - Teil 1

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 32. Jg., April 2017, S. 21
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2017

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