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STREIFZÜGE/024: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 51, Frühling 2011


Streifzüge Nummer 51 / Frühling 2011

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALT

John Holloway: Doing. Tun in-gegen-und-jenseits der Arbeit

Franz Schandl: Das Leben selbst. Wegiges zum Guten.
Keine Themenverfehlung. Für T.

Friederike Habermann: Gutes Leben mit Ecommony

Petra Ziegler: Was hindert uns

Andreas Exner: Neue Werte im Sonderangebot.
Die Gemeinwohlökonomie Christian Felbers

Christian Siefkes: Das gute Leben produzieren

FRANK: Calamari Union

Lorenz Glatz: Das verlorene Meer der Lust

Tomasz Konicz: It's the system, stupid.
Zeitgeist: Moving Forward

Markus Mohr: Vom Antifaschismus zur Extremismusprävention

Stefan Meretz: Zur politischen Ökonomie von Kopie und Kopierschutz -
Teil 2

Lorenz Glatz: One World One Pain

Andreas Exner: Fukushima. So ist Kapitalismus

Franz Schandl: Black Box and Dark Age

Kolumnen
Dead Men Working von Maria Wölflingseder
Immaterial World von Andreas Exner
Rückkopplungen von Roger Behrens

Rubrik 2000 abwärts
Severin Heilmann (S.H.): A hen is only an egg's way...
Maria Wölflingseder (M.Wö.): (Wider-)Standbein und Spielbein
aramis: ...des guten geschmacks...
Lorenz Glatz (L.G.): Liberating Art
Andreas Wally (A.W.): bob Service Roboter

Rezension
Franz Schandl (F.S.) zu Alfred Schobert: Analysen und Essays
Extreme Rechte - Geschichtspolitik - Poststrukturalismus

Raute

Einlauf

von Lorenz Glatz

"Das gute Leben" hat Konjunktur. Die Rede davon natürlich und die Bücher, Aufsätze und Videos. Wie meistens, wenn etwas Thema wird: Es schaut damit nicht gut aus in der Praxis bei den allermeisten. Aber bei vielen Darlegungen zum Thema beschleicht mich das Gefühl, da soll sich alles ändern, damit eins so weiter leben kann wie eben noch.

Bloß: So wird es nicht sein. Nur das ist sicher. Für ein gutes Leben geht es ans Eingemachte des Systems, ans Wachstum, ans Geld, an die Arbeit, die Nation, den Staat, das Recht. Was "gutes Leben" heißen könnte, was sicher nicht, was es davon vielleicht schon gibt und vor allem: wie wir ihm näher kämen - davon ist diesmal im Schwerpunkt des Hefts die Rede, fragmentarisch natürlich, lang und kurz, allgemein und in Streiflichtern, in verschiedenen Textsorten, von verschiedenen Seiten und durchaus widersprüchlich, aber anregend zum Weiterdenken, auch zum Widersprechen, wie wir meinen.

Natürlich hat das Thema auch einen Selbstbezug auf uns und Euch, liebe LeserInnen. Zu uns: Was macht es mit unseren Leben, dass wir die Streifzüge machen? Wenn wir da auf Einigkeit aus wären, dann ginge es uns ausgesprochen schlecht. Für mich, denke ich, gilt: Mein "beschädigtes Leben" hätte ohne diese Zeitschrift eine Delle mehr. Und es schafft mir ein wenig Wohlbehagen, ein Heft Artikel um Artikel im Entstehen zu begleiten, mitzudenken, zu lektorieren und zuletzt ein neues Heft frisch in der Hand zu halten.

Von uns zu Euch: Vor allem aber freue ich mich über Reaktionen und Kommentare, die zeigen, zu wem wir sprechen, was Ihr zu dem denkt, was wir da schreiben. Lobt uns, kritisiert! Und natürlich: Unterstützt uns, damit wir weitermachen können: Gebt Hefte weiter, macht uns bekannt und wenn Ihr es noch nicht getan habt: Abonniert!

Und für die von Euch mit einem Plus auf dem Konto noch am Ultimo: Ich meine auch Euer Geld. - Spendet, werdet "Trafos", erhöht Euren Beitrag! Das wäre auch eine kleine Delle weniger für Euch. Versprochen.

Raute

Doing

Tun in-gegen-und-jenseits der Arbeit

von John Holloway (übersetzt von Lars Stubbe)

1

Die sozialen Bewegungen der jüngsten Zeit - zumindest die radikaleren unter ihnen - waren im Wesentlichen von der Orientierung gegen die Logik der kapitalistischen Gesellschaft angetrieben. Die sogenannten sozialen Bewegungen sind nicht als Parteien organisiert: sie zielen nicht darauf ab, die staatliche Macht zu übernehmen. Vielmehr ist es ihr Ziel, die Entwicklung einer systematisch verrückten Gesellschaft ins Gegenläufige zu treiben. Die Bewegungen sagen: "Nein, wir weigern uns, diese Richtung einzuschlagen, wir weigern uns, die verrückte Logik des kapitalistischen Systems zu akzeptieren, wir werden eine andere Richtung oder andere Richtungen einschlagen."

Die antikapitalistischen Bewegungen der letzten Jahre verleihen dem Begriff der Revolution neue Bedeutung. Die Revolution dreht sich nicht länger um die Übernahme der Macht, sondern um den Bruch mit der irrsinnigen Dynamik, die in den inneren gesellschaftlichen Zusammenhalt des Kapitalismus eingebettet ist. Die einzige Art und Weise, dies zu denken ist, als Bewegung vom Besonderen her, als das Punktieren dieser Kohäsion, als Schaffung von Rissen in der Beschaffenheit der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse, Räume oder Momente der Verweigerung-und-Erschaffung. Die Revolution wird also zur Erschaffung, Ausweitung, Vervielfältigung und zum Zusammenfließen dieser Risse. (In meinem Buch Kapitalismus aufbrechen entwickle ich diese Argumentation weiter.)

Wie lässt sich also diese Art von Revolution begrifflich fassen? Indem wir uns auf einen Begriff zurückbesinnen, der für Marx von grundlegender Bedeutung war, der jedoch von seinen Anhängern fast vollständig vergessen wurde. Es handelt sich um den Begriff des Doppelcharakters der Arbeit, die Unterscheidung zwischen abstrakter und konkreter Arbeit.

Der innere gesellschaftliche Zusammenhalt des Kapitalismus, gegen den wir revoltieren, ist durch abstrakte Arbeit konstituiert: nicht durch das Geld, nicht durch den Wert, sondern durch die Aktivität, die die Wert- und Geldformen hervorbringt, nämlich abstrakte Arbeit. Den inneren gesellschaftlichen Zusammenhalt des Kapitalismus aufzubrechen bedeutet, der Kohäsionskraft abstrakter Arbeit eine andere Art von Aktivität entgegenzuhalten, eine Aktivität, die nicht in die abstrakte Arbeit hineinpasst, nicht vollständig in abstrakter Arbeit aufgeht.


2

Dies ist keine trockene theoretische Erörterung, denn der Ausgangspunkt für die Betrachtung des Verhältnisses zwischen abstrakter und konkreter Arbeit ist und muss der Zorn, der Schrei sein. Dies ist eine empirische Wahrheit: es ist tatsächlich unser Ausgangspunkt. Und Zorn hat gleichzeitig für die Theorie auch eine Schlüsselbedeutung. Der Zorn verwandelt die Beschwerde in Kritik, denn er erinnert uns die ganze Zeit daran, dass wir unpassend sind, dass wir nicht in dem aufgehen, was wir kritisieren. Zorn ist die Stimme der Nichtidentität, desjenigen, das unpassend ist. Die Kritik des Kapitalismus ist absolut langweilig, wenn sie nicht Kritik ad hominem ist: wir müssen die Begriffe öffnen und versuchen, sie nicht nur als fetischisierte Ausdrücke menschlicher kreativer Macht zu verstehen, sondern als Kategorien, für die wir untauglich sind, Kategorien, aus denen wir überfließen. Unsere Kreativität ist in den gesellschaftlichen Formen, die sie negieren, eingegrenzt und nicht eingegrenzt. Die Form ist dem Inhalt niemals adäquat. Der Inhalt ist untauglich für die Form: darin liegen unsere Wut und unsere Hoffnung. Dies ist theoretisch sowie politisch von zentraler Bedeutung.


3

In jüngster Zeit ist Marx' Schlüsselbemerkung auf den ersten Seiten des Kapitals zunehmend häufiger zitiert worden: "[...D]ieser Punkt [der Doppelcharakter der in den Waren enthaltenen Arbeit] [ist] der Springpunkt [...], um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht." (1867/1984: 56) Nach der Veröffentlichung schrieb er an Engels: "Das Beste an meinem Buch ist 1. (darauf beruht alles Verständnis der facts) der gleich im Ersten Kapitel hervorgehobne Doppelcharakter der Arbeit, je nachdem sie sich in Gebrauchswert oder Tauschwert ausdrückt." (Marx, 1867/1965: 326)

In der marxistischen Tradition wurde diese Bemerkung sehr lange ziemlich erfolgreich übergangen, weshalb es wichtig ist, sie zu betonen. Denn sie führt uns zum Kern von Marx' Kritik ad hominem, in der die Welt als Ergebnis menschlichen Handelns und seiner Widersprüche aufgefasst wird. Der Doppelcharakter der Arbeit bezieht sich auf abstrakte und konkrete oder nützliche Arbeit. Nach Marx ist konkrete Arbeit diejenige Aktivität, die in jeder Gesellschaft existiert, die Aktivität, die für die menschliche Reproduktion nötig ist. Es lässt sich einwenden, dass Marx darin fehlging, sich hierauf mit dem Begriff Arbeit zu beziehen, denn die Arbeit als von anderen Aktivitäten getrennte Aktivität ist nicht allen Gesellschaften gemein, weshalb "konkretes Tun" eine exaktere Bezeichnung zu sein scheint als konkrete Arbeit. In der kapitalistischen Gesellschaft existiert konkretes Tun (bei Marx: konkrete Arbeit) in der historisch spezifischen Form abstrakter Arbeit. Durch einen Prozess, der von ihren konkreten Eigenschaften abstrahiert, werden konkrete Arbeiten miteinander in Beziehung gesetzt. Dies ist ein Prozess quantitativer Gleichsetzung, der für gewöhnlich über Geld vermittelt ist, und dieser Abstraktionsprozess fällt zurück auf die konkrete Arbeit und verwandelt sie in eine Aktivität, die von der Person, die diese Aktivität ausführt, abstrahiert (oder sie ihr entfremdet).


4

Es ist folglich die Abstraktion unserer Aktivität in abstrakte Arbeit, welche den gesellschaftlichen Zusammenhalt der kapitalistischen Gesellschaft konstituiert. In dieser Erkenntnis liegt ein wesentlicher Fortschritt gegenüber dem von Marx in den politisch-ökonomischen Manuskripten von 1844 entwickelten Begriff entfremdeter Arbeit: Kapitalistische Arbeit ist nicht nur eine uns entfremdete Aktivität, sondern es ist diese Entfremdung oder Abstraktion, die den gesellschaftlichen Zusammenhang des Kapitalismus konstituiert. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Zusammenhangs (oder Funktionierens) der kapitalistischen Gesellschaft ist nicht das Geld oder der Wert, sondern jenes, was Wert oder Geld konstituiert, nämlich abstrakte Arbeit. Mit anderen Worten, wir erschaffen die uns zerstörende Gesellschaft - und darin begründet sich die Vorstellung, dass wir aufhören können, sie herzustellen.

Abstrakte Arbeit als Form von Aktivität hat nicht von Anbeginn an existiert. Es ist eine historisch spezifische Form konkreten Tuns, die als gesellschaftlich herrschende Form durch den als ursprüngliche Akkumulation bezeichneten historischen Prozess durchgesetzt wurde. Die Metamorphose menschlicher Aktivität in abstrakte Arbeit ist nicht auf den Arbeitsplatz begrenzt, sondern schließt die Reorganisierung aller Aspekte der Vergesellschaftung ein: die Verwandlung der Natur in ein Objekt, die Homogenisierung der Zeit, die zweipolige Aufteilung der Geschlechter, die Trennung des Politischen vom Ökonomischen, die Konstituierung des Staates usw.


5

Wenn wir sagen, dass die Revolution ein Brechen des gesellschaftlichen Zusammenhalts des Kapitalismus bedeutet und dieser Zusammenhalt durch abstrakte Arbeit konstituiert ist, dann stellt sich die Frage, wie wir die Festigkeit dieses Zusammenhalts begreifen. Anders ausgedrückt: Wie undurchsichtig ist die gesellschaftliche Form abstrakter Arbeit?

Dieselbe Frage, anders ausgedrückt: Muss die ursprüngliche Akkumulation als historische Phase verstanden werden, die dem Kapitalismus vorausging? Wenn wir, wie Postone (1996 [2010²]) dies tut, sagen, dass Arbeit der zentrale Fetisch der kapitalistischen Gesellschaft ist, welches Verständnis haben wir dann von diesem Fetisch?

In dem oben zitierten Abschnitt bezieht sich Marx auf den Doppelcharakter der Arbeit als Schlüssel zum Verständnis der politischen Ökonomie. Er bezieht sich nicht nur auf abstrakte Arbeit, sondern auf den Doppelcharakter der Arbeit als abstrakte und konkrete Arbeit und dennoch konzentrieren sich die Kommentare, die diesen Punkt ins Zentrum rücken, fast ausschließlich auf abstrakte Arbeit, wobei sie davon ausgehen, dass konkrete Arbeit (konkretes Tun) eine unproblematische Kategorie sei, da sie vollständig der abstrakten Arbeit untergeordnet sei und begrifflich einfach als Produktivität in der Diskussion auftauchen könne. Dieses Verständnis setzt auch voraus, dass die ursprüngliche Akkumulation als in der Vergangenheit abgeschlossene historische Phase aufgefasst werden muss, in der die abstrakte Arbeit als herrschende Form konkreter Arbeit wirksam durchgesetzt wurde, wodurch es begrifflich zu einer Trennung der Konstituierung des Kapitalismus von seiner Existenz kommt. Es setzt ebenfalls voraus, dass Form und Inhalt als identitäres Verhältnis gedacht werden, in dem der Inhalt der Form bis zum Zeitpunkt der Revolution vollständig untergeordnet ist. Dadurch wird eine klare Trennung zwischen der Vergangenheit (in der das konkrete Tun unabhängig von seiner Abstraktion existierte) und der Gegenwart (in der es vollständig seiner Form untergeordnet ist) eingeführt, was wiederum die Analyse des Verhältnisses zwischen konkretem Tun und abstrakter Arbeit in dem homogenen Begriff der Zeit wirksam einschließt, der seinerseits ein Moment abstrakter Arbeit ist. Dies führt uns unweigerlich zu einem Verständnis des Kapitals als eines Herrschaftsverhältnisses (anstatt als eines in Frage stehenden Kampfverhältnisses) und damit zu einem Verständnis der Revolution als etwas notwendig von außerhalb des Kapitalverhältnisses Kommenden (z.B. der Partei).

Ein Verständnis als Herrschaftsverhältnis entspricht jedoch dem Verhältnis zwischen abstrakter Arbeit und konkretem Tun nicht. Abstrakte Arbeit ist vielmehr ein ständiger Kampf um die Einhegung konkreten Tuns, um die Unterwerfung unserer täglichen Aktivität unter die Logik des Kapitals. Konkretes Tun existiert nicht nur in sondern auch gegen und jenseits von abstrakter Arbeit, in konstanter Auflehnung gegen abstrakte Arbeit. Damit soll nicht gesagt sein, dass es ein überhistorisches, konkretes Tun genanntes Wesen gibt, sondern, dass das konkrete Tun in der kapitalistischen Gesellschaft durch seine Untauglichkeit konstituiert wird, durch seine Nicht-Identität mit abstrakter Arbeit, durch seinen Gegensatz zu und sein Überfließen aus abstrakter Arbeit.

Dies bedeutet, dass es keine klare Trennung zwischen der Konstituierung und der Existenz der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse geben kann. Es verhält sich nicht so, dass die kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse zuerst in der Periode der ursprünglichen Akkumulation oder im Übergang vom Feudalismus geschaffen worden sind und anschließend einfach als geschlossene gesellschaftliche Verhältnisse existieren. Wenn das konkrete Tun kontinuierlich gegen abstrakte Arbeit rebelliert und über sie hinaus überfließt, wenn unser Versuch als Menschen zu leben, kontinuierlich mit der Logik kapitalistischen Zusammenhalts zusammenprallt und diesen zerreißt, dann bedeutet das, dass die Existenz kapitalistischer Verhältnisse von ihrer kontinuierlichen Rekonstituierung abhängig ist und deshalb die ursprüngliche Akkumulation nicht bloß eine Episode der Vergangenheit ist. Wenn sich dies so verhält, dann stellt sich die Frage nach der Revolution in radikal anderer Weise. Sie lautet nicht: Wie schaffen wir den Kapitalismus ab? Vielmehr lautet sie: Wie beenden wir die Rekonstituierung des Kapitalismus, wie hören wir auf, den Kapitalismus zu erschaffen? Die Antwort ist klar (aber nicht einfach): indem wir die tägliche Transformation unseres Tuns, unseres konkreten Handelns in abstrakte Arbeit nicht länger zulassen, indem wir eine Aktivität entfalten, die die kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht wieder erschafft, eine Aktivität, die für die Logik gesellschaftlichen Zusammenhalts des Kapitalismus untauglich ist.


6

Dies mag absurd erscheinen, stünde dem nicht die Tatsache gegenüber, dass die Revolte konkreten Tuns gegen die abstrakte Arbeit überall um uns herum vorfindbar ist. Manchmal nimmt sie dramatische Ausmaße an, wenn eine Gruppe wie die Zapatisten sagt: "Nein, wir werden nicht nach der Logik des Kapitals handeln, wir werden das tun, was wir als wichtig erachten, in dem Rhythmus, den wir als angemessen erachten." Aber selbstverständlich muss es kein so großes Ausmaß annehmen: Die Revolte des Tuns gegen abstrakte Arbeit und die Bestimmungen und Rhythmen, die sie uns auferlegt, ist tief in unserm Alltagsleben verankert. Pannekoek sagte mit Bezug auf den Arbeitsplatz, dass "jeder Betrieb und jedes Unternehmen auch außerhalb von Zeiten heftiger Konflikte wie Streiks der Schauplatz eines beständigen stillen Kampfes, eines immerwährenden Ringens von Druck und Gegendrucks [ist]." (2008: 28f.) Aber so verhält es sich nicht nur am Arbeitsplatz - das Leben selbst ist ein ständiger Kampf um die von der abstrakten Arbeit geschaffenen Verbindungen zu durchbrechen, um andere Formen gesellschaftlicher Verhältnisse zu erschaffen: wenn wir uns weigern, zur Arbeit zu gehen, sodass wir dableiben und mit den Kindern spielen können, wenn wir einen derartigen Artikel lesen (oder schreiben oder übersetzen), wenn wir uns entschließen, etwas anderes zu tun, nicht weil es uns Geld einbringt, sondern weil wir Freude daran haben oder es als wichtig erachten. Die ganze Zeit setzen wir Gebrauchswert dem Wert entgegen, konkretes Tun abstrakter Arbeit. Aus diesen Revolten der Alltagsexistenz heraus und nicht ausgehend von den Kämpfen von Aktivisten oder Parteien, müssen wir die Frage nach der Möglichkeit der Beendigung des Kapitalismus und der Erschaffung einer anderen Art von Gesellschaft stellen.


7

Es gibt nicht nur eine dauerhafte Revolte konkreter Arbeit gegen abstrakte Arbeit, sondern es herrscht mittlerweile eine Krise der abstrakten Arbeit. Sie kann nicht als etwas Stabiles verstanden werden, ihre Rhythmen sind von der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit bestimmt. Da abstrakte Arbeit wertproduzierende Arbeit ist und Wertproduktion durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt ist, kommt es ständig zur erneuten Bestimmung abstrakter Arbeit: Sie ist ein ständiger Zwang, sich schneller, schneller, schneller zu bewegen. Sie untergräbt ständig ihre eigene Existenz: Eine Aktivität, die hundert (oder zehn, oder fünf) Jahre zuvor Wert produziert hat, produziert heute nicht länger Wert. Abstraktion wird zu einem zunehmend anspruchsvolleren Prozess, und es wird immer schwerer für die Menschen, mit ihm Schritt zu halten: Immer mehr von uns sind dafür untauglich und immer mehr von uns revoltieren bewusst gegen abstrakte Arbeit. Abstraktion wird zu einem immer stärkeren Druck, aber gleichzeitig wird sie zu einer zunehmend inadäquaten Form der Organisierung menschlicher Aktivität: Abstraktion ist nicht in der Lage, die Aktivitäten eines großen Teils der Menschheit in wirksame Bahnen zu lenken.

Die Dynamik der Abstraktion trifft zunehmend auf einen Widerstand, der den scheinbar einheitlichen Begriff der Arbeit aufspaltet und den Kampf gegen die abstrakte Arbeit ins Zentrum des antikapitalistischen Kampfes stellt. Dieser bringt eine andere Weise des Tuns, eine andere Weise des Lebens zur Geltung; oder besser: Das einfache Geltendmachen einer anderen Weise des Tuns (ich möchte Zeit mit meinen Freunden, mit meinen Kindern verbringen; ich möchte ein guter Lehrer, Zimmermann, Arzt sein und in einem langsameren Tempo arbeiten; ich möchte meinen Garten bestellen) wird in antikapitalistischen Kampf verwandelt. Das Überleben des Kapitals hängt von seiner Fähigkeit ab, abstrakte Arbeit durchzusetzen (und ständig neu zu bestimmen). Das Überleben der Menschheit hängt von unserer Fähigkeit ab, die Ausübung abstrakter Arbeit zu beenden und stattdessen etwas Vernünftiges zu tun. Menschlichkeit ist einfach der Kampf des Tuns gegen die Arbeit.


8

Gerade im Kontext der Krise abstrakter Arbeit erlangt die Diskussion um abstrakte Arbeit Bedeutung. Das heißt, sie ist wichtig, solange wir nicht nur die abstrakte Arbeit ins Zentrum stellen, sondern uns auf den Doppelcharakter der Arbeit, den Antagonismus zwischen Tun und Arbeit konzentrieren. Wenn wir uns nur auf abstrakte Arbeit konzentrieren und das konkrete Tun vergessen, entwickeln wir bloß ein stärker differenziertes Bild kapitalistischer Herrschaft. Unser Problem besteht jedoch nicht darin, zu verstehen, wie der Kapitalismus funktioniert, sondern darin, wie wir aufhören, ihn immer wieder neu zu erschaffen, indem wir das Tun in seinem Kampf gegen die Arbeit stärken.

Nicht die Theorie führt zur Aufspaltung des einheitlichen Begriffs der Arbeit. Die Aufspaltung ist das Ergebnis des Kampfes. Es handelt sich um eine Vielzahl von Kämpfen, große und kleine, die verdeutlicht haben, dass es wenig Sinn ergibt, einfach von der "Arbeit" zu sprechen, sondern dass wir den Begriff "Arbeit" öffnen und sehen müssen, dass er eine ständige Spannung zwischen konkretem Tun (das wir wollen, das wir als notwendig oder freudvoll erachten) und abstrakter Arbeit (wertproduzierende, kapitalproduzierende Arbeit) darstellt. Der Kampf spaltet den Begriff auf, aber theoretische Reflexion nimmt eine wichtige Rolle dabei ein, die Unterscheidung offen zu halten.

Dem kommt umso mehr Bedeutung zu, als der Druck, den Begriff zu schließen, den Antagonismus, den der Begriff verbirgt, zu vergessen, die Vorstellung, dass es eine andere Form der Aktivität als abstrakte Arbeit geben könnte, als albern, romantisch, unverantwortlich abzutun, sehr hoch ist. In der kapitalistischen Gesellschaft hängt der Zugang zu den Mitteln für Produktion und Überleben für gewöhnlich von der Umwandlung unserer Aktivität, unseres Tuns in Arbeit im Dienste des Kapitals, abstrakte Arbeit, ab. Wir erleben gegenwärtig eine Situation, in der das Kapital weltweit nicht in der Lage ist, die Aktivität von Millionen und Abermillionen Menschen (insbesondere junge) anders als nur in sehr prekärer Form in Arbeit zu verwandeln. Sollten wir, angesichts der materiellen Armut, mit der der Ausschluss von der Arbeit meist einhergeht, zum Kapital sagen: "Bitte gebt uns mehr Beschäftigungsmöglichkeiten, bitte verwandelt unser Tun in Arbeit, wir werden glücklich schneller-schneller-schneller arbeiten?" Dies ist die Haltung der Gewerkschaften und vieler linker Parteien. Dies ist folgerichtig, denn es sind Organisationen, die auf abstrakter Arbeit, auf der Unterdrückung des Unterschieds zwischen Arbeit und Tun gegründet sind. Oder sagen wir: "Nein, wir können diesen Weg nicht weiter beschreiten (und wir bitten das Kapital um nichts). Wir wissen, dass die Logik des Schneller-schneller-schneller zu noch größeren Krisen führen und, sofern es so weiter geht, die menschliche Existenz vollkommen zerstören wird. Aus diesem Grund sehen wir die Krise, die Erwerbslosigkeit und die Prekarität als Ansporn zu anderen Formen des Tuns, zur Stärkung des Kampfs des Tuns gegen die Arbeit." Es gibt hierauf keine einfache Antwort und keine saubere Lösung, denn das materielle Überleben der meisten von uns hängt davon ab, dass wir unsere Aktivität bis zu einem gewissen Grad der Logik der Abstraktion unterordnen. Aber es ist von wesentlicher Bedeutung, diese Unterscheidung offen zu halten und weiterführende Wege auszumachen, um die Auflehnung des Tuns gegen die Arbeit zu stärken, den durch das Tun in der Arbeit hervorgerufenen Riss zu erweitern. Dies ist die einzige Art und Weise, wie wir dem System, das uns umbringt, ein Ende bereiten können.


Literatur

Holloway, John (2010): Kapitalismus aufbrechen (aus dem Englischen übersetzt von Marcel Stoetzler).
Marx, Karl (1867/1984): Das Kapital I
Marx, Karl (1867/1987): Marx an Engels, in Manchester, 24.8.1867, in: MEW 31, S. 326-327.
Pannekoek, Anton (2008): Arbeiterräte: Texte zur sozialen Revolution (übersetzt von Egon Günther und Walter Delabar).
Postone, Moishe (2010²): Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx
(aus dem Amerikanischen übersetzt von C. Seidler, W. Kukulies, P. Haarmann, N. Trenkle, M. Dahlmann).

Raute

Das Leben selbst

Wegiges zum Guten. Keine Themenverfehlung. Für T.

von Franz Schandl

Worüber soll ich schreiben, wenn ich doch den Schwerpunkt betreffende Artikel bereits in der Ausgabe 45 ("Vom Schöpfen" und "Das gute Leben") veröffentlicht habe? Das Verlangen, hier noch einen theoretischen Beitrag beizusteuern, ist gering. Die Lust aber, über mich nachzudenken, unvergleichlich größer. Was ist für mich gutes Leben? Nicht nur, was es sein könnte, sondern: Was ist es schon jetzt? Daher die folgende Auflistung. Ohne diese gegenwärtigen Momente ist ja auch jede Perspektive eine lose Angelegenheit, blanker Konjunktiv.


Tarockieren

Mein Rechtschreibprogramm kennt nicht einmal das Wort. Schlägt stattdessen "schockieren", "attackieren", "blockieren" vor. Tarock ist wohl ein Kampfspiel mit verschiedenen Wurzeln. Die meisten Kartenspiele sind in den neuzeitlichen Kriegen entstanden, in den Gefechtspausen der Soldaten, und dementsprechend auch geprägt: Das Stechen, die fixen Wertigkeiten der Karten, Könige, die mehr zählen als Damen oder gar Buben, Neuner, Achter etc. - Tarockieren hat sich zwischenzeitlich veredelt, hat einige Starrheiten und Primitivitäten der auf Schnapsen (66) aufbauenden Kartenspiele abgelegt. (Im süddeutschen Raum könnte man Tarock vielleicht mit Schafkopf vergleichen, wenngleich dieses nicht so elaboriert ist wie jenes.)

Mein Ja zum Tarockieren korrespondiert übrigens mit einem Nein zum Schach - dort gewinnt immer der "Bessere"! Und der Gute, der ich bin, möchte nicht immer der Bessere sein. Zumindest bilde ich mir das so ein. Außerdem: Wenn schon das Hirn belasten, dann für Denken, Schreiben, Handeln. Beim Spielen muss der Kopf sich lüften, darf nicht auch noch brummen.

Freilich sollte man ein Kartenspiel entwerfen, wo sich diese bürgerlich-adeligen Welten noch deutlicher auflösen. Ich versuche mich gerade an einer solchen Variante. Eingefallen ist es mir wie so vieles beim Joggen; und zwar am 13. Juli 2007. Ein Jahr ging das ganz gut, seither jedoch stockt es. Der Anspruch besteht darin, ein Spiel zu konstruieren, das einerseits mit der Tradition verbunden ist und mit obligaten 36 Karten auch gespielt werden kann (wenngleich ich mir ein neues Blatt vorstelle), andererseits aber die alten Hierarchien weitgehend entzaubert sind. Auch die Ansagerei, die ja eine Kampferklärung ist, muss in die absolute Übertreibung gesteigert werden, den letzten Bierernst verlieren, Spielmöglichkeiten und Spielzüge haben sich zu multiplizieren. Ich bin ein verspieltes Kind.

Gerne sehe ich mich auf einer Terrasse sitzen und Karten spielen. Dazu Wein, Bier, Schnaps und dann leicht beschwipst ins Bett fallen. Nicht täglich, aber mindestens wöchentlich. Alkohol mag ich. Sehr? Sehr! Der Geschmack, der Geruch, die Leichtigkeit des Rausches. Jener mundet mir so sehr, dass ich mich extrem davor hüte, Alkoholiker zu werden. Letzteres hieße nämlich, keinen mehr trinken zu dürfen, und das wäre wirklich schade, ein herber Verlust an Lebensqualität. Dafür begebe ich mich sogar jährlich in eine mehrwöchige Totalabstinenz.


Laufen

Gegenden sind zu erlaufen, auch wenn es meist dieselben Gegenden sind. Im Joggen vereinen sich Bewegung und Landschaft in einer selbstgewählten Geschwindigkeit des Läufers. Die Augen laufen mit und auch Ohren und Nase. Bisweilen werde ich langsamer, beginne zu schlendern, gelegentlich bleibe ich stehen oder setze mich ins Gras. Und immer öfter stolpere ich über Schwammerl, die dann ins Sackerl kommen. Alles Gründe, warum es mich wieder stärker aufs Land zieht, vor allem in die Wälder. Der Tag wird besser, wenn ich morgens gelaufen bin. Der Weg durchs Holz wird ja zu Unrecht als Holzweg verspottet. Für mich sind diese Wege Denkwege. Und ich ärgere mich fürchterlich, wenn mir etwas einfällt und dann wieder ausfällt.

Zum Laufen ist in den Jahren noch das Wandern gekommen. Gehen, gehen, gehen, es geht doch. Auch meine Töchter nehme ich (manchmal auch zwangsweise) mit, weil ich mir denke, dass ich kein Recht habe, ihnen den Schneeberg oder die Rax, das Kamptal oder die Blockheide vorzuenthalten. Auch will ich mir in unferner Zukunft nicht vorwerfen lassen, zu wenig mit ihnen unternommen zu haben.


Backen

Backen tue ich für mein Leben gern. Etwa "meinen" Nußguglhupf. Dazu trinke ich am liebsten kühlen österreichischen Weißwein (Chardonnay oder Riesling) oder auch Kaffee mit Schlagobers. Dann ist da noch der Heidelbeerstrudel aus Germteig, wo nach dem Genuss alle Zähne wurzelbehandelt ausschauen und jeder Plombenrand Konturen gewinnt, wie sie kein Röntgenbild liefern könnte. Mein Tiramisu ist auch nicht zu verachten, zumindest die Meinigen tun das nicht. Wenn ich backe, stellt sich eine selige Zufriedenheit ein, die ich nicht missen möchte, ebensowenig die Kinder, die sich (freiwillig) auf die frischen Mehlspeisen stürzen.


Musik

Musik muss immer sein. Und wenn es live nicht geht, dann eben aus der Konserve. Was wäre das Leben ohne Surrogate? Aber echt ist echt besser: Zu Hause, im Konzerthaus oder in der Oper, aber auch in der Arena oder im Flex. Und neben T. im Saal zu sitzen, kann die Freude noch verdoppeln. Kann. Im Nebenzimmer spielt meine Tochter gerade Chopin. Ihr Klavierspiel wärmt mein Herz, ebenso wenn ihre Cello spielende ältere Schwester sich einige Räume weiter an Faurés "Elegie" erprobt. Meine Gitarre habe ich leider schon viele Jahre nicht mehr angerührt.


Dichtung

Nichts kann so peinlich sein wie ein schlechtes Gedicht. Gelungene sind eine Rarität. Lyrik ist die dichteste und zugleich offenste Formgebung der Sprache. Ich probe. Indes nach Ingeborg Bachmanns "Keine Delikatessen" (1963), was soll eins sich da noch trauen? Und ins Dramatische zieht's mich dank Maren Rahmanns Anstoß ("Marie übt Anarchie") auch. Zur Zeit schreibe ich gerade an einem neuen Stück. Es geht voran, auch wenn es dauert. Hin und wieder erlebe ich in und mit den Texten Augenblicke der Erfüllung. Es ist Selbstbefriedung und Weltbeglückung. Ersteres weiß ich, letzteres hoffe ich.


Zeiten

Meine Zeit konnte meinen Vorlieben nie standhalten: ich habe zu wenig geschlafen, zu wenig geträumt, zu wenig geliebt, zu wenig getrunken, zu wenig verkostet, zu wenig gelesen, zu wenig mit meinen Kindern gespielt, zu wenig musiziert, zu wenig Holz gemacht, zu wenig Freundinnen und Freunde getroffen. Alles war zu wenig. Kegel scheiben war ich auch schon lange nicht mehr, oder Billard spielen. Und wann bin ich zuletzt an einem Flipper gestanden? Vor allem bin ich viel zu wenig kindisch gewesen. Mein Potenzial ist weit größer als meine realisierten Wenigkeiten.

Es liegt nicht an mir, sondern an meinen Dispositionen, die gar manches verunmöglichen. Dieses Zuwenig korrespondiert stets mit einem Zuviel an Unliebsamem. Einerseits gibt es natürlich Notwendigkeiten, denen man nicht ausweichen kann, ja darf (z.B. Haushaltstätigkeiten, Erziehungsaufgaben), andererseits hat aber die Welt des Geschäftes tausenderlei an Betriebsamkeiten erfunden, die an sich völlig unnütz sind, denen wir aber andauernd ausgeliefert sind. Die bürgerliche Gesellschaft ist so eine große Zeitraubmaschine. Gutes Leben ist jedenfalls etwas anderes als die Verwertung der Zeit.

Gar vieles, was ich erledigen musste, war von meinen Wünschen her betrachtet, völlig daneben: das Geld verdienen, dem Geld nachlaufen, Steuererklärungen vorbereiten, Behördenbriefe schreiben, marodierende Hausherren bekämpfen, der Großteil der Schulzeit. Ich will gar nicht länger nachdenken, sonst wird mir schlecht. Hier wurden Jahre meines Lebens vergeudet und ich fürchte bei den meisten anderen noch viel mehr. Alleine, dass ich mit Geld verkehren muss, halte ich für eine Zumutung sondergleichen. Da gewinnt man kein Leben, sondern sichert nur Überleben. Doch die nur überleben, sind nicht die Überlebenden, sondern die Überlebten. Vorleichen. Der Kapitalismus ist der Zuchtmeister des ausgehöhlten Lebens, eine Demütigung aller Individuen. Leben aber hat lebendig zu sein und gutes Leben noch lebendiger.


WirklICHkeit

Meine wirkliche Zeit ist das verbleibende Mosaik, das Termine und Fristen übrig lassen. Trotzdem leiste ich mir einigen Luxus: nie Karriere gemacht zu haben, drei bis fünf Kinder zu haben und die verdinglichte Zeit selbst kontrollieren zu dürfen. Befreiend empfinde ich auch, nichts werden zu müssen, mich aufzuhalten jenseits von Berufen, die das falsche Leben einem doch mitunter bieten oder besser: aufdrängen möchte. Ich berufe mich selbst. Nur Leute, die meinen, nichts zu sein, müssen etwas werden. Ich habe viel gesorgt, aber nie vorgesorgt. Wäre ich deswegen in Sorgen, würde ich mir allerdings ernste Sorgen um mich machen.

"Man darf nicht aufhören, sich permanent anzupassen", lese ich im Karriere-Standard über dem Bild einer obligat gestylten Business-Lady. Derlei Botschaften lösen nicht Neid aus, sondern Trauer. Ansteht das Gegenteil, und das in aller Konsequenz. Nicht erst heute, sondern schon gestern und morgen erst recht: Man muss aufhören, sich permanent anzupassen, ganz kategorisch. Diese Anpassung ist Kapitulation, die das Leben durchstreicht, es nur als abhängige Funktion von etwas anderem gelten lässt. "In dem Moment, in dem die Gesellschaft entdeckt, dass sie von der Wirtschaft abhängt, hängt die Wirtschaft tatsächlich von ihr ab. Diese unterirdische Macht, die wuchs, bis sie souverän erschien, hat auch ihre Macht verloren. Wo wirtschaftliches Es war, muss Ich werden." (Guy Debord, Gesellschaft des Spektakels. Aus dem Französischen von Jean-Jacques Raspaud, § 52.)

Scheitern ist nicht das Schlimmste. Noch schlimmer ist es, nicht einmal gescheitert zu sein, sich einer obligaten wie blinden Illusionslosigkeit hinzugeben. Abgeklärt. Verbiedert. Verhärmt. Unlustig. Grantig. All das kann ich schon auch sein, aber all das bin ich dezidiert nicht. Dabei ist es auch hilfreich, oftmals kontrafaktisch optimistisch zu sein. Wer es ohne probiert, landet früher oder später im Zynismus. Zweifellos enthält dieses Begehren eine hochfiktive Komponente. Die gilt es auch als solche zu benennen. Mir erscheint sie unerlässlich.


Lebensphilosophie?

In schlägigen Kreisen der Linken werde ich manchmal der Lebensphilosophie bezichtigt. Da ist was dran. Freilich frage ich mich, worin der Vorwurf denn nun liegen mag, oder gar, was die Alternative dazu ist: Eine Todesphilosophie? Nicht wenige kritische Geister kommen recht oft in deren unmittelbare Nähe und schwärzen sich in Unlust bis zur Ungenießbarkeit. Tatsächlich gibt es in der radikalen Linken ein mächtig-ohnmächtiges religiöses Jenseitsgetue, das eine andere Welt nur anderswo ausmachen will und sich daher ganz der Verkündigung esoterischer Weisheiten verschrieben hat. Doch der Bruch ist mehr als eine Zäsur, er ist eine permanente Herausforderung sowohl des Handelns als auch des Denkens. Es ist nicht so, dass jetzt gar nichts mehr geht und morgen alles...

Selbstverständlich vertreten wir eine Philosophie des Lebens und der Liebe: "Leute, die über Revolution reden, ohne sich ausdrücklich auf das alltägliche Leben zu beziehen, ohne zu verstehen, was an der Liebe subversiv und was positiv im Zurückweisen von Zwängen ist, sind die besten Wächter der alten Welt", plagiiert plagiat#3.


Emanzipation!

Der junge Marx schrieb: "Das Gemeinwesen aber, von welchem der Arbeiter isoliert ist, ist ein Gemeinwesen von ganz andrer Realität und ganz andrem Umfang als das politische Gemeinwesen. Dies Gemeinwesen, von welchem ihn seine eigene Arbeit trennt, ist das Leben selbst, das physische und geistige Leben, die menschliche Sittlichkeit, die menschliche Tätigkeit, der menschliche Genuss, das menschliche Wesen. Das menschliche Wesen ist das wahre Gemeinwesen der Menschen." (MEW 1:408)

Emanzipation besteht darin, das Leben selbst zu gewinnen, es in die Hände zu bekommen. In ihm auch zu Hause sein zu können, es zu gestalten und zu genießen. Und das ist durchaus eine alltägliche Aufgabe, keine jenseitige. Das gute Leben ist nicht dieses, es ist aber auch nicht bloß jenseits von diesem. Es geht um die stete Zurückdrängung der allgemeinen Freudlosigkeit, um die Entfaltung von Lust und Fröhlichkeit. Um Lebendigkeit.

Ich bin gern heiter, doch sich nüchtern in die Heiterkeit zu versetzen, das ist nicht ganz leicht, am leichtesten noch durch die Liebe in ihrer ganzen Varianz. Dazu hätte ich wohl einiges zu sagen, und zu T. ebenfalls, doch traue ich mich nicht. Zumindest hier und jetzt nicht, an dieser Stelle, wo der Artikel auch schon aufhört.

Raute

Gutes Leben mit Ecommony

von Friederike Habermann

Es sind Hunderte. Hunderte Taxis in der Schlange am Berliner Flughafen Tegel. Und Hunderte Menschen, die ihr Leben darin vergeuden, denn es wird ewig dauern, bis die letzten einen Fahrgast ergattert haben, um nach einigen Kilometern sich hier oder woanders wieder anzustellen. Ist das die Effizienz, ist das die Selbstverwirklichung im Kapitalismus?

Wer gerade nicht von Tegel fliegt, kann durch die Straßen bei sich um die Ecke bummeln und auf die sich stets wiederholenden Friseursalons, Apotheken, Drogerien oder Supermärkte achten - mit sich stets ausweitenden Öffnungszeiten selbstverständlich. Wenn im Kapitalismus Zeit als Geld gilt: Warum wird dann die Lebenszeit so vieler der hier Angestellten oder Kleinselbständigen aus dem Fenster geworfen?

Soweit meine Gedanken, wie sie mir in den Kopf kamen im Flugzeug. Nun aber befinde ich mich, zufällig sozusagen, gerade in Kuba und damit außerhalb der kapitalistischen Zone. Und es lässt sich nicht leugnen: Es ist hier sicherlich nicht besser bestellt, nicht mit Effizienz im Allgemeinen, aber auch nicht hinsichtlich der Verschwendung von Lebenszeit beim sogenannten Arbeiten, oder mit anderen Worten, beim Sich-die-Beine-in-den-Bauch-Stehen in Museen, Cafés, öffentlichen Aufzügen oder den Abgabestellen von Brot, Reis, Kaffee etc. gegen Lebensmittelkarten.

Der kubanische Staat zieht derzeit Konsequenzen: Er entlässt eine halbe Million öffentlich Angestellter, um, wie es im Neoliberalismus heißen würde, sich zu verschlanken. Dafür werden seit kurzem private Geschäfte erlaubt, vor allem die Anstellung von Beschäftigten dafür ist ein Novum im hiesigen Sozialismus. Und es drängt sich die Frage auf, wie viel von diesem übrigbleiben wird. Und von dem entspannten, freundlichen Umgang der Menschen hier, die ohne Konkurrenz miteinander leben.

Allerdings nicht besonders selbstbestimmt. Wie sähe das Nationalmuseum aus, wenn die Frau im Lift und all jene Männer und Frauen, welche die Kunstwerke bewachen, Teil einer Kooperative (und damit eines basisdemokratischen Prozesses) wären, in der sie sich gegenseitig das Mitnehmen von Büchern erlauben oder ihre Arbeit für überflüssig erklären oder durch Technik ersetzen würden?

Doch ist auch die Bildung von Kooperativen langfristig keine Lösung: Immer noch Teil eines konkurrenten, kapitalistischen Weltsystems, können sich die Menschen dessen Strukturen nicht entziehen. Franz Oppenheimer formulierte schon 1896 als Ergebnis einer Studie: "Nur äußerst selten gelangt eine Produktionsgenossenschaft zur Blüte. Wo sie aber zur Blüte gelangt, hört sie auf, eine Produktionsgenossenschaft zu sein." (1896: 45)

Was aber kann es geben statt einem mehr oder weniger neoliberalen bzw. sozial abgefederten, gar von Kooperativen durchsetzten Kapitalismus auf der einen Seite und dem sogenannten Realsozialismus auf der anderen? Dass es keine Alternative gäbe, die ein gutes Leben garantiere, hat nicht nur die neoliberale Ikone Margaret Thatcher behauptet, sondern dieser Glaube sitzt tief verankert im allgemeinen Alltagsverstand.


Alternativen leben

Mögliche Koordinaten eines anderen Wirtschaftens können nicht ausgereift sein, denn eine andere Welt kann nicht am Schreibtisch erfunden werden. Der Weg muss erst erschaffen werden, indem wir "fragend voranschreiten", wie es die indigene Bewegung der Zapatistas in Mexiko betont: Wir sind durch Jahrhunderte des Kapitalismus (Sexismus, Rassismus und anderen unschönen "ismussen") geformt und brauchen neue Erfahrungen für neue Erkenntnisse. Darum liegt die Utopie immer am Horizont, wie Eduardo Galeano es ausdrückt: Gehen wir vorwärts, so geht auch sie vor uns her und zeigt uns, was wir vorher uns gar nicht vorstellen konnten. Neue Denk- und Handlungshorizonte entstehen nur im Zusammenspiel von verändertem materiell-ökonomischem Alltag und sich verändernden Identitäten, denn eine Veränderung von Strukturen und von Menschen bedingen und ermöglichen sich erst gegenseitig. Die Welt formt uns, und wir formen die Welt.

Statt einem Dogma werden gelebte Erfahrungen wichtig. Auch jene, die heute von vielen als problematisch angesehen werden - denn nur so werden Sackgassen erkennbar. So z.B. die Landkommunen der 1970er Jahre, deren Versuch, in Abgrenzung zur Gesellschaft das "Richtige im Falschen" zu leben, sich gerade aus feministischer Sicht (auch in meiner eigenen Erfahrung) manchmal als Problem erwies, wenn sie sich auch von den gleichzeitigen Errungenschaften der Frauenbewegung isolierten. Oder in den 1980er Jahren die Gründung von kollektiven Betrieben, welche damit vielfach das "Oppenheimer Gesetz" wiederholten.

In den 1990er Jahren boomten die Tauschringe. Sie beruhen darauf, dass Arbeit getauscht wird, und dies in eigens erfundenen Währungen - seien es Kreuzer, Taler oder Äppel. Auf diese Weise kann es keine Akkumulation von Kapital und keine Zinsen geben, doch persönliche Eigenschaften sind immer noch nur das wert, was aus ihnen an Wert herausgeschlagen werden kann. Wer gerne Holz hackt, aber hierin unterdurchschnittlich produktiv ist, wird dafür nicht "eingestellt". Eine weitere Erfahrung ist, dass Tauschringe zur Monetarisierung nachbarschaftlicher Austauschbeziehungen führen können: der Setzling, der sonst ohne Überlegen weitergereicht, die CD, die ausgeliehen wurde, oder zu gestatten, den Computer zu nutzen - all dies kann plötzlich in der lokalen Tauschwährung Geld kosten. Der Nachbarin wird nicht geholfen (denn Verkaufsangebote sind keine Hilfe): obwohl der Setzling sonst auf den Kompost käme oder CD und Computer nicht verschwinden, wenn sie zwischendurch genutzt werden. Ressourcen bleiben also brach liegen.


Ecommony

Dies ist einer der zentralen Ansatzpunkte neuer Projekte: Ressourcen so offen wie möglich allen zur Verfügung zu stellen - eine Art "open source"-Einstellung, ein "Alles für Alle".

Solidarisches Wirtschaften bedeutet nicht, komplett "auszusteigen". Menschen, die ihr eigenes alltägliches Leben als potentiell revolutionär begreifen, loten den eigenen Alltag nach Möglichkeiten von "dissidenten Praktiken" (Carola Möller) aus. In diesem Sinne ergaben sich in meinem Buch "Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften" (2009) über Ansätze alternativen Wirtschaftens im deutschsprachigen Gebiet sämtliche Bereiche der Ökonomie: Nahrungsmittel, Gebrauchsgegenstände, Dienstleistungen, Wohnen, Bildung, Gesundheit, Mobilität etc. Über das Buch hinaus lassen sich bei den jüngeren Ansätzen ganz ähnliche Charakteristika feststellen, z.B. bei der "commons-based peer production", wie sie von Yochai Benkler für die Entstehung freier Software definiert wurde. Da diese Ansätze aber alle Lebensbereiche zu umfassen imstande sind, möchte ich von "Ecommony" sprechen. Deren Prinzipien stellen kein geschlossenes Modell oder einen Plan dar, dem es nachzufolgen gilt, doch stellen sie derzeit offensichtlich Koordinaten für eine politische Praxis dar. Sie lauten:

• Besitz statt Eigentum
Wichtigstes Prinzip bei den Commons ist, Besitz und Eigentum zu unterscheiden. Etwas wird besessen, solange es aktiv benutzt wird. Eigentum aber kann verkauft werden. Die Unterscheidung findet sich auch im Bürgerlichen Gesetzbuch: Der Vermieterin gehört (eigentlich "eignet") die Wohnung, der Mieter besitzt sie. "Kann einem Mensch seine eigene Mutter gehören?" fragten in einer Erklärung zu einem Abkommen der WTO indigene Gemeinschaften mit Bezug zur "Pachamama", der "Mutter Erde", rhetorisch. Ein Offener Platz, wie in den "Halbinseln" der Kiefernhain, der ohne Zugangsbeschränkungen für jede und jeden offen ist, versucht umzusetzen, dass nicht das Eigentums-, sondern lediglich das Besitzverhältnis zählt.

Jenseits des Wohnens findet sich dies auch im gesellschaftlichen Alltag. Parks oder Marktplätze entsprechen dem Commonsgedanken - noch meistens, doch immer häufiger muss für den Eintritt in einen Park bezahlt werden. Mit Commons gesehen bricht es einer das Herz, wenn am Eingang ein altes Pärchen die Wächter bittet, einige Schritte hineingehen zu dürfen, um wenigstens Fotos zu machen.

Reine öffentliche, also nicht-rivale Güter, wie die hierfür vielzitierten Deiche und Leuchttürme, aber auch Radio- und Fernsehsender oder natürlich Software sind eigentlich Commons par excellence. Aber auch die sogenannten unreinen öffentlichen Güter, bei denen zwar niemand ausgeschlossen ist, jedoch eine "Rivalität im Konsum" besteht sind hierfür geeignet: Straßen und Wege, Wasserver- und Entsorgung oder allgemein jede Art öffentlicher Verkehrsmittel und Infrastruktur. Während all diese Güter im gegenwärtigen System teilweise unentgeltlich, teilweise nur gegen Gebühren erhältlich sind, wären sie als Commons grundsätzlich für alle nutzbar.

"Besitz statt Eigentum" kann sich aber auch auf Gegenstände beziehen, beispielsweise Bücher. Wer hat sich nicht schon einmal ein Buch von einer Freundin geliehen oder umgekehrt eines an einen Freund verborgt? (Und warum ist dies, im Gegensatz zur weitergegebenen Software, eigentlich nicht verboten?) In den meisten Projekten, sogar schon in einigen Wohngemeinschaften, finden sich kleine Bibliotheken. Doch nicht nur dort: Öffentliche Bücherschränke, mal aus Holz, mal in Form zweckentfremdeter Telefonzellen oder Verteilerkästen, aus denen genommen und in die auch Bücher gestellt werden können, existieren inzwischen in vielen deutschen und österreichischen Städten.

Das Gleiche gilt für Werkzeuge, wenn diese natürlich auch eher in einem überschaubareren Rahmen genutzt werden, da sie anders als ein Buch nicht irgendwann für die jeweilige Nutzerin "ausgebraucht" sind. In sicher den allermeisten Projekten werden Werkzeuge gemeinschaftlich genutzt. Darüber hinaus finden sich auch Offene, also für alle nutzbare, Werkstätten, sei es zur Holz- oder Metallbearbeitung, zum Fahrrad-Bauen und -Reparieren oder zum Nähen.

Auch Nutzungsgemeinschaften tauschen in diesem Sinne unentgeltlich und ohne direkte Tauschlogik aus. "NutziGems" basieren auf dem Prinzip, dass nicht alle alles besitzen müssen, nur um es ab und zu gebrauchen zu können. Dies können Gegenstände sein oder auch Fertigkeiten und Wissen - kurz: Ressourcen.

Aber auch die über vierzig Umsonstläden in Deutschland und Österreich können, obwohl auch manchmal Schenkläden genannt, gerade nicht als Orte des Schenkens verstanden werden, wo Dinge von Privateigentum in Privateigentum übergehen, sondern als Orte, wohin Dinge gebracht werden, die aus dem eigenen Besitz gefallen sind, da sie nicht mehr benutzt werden. Auf diesem Gedanken aufbauend bestehen auch Überlegungen innerhalb des Arbeitskreises Lokale Ökonomie, der hinter dem Hamburger Umsonstladen steht, Regale als "freie Hardware" zu bauen, die als Dauerleihgaben vergeben werden.

Aber nicht erst für die fertigen Produkte, sondern auch für Produktionsmittel soll das Prinzip "Besitz statt Eigentum" gelten. Alles andere macht in einem System ohne Geld auch gar keinen Sinn.

Kann sich der Commons-Gedanke aber auch auf das rivalste Gut überhaupt beziehen, das Essen? Ja, wenn das Prinzip weitergedacht wird: Wenn Essen allen zur Verfügung gestellt wird, bis alle satt sind, ohne dass jemand für sich private Vorräte anhäuft, kann immer noch vom Commonsprinzip gesprochen werden.

Das hat natürlich Grenzen, trotz der Tatsachen, dass zum einen heute mehr als das Doppelte der Weltbevölkerung ernährt werden könnte und dass zum anderen das Phänomen Hunger als konstante Erscheinung wesentlich mit der Existenz des Kapitalismus verbunden ist. Und damit sind wir beim nächsten Prinzip.

• Teile, was du kannst
Gerade machst Du Dich mit Deinem/r Partner_in zu einem romantischen Restaurantbesuch fertig, da klopft es an der Wohnungstür: "Ich ziehe hier ein", verkündet der unangemeldete Besucher, "mir gefällt die Lage so gut. Ach, und den geilen Pullover, den du anhast, hätte morgen gerne ich. Wasch ihn später doch bitte kurz durch und leg ihn mir hin. Und wer ist das da?"

Keine Angst - dies ist keine Commons-Vision. Denn Pullover und Wohnung sind in Deinem Besitz, und bleiben Dir unbenommen, solange Du sie in Gebrauch hast - und daran ändert sich auch nichts, wenn die Wohnung verlassen wird oder der Pullover die meiste Zeit im Schrank liegt. Ob der/die Partner_in ebenfalls bei dir bleibt, kann aber natürlich nur diese/r selbst entscheiden.

Wenn ich aber bei einer Diskussion über Anders Wirtschaften höre, es sei ja sowieso nicht möglich, dass die meisten Wünsche der Menschen erfüllt würden, denn es gäbe nun mal nur sehr begrenzt Häuser direkt am See, dann frage ich mich schon, was gemeint ist: Wollen wirklich alle Menschen irgendwo am See wohnen, oder geht es vorwiegend um das Feriendomizil? Wahrscheinlich doch eher letzteres. (Mal abgesehen davon, dass einige sowieso lieber in die Berge, die nächsten ins Warme und wieder die nächsten das Nächste wollen.) In diesem Fall aber wird das Haus vermutlich maximal jeweils einige Wochen im Jahr benötigt - und es ließe sich wunderbar leicht nach dem Commons-Prinzip aufteilen. Aber wie jede andere persönliche Entscheidung wird auch diese kulturell geprägt und damit wird verschieden sein, was als akzeptabel gilt, und dies wird wiederum stark von den vorhandenen Ressourcen abhängen - gibt es genug Platz für alle, sodass alle ein Haus haben können oder nur eine Wohnung oder vielleicht nur ein Zimmer?

In der freien Softwareproduktion findet sich das Prinzip Share what you can als "Teile, was Du hast und nicht brauchst" aufgeteilt in vier Formen:

• parallele Nutzung (zum Beispiel eines Internetzuganges);
• serielle Nutzung, also nacheinander (in diesem Sprachgebrauch wären die Regale des AK Lök "Perma-Floater");
• gemeinschaftlich organisierte Sammlungen (z.B. Wikipedia oder Bücher);
• Orte der offenen Produktion (entweder im Netz, wie gemeinschaftliches Designen oder in offenen Produktionsstätten, egal ob mit Fabbern ausgerüstet oder mit Hobelbank).

"Teile, was Du kannst", hat aber neben dieser noch zwei weitere Bedeutungen: "Teile, was Du weißt" sowie "Teile, was Du tust oder tun möchtest". Neben Dingen sind also auch Fähigkeiten und Tätigkeiten gemeint. Das Teilen von Fähigkeiten ("skill-sharing") beziehungsweise von Wissen hat ja die schöne Eigenschaft, sich dadurch zu vermehren. Und wer sich durch Bildung nicht im Konkurrenzkampf behaupten muss, kann genießen, mit anderen zusammen, welche dieselben Fähigkeiten besitzen, die eigenen noch besser nutzen zu können. Das Teilen von Tätigkeiten aber geht wiederum über in das nächste Prinzip.

• Beitragen statt Tauschen
Statt die eigenen Fähigkeiten in Quantitäten ummünzen zu müssen, wie dies in einem Tauschring immer noch der Fall ist, wird aus einem Bedürfnis heraus aktiv gehandelt. Natürlich fallen auch Sorgetätigkeiten hierunter, denn die Unterscheidung zwischen produktiven und reproduktiven Tätigkeiten (ebenso wie die Abgrenzung zu Dienstleistungen) wird obsolet. Und damit einer alten feministischen Forderung gerecht.

Im Kapitalismus werden solche Tätigkeiten als "Arbeit" vollbracht. Überwindung der Entfremdung und damit von "Arbeit" kann nur erreicht werden "durch die Organisation des sinnvollen Einsatzes von gemeinsamen Möglichkeiten, die durch keine 'unsichtbare Hand' automatisch gesteuert werden, sondern durch bewusstes gesellschaftliches Handeln" (krisis 1999).

Bevor weiter auf die gesellschaftliche Organisation mit Hilfe dieses Prinzips eingegangen wird, schnell noch die letzten, in die wiederum nahtlos übergegangen wird.

• Freiwilligkeit / Freie Kooperation / Offenheit
Freiwilligkeit ist das, was das Beitragen vom Tauschen unterscheidet. Freie Kooperation beinhaltet "forks" - die Trennung der Projekte mit möglichst geringen "Kosten" für beide Seiten, statt des Zwanges, sich auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zusammenstreiten zu müssen. Und es bedeutet wiederum die Offenheit, bei der gilt: Alles für alle.


Ecommony und Peerökonomie

"Beitragen statt Tauschen": So heißt auch das Buch von Christian Siefkes über seinen Ansatz der "Peerökonomie", womit er die Prinzipien der freien Softwareproduktion auf die materielle Produktion einer Gesellschaft überträgt. Konkret stellt er Möglichkeiten dar, wie durch die Anmeldung von Bedarf Bedürfnisse erkannt und durch das Ableisten "gewichteter Arbeitsstunden" erfüllt werden. Durch ein Aufgabenversteigerungssystem wird die Popularität einer Aufgabe gewichtet: Wenn sich mehr Freiwillige melden als nötig, wird das Arbeitsgewicht gesenkt, wenn es nicht genug Freiwillige gibt, wird es erhöht. Zwar entspricht dies letztlich wieder einer Tauschlogik, doch kann darin eine Möglichkeit für Skeptiker_innen gesehen werden, die oben genannten Prinzipien zu bejahen, ohne in Angst davor, dass es keine Verpflichtung zur Arbeit mehr gäbe, sie gleich ganz zu negieren. Peerökonomie wäre in diesem Sinne quasi der Sozialismus vor der kommunistischen Ecommony.

Für Skeptiker_innen sei hier also nicht verraten, dass auch Siefkes die damit verbundene Tauschlogik inzwischen für unnötig hält (vgl. Siefkes 2010). "Wie aber kann eine komplexe Gesellschaft entlang des Prinzips des bedingungslosen Gebens funktionieren?", fragt Veronika Bennholdt-Thomsen und antwortet selbst: "Sicher ist, dass Gesellschaft jahrtausendelang nach diesem Prinzip funktioniert hat." (2010: 50) Bereits in der Struktur des Tausches stecke im Keim die Angst vor der Knappheit, die schließlich zum Ausgangspunkt der modernen Ökonomie geworden ist. Der Tausch werde stets von der Beunruhigung begleitet: "Bekomme ich auch genug zurück?". Gesellschaften hingegen, deren materielle Kommunikation dem Prinzip des Gebens folge, gingen von der Fülle aus. Die Gaben stünden allen gleichermaßen zur Verfügung. Die Gesellschaftsmitglieder machten davon gemäß den vielfältigen unterschiedlichen Bedürfnissen Gebrauch. Es brauche kein abstraktes, gemeines Maß; die Gleichheit müsse nicht erst (wieder) hergestellt werden.

Ohne in einem Widerspruch zu stehen, ist Ecommony nicht mit Christian Siefkes Entwurf der Peerökonomie gleichzusetzen. Während sich seine Beschreibungen auf das Durchspielen bestimmter Aushandlungsprozesse in einer utopischen Gesellschaft konzentriert, geht es bei der Ecommony darum, sich ihre Prinzipien bewusst zu machen und sie im Hier und Jetzt mitzudenken. Die Welt durch diese Prinzipien der Ecommony zu sehen, eröffnet neue Verhaltensweisen, im Alltag ebenso wie in der politischen Gestaltung gesamtgesellschaftlicher Ressourcenverteilung und Produktionsweise. Und es entlarvt so manches uns Alltägliche als absurdes, unnötiges Leiden - sei es im Kapitalismus oder in den existierenden Formen von Sozialismus.


Literatur

Bennholt-Thomsen, Veronika (2010): Geld oder Leben: Was uns wirklich reich macht.
Habermann, Friederike (2009): Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag.
Gruppe krisis (1999): Manifest gegen die Arbeit, http://www.krisis.org/1999/manifest-gegen-die-arbeit (20.12.2010).
Oppenheimer, Franz (1896): Die Siedlungsgenossenschaft. Versuch einer positiven Überwindung des Kapitalismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage.
Siefkes, Christian (2008): Beitragen statt tauschen: Materielle Produktion nach dem Modell Freier Software sowie (2010):
http://www.keimform.de/2010/selbstorganisierte-fuelle.

Raute

Was hindert uns

von Petra Ziegler

Auf die Produktion von Schrott versteht sich die Marktwirtschaft. Ganze Branchen hängen am beschleunigten Verkürzen der Produktzyklen. Da mag die zivilisierte Welt in einem Meer aus Müll baden gehen. Der Strudel aus Kunststoff-Pellets im Nordostpazifik kann zur Illustration ebenso dienen wie die Berge ausgesonderter Computer, Fernseher und Mobiltelefone in Nigeria, Ghana oder Pakistan oder irgendwo sonst, wo nur genug arm genug sind, gezwungen, in den vor sich hin modernden Abfällen der modernen Wegwerfgesellschaft nach einem Stück elender Existenzgrundlage zu wühlen. Dem mitfühlenden Gemüt tut es angesichts der hässlichen Kehrseite der schönen, bunten Warenwelt in der Seele weh; das neue iPad, brauch ich nicht...

Es geht im globalen wirtschaftlichen Getriebe bekanntlich darum, aus Geld mehr Geld zu machen, in anderen Worten: um die "Verwertung des Werts". Am Erfolg dieses Unterfangens hängt nicht nur die ökonomische Überlebensfähigkeit der Einzelkapitalien. Jedes noch so "alternative Budget" will abschöpfen und umverteilen, was zuvor an Mehr-/Wertmenge produziert wurde, es pocht auf die "Finanzierbarkeit" gesellschaftlicher Reproduktion. Reichtum in Geld- und Warenform, augenscheinlich in Masse vorhanden, beliebig eintauschbar zwecks Befriedigung individueller Bedürfnisse, materieller wie immaterieller Art. Die spezifisch kapitalistische Form verstanden als Reichtum schlechthin.

Die Empörung gilt den als zunehmend ungerecht und dysfunktional wahrgenommenen distributiven Ergebnissen einer Profit- und Geldlogik, die "nie genug bekommen kann", die "Reichtum" anhäuft, nur um den Verwertungsdruck noch weiter zu steigern. Der Abgrund zwischen dem, was ist, und dem, was längst sein könnte, tut sich immer weiter auf.

Was hindert uns, unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten, alle Kreativität und die Anstrengungen individueller wie kollektiver Intelligenz, für das gute Leben nutzbar zu machen?

Die für die Marxsche Analyse der kapitalistischen Produktionsweise wesentliche Unterscheidung zwischen stofflichem Reichtum und abstraktem Wert (der in Geld seinen Ausdruck findet) spielt in den "kapitalismuskritischen" Betrachtungen des linken Mainstream so gut wie keine Rolle. Die Ware, ob nun als Einzelding oder allgemeine Form des Reichtums im Kapitalismus, zeigt nicht nur vom unterschiedlichen Stand der Betrachtung ihr doppeltes Gesicht (Gebrauchswert und Wert), ihre beiden Charaktere stehen in vielfacher Wechselwirkung, doch gerade nicht im Sinne fröhlicher Koexistenz. Die Mesalliance von Arbeitszeit und Wert bildet die Basis einer höchst eigenwilligen Dynamik.

Mit steigender Produktivität der Arbeit treten stofflicher und wertförmiger Reichtum zunehmend auseinander. Verringert sich der (gesellschaftlich notwendige) Arbeitsaufwand, bleibt das nicht ohne Folgen für die pro stofflicher Einheit "produzierte" Wertmasse. "Alle Mittel, die die Produktivität steigen lassen, etwa angewandte Wissenschaft und Technologie - erhöhen nicht die pro Zeiteinheit erzielte Wertmenge, wohl aber vermehren sie erheblich die Menge des produzierten stofflichen Reichtums. Der zentrale Widerspruch des Kapitalismus hat seinen Grund darin, dass der Wert unabhängig von den Entwicklungen der Produktivität die bestimmende Form des Reichtums und der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus bleibt, er aber in Bezug auf das den stofflichen Reichtum produzierende Potential der Produktivkräfte, das er hervorbringt, zunehmend anachronistisch wird." (Postone 2003, 302, Herv. i. O.) Der Wert der Waren steht also in umgekehrtem Verhältnis zur Arbeitsproduktivität. Mit Marx: "Derselbe Wechsel der Produktivkraft, der die Fruchtbarkeit der Arbeit und daher die Masse der von ihr gelieferten Gebrauchswerte vermehrt, vermindert also die Wertgröße dieser vermehrten Gesamtmasse, wenn er die Summe der zu ihrer Produktion notwendigen Arbeitszeit abkürzt. Ebenso umgekehrt." (MEW 23, 61)

Versetzt der Einsatz arbeits- und zeitsparender Technik das einzelne Unternehmen durchaus in die Lage, sein Stück am (gesamtgesellschaftlichen) Mehr-/Wertkuchen zu vergrößern, ergibt sich für die Gesellschaft insgesamt ein differenzierteres Bild. Entsprechend gestiegene Absatzzahlen vorausgesetzt, kann der innovative Betrieb den stofflichen Output im Zeitraum x um, sagen wir, 15 Prozent steigern, damit vergrößert er vorübergehend die im selben Zeitraum "geschaffene" Wertmenge. Hat sich das neue Produktivitätsniveau konkurrenzbedingt erst einmal durchgesetzt, schwindet dieser Zugewinn. Die pro Zeiteinheit erzielte Wertmenge kehrt auf ihr Ausgangsniveau zurück, das Rennen um einen neuerlichen Vorsprung gegenüber den "Mitbewerbern" beginnt auf erhöhter Basis von vorne.

So bestimmt die Steigerung der Produktivität die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit neu - und damit das Wertmaß. Andererseits drückt sich der Produktivitätszuwachs "in der proportionalen Wertabnahme jeder produzierten Einzelware aus" (vgl. Postone 2003, 432 ff.). Je weniger Arbeitszeit auf die Fertigung einer einzelnen Ware aufgewendet wird, desto weniger Wert "steckt" im einzelnen Produkt. Schon um die potentielle Umverteilungsmasse nicht schrumpfen zu lassen, müssen Output und (Ressourcen-)Verbrauch permanent erhöht werden. "Wesentlich für die Dynamik des vollständig konstituierten Kapitalismus ist der Tretmühleneffekt, der allein in der zeitlichen Dimension der Wertform des Reichtums begründet liegt." (ebd., 438)

Was folgt, sind nicht kreativer Müßiggang, weitgehend befreit von der Sorge um die materielle Existenz, sondern tendenziell immer noch mehr Maloche, Raubbau am Planeten und üble Emissionen.

Der Zuwachs an "disposable time" (Marx) könnte längst zum Potential werden, die Produktion gemäß sinnlich-stofflicher Kriterien umzugestalten und das gute Leben in Angriff zu nehmen. Als Quelle "wirklichen" Reichtums wird menschliche Arbeit mit fortschreitender Automatisierung überflüssig, allein die Wertverwerterei kommt ohne sie nicht aus. Ihr struktureller Zwang, ihre blinde Dynamik entzieht sich jeder "besseren Einsicht". Es ist höchste Zeit, den Wert zu entsorgen.


Literatur

Marx, Karl (MEW 23): Das Kapital. Erster Band, Berlin 1985.
Postone, Moishe: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg 2003.

Raute

Neue Werte im Sonderangebot.

Die Gemeinwohlökonomie Christian Felbers

von Andreas Exner

Manche wollen den Aufstand kommen sehen. Nota bene: er wäre zu begrüßen. Andere sorgen sich lieber um den geordneten Übergang in eine wirklich soziale Marktwirtschaft.

Christian Felbers neuestes Buch trägt den Titel "Gemeinwohlökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft" (Deuticke, 2010). Damit knüpft Felber an frühere Publikationen an. Neu ist der Entwurf einer alternativen Gesellschaft, der so genannten Gemeinwohlökonomie, den er darin entwickelt. Dieses Konzept ist im Rahmen der Gruppe "Attac UnternehmerInnen" entstanden, die, so sagt deren Website, Netzwerke aufbaut, "die es Unternehmen ermöglichen, solide wirtschaftliche Strukturen jenseits von Konkurrenz und Profitmaximierung zu schaffen. Es sollen gemeinsam Kodices erarbeitet und gesetzliche Rahmenbedingungen gefordert werden, die es Unternehmen gestatten ihrem eigentlichen Auftrag nachzukommen, nämlich einen positiven Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten". So will sich auch Felbers Gemeinwohlökonomie durch zwei Eigenschaften auszeichnen: Kooperation ersetzt die Konkurrenz; das Prinzip der Profitmaximierung ist überwunden.

Zweifellos ist die Frage der gesellschaftlichen Alternativen keine, die man der Zukunft zu überlassen hat oder einer vom Himmel fallenden Revolution. Die Erfahrung freilich zeigt, dass so genannte Alternativen nicht selten bloß eine Verlängerung der jeweiligen sozialen Wirklichkeit, der idealisierte Abklatsch einer schlechten Realität oder ein selbstverliebtes Wunschbild sind, das auf dem Selbstverständnis einer Klasse und ihrer Intellektuellen aufbaut. Und sie zeigt, dass neue Vorstellungen des Zusammenlebens ein wichtiger Bestandteil sozialer Veränderungen vor allem in der Geschichte der gesellschaftlichen Brutalitäten im Namen von Fortschritt, Ordnung und Harmonie gewesen sind. James Scott hat in "Seeing like a state" eine Reihe von Beispielen dafür gegeben: von der geplanten Stadt bis zur sowjetischen Landwirtschaft.

Vorsicht ist also am Platz. Freilich: Nicht eine Grundsatzkritik "utopischen Denkens" ist hier nötig, das wäre nur eine eitle Gedankenübung für jene, die es nicht gar so eilig haben, die herrschenden Zustände abzuschaffen und es sich also auch ersparen können, über andere Lebensverhältnisse und, wie man dahin gelangt, nachzudenken. Es interessiert vielmehr, ob das Konzept der Gemeinwohlökonomie als eine Alternative taugt und ob es die richtigen Ausgangspunkte benennt. Ergeben seine Argumente ein stimmiges Bild? Löst es seine eigenen Ansprüche ein? Passen alternative Handlungsmuster mit gesellschaftlichen Strukturen zusammen? Welche sozialen Beziehungen will es fördern, wo und wie entstehen diese?


Damit der Mensch auch in die Wirtschaft passe...

Die Marktwirtschaft in Felbers Konzeption hat folgende Eigenschaften: Es gibt kein Streben nach maximalem Profit und keinen Wachstumszwang; die Konkurrenz ist von der Kooperation abgelöst; Krisen werden durch eine freiwillige Koordination der Unternehmen verhindert. Dies will er mit einem gesetzlich verankerten "Anreizsystem" erreichen, das den "humanen Grundwerten" der Vertrauensbildung, Kooperation, Solidarität und des Teilens zur Durchsetzung verhilft und die "falschen Leitsterne" Gewinnstreben und Konkurrenz zurückdrängt (S.24).

"'Das Sein bestimmt das Bewusstsein', wusste schon Karl Marx", meint Christian Felber auf Seite 112. Tatsächlich bilden die Strukturen der alltäglichen Handlungen, die Routinen des Marktes und der Unterwerfung im Betrieb eine Einheit mit den Strukturen des in der Gesellschaft herrschenden Denkens und Charakters. Sie stützen sich wechselseitig und formieren einander. Felber erkennt das an, wenn er darauf hinweist, dass sich Freundschaften und das, was gemeinhin "eine gute Beziehung" heißt, durch eine Verhaltens- und Denkweise auszeichnen, die einer dem Markt entgegengesetzten Ethik entsprechen (S.10). Während eine Freundschaft Teilen, wechselseitige Hilfe und Verständnis bedeutet, ist die am Markt übliche Beziehung eine des wechselseitigen Ausschlusses, der Überlebenskonkurrenz und Verantwortungslosigkeit.

Verwundern muss deshalb, dass er Werte zugleich und im Widerspruch dazu als "Fundament des Zusammenlebens bezeichnet" (S.10). Würde Felber tatsächlich das wissen, was Marx wusste, so wäre es gerade umgekehrt. Man muss jedoch nicht die einseitige Sicht teilen, wonach die Lebensumstände eines Menschen das Denken formen. Es genügt, was richtiger ist, zu sehen, dass so genannte ethische Werte keinen Vorrang gegenüber den Lebensumständen, den menschlichen Beziehungen haben. Sie sind Ausdruck dieser Beziehungen, nicht ihr Fundament.

Wenn dem so ist, kann der Ansatzpunkt zur gesellschaftlichen Befreiung - einmal abgesehen von der Frage, ob die Gemeinwohlökonomie überhaupt dazu taugt - jedoch nicht in den "Werten" liegen, sondern nur in einer gemeinsamen Veränderung der Beziehungen und der Art, wie man diese denkt und darüber spricht. Eilt ein Moment dem anderen zu weit voraus, so zerreißt dieses Verhältnis und ein hoffnungsvolles soziales Experiment in Kooperation versandet unbemerkt, oder eine neue Idee sozialer Beziehung verliert sich in der Spekulation.

Die "ethischen Werte" können daher nicht dazu dienen, die Marktwirtschaft, wie sie existiert, aus den Angeln zu heben oder ihr eine menschenwürdige Form zu geben. Felber müsste eigentlich auffallen, dass es kein Zufall sein kann, dass die von ihm gut geheißenen Werte der Vertrauensbildung, der Kooperation und des Teilens gerade keinen Marktbeziehungen entsprechen. Das Sein bestimmt zwar nicht das Bewusstsein, aber es entspricht ihm. Die "neuen Werte" des Christian Felber sind die "Werte" einer bestimmten Art von Beziehung, und diese ist genau keine Marktbeziehung, sondern eine der Freundschaft, der Familie, der Zuneigung. Bei unserem Autor soll - wie bei allen Liberalen - jedoch das Unmögliche partout möglich werden und der Markt "human".

Dieses formelhafte und zugleich falsche Denken verführt Felber offenbar dazu, den Menschen wie einen Behälter von "ethischen Werten", der simplen "Anreizen" folgt, zu sehen. Ein Bild, das dem Pawlowschen Hund, der auf Glockengeläut mit Speichelfluss zu antworten lernte, ähnelt - und mit ihm dem von kapitalistischen Werbetechniken bearbeiteten Warenmenschen.

Daher die Betonung der Erziehung und Schule, die in der Felberschen Sicht die Menschen formen soll, damit sie in die von ihm konzipierte Gemeinwohlökonomie passen (S.87ff.). Seltsam mutet eine "freie Gesellschaft" an, in der Kinder extra lernen müssen, "Gefühle wahrzunehmen, ernst zu nehmen, sich nicht dafür zu schämen, darüber zu sprechen" (S.87). Soll die Familie, die laut Felber ja eigentlich der Hort der "humanen Grundwerte" sein soll, denen in der Gemeinwohlökonomie zum Durchbruch verholfen wird, etwa derart krank machende Züge haben, dass die Felbersche Schule einer therapeutischen Einrichtung gleicht? Dem Bild eines Behälter-Menschen, der auf eine von ihm getrennte Umwelt aus "Anreizen" reagiert, entspricht eine Schule, die an einen "alternativen Nürnberger Trichter" erinnert. Sie beinhaltet neben der besagten "Gefühlskunde" auch eine Reihe anderer Unterrichtsgegenstände, von denen man eigentlich erwartet hätte, dass sie in der Gemeinwohlökonomie unnötig sind, da ihre Lernziele in der Struktur des alltäglichen Lebens Wirklichkeit geworden, ja eigentlich ihre Basis sind.


Der Reiz des Werts

Was die Ökonomie im engeren Sinn angeht, äußert sich das Behälter-Anreiz-Schema in der Weise, dass die Geldbeziehungen und finanziellen Kriterien durch eine so genannte Gemeinwohlmatrix ergänzt werden sollen: "Als erster Schritt wird allen Unternehmen ein neues Ziel vorgegeben: das Streben nach dem allgemeinen Wohl. Mit diesem neuen Ziel müssen wir unternehmerischen 'Erfolg' neu definieren. Ein Unternehmen ist nicht länger erfolgreich, wenn es einen hohen Finanzgewinn erzielt, sondern wenn es einen größtmöglichen Beitrag zum Gemeinwohl leistet" (S.24). Als zweiter Schritt, so Felber, müsse ein Wirtschaftskonvent das Gemeinwohl definieren. Drittens sei der neu gefasste Begriff von Unternehmenserfolg so zu definieren, dass er gemessen werden könne (S.27). Ähnlich wie ein alternativer Wohlstandsindikator anstelle des Bruttoinlandsprodukts, so der Autor, müsse auf der Ebene der Unternehmen ein weiterer Indikator seinen Beitrag zum Gemeinwohl anzeigen. Nebenbilanzen, wie schon heute für ökologische oder soziale Standards etwa im Rahmen von Initiativen der Unternehmensverantwortung (CSR) üblich, sind laut Felber ein erster Schritt. Das Problem dabei jedoch wäre, dass diese unverbindlich und gesetzlich unkontrolliert bleiben: "Sobald sie in Widerstreit mit der Hauptbilanz - der Finanzbilanz - geraten, sind sie nichts mehr wert, denn das würde den Lebensnerv des Unternehmens angreifen und in der heutigen Systemdynamik schädigen" (S. 28).

Dem hält Felber entgegen: "Dem Hausverstand und mehrheitsfähigen Gerechtigkeitsempfinden zufolge müsste es doch genau umgekehrt sein: Wer sich sozialer, ökologischer, demokratischer, solidarischer verhält, sollte es leichter haben als der Asoziale und Rücksichtslose!" (a.a.O.). Zu diesem Zweck dient eine Gemeinwohlbilanz. Während die Finanzbilanz als eine Nebenbilanz weiterbesteht, würde das Gemeinwohl die Hauptbilanz bestimmen. Unternehmen sollen keine finanziellen Verluste machen, ebensowenig wie Gewinne um der Gewinne willen. Der Gewinn würde zu einem "begrenzten Mittel" für "klar definierte Zwecke" (S.29).

Obwohl Felber das Hauptproblem mit CSR-Bilanzierungen in der Unverbindlichkeit ortet, sollen auch die Kriterien der Gemeinwohlbilanz "freiwillig" sein (S.30). Eine Gemeinwohlmatrix veranschaulicht, wie jeder dieser Bereiche für eine bestimmte "Berührungsgruppe" wie den Mitarbeitern, Kundinnen, Mitunternehmen, Lieferantinnen und Geldgebern, der Region und dem so genannten Souverän, den zukünftigen Generationen und (sic) den Produkten, konkretisiert und mit "Gemeinwohlpunkten" versehen werden kann.

Die Gemeinwohlpunkte sollen als "Anreiz" für kooperatives und gemeinwohlorientiertes Verhalten wirken, indem sie mit "rechtlichen Vorteilen" durch Förderinstrumente verbunden werden: erniedrigter Mehrwertsteuersatz und Zolltarif, Kreditvergünstigung, Vorrang bei öffentlichen Aufträgen, Forschungskooperationen mit öffentlichen Universitäten und direkte öffentliche Förderungen - "Diese Belohnungen helfen den Gemeinwohlorientierten, ihre (höheren) Kosten zu decken" (S.34). Der finanzielle Ertrag würde begrenzt, besonders erfolgreiche Unternehmen würden jedoch entsprechend gekennzeichnet, wodurch sich ihr Image verbessert und Marktvorteile erwachsen: "Durch das Zusammenwirken von rechtlichen Vorteilen, Konsumentscheidungen und der Präferenz 'erfolgreicher' Zulieferbetriebe entsteht eine mächtige Spirale in Richtung Gemeinwohl" (a.a.O.).

Felber betont einerseits, dass die Unternehmen der Gemeinwohlökonomie "nicht mehr gewinnorientiert wirtschaften sollen" und erklärt, dass die Zielorientierung auf den finanziellen Gewinn gerade "der Kern des Problems" ist und genau deshalb der Nutzen für das Gemeinwohl die neue Hauptbilanz darstellen müsste (S.35). Er präzisiert: "Der Gewinn wird vom Zweck zum Mittel" und bezeichnet dies als den "springenden Punkt" (a.a.O.). Dessen ungeachtet ist sich unser Autor jedoch nicht sicher, ob die Gemeinwohlökonomie nun eine nicht-kapitalistische oder eine kapitalistische ist. Denn wenige Zeilen weiter hält er fest, dass "Gewinne sowohl nützlich als auch schädlich sein können", weshalb Gewinne eben "differenziert auf bestimmte Verwendungen begrenzt" werden müssen, "um ein 'Überschießen' in den Kapitalismus - die Akkumulation um der Akkumulation willen - in eine sinnvollere Richtung umzulenken" (a.a.O.). Zu diesem Zweck soll auch für Investitionen eine Gemeinwohlkalkulation angefertigt werden müssen, damit nur mehr jene getätigt werden, die auch einen "sozialen und ökologischen Mehrwert schaffen" (S.36).


Ist's Kapital wohl noch gemein?

Die Gemeinwohlökonomie ist also nach Aussage des Autors nicht nur eine Marktwirtschaft, sondern auch Kapitalismus. Nach Felberschem Dafürhalten jedoch einer, der weder Konkurrenz noch Wachstumszwang oder Profitmaximierung kennt.

Felber führt das Wachstum des Kapitals offenbar wesentlich auf den Zins zurück, wenn er meint, in der Gemeinwohlökonomie entstehe durch Verschuldung kein "nennenswerter Wachstumsdruck durch Zinsen, da diese gegen Null tendieren" (S.38). Das ist ein Fehlschluss: Unternehmen nehmen Kredite auf um zu wachsen, nicht umgekehrt.

Andererseits nennt er als Ursachen des Wachstums die Erhöhung von Gewinnen, die Bedienung von Aktionären, die Behauptung in der Konkurrenz und der Schutz vor feindlichen Übernahmen (S.44).

Tatsächlich unterliegen Unternehmen in einer Marktwirtschaft - egal ob es sich um Kooperativen im Besitz der Arbeitenden oder um normale kapitalistische Firmen mit einem Management und Lohnabhängigen handelt - einem Wachstumsdrang und -zwang. Der Wachstumsdrang resultiert aus der charakteristischen "Eigenschaftslosigkeit" des Geldes, das ja nur abstrakten ökonomischen Wert verkörpert, reine Kaufkraft, puren Reichtum, alle Kaufmöglichkeiten. Ein Tauschmittel, das diese Eigenschaften nicht hat, ist kein Geld. Als solches befriedigt es kein konkretes Bedürfnis. Eine wirtschaftliche Tätigkeit erlischt nicht im konkreten Produkt, etwa im Brot, das konsumiert wird um Hunger zu stillen, wie in einer nicht-kapitalistischen Produktionsweise, sondern ergibt Geld. Geld als "Endprodukt" unterscheidet sich von Geld als wichtigstem "Rohstoff" namens Kaufkraft lediglich der Menge nach - mehr Geld ist daher besser als weniger Geld. Felbers Gemeinwohlökonomie würde diesen Drang zwar begrenzen, indem Gewinne und Einkommen von Unternehmensteilhaberinnen gedeckelt werden. Er bestünde jedoch fort. Ebensowenig wie heute das persönliche Gewinnstreben die letzte Ursache des Wachstumsdrangs ist, wird es dies in der Gemeinwohlökonomie sein. Der Wachstumszwang schließlich resultiert aus der Konkurrenz. In der Felberschen Welt gibt es nach wie vor die Drohung des Konkurses, was laut unserem Autor auch zeige, dass es sich um eine Marktwirtschaft handelt (S.45). Zwar wird behauptet, dass Konkurse unwahrscheinlich seien - dabei bleibt es aber auch. Felber glaubt das, weil er glaubt, dass tendenziell nur "sinnvolle Unternehmen" gegründet und "in demokratisierten Unternehmen eher alle gemeinsam an einem Strang ziehen" würden, was Konkurse effektiver verhindere, außerdem kooperierten die Unternehmen ja (S.46).

Dass Konkurse nicht wesentlich mit der Gründung "sinnloser Unternehmen" oder "fehlendem Zusammenhalt", sondern mit gesamtwirtschaftlichen Krisen zu tun haben, entgeht Felber, der es besser weiß, an dieser Stelle.

Es ist wichtig zu wissen, dass Felber die Gemeinwohlökonomie im engen Sinne - also jene Unternehmen, die sich sozusagen auch wirklich anstrengen, dem Gemeinwohl zu dienen, neben den Luschis, die nur so tun als ob -, lediglich als einen Sektor der Ökonomie konzipiert. Eine klassische Überproduktionskrise ließe sich nicht verhindern, da die Gemeinwohlökonomie eine Marktwirtschaft ist und auch keine staatliche Planung der Produktion (wie in der Sowjetökonomie) kennt, die dies zumindest der Möglichkeit nach unterbinden könnte. Auch die Felbersche Gemeinwohlkalkulation für Investitionen kann dem keinen Riegel vorschieben. Ein Unternehmen, das eine allgemeine Krise herannahen sieht, würde also abwägen, ob es zu einem "Kooperationsausschuss" geht oder sein Glück auf eigene Faust versucht. Der Logik einer Marktwirtschaft, also auch der Gemeinwohlökonomie, entsprechend, werden die (absehbaren) Verlierer sich in Kooperationsausschüssen einfinden, dort jedoch nichts zu verteilen haben als ihre Verluste, während die (absehbaren) Gewinner ihre Schäfchen ins Trockne bringen werden.

Der Autor geht davon aus, dass es nicht kooperationsbereite Unternehmen gibt, meint jedoch, diese hätten "aufgrund ihrer unattraktiven Farbe" (sic) derart viele Nachteile bei den Konsumentinnen und darüberhinaus keinerlei rechtliche Vorteile, sodass sie an Bedeutung verlieren würden (S.46).

Dies kann kaum überzeugen, da "schwarze Schafe" unter den Unternehmen ja auch heute schon gebrandmarkt werden und Fair Trade einen Wachstumsmarkt darstellt, ohne ersichtlichen Einfluss auf die Missstände des Kapitalismus, die Felber zurecht kritisiert. Würden "nicht-kooperative Unternehmen" gesetzlich benachteiligt, so könnte dies sicherlich einen Einfluss auf ihr Verhalten ausüben. Allerdings würden sie abwägen, ob die finanziellen Vorteile die Nachteile aufwiegen. Felber selbst hält ja fest, dass die Gemeinwohlorientierung "höhere Kosten" verursacht (S.34). Dass der Inbegriff von Reichtum in der Gemeinwohlökonomie, das Geld, als "Kostenfaktor", eine Belastung des Reichtums erscheint, ist bereits ein deutlicher Hinweis auf den inneren Widerspruch der Konzeption, den sie mit der bekannten Marktwirtschaft teilt. Die finanziellen Belohnungen der gemeinwohlorientierten Unternehmen dürften sich angesichts der Kluft zwischen Felberschem Gemeinwohl und kapitalistischer Realität kostenintensiv zu Buche schlagen. Woher wird der Staat die Steuermittel nehmen, um diese Kluft nicht nur "von unten" zu schließen, sondern sogar zu Gunsten der förderwürdigen Unternehmen deutlich in Richtung Gemeinwohl zu öffnen?

Während Felber Gewinne deckeln will, die aus den "rechtlichen Vorteilen" der Gemeinwohlunternehmen erwachsen können - sofern sie nicht in "erwünschte Verwendungen" fließen - und daraus ableitet, dass es sich nicht lohne, sich aus "reinem Gewinnstreben" sozial und ökologisch zu verhalten, meint er: "Sehr wohl bringt es hingegen etwas, Gemeinwohlpunkte zu 'maximieren'" (S.34). Als Grund gibt er an, dass Konsumentinnen eine klare und systematische Entscheidungsgrundlage hätten und dass "gemeinwohlorientierte" Zulieferbetriebe ebensolche Unternehmenskunden bevorzugen würden. Der entscheidende Anreiz sind also wie in der üblichen Marktwirtschaft nicht ökonomisch wertlose Punkte, sondern Geld.

Die Felbersche Konzeption der Betriebe, die aus nicht ersichtlichen Gründen Gemeinwohlpunkte über jenes Maß hinaus sammeln, das ihnen den Genuss von staatlichen Förderungen bei möglichst geringem sonstigen Aufwand bringt, hat denselben Fehler wie die sowjetische "Tonnenplanung". Der UdSSR-Staat plante die Produktion sowohl in Geldeinheiten als auch in physischen Größen mittels eines komplizierten Kennzahlensystems, das verschiedenste Qualitätskriterien berücksichtigen sollte. Da die sowjetische Ökonomie nicht auf konkrete Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet und von den Menschen direkt geplant wurde, sondern eine Marktwirtschaft (unter starkem staatlichem Kommando) darstellte, machten die sowjetischen Betriebe das, was in einer Marktwirtschaft tendenziell alle tun: sie versuchten die Planvorgaben zu umgehen bzw. mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel herauszuholen.

Der Punkt sollte klar geworden sein, es geht nicht um einzelne Beispiele in der Felberschen Matrix, sondern um den grundlegenden Widerspruch zwischen "Gemeinwohl" und Marktwirtschaft, der fortbesteht, egal ob ein "sozialistischer" Staat oder ein Felbersches Gemeinwohlgremium ihn per Dekret und Gesetz aus der Welt schaffen will: Ein "gemeinwohlorientiertes" Unternehmen hätte in einer Marktwirtschaft in der Tat ein inneres Interesse daran, sowohl Gemeinwohlpunkte einzuheimsen als auch finanzielle Gewinne zu maximieren. Die Gemeinwohlökonomie müsste mit mehr Kontrollen antworten. Dies jedoch ist genau der Mechanismus einer Marktwirtschaft, der aus der Sowjetökonomie ein bürokratisches Monster und aus der Felberschen Gemeinwohlökonomie bestenfalls ein Katz-und-Maus-Spiel des verallgemeinerten "Gemeinwohl-Washing" machen würde: Da in ihr eben kein inneres Interesse am "Gemeinwohl" existiert, weil man vom Gemeinwohl ebenso wenig leben kann wie von sozialistischer Ehre, sondern man in einer Marktwirtschaft primär einmal Geld verdienen muss, in Konkurrenz zu anderen Unternehmen, die dasselbe tun, wird man diesen ersten Zweck auch entsprechend privilegiert verfolgen.


Is this the way?

Die Felbersche Alternativkonzeption trägt nicht nur von ihrem Entstehungsprozess her, sondern vor allem dem Inhalt nach den Stempel des Kleinbürgerinteresses, hier in seiner grünalternativen Version. Im Gefühl der Bedrohung durch ökonomische Mächte und Kräfte, die man selbst nicht in der Hand hat, weil man, so denkt man, eben nicht zu den "Großen", sondern nur zu den "Mittleren" gehört, umso mehr dafür infiziert von der Idee individueller Leistung und gerechter Belohnung, im Vertrauen auf den Staat und die Schule als strafende und belohnende Instanzen, die letzlich die "Guten" ans Licht bringen werden, weit davon entfernt, seine eigene kleine Kommandoposition zu verlassen oder als notgedrungenes Übel in realistisches Licht zu rücken, schwankt der Kleinbürger-aus-Überzeugung zwischen dem Gefühl moralischer und intellektueller Überlegenheit, dem Glauben an feste Autoritäten und der Angst vor einer unkontrollierbaren, spontanen, die herrschende Ordnung in Frage stellenden Entwicklung einerseits und der Angst vor übergeordneten Autoritäten und dem Gefühl seiner reellen Ohnmacht andererseits. Die Konzeption des dem Gemeinwohl dienenden Kleinunternehmers, der die Welt vor dem "großen Kapital" rettet und das "kleine Kapital" zusammen mit der "ehrlichen Leistung" in einer "ordentlichen Welt" der "sinnvollen Investitionen" und "demokratischen Banken" hoch und Schweizerische Volksabstimmungen abhält, während er vom Staat dafür belobigt wird, ist das ideologische Produkt dieses Sozialcharakters.

Es ist der größte Schwachpunkt der Gemeinwohlökonomie, dass man in diesem Konzept das eigene kurzsichtige ökonomische Interesse in einen vermeintlich großen Entwurf ummünzen will, und das sogar wortwörtlich. Den eigenen kleinen Unternehmer-Schrebergarten will man behalten und sich dabei "sinnvolle Investitionen" und "wertvolle Beiträge zum Gemeinwohl" an die Brust heften. Wie man den Kommunismus ablehnt, so liebt man die Vorstellung, als Chef oder Chefin mit ein paar Angestellten vor sich hin zu werkeln, "Risiken" einzugehen, "selbstständig" zu sein und "etwas zu leisten" und - Achtung: maximale Gemeinwohlpunktesumme 100 - den mit eigener Leistung aufgebauten Betrieb nach dem eigenen Ableben den in seligem Angedenken an den gemeinwohlorientierten Mikropatron verbleibenden Mitarbeiterinnen zu übergeben. Der Begriff der Leistung (wie auch jener der Effizienz) kommt nicht zufällig an mehreren Stellen des Buches mit positiver Bedeutung vor: "Viele, wahrscheinlich die Mehrheit von uns, sind nicht (oder schwach) intrinsisch motiviert, weil sie sich nicht kennen und in sich nichts Sinnvolles erfahren, das sie zu Höchstleistungen ohne jede Konkurrenz treiben könnte" (S.84).

Das Risiko des ökonomischen Scheiterns freilich, das die Marktwirtschaft mit sich bringt, beliebt man durch "Kooperation" zu ersetzen - wenn's brenzlig wird, vorrangig, und wenn es der Kundenbindung, staatlicher Förderung oder wenigstens dem eigenen Selbstgefühl "besser zu handeln als die Großen" dient. Die Veränderungen, die das Buch vorschlägt, sind gleichwohl so weitreichend, dass man fragt: wenn es tatsächlich soweit kommen soll, wozu dann bitte noch Marktwirtschaft?

Die Gemeinwohlökonomie nimmt von einem falschen Bild der heutigen Alltagsbeziehungen ihren Ausgang, wo die Freundschaft mit dem Markt verträglich und die Familie lieblich ist. In der Gemeinwohlökonomie folgen alle einem "Leitstern" (S.10), der zugleich das "Fundament" (a.a.O.) ihrer Beziehungen bildet, den "ethischen Werten" des Vertrauens, der Kooperation und des Teilens - in diesem unmöglichen Bild von Sternen, die ein Fundament bilden, ist der ganze Widerspruch auf den Punkt gebracht. Wer sich dafür interessiert, wo der "ethische Wert" der Kooperation sein materielles Fundament tatsächlich hat, wird es vor allem in der direkten Kommunikation im Betrieb und in autonomen Projekten, in den sozialen Kämpfen gegen Markt, Kapital und Staat finden. Von dort wird eine andere Gesellschaft ihren Ausgang nehmen. Wer dagegen will, dass mit Kaufen und Verkaufen, mit Staat und Bürgern, Kapital und Arbeit alles so bleibt wie es ist, nur "netter", wird am Gedanken der Gemeinwohlökonomie Gefallen finden. Eine Alternative sieht anders aus.

Raute

2000 Zeichen abwärts

A hen is only an egg's way...

Das Leben ist schon eine feine Sache. Das jedenfalls ist stiller Konsens, die Grundprämisse unser aller, die wir noch immer hier sind, die wir leben. Wie könnten wir da nach dem guten Leben fragen - so, als wäre ein schlechtes denkbar? Schließlich hat, wer aufrichtig von der Schlechtigkeit des Daseins überzeugt ist, keine Veranlassung, seine unzuträgliche Existenz über den Moment der gewonnenen Einsicht hinaus zu verlängern - wozu sich weiter herumschlagen?

Andererseits, so die Mutmaßung, könnte das gute Leben, da es nicht ist, sich noch einstellen. In diesem Fall gilt es die Vitalfunktionen aufrecht zu erhalten, um den Fortbestand des gegenwärtig schlechten Lebens bis zum letzten Atemzug zu gewährleisten - das Leben zu überleben, sozusagen. Schade, denn tomorrow never comes, belehrt uns eine englische Redensart und blamiert solchen Versuch, das gute Leben in die Zukunft hinein zu vertagen. Was aber vom Leben bleibt, ist eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre (K. Kraus).

Überleben! ist unter jenem Gesichtspunkt die folgerichtige Devise - und das ist eine furchtbar ernste Angelegenheit, schließlich geht's um was! Ja, um was denn eigentlich? Wofür leben? ist angesichts der gestrengen Frage Wie überleben? belanglos. Und so nimmt der seltsame Zweck, zu überleben, alles Leben rundum als sein bloßes Mittel in Beschlag. Der Zweck ist ein unmöglicher - alles zerfällt irgendwann - und die Anstrengung der lebenslangen Überlebensmaßnahme umso erbitterter, sodass man sich nach dem Sinn zu fragen beginnt.

"Die Kinder sollen's einmal besser haben", hört man seufzen. Die es einmal hätten besser haben sollen, wurden jedoch rechtzeitig von den ihren auf "den Ernst des Lebens" eingeschworen, jenen Ernst, der dem Spielen angeblich folgen würde. Denn Spiel ist ihnen allenfalls die Vorbereitung auf das, was später an Mühsal und Härte entgegenschlägt. Und so überleben auch sie sich. Wenn schon keinen Sinn, so hat doch immerhin alles seinen Zweck - ausnahmslos! Selbst das Spiel!

...of making another egg

Tatsächlich, wir haben alles auf den Kopf gestellt! Warum sind Lebensmittel etwas anderes als Genussmittel? Ja, warum überhaupt Mittel? Warum dient Schlafen der Selbsterhaltung, warum Beischlafen der Arterhaltung? Es ist nämlich die Frage, ob wir essen, um zu leben oder leben um zu essen? Haben wir Sex, um uns zu reproduzieren oder reproduzieren wir uns, um miteinander schlafen zu können? Und ist Schlaf tatsächlich Mittel zum Zweck der Regeneration oder machen wir uns da vielmehr den auf Zweckmäßigkeiten abgerichteten Blick der Wissenschaft zu eigen?

Empfinden wir etwa nicht ganz unmittelbar das sublime Vergnügen des weckerlosen Schlafens: des Zubettgehens, Träumens und erneuten morgendlichen Aufstehens? Freilich könnten wir es. Es reicht eine Verschiebung in der Akzentuierung unserer Wahrnehmung: Wir dürfen die prinzipielle Zwecklosigkeit des Lebens ruhig in Betracht ziehen und mit ihr die Unzweckmäßigkeit aller vorgeblichen Mittel. Auf die Mittelmäßigkeit des Seins können wir verzichten, haben dann tieferen Raum für Sinn und Sinnlichkeit: Kartenspielen mit Freunden, eine Fuge von Bach, Sonnenaufgang, gar erst ihr Untergang, ein übermütig improvisiertes Tänzchen am Straßenrand, Grillengezirpe, die Sternenpracht am Nachthimmel - alles das ist völlig zwecklos! Doch sind es gerade jene Momente, unmittelbar und spontan, die uns das Leben als ein gutes erscheinen lassen. Die Frage Wozu soll das gut sein? tut dem guten Leben nicht gut! Und indem der geschätzte Leser noch mit ihr spekuliert, den vorliegenden Artikel betreffend, habe ich den Zweck, zwei Spalten, beinahe erfüllt:

...We thought of life by analogy with a journey, a pilgrimage, which had a serious purpose at the end. And the thing was to get to that end - success, or whatever it is, or maybe heaven after you're dead. But we missed the point the whole way along. It was a musical thing and you were supposed to sing or to dance while the music was being played. (Alan Watts)

S.H.

Raute

Dead Men Working

Aus der Hängematte ins Ehrenamt?

von Maria Wölflingseder

Eine beherzte Initiative der Psychologin Hedwig Presch, an der über 400 Menschen ohne Lohnarbeit beteiligt waren, gewährt einen tiefen Einblick in eine Realität, die von der Öffentlichkeit noch immer weitgehend ausgeblendet wird. Das einjährige Projekt "WÜST - Würde statt Stress: Solidarische Gesundheitsförderung durch kompetente Erwerbsarbeitslose" wurde Ende Februar erfolgreich abgeschlossen.

Menschen haben es satt, als bemitleidenswert oder gar faul, erfolglos, kurz als Versager gesehen zu werden. Nur weil die fortgeschrittene Rationalisierung, die dem Kapitalismus innewohnt, sie zur Ausschussware am Arbeitsmarkt gemacht hat. Ihr öffentliches "Image" - dem der Makel Hängematte anhaftet - wollen sie lieber heute als morgen verändert spüren. Zumal alleine schon der Begriff "arbeitslos" eine Zumutung ist. Sie sind meist genau so viel beschäftigt wie alle anderen auch, nur dass sie nicht dafür bezahlt bekommen. Zusätzlich zum nervenaufreibenden Kurs- und Bewerbungskarussell, das sich immer schneller dreht, je weniger Chancen jemand am Arbeitsmarkt hat, übernehmen sie unbezahlte Betreuungsaufgaben in Familie und Freundeskreis und sind unentlohnt vielfältig tätig.

Wenn sich zeitweilig Inaktivität breit macht, dann weil die Zermürbung nagt: "Das Unerträgliche ist der einschüchternde, beleidigende, unterstellende, beschuldigende, unhöfliche Umgangston, der bei vielen AMS-BeraterInnen Usus ist. Arbeitsuchende fühlen sich wie Schuldige und Bittsteller. Ihre Existenz hängt davon ab, ob sie sich mit größtmöglicher Demut keiner Zumutung widersetzen und alles tun, was von ihnen erwartet wird." Was allerdings auch nicht immer vor einer Geldsperre schützt. "Die Arbeitslosigkeit, nein, eher das AMS macht aus mir, einem vormals lebenslustigen und vor Energie strotzenden jungen Mann, ein depressives Häufchen Elend."

Aber im Projekt WÜST wurde nicht nur nach den belastenden Faktoren der Erwerbsarbeitslosigkeit gefragt, sondern auch nach den positiven, nach den gesund erhaltenden Aspekten. Neben einer ausführlichen Online-Umfrage, an der sich 228 Personen beteiligten, wurden sogenannte "Gesundheitszirkel" veranstaltet. Letztere sind eine staatlich etablierte Maßnahme der betrieblichen Gesundheitsförderung und werden seit ca. sieben Jahren europaweit in Firmen durchgeführt. Hedwig Presch hatte die Idee, diese Methode auch für Menschen ohne Job zu nutzen und reichte das Projekt WÜST beim Fonds Gesundes Österreich zur Finanzierung ein. Die Umsetzung erfolgte unter Mitwirkung von Erwerbsarbeitsloseninitiativen. - Ausgangspunkt waren folgende drei Fragen: 1. Was erhält mich gesund, was tut mir gut? 2. Was macht mich krank, was belastet mich? 3. Welche Lösungsvorschläge habe ich?

Unter die Lupe genommen wurde auch die Arbeitswelt als solche. Nichts ist ja mehr, wie es lange war. Viele können von ihren Jobs nicht leben (Working Poor), junge gut Ausgebildete finden keine Anstellung (Generation Praktikum), viele haben nur prekäre Jobs, Ältere sind zu alt für den Arbeitsmarkt, aber das Pensionsalter wird erhöht, und die, die einen Job haben, müssen oft 60 bis 80 Stunden arbeiten, trotz scheinheiliger Propagierung einer Work-Life-Balance. - Angesichts dieses gesamtgesellschaftlichen Desasters haben Lohnarbeitslose kein Problem, auch die positiven Auswirkungen von Joblosigkeit darzustellen - ihres Hängematten-Images zum Trotz. Es wurde sogar mit Nachdruck darauf hingewiesen, ob sie nicht vielmehr die "Vorreiter in eine neue Zukunft" seien? "Könnte es sein, dass die Erwerbsarbeitslosen von heute in ihrem Bewusstsein und in ihrem Leben bereits unterwegs sind auf einem Weg, den Politiker, althergebrachte Arbeitgeber und Institutionen noch gar nicht einmal erahnen?" - Die genannten Vorteile der Joblosigkeit muten jedenfalls recht zukunftsweisend an: selbstbestimmtes Tun, sich die Zeit selber einteilen, Muße, mehr Zeit für Familie, Freunde und Haustiere, Kunst, Kreativität, spannende Tätigkeiten, Zeit um gesünder zu leben und die Natur zu genießen.

Als besonders belastend wird u.a. die Willkür seitens des AMS erlebt. Für vieles sind keine verbindlichen Regeln erkennbar. Was den einen erlaubt wird (z.B. ein brauchbarer Kurs anstatt des 7. Bewerbungstrainings), wird den anderen verboten. Das reicht bis zur völlig unterschiedlichen Behandlung von Einsprüchen gegen nicht erhaltenes AMS-Geld. Manfred Novak, der wissenschaftliche Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte, hat unlängst die Willkür bezüglich Entscheide von Asylverfahren kritisiert. Die ebenfalls als Willkür und Menschenunwürdigkeit erlebte Behandlung von Arbeitslosen ist hingegen noch immer kein Thema.

Die Lösungsvorschläge waren breit gestreut: Von Veränderungen unter den gegebenen Strukturen (Verbesserungen am AMS; Grundeinkommen sowie Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung; Vernetzung von Lohnarbeitslosen: z.B. Geldleihkreis, Notfallfond, Wohnungstausch, Sportgruppen, Raum für kreatives Schaffen) bis hin zur grundsätzlichen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, damit die "Arbeit" bzw. alle Tätigkeiten einer anderen Logik folgen können.

Vor dem Hintergrund einer aberwitzigen (Arbeits-)Welt, in der kein Geld mehr zu verdienen ist, das Leben aber immer teurer wird, erscheint das 2011 von der Europäischen Union ausgerufene "Jahr des Ehrenamts" wie Kurpfuscherei, mit der der sterbenskranke Patient Marktwirtschaft geheilt werden soll. Da geht der Fischer (Bundespräsident) mit dem Küberl (Chef der Caritas) Ehrenamtliche angeln. Als Köder wollen sie ein paar Zuckerl auswerfen. Denn "das Ehrenamt ist der Blutkreislauf der Gesellschaft", so das Staatsoberhaupt. Eine leise Verhöhnung für viele der potentiellen Zielgruppe - PensionistInnen und Lohnarbeitslose -, die selbst kurz vorm (nicht nur finanziellen) Kreislaufkollaps stehen? Das altehrwürdige Ehrenamt in Ehren, aber was hilft's, den Blutkreislauf, in dem unzählige Blutgerinnsel auf einen Infarkt hinsteuern, notdürftig in Schwung zu erhalten? Auch mit dieser Therapie wird das nix mehr werden.

PS. In Deutschland plant die schwarz-gelbe Koalition gerade in diesem Jahr steuerliche Vorteile für Hartz-IV-Bezieher, die ehrenamtlich tätig sind, zu kürzen. So würde z.B. auch die Tätigkeit als ehrenamtlicher Bürgermeister - einige von ihnen sind gleichzeitig Hartz-IV-Empfänger - noch unattraktiver werden.


Ausführliche Berichte über WÜST: www.alterskompetenzen.info

Raute

Das gute Leben produzieren

von Christian Siefkes

Wenn wir über das gute Leben nachdenken, stellen wir uns ein Leben in Fülle vor - wo niemand Not leiden muss, wo es genug für alle gibt und jede/r seine oder ihre Bedürfnisse befriedigen kann. Aber geht das überhaupt? Scheitert die Möglichkeit eines Lebens in Fülle nicht zwangsläufig an der Endlichkeit der Erde? Und wo soll die Fülle herkommen? Kommt nicht vor den Freuden des Konsums die Mühsal des Produzierens, vor dem angenehmen "Reich der Freiheit" das weniger erfreuliche "Reich der Notwendigkeit"? Um diese zwei Herausforderungen für die Vision eines guten Lebens für alle soll es im Folgenden gehen.


Der ökologische Fußabdruck

Der ökologische Fußabdruck ist die Fläche auf der Erde, die nötig ist, um den Lebensstil einer Gruppe von Menschen dauerhaft zu ermöglichen. Er umfasst die Fläche, die benötigt wird, um die verwendeten Ressourcen anzupflanzen bzw. abzubauen und um den Müll, der während Herstellung, Nutzung und Entsorgung der genutzten Produkte anfällt, aufzunehmen und zu absorbieren. Die Maßeinheit für den ökologischen Fußabdruck ist der "globale Hektar" - ein Hektar (hundertstel Quadratkilometer) Land von durchschnittlicher Fruchtbarkeit.

Hier ergibt sich ein Problem, denn der ökologische Fußabdruck der Menschheit beträgt derzeit achtzehn Milliarden globale Hektar, die insgesamt verfügbare Biokapazität der Erde umfasst aber nur etwa zwölf Milliarden globale Hektar. Das Missverhältnis ist offensichtlich: So wie wir heute leben, bräuchten wir eigentlich anderthalb Erden. Wir verbrauchen die Ressourcen der Erde schneller, als sie sie erneuern kann, und leben somit auf Kosten unserer Kinder, denen die übernutzten Ressourcen später fehlen werden.

Das "wir" ist dabei allerdings sehr ungleich verteilt, denn in vielen Ländern ist der durchschnittliche Fußabdruck pro Person sehr gering. In Bangladesch und Afghanistan beträgt er 0,6 globale Hektar pro Person, in Indien und dem Jemen 0,9 Hektar, im Irak und auf den Philippinen 1,3 Hektar. All diese Länder liegen unter dem Durchschnittswert, der nachhaltig möglich wäre, wenn man die zwölf Milliarden Hektar Biokapazität auf die gut sechseinhalb Milliarden heute lebenden Menschen aufteilt: 1,8 Hektar pro Person.

Der tatsächliche weltweite Durchschnitt liegt mit 2,7 Hektar 50 Prozent darüber. Deutschland und Österreich verbrauchen knapp das Doppelte dieses Werts, nämlich 5,1 bzw. 5,3 Hektar pro Person. In den anderen europäischen Ländern sieht es ähnlich aus. An der Spitze des Verbrauchs liegen die USA und einige arabische Länder mit 8,0 oder mehr Hektar (vgl. Wikipedia 2010). Wir in den hochindustrialisierten Ländern leben also nicht nur auf Kosten unserer Kinder, sondern auch auf Kosten der Menschen anderswo in der Welt. Denn es ist völlig klar, dass wir nur deswegen so leben können, weil die Leute anderswo sehr viel weniger Ressourcen verbrauchen.


Zwei Konzepte von Fülle

Wenn man über materielle Fülle für alle nachdenkt, ist klar, dass diese Fülle - unabhängig von der Gesellschaftsform, in der sie produziert wird - im Rahmen der verfügbaren Biokapazität bleiben muss. Die Grenze von derzeit 1,8 Hektar pro Person muss eingehalten werden, sonst geht die Fülle für einige notwendigerweise auf Kosten anderer oder auf Kosten unserer Kinder. Man mag Fülle mit der Möglichkeit "grenzenloser Verschwendung" assoziieren - wo man sich z.B. fünf Autos in die Garage stellen oder sich nach Belieben Dinge aneignen kann, um sie, wenn einer/einem der Sinn danach steht, nach kurzer Verwendung wieder wegzuschmeißen. Eins ist völlig klar: Fülle als grenzenlose Verschwendung ist in unserer begrenzten Welt nicht möglich - jedenfalls nicht für alle und nicht für lange Zeit.

Aber man kann sich unter "Fülle" auch etwas anderes vorstellen, nämlich: "genau was ich brauche, wenn ich es brauche". Mit Dingen, die man schnell wegwirft, kann man nicht mehr Bedürfnisse befriedigen als mit Dingen, die man länger behält, und mit fünf Autos kommt man nicht unbedingt schneller und bequemer zum Ziel als mit einem - oder mit komfortablen öffentlichen Verkehrsmitteln, sofern sie existieren. Dieses zweite Konzept von Fülle orientiert sich nicht an der Anhäufung von Dingen, sondern an der Befriedigung von Bedürfnissen.

Kann man auf dieser endlichen Erde so produzieren, dass für alle genug da ist, dass alle nutzen können, was sie brauchen, wenn sie es brauchen? Für eine Antwort muss man auf die Form der Gesellschaft gucken, in der produziert wird.

Für unsere heutige Gesellschaft, den Kapitalismus, ist die Frage zu verneinen. Zwar bringt sie offensichtlich Fülle für einige hervor, aber diese geht auf Kosten anderer - insbesondere der Menschen in der Dritten Welt, in den armen Ländern, die von der kapitalistisch produzierten Fülle großteils ausgeschlossen sind. Fülle für alle ist unter kapitalistischen Verhältnissen grundsätzlich nicht möglich. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Zum einen geht es im Kapitalismus immer um Kapitalverwertung, also darum, aus Geld mehr Geld zu machen. Das geht aber nur, wenn ich produziere, also Ressourcen einsetze. Wenn die Geldvermehrung funktioniert, das vorhandene Kapital gewachsen ist, muss es neu angelegt werden und noch weiter wachsen. Dieser permanente Wachstumszwang muss dazu führen, dass die Ausnutzung der Biokapazität zwangsläufig über die dauerhaft möglichen Grenzen hinaus getrieben wird. Dass wir heute mehr Biokapazität vernutzen, als nachhaltig verfügbar ist, ist also systembedingt. Unter kapitalistischen Bedingungen ist nichts anderes möglich, denn ohne Wachstum kommt es zur Krise: die Verwertung mancher Kapitalien scheitert, Firmen gehen Pleite, Menschen werden arbeitslos und damit von der kapitalistisch produzierten Fülle weitgehend ausgeschlossen. Es gibt somit nur zwei schlechte Alternativen: Krise ist schlecht für die Menschen, aber dauerhaftes Wachstum geht notwendigerweise auf Kosten der Natur.

Zweitens ist Fülle für alle auch deswegen ausgeschlossen, weil kapitalistisch produzierte Güter verkauft werden müssen - andernfalls kann man damit kein Geld verdienen. Verkaufen kann man Dinge aber nur, wenn sie knapp sind, es nicht genug davon gibt. Andernfalls tendiert der Preis gegen Null. Dann gehen Hersteller Pleite, die Verwertung scheitert, und der entsprechende Bereich wird für die kapitalistische Wertverwertung uninteressant, sofern nicht durch "Marktbereinigung" wieder Knappheit hergestellt werden kann. Vor diesem Problem steht heute die Musikindustrie, da man Musik Dank des Internets so leicht mit anderen teilen kann, dass sie im Überfluss vorhanden ist.

Zum dritten besteht ein Konflikt zwischen Fülle für alle und einem weiteren Grundprinzip des Kapitalismus: der Konkurrenz. Konkurrenz bedeutet, dass die Gewinne der einen die Verluste der anderen sind. Ganz gleich ob Firmen um Marktanteile konkurrieren oder Menschen um Arbeitsplätze: Durchsetzen können sich nur einige, für die anderen bleibt die Pleite oder die Arbeitslosigkeit. Fülle gibt es vielleicht für die, die gewinnen, aber den Verlierer/innen im Konkurrenzkampf bleiben nur bescheidene staatliche Almosen.


Gemeinsam produzieren statt gegeneinander arbeiten

Es braucht also eine andere Produktionsweise, und das bringt uns zu der zweiten zu Beginn aufgeworfenen Frage, ob den Freuden des Konsums nicht notwendigerweise die Plage des Produzierens "im Schweiße deines Angesichts" vorangehen muss. Im Kapitalismus wird die Arbeit als Mittel zum Zweck betrachtet - Firmen beschäftigen Arbeiter/innen, um verkaufbare Waren zu produzieren, und die Menschen arbeiten, um Geld zu verdienen, das sie zum Leben brauchen. Wenn Politiker/innen sagen, dass die "Anreize zum Arbeiten erhöht werden müssen", meinen sie damit Sanktionen gegen Menschen, die (vermeintlich oder tatsächlich) nicht arbeiten wollen. Arbeiten scheint etwas zu sein, was man nur gezwungenermaßen macht, sodass das "gute Leben" immer dann pausiert, wenn man den Arbeitsplatz betritt.

Aber muss das so sein? Schaut man sich um, beispielsweise im Internet, stellt man fest, dass schon heute vieles auf eine Weise produziert wird, die der gängigen Vorstellung von Arbeit als etwas, das man nur gegen (Schmerzens-)Geld erledigt, widerspricht. Zahllose Menschen schreiben freiwillig und ohne Bezahlung an der freien Enzyklopädie Wikipedia mit; sie stellen Freie Texte und Freie Musik ins Internet, die jede/r nicht nur lesen bzw. anhören, sondern auch weitergeben und verändern darf; sie entwickeln Freie Software wie das Betriebssystem GNU/Linux, den Webserver Apache und den Webbrowser Firefox; sie bauen Freie Funknetze auf, die allen in der Umgebung kostenlosen Internetzugang ermöglichen; sie entwerfen Möbel, Kleidungsstücke, Maschinen und viele andere Dinge und stellen die Baupläne zur freien Verwendung und Weiterentwicklung ins Internet.

Diese commonsbasierte Peer-Produktion ist dabei längst keine Randerscheinung mehr, sondern ein unabdingbarer Bestandteil der modernen Welt (vgl. die Streifzüge-Kolumne "Immaterial World" von Stefan Meretz sowie Siefkes 2010). Das Internet würde ohne Freie Software nicht funktionieren, und die Wikipedia hat sich für viele Menschen zur Informationsquelle Nr. 1 entwickelt.

Peer-Produktion basiert auf dem Bedürfnisprinzip: Im Gegensatz zur herkömmlichen kapitalistischen Produktion geht es nicht um den abstrakten Zweck der Geldvermehrung, sondern die konkreten Bedürfnisse, Wünsche und Ziele der Beteiligten bestimmen, was passiert. Dadurch ändert sich auch der Charakter des Tuns: Viele der Beteiligten arbeiten an solchen Projekten nicht mit, weil sie damit Geld verdienen (obwohl es das auch gibt), sondern weil ihnen gefällt, was sie da tun, aus Interesse an den Dingen, die da entstehen, weil man etwas dabei lernt oder weil man den anderen etwas zurückgeben möchte. Die Wikipedia z.B. funktioniert nur deshalb, weil hier die anstrengende und monotone Arbeit des Enzyklopädie-Schreibens durch etwas ersetzt ist, was viele Menschen gerne und freiwillig machen.

"Commonsbasiert" ist die Peer-Produktion, weil sie auf Gemeingütern (engl. Commons) aufbaut und ihrerseits neue Gemeingüter herstellt oder die vorhandenen verbessert und betreut. Gemeingüter sind Güter, die von einer Gemeinschaft entwickelt und gepflegt und den Nutzer/innen zur Verfügung gestellt werden. Die Gemeinschaft, die sich um ein Gemeingut kümmert, legt fest, wer es nutzen kann - mindestens die Mitglieder der Community, oft aber auch viele andere, im Falle von Freier Software und anderen Formen Freien Wissens sogar die ganze Welt. Das wird durch Freie Lizenzen (wie die GNU GPL und die Creative-Commons-Lizenzen) formell festgeschrieben.

Da die Mitarbeit bei Peer-Projekten freiwillig ist, muss niemand vorbestimmte Aufgaben übernehmen. Die Aufgabenverteilung erfolgt gemäß dem Stigmergie-Prinzip (vgl. Heylighen 2007). Die Beteiligten hinterlassen Hinweise auf begonnene oder gewünschte Arbeiten, die andere dazu anregen, sich darum zu kümmern. Zu solchen Hinweisen gehören etwa To-Do-Listen und Bug-Reports in Softwareprojekten und "rote Links" (auf noch nicht existierende Artikel) in der Wikipedia. Viele der Neueinsteiger/innen orientieren sich an den Hinweisen, ebenso jene, die eine bestimmte Arbeit abgeschlossen haben und neue Aufgaben suchen. Je mehr Beteiligten eine Sache am Herzen liegt, desto sichtbarer werden die Hinweise und desto größer die Chance ihrer Bearbeitung.


Mit Peer-Produktion zum guten Leben?

Peer-Produktion kommt der Idee des guten Lebens zweifellos näher als die kapitalistische Produktion - man beteiligt sich freiwillig an Projekten, die einer/einem wichtig sind, und arbeitet dabei mit anderen gleichberechtigt (als "Peers") zusammen, statt sich einem Chef oder einer Obrigkeit unterordnen zu müssen. Aber kann die Peer-Produktion, was der Kapitalismus nicht kann: Fülle in dem oben genannten zweiten Sinne produzieren, also "was man braucht, wenn man es braucht"? Und zwar nicht nur in einigen Bereichen (z.B. Software) und nicht nur für manche Menschen, sondern in allen Bereichen und für alle?

Um dies möglich zu machen, muss die Peer-Produktion den Sprung von der immateriellen in die materielle Welt schaffen, sodass nicht nur Informationsgüter, sondern auch materielle Güter und Dienstleistungen peer-produziert werden. Aber geht das überhaupt - funktioniert Peer-Produktion nicht nur deshalb, weil Informationen so einfach kopiert und bearbeitet werden können?

Auch wenn nicht wenige Autor/innen glauben, dass die leichte Kopierbarkeit den Informationen inhärent ist, handelt es sich tatsächlich eher um eine Frage der richtigen Infrastruktur. Noch vor 30 Jahren war etwa die verlustfreie Vervielfältigung von Musik Konzernen mit teuren Spezialmaschinen vorbehalten, wie Glyn Moody (2010) betont. Erst die Verbreitung von Internet-Breitbandanschlüssen und hinreichend großen Datenträgern hat sie alltäglich gemacht.

Ähnliche Entwicklungen sind für die Herstellung materieller Dinge nicht nur denkbar, sondern in bestimmten Bereichen schon im Gange. Die Vervielfältigung materieller Dinge ist unter drei Voraussetzungen möglich: Man muss über die gesamten Baupläne sowie über die benötigten Produktionsmittel und Ressourcen verfügen. Im folgenden Abschnitt soll kurz skizziert werden, wie eine verallgemeinerte Peer-Produktion diese Voraussetzungen erfüllen kann.


Bausteine einer verallgemeinerten Peer-Produktion

Die Betrachtung der heutigen Formen der Peer-Produktion zeigt, dass die verwendeten Ressourcen und Produktionsmittel im Allgemeinen Gemeingüter oder verteilter Besitz sind. Bei digitaler Peer-Produktion sind Wissen und Informationen die wichtigsten Ressourcen. Sie gelten dabei als Gemeingüter, die von allen genutzt und weiterentwickelt werden können. Exemplarisch für eine bei Peer-Produzierenden weitverbreitete Ansicht formuliert die Wikimedia Foundation, die hinter der Wikipedia steht, sogar den Anspruch, dass alles öffentlich relevante Wissen Gemeingut sein sollte:

Stellen Sie sich eine Welt vor, in der jeder Mensch freien Zugang zur Gesamtheit allen Wissens hat. Das ist unser Ziel. (Wikimedia 2010, eigene Übersetzung)

Eine Form Freien Wissens ist Freies Design, auch Open Hardware genannt. Open-Hardware-Projekte entwerfen materielle Dinge und teilen ihre Baupläne und Konstruktionsbeschreibungen mit der ganzen Welt. Dieser Bereich der Peer-Produktion ist noch relativ jung, aber in den letzten Jahren sind zahlreiche neue Projekte entstanden. Das US-amerikanische Magazin Make hat Ende 2009 einen großen Report zum Thema veröffentlicht (Make 2009), der weit über hundert Projekte enthielt - seitdem dürften es noch deutlich mehr geworden sein. Dieses Freie Produktionswissen darüber, wie Dinge hergestellt werden (aber auch, wie man sie benutzt, wartet, repariert und schließlich fachgerecht recycelt), ist der erste Baustein der materiellen Peer-Produktion.

Die wesentlichen Ressourcen - bei digitaler Peer-Produktion das Wissen - werden in der Logik der Peer-Produktion also als Gemeingüter behandelt. Für die materielle Peer-Produktion, die nicht nur Wissen, sondern auch natürliche Ressourcen benötigt, bedeutet dies, dass gemäß der Logik der Peer-Produktion die Naturressourcen ebenfalls als Gemeingüter zu betrachten sind. Die entsprechende Schlussfolgerung hat schon Karl Marx gezogen:

Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias [gute Familienväter] den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen. (Marx 1894)

Dass natürliche Ressourcen gemäß dieser Logik zum Gemeingut werden, bedeutet, dass niemand Exklusivrechte auf sie erheben, sie verwerten oder verkaufen kann. Sie müssen in ihrer Substanz erhalten bleiben, dürfen also genutzt, aber nicht aufgebraucht werden. Jede/r hat in diesem Rahmen das Recht auf anteilige Nutzung, wobei der ökologische Fußabdruck oder verwandte Messgrößen Richtwerte vorgeben können. Bei der heutigen Bevölkerungsgröße könnten die von einer Person genutzten Güter also natürliche Ressourcen im Umfang von maximal 1,8 globalen Hektar erfordern. Nur so kann mit der ersten Herausforderung, der Begrenztheit der irdischen Ressourcen, auf eine Weise umgegangen werden, bei der niemand zu kurz kommt.

Die Bewahrung und Nutzung der natürlichen Ressourcen als Gemeingüter ist der zweite Baustein der materiellen Peer-Produktion. Die Durchsetzung dieser Logik ist wahrscheinlich die größte Herausforderung für die Verallgemeinerung der Peer-Produktion, da sie mit der heutigen Auffassung praktisch aller Dinge, einschließlich großer Teile der Natur, als Privateigentum radikal bricht.

Jede Produktion ist auf Produktionsmittel angewiesen - zum Beispiel auf die Maschinen, mit denen etwas produziert wird. Im Bereich der digitalen Peer-Produktion gehören die Produktionsmittel meist vielen verschiedenen Leuten. Zum Schreiben von Freier Software verwende ich meinem eigenen Computer, der offiziell mein Eigentum ist. Ich dürfte ihn verkaufen oder auch vermieten, aber das tue ich nicht, sondern ich benutze ihn. Dies wird als Besitz bezeichnet: Besitz ist, was man benutzt. Die Wohnung, die ich gemietet habe, ist mein Besitz, aber das Eigentum meines Vermieters.

Bei digitaler Peer-Produktion fallen Besitz und Eigentum bei den materiellen Produktionsmitteln meist zusammen, aber worauf es ankommt, ist der Besitz. Die Produktionsmittel werden benutzt, nicht verwertet. Dabei ist dieser Besitz über viele Menschen verteilt. Es gibt keine Einzelperson oder kleine Gruppe von Personen, die alle Rechner kontrolliert, die die am Linux-Projekt Beteiligten benutzen. Durch die Verteilung des Besitzes werden einseitige Abhängigkeitsverhältnisse verhindert. Niemand kann die anderen blockieren, indem er die Nutzung der Produktionsmittel verweigert oder unter Bedingungen stellt.

Die Entwicklung im Bereich materieller Peer-Produktion geht in eine ähnliche Richtung: Dezentrale produktive Infrastrukturen entstehen, die sich die Beteiligten zum Zweck ihrer Bedürfnisbefriedigung organisieren. Es geht darum, zu produzieren, was man haben möchte, oder zu tun, was man gerne tut, nicht ums Geldverdienen. Dabei sind die produktiven Infrastrukturen so verteilt, dass niemand den Zugang zu diesen Produktionsmitteln kontrollieren kann.

Ein Beispiel sind Mesh-Netzwerke. Das klassische Modell eines Netzzugangs ist hierarchisch: Ein Provider bietet Tausenden oder Hunderttausenden von Menschen Zugang zum Internet. Der Provider kann jeder/m Einzelnen gezielt den Zugang nehmen; er kann Zugänge zensieren und überwachen, was die Nutzer/innen machen; und wenn ihm selbst der Zugang abgeschnitten wird, sind alle seine Kund/innen offline. Dagegen sind Mesh-Netzwerke dezentrale Netzwerke, in denen alle beteiligten Computer gleich sind: Jeder kann mit allen anderen direkt per Funk kommunizieren, sofern sie in seiner Reichweite sind; wenn nicht, suchen sich die betroffenen Rechner einen möglichst schnellen Weg über andere Computer in ihrer Nähe. Es gibt keine zentralen Server, die abgeschaltet werden könnten, und wenn einzelne Rechner ausfallen, sucht sich das Netzwerk andere Wege um die fehlenden Rechner herum. Es gibt also keine zentrale Instanz, die das Netzwerk oder Teile davon kontrollieren könnte.

Die Einwohner/innen der südafrikanischen Stadt Scarborough organisieren sich mittels eines solchen Mesh-Netzwerks Internet und Telefonie. Die nötige Hardware ist über viele Leute verteilt - wer beitragen möchte, kauft sich einen WLAN-Router, eine Antenne oder andere nötige Hardware. Es gibt niemand, dem das ganze Netz oder ein größerer Teil davon gehört; niemand, der es abschalten oder zensieren könnte. Die benötigte Software und ein Teil der nötigen Hardware wird als Freie Software und Open Hardware entwickelt, kann also selber angepasst und ggf. hergestellt werden (vgl. Rowe 2010).

Was heute in einigen Städten schon für Internet und Telefon funktioniert, ist auch für die dezentrale Versorgung mit (Solar- und Wind-)Energie oder Wasser denkbar. Selbstorganisierte Projekte zur Wasserversorgung existieren beispielsweise in Südamerika (vgl. De Angelis 2010).

Ein weiteres Beispiel sind die im Bereich der digitalen Peer-Produktion weitverbreiteten Hackerspaces (siehe hackerspaces.org) - selbstorganisierte Räume (wie sie auch in der linken Szene existieren), wo sich Menschen treffen, um beispielsweise Freie Software zu schreiben oder zur Wikipedia und anderen Freien Projekten beizutragen. Hackerspaces sind immer auch Lernräume, wo man Workshops veranstalten oder sein Wissen informell teilen und an andere weitergeben kann; zudem dienen sie der Entspannung und Erholung. Finanziert werden sie üblicherweise durch freiwillige Beiträge der Benutzer/innen - laufende Kosten wie die Miete werden über einen Verein gedeckt, an den jede/r ein paar Euro pro Monat überweist. Die Nutzung des Raums ist dabei aber üblicherweise nicht an eine Vereinsmitgliedschaft gebunden, sondern steht allen frei.

Im Bereich der materiellen Produktion wurden in Dutzenden von Städten sogenannte Fab Labs (fab.cba.mit.edu) eingerichtet - im deutschsprachigen Raum gibt es schon sechs davon, nämlich in Aachen, Berlin, Köln, München, Wien und Luzern. Von der Idee her sind Fab Labs ähnlich wie Hackerspaces selbstorganisierte Räume, wobei sie heute noch teuer sind und meist von Universitäten oder anderen größeren Organisationen gesponsert werden müssen. In solchen Labs gibt es eine ganze Reihe von Produktionsmaschinen, die von den Menschen in der Umgebung benutzt werden können. Fab Labs verfügen u.a. über CNC-Maschinen, die computergesteuert Materialblöcke zurechtschneiden oder -fräsen können, sowie über Fabber (auch 3D-Drucker genannt), die Gegenstände umgekehrt aus vielen Schichten aufbauen, wobei die einzelnen Schichten quasi "ausgedruckt" werden und daraus Schicht für Schicht ein dreidimensionaler Gegenstand entsteht.

Fast alle heutigen Produktionstechniken werden tendenziell kleiner und eher verfügbar für begrenzte Gruppen (beispielsweise für Leute, die Hackerspaces betreiben), ohne dass diese dafür viel Geld ausgeben müssten. Heute sind die Fab Labs noch teuer, weil sie auf proprietäre Maschinen setzen, die auf dem Markt eingekauft werden müssen und entsprechend viel kosten. Dies ändert sich aber allmählich, da in den letzten Jahren diverse Peer-Projekte entstanden sind, die CNC-Maschinen, 3D-Drucker und andere Produktionsmittel entwerfen und ihre Ergebnisse als Open Hardware veröffentlichen. Solche Freien Produktionsmittel - kleine CNC-Maschinen wie Contraptor (www.contraptor.org) und Valkyrie (letsmakerobots.com/node/9006), kleine Fabber wie RepRap (reprap.org) und Fab@Home (fabathome.org) - sind noch nicht konkurrenzfähig mit der kapitalistischen Massenproduktion, aber in bestimmten Bereichen auch nicht mehr so weit davon entfernt.

Sobald die Maschinen selber das Ergebnis von Peer-Produktion sind und im Rahmen solcher produktiver Zentren selbst wiederum hergestellt, also vervielfältigt werden können, wird es spannend. Denn so wird eine partielle Abkoppelung vom Markt möglich, wo man die Dinge nicht mehr kaufen muss, sondern sie in Peer-Produktion gemeinsam herstellen kann. Die selbstorganisierte Bereitstellung und Verwendung von Produktionsmitteln ist der dritte Baustein der materiellen Peer-Produktion.

All das würde nie zustande kommen ohne die Menschen, die in freiwilliger Selbstauswahl nützliche Dinge entwerfen und ihr Wissen teilen, natürliche Ressourcen zugänglich machen und erhalten sowie selbstorganisierte Produktionsinfrastrukturen einrichten und betreiben. Die freiwilligen Beiträge der Beteiligten, die - jede/r auf die Art und Weise, die ihren oder seinen Bedürfnissen und Interessen entspricht - dazu beitragen, dass Peer-Projekte (sei es für Software oder materielle Produktion) erfolgreich sind, sind der vierte und zweifellos wichtigste Baustein.


Fairness-Fragen

Kann eine Gesellschaft auf der Basis von Peer-Produktion und Selbstorganisation tatsächlich aus eigener Kraft funktionieren? Oder ist sie in bestimmten Bereichen der gesellschaftlichen Organisation auf herkömmliche Elemente der Vergesellschaftung - wie Staat, Polizei, Markt - angewiesen? Der Ruf nach einer zentralen Regulierungsinstanz kommt besonders schnell bei Fragestellungen auf, die sich unter dem Begriff der Fairness (oder Gerechtigkeit) fassen lassen.

Dies betrifft zum einen den Zugang zu Ressourcen. Gemäß der Logik der Peer-Produktion können Ressourcen genutzt werden, sofern sie in ihrer Substanz für die Nachwelt erhalten bleiben und sofern für die anderen jeweils ähnlich viel da ist wie für eine/n selbst. Doch was geschieht, wenn sich einige über diese Begrenzungen hinwegsetzen und langfristig so viel verbrauchen, dass sie die durchschnittlich pro Person verfügbare Biokapazität deutlich überschreiten und so auf Kosten anderer leben?

Die Verhinderung und Sanktionierung solchen Fehlverhaltens scheint zunächst eine zentrale, staatliche Instanz zu erfordern, doch die Praktiken heutiger Peer-Projekte zeigen, dass es auch anders geht. Die Beteiligten reagieren auf Fehlverhalten mit "flaming and shunning", was man auf Deutsch mit "Schimpfen und Schneiden" wiedergeben könnte (vgl. Lehmann 2004). Man beschimpft die Übeltäter/in zunächst, es kommt zu "Flames", lautstark und öffentlich (z.B. auf Mailinglisten) geäußerter Kritik. Werden diese Warnungen ignoriert, kann der/die Betroffene "geschnitten" werden, d.h. man verweigert die weitere Zusammenarbeit mit ihr oder ihm. Das kann bis zum Boykott, bis zum zeitweiligen oder dauerhaften Ausschluss aus dem Projekt führen.

Nun sind aber in jeder Gesellschaft die Menschen auf andere angewiesen - ohne die Zusammenarbeit mit anderen ist das Überleben schwierig und ein gutes Leben definitiv unmöglich. Wenn der allgemeine Konsens dahin geht, bestimmte Verhaltensweisen nicht zu akzeptieren und mit Kooperationsverweigerung zu sanktionieren, werden sich solche Verhaltensweisen daher kaum aufrecht halten lassen.

Ein anderer möglicherweise problematischer Bereich betrifft die Verteilung von Aufgaben. Normalerweise funktioniert Peer-Produktion auf der Basis von Selbstauswahl und Stigmergie. Jede/r sucht sich Aufgaben aus, die ihr oder ihm gefallen oder wichtig sind, und orientiert sich dabei an den Hinweisen, die andere hinterlassen. Doch wie geht man damit um, wenn das bei bestimmten Aufgaben nicht funktioniert, wenn sich dafür keine Freiwilligen finden?

Eine erste Frage ist, ob solche Aufgaben tatsächlich notwendig sind. Wenn sie niemandem so wichtig sind, dass sie oder er zu ihrer Erledigung bereit wäre, dann kann man darauf vielleicht einfach verzichten? Wenn das nicht der Fall ist, bleibt als weitere Möglichkeit zum Umgang mit solchen unbeliebten Aufgaben die Automatisierung. Automatisierung hat seit Beginn der "industriellen Revolution" ja schon enorme Wirkungen entfaltet; immer größere Teile der Produktion werden ganz oder teilweise automatisiert. Besonders gut geeignet für die Automatisierung sind dabei Aufgaben, die eintönig und repetitiv und deshalb wenig beliebt sind. Kreative Aufgaben, die menschliche Intelligenz und Intuition erfordern, bleiben übrig, sind erfahrungsgemäß aber auch weniger problematisch, da sie spannend und reizvoll sind.

Allerdings stellt im Kapitalismus der Lohn eine Grenze der Automatisierung dar - je schlechter bezahlt ein Job ist, desto schwieriger wird es, ihn ohne Mehrkosten zu automatisieren. Viele undankbare Tätigkeiten wie z.B. das Putzen werden aber so schlecht bezahlt, dass unter kapitalistischen Umständen ihre Automatisierung wenig sinnvoll ist. Wenn es dagegen bei Peer-Produktion Aufgaben gibt, an deren Erledigung alle oder viele interessiert sind, die aber niemand selber erledigen will, dann ist der Anreiz, sie ganz oder teilweise zu automatisieren, sehr hoch. Und da die Automatisierung von Tätigkeiten selbst eine spannende und herausfordernde Beschäftigung ist, sind die Chancen, dafür Freiwillige zu finden, sehr viel besser.

In vielen Fällen lassen sich Tätigkeiten auch so umorganisieren und umgestalten, dass sie interessanter und angenehmer werden. Im Kapitalismus finden die undankbaren Arbeiten meist unter sehr schlechten Bedingungen statt (z.B. Büros putzen um 4 Uhr morgens), aber diese Rahmenbedingungen sind der Aufgabe nicht inhärent. Bei Peer-Produktion entscheiden die Freiwilligen, unter welchen Umständen sie eine Aufgabe übernehmen und wie sie sie ausgestalten. Sie können also sagen: "Wir machen das tagsüber, und wenn das den anderen nicht passt, sollen sie's selber machen."

Falls aber weder Automatisierung noch Umorganisation greifen, können die Betroffenen Faustregeln zur fairen Aufteilung dieser Aufgaben entwickeln. Alle, die an der Erledigung Interesse haben, übernehmen hin und wieder im Wechsel eine der Aufgaben. Auf diese Weise hat niemand allzu viel damit zu tun.

Peer-Produktion ist kein Allheilmittel zur Lösung aller gesellschaftlichen Probleme, aber sie eröffnet vielfältige Möglichkeiten, sich mit anderen zusammenzutun und sich gemeinsam der Dinge anzunehmen, die einer/einem wichtig sind. Unter kapitalistischen Umständen ist kein gutes Leben für alle möglich. Die Voraussetzungen der verallgemeinerten Peer-Produktion sind sehr viel besser, weil sie auf dem Bedürfnisprinzip basiert: Menschen tun sich zusammen und produzieren etwas, weil es ihren produktiven oder konsumtiven Bedürfnissen entspricht. Anders als im Kapitalismus, wo sich im Konkurrenzkampf jede/r strukturell gegen die anderen durchsetzen muss, muss bei gemeinsamer Produktion Bedürfnisbefriedigung aber weder auf Kosten anderer noch auf Kosten der Natur gehen. Im Gegenteil: Peer-Produktion funktioniert deshalb so gut, weil sich die Menschen gegenseitig bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse unterstützen, was für alle Beteiligten von Vorteil ist.


Literatur

De Angelis, Massimo (2010): Water Umaraqa, www.commoner.org.uk/blog/?p=241 (5.1.2011).
Heylighen, Francis (2007): Warum ist Open-Access-Entwicklung so erfolgreich? In: Bernd Lutterbeck, Matthias Bärwolff, Robert A. Gehring (Hg.), Open Source Jahrbuch 2007, Lehmanns Media, Berlin, www.opensourcejahrbuch.de/portal/articles/pdfs/osjb2007-02-04-heylighen.pdf (20.1.2011).
Lehmann, Frauke (2004): FLOSS Developers as a Social Formation. In: First Monday, 9(11),
firstmonday.org/htbin/cgiwrap/bin/ojs/index.php/fm/article/view/1186/1106 (25.1.2011).
Make (2009): Open Source Hardware 2009, blog.makezine.com/archive/2009/12/open_source_hardware_2009_-_the_def.html (5.1.2011).
Marx, Karl (1894): Das Kapital. Dritter Band, MEW 25, Dietz, Berlin 1983.
Moody, Glyn (2010): Ethics of Intellectual Monopolies, Keynote auf der FSCONS 2010.
Rowe, David (2010): Baboons, Mesh Networks, and Community, www.rowetel.com/blog/?p=124 (5.1.2011).
Siefkes, Christian (2010): Peer Produktion: Wie im Internet eine neue Produktionsweise entsteht. Widerspruch - Münchner Zeitschrift für Philosophie, Heft 52, www.keimform.de/2011/peer-produktion/ (19.1.2011).
Wikimedia Foundation (2010): wikimediafoundation.org/wiki/Home (5.1.2011).
Wikipedia (2010): List of countries by ecological footprint, en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_ecological_footprint (11.1.2011).

Raute

2000 Zeichen abwärts

(Wider-)Standbein und Spielbein

Solange das gute Leben nicht alltäglich ist, wird Analyse, Kritik und Widerstand notwendig sein. Obwohl es zum ersten Mal in der Geschichte ein Leichtes wäre, dass kein Mensch auf dem Globus Hunger leiden und Mangel erleben müsste, werden wir noch lange damit beschäftigt sein, die Not zu wenden. Zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit klafft also ein riesiger Abgrund - so bleibt uns nur eine Welt, in dem der ganz normale Wahnsinn regiert. Das ist jedoch kein Grund die Flinte ins Korn zu werfen oder Trübsal zu blasen.

Um in dem unwirtlichen Dasein die Balance nicht zu verlieren, versuche ich mich im bewussten Wechsel zwischen (Wider-)Standbein und Spielbein. Der, ob der sich verschlimmernden Verhältnisse drohenden Logik von noch mehr Sitzungen, noch mehr Veranstaltungen, noch mehr Demos, noch mehr darüber Lesen und noch genauer Bescheid Wissen, begegne ich mit regelmäßigem "Abschalten". Wer nicht genießt, ist ungenießbar! Ein Leben ohne Sinnlichkeit, Leidenschaft, Kunst, Humor und Ironie ist keines. (Dem oft zitierten Hedonismus fröne ich allerdings nicht - so wie keinerlei Ismen. Denn Trauer wird immer auch zum Leben gehören.)

Die Sphäre des Intellekts braucht als Gegengewicht die Sphäre der Sinnlichkeit. Aber unter der Diktatur des prompten Konsumierens haben es Sinnlichkeit und Erotik schwer. Konrad Paul Liessmann hat dieses Phänomen beschrieben: "Erotik" bedeutet "Spiel der Umwege", "Spiel der Distanzen", "Spannung zwischen zwei Polen". "Die Kunst des Erotischen besteht darin, diese Spannung kunstvoll auszubauen und aufrecht zu erhalten. Meine Diagnose der Gegenwart ist, dass das Erotische deshalb zu verschwinden droht, weil wir keine Kultur des Umwegs mehr sind."

Ich seile mich trotzdem oft ab von den kritischen Höhenflügen in den Garten der Lüste...

Übrigens, wer Sinnlichkeit (er-)lebt, wird nicht dauernd nach Sinn suchen (müssen).

M.Wö.

Raute

Calamari Union

"(Die Kritik) ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will. Denn der Geist jener Zustände ist widerlegt. An und für sich sind sie keine denkwürdigen Objekte, sondern ebenso verächtliche als verachtete Existenzen. Die Kritik für sich bedarf nicht der Selbstverständigung mit diesem Gegenstand, denn sie ist mit ihm im reinen. Sie gibt sich nicht mehr als Selbstzweck, sondern nur noch als Mittel. Ihr wesentliches Pathos ist die Indignation, ihre wesentliche Arbeit die Denunziation."
Karl Marx

1. 1985 hat Aki Kaurismäki, einer der letzten wirklich Großen des Kinos, einen Film realisiert, der in jeder Hinsicht bemerkenswert ist, tiefsinnig, witzig, formal souverän - Calamari Union. Vierzehn bis achtzehn (je nach Beobachter weichen die Angaben ab) junge Männer, die alle bis auf einen FRANK genannt werden, beschließen, den Arbeitervorort Kallio im Norden Helsinkis zu verlassen, um im Süden der Stadt an der Küste, im Villenviertel Eira, ein besseres Leben zu suchen. Auf dem Wege dorthin verlieren sich allerdings alle bis auf gerade mal zwei - sei es, daß sie eines (gewaltsamen) Todes sterben, sei es, daß sie in einem Brotberuf eine Anstellung finden, sei es schließlich, daß sie vor dem Traualtar landen. Und zu allem Überdruß müssen die zwei, die dann tatsächlich an ihr Ziel gelangen, konsterniert realisieren, daß dies auch nicht das gesuchte Eldorado ist. Ungebrochen jedoch ziehen sie mit einem Ruderboot dann ins nächste Gelobte Land weiter: nach Estland.

2. Von vierzehn bis achtzehn gerade mal zwei: Dies dürfte in der Tat ungefähr dem Prozentsatz derer entsprechen, die sich durch alle Widrigkeiten nicht von dem Gedanken abbringen lassen, daß das letzte Wort der Geschichte noch nicht gesprochen sein darf, auch wenn sie daran vielleicht nur deswegen festhalten wollen, weil die Gegenwart unter aller Kritik ist.

3. Unter aller Kritik - und das heißt: Selbst wenn es keine Perspektiven der Veränderung gäbe, selbst dann könnte es nur um die Denunziation der Gegenwart gehen, könnte es nur darum zu tun sein, diese Gegenwart, wie es Heiner Müller so schön formuliert hat, "unmöglich zu machen", weil sie an sich schon "unmöglich" ist: nämlich lächerlich, irrational, kläglich und epimetheisch.

4. Angesichts der objektiven Voraussetzungen, die die Geschichte sich hat angelegen sein lassen zu schaffen, angesichts all der technologischen Kapazitäten, ist ein Festhalten an der Gegenwart in der Tat nur noch peinlich: Hier blinder Konsum und dort absolute Misere, das Beherrschtsein durch sachliche Mächte (die "Märkte"), das das Gerede von "Freiheit" zum Hohn werden läßt, das Wachstumsdiktat, das dazu führt, daß man Raubbau an den globalen Ressourcen betreibt ("ökologischer footprint"), Herstellung von Schnickschnack, geplante Obsoleszenz, Biosprit, CO2, globale Produktion, wo doch die Waren auch dort, wo man sie im Endeffekt braucht - und nicht nur in Malaysia oder in China -, fabriziert werden könnten, sinnlose Tätigkeiten von der Börse bis hin zur Reklame, absolut degradierende Freizeitvergnügen (vom Fernsehen mit seinen Reality-Shows über Computerspiele bis hin zu den anderen circenses), die geistige Verkommenheit (und nicht nur im "Prekariat"), political correctness und andere Kindereien, Schönheits- und Jugendwahn, Überlegenheitsdünkel, Opferhysterie, Esoterik, kurz: die gesamte Produktions- und Konsumtionsweise des Kapitalsystems ist es wert, wegen Verblödung, die schier an Fahrlässigkeit grenzt, über den Haufen geworfen zu werden. Dies alles gilt es demnach dem Spott preiszugegeben, und zwar gerade auch dann, wenn die Perspektiven eines Übergangs aus dem epimetheischen in ein prometheisches Zeitalter nicht (mehr) gegeben sein sollten, eben weil das Marxsche Subjekt der Geschichte, weil die Totengräber ausgestorben sind.

5. Die Männer, die in Calamari Union alle FRANK genannt werden, heißen so vielleicht nur, weil sie x-beliebig austauschbar sind. Tatsächlich kommt es auch hier, wo es um die Kritik der Gegenwart geht, nur auf diese Kritik, nicht auch auf die Personen an, die sie üben. Warum sollten deshalb nicht alle diejenigen, die mit der Gegenwart abgeschlossen haben, sich als Realisierungen eines Akteurs, der, sagen wir, FRANK genannt werden könnte, begreifen und unter diesem Namen das Gegebene, das schon tot, aber noch nicht begraben ist, denunzieren? Der Name könnte freilich auch ein anderer sein.

FRANK

Raute

Das verlorene Meer der Lust

von Lorenz Glatz

Wenn du ein Schiff bauen willst, fange nicht damit an, Holz zu beschaffen, Planken auszuschneiden und Arbeit zu verteilen, sondern wecke im Herzen der Menschen die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer.
(Angeblich von Antoine de Saint Exupery)

Wer gut lebt oder zu leben meint, macht daraus kein Problem. Nur wenn sich das Leben wie heutzutage für viele immer schwerer anfühlt, wird das gute Leben sogar zum öffentlichen Thema. Gefragt sind dann meist Rezepte, en gros und en detail: im täglichen Gespräch, in den Kirchen und Eso-Seminaren, in den Sprechstunden der Therapeuten, in den Apotheken, bei den Glücksforschern, in den Medien und in der Politik. Es entsteht ein Diskurs des guten Lebens. Und wie immer, wenn Verhalten und Beziehungen der Menschen zum Thema werden, wird über viel geredet, und geschwiegen über noch viel mehr, weil vergessen und verdrängt. Die rettenden Gedanken, die zur Verwirklichung drängen, sind rar, aber die Wirklichkeit selbst so krass, dass sie kaum mehr zu verdrängen ist, sondern quasi selbst zum Denken drängt.


Die Zivilisation ist unausweichlich

Kultur (die, in der nach Freud "das Unbehagen" herrscht) hat heute schon keine wirkliche Mehrzahl mehr. Sie ist drauf und dran, buchstäblich global zu werden. Wahrscheinlich werden eben die letzten Menschen im amazonischen Urwald, die noch nicht wussten, dass sie in ihr eingeschlossen sind, von Holzfällern, einer Experten-Kommission oder Todesschwadronen erreicht (Welt Online 8.2.11). Wirklich entgehen kann dieser Kultur aber schon des Längeren niemand, ja die ganze Ökosphäre mit Menschen-, Tier- und Pflanzenwelt ist von ihr bis ins Mark getroffen.

Am Fortschritt, der uns in Jahrtausenden auf die gegenwärtige "Höhe der Zivilisation" geführt hat, wie in den "entwickelten" Ländern schon jedes Schulkind weiß, ist wirklich nachhaltig, dass er uns irritiert. Wir sitzen vor Bergen von HiTech-, Billig-, Qualitäts-, Bio- und Sonstwas-Ware, mit der sich zu trösten versucht, wer zahlen kann, und nach der sich oft verzehrt, wer nicht. Immer mehr Leute, die nur noch für die Arbeit leben, in der sie sich täglich ein Stück mehr auflösen oder der sie verzweifelt nachlaufen (zu müssen glauben). Alles entschieden ungesund.

Die Arbeitsgesellschaft desintegriert sich, der Raubbau an fossiler Energie, Mineralien und Metallen scheitert an der Endlichkeit der Erde, die Fruchtbarkeit des Bodens wird zerstört, das Klima für die Menschen und viele andere Lebewesen katastrophal verdorben, und mit Nuklear- und Gentechnologie ist die Büchse der Pandora aufgemacht. Die Folgen sind erwartbar und bald schon unvermeidlich. Und doch wird all das bis zur Erschöpfung verdrängt - eine "Apokalypseblindheit", wie Günter Anders es schon vor Jahrzehnten konstatiert hat.

Kultur ist ein Selbstschädigungsprogramm der Menschheit geworden. Nicht regional (das wäre das erste Mal nicht, siehe z.B. die Entwaldung der Mittelmeerländer im Altertum oder noch tausende Jahre davor den Flop der ersten Sesshaftwerdung im Nahen Osten), sondern einfach global. Und diese Sintflut droht uns, nicht erst nach uns. Die Diagnose ist freilich wesentlich leichter zu stellen und zu begründen als Wege aus der Malaise raus zu finden. Schlimmer noch: Es scheint aussichtslos.

Daher: Weitermachen. Schlafen gehen. Morgen muss eins schließlich wieder raus. Tunnelblick auf die Arbeit und dann sich was gönnen, was tun für die Gedankenfreiheit (die "Freiheit von"), kaufen, anziehen, starten, schlucken oder sich sonstwie reinziehen, weil man schon vom Hinschauen auf sich selbst ins Grübeln kommt und vom Wegschauen noch trübsinnig wird. Und ängstlich den Aberglauben pflegen, dass die Lösung immer mehr vom Selben ist: dass wir, als Menschheit sozusagen, eben "nachhaltiger" wirtschaftswachsen und unsere Technologien bloß weiter noch verfeinern und besser nutzen müssen. Aber wer alt genug ist, wird sich erinnern: Das wird doch schon längst gemacht - die heutige Bredouille ist das Ergebnis von Jahrzehnten Politik und Wissenschaft im Dienst der Arbeitsplätze, der Modernisierung und des Umweltschutzes. An all das zu glauben ist eine Gratwanderung. Eine zwischen Überschnappen und In-Depression-Versinken.


Zivilisiert sein ist Resignation

Das Dilemma, wie die gekränkten Einzelnen mit den kränkenden Forderungen und Zwängen der Gesellschaft zurechtkommen können, haben schon Freuds PatientInnen vor 120 Jahren formuliert: "Sie sagen ja selbst, dass mein Leiden wahrscheinlich mit meinen Verhältnissen und Schicksalen zusammenhängt; daran können Sie ja nichts ändern; auf welche Weise wollen Sie mir denn helfen?" Die Perspektive, die Freud zu bieten hatte, war: "Ich zweifle ja nicht, dass es dem Schicksal leichter fallen müsste als mir, Ihr Leiden zu beheben; aber Sie werden sich überzeugen, dass viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, Ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Gegen das letztere werden Sie sich mit einem wieder genesenen Nervensystem besser zur Wehre setzen können." (de.wikisource.org/wiki/Studien_über_Hysterie/Zur_Psychotherapie_der_Hysterie#Seite_222)

Wenn heute das soziale Biotop, in dem eins steckt, nicht mehr auszuhalten ist und eins schlappzumachen droht, steht ein seit Freud enorm angewachsenes Heer von Hilfen und Helferinnen bereit: Beratungsstellen, Sozialarbeiter, Coaches, Psychiater, Psychotherapeutinnen. Begleitend, vorbeugend, intervenierend, reparierend. Zwar geben sich des Professors Nachfolger und die anderen Schulen der Seelenheilkunde und erst recht die diversesten Heilungs- und Heilsverfahren (deren Markt seit Jahren boomt und vermutlich noch eine große Zukunft hätte, wenn dem wachsenden Unglück auch wachsende Kaufkraft entspräche) allein schon konkurrenzbedingt meist viel optimistischer. Es scheint aber eine stets zunehmende Zahl von Therapeuten usw. mit ausgefeilten Methoden und Verfahren zu brauchen, um die immer größere Zahl von Patienten und Klientinnen zu kurieren, welche die bunten "Herausforderungen", die auch ein europäisches Durchschnittsleben in "Frieden und Wohlstand" bietet, nicht mehr mit der nötigen Kreativität und Phantasie, dem gehörigen Mut und Selbstvertrauen stemmen. Emotionale und soziale Verhaltensstörungen, Aufmerksamkeitsdefizite, Ängste und Depressionen nehmen schon im Kindesalter alarmierend zu. (sciencev1.orf.at/science/news/62005)

Die "Verhältnisse und Schicksale", von denen Freuds Patientenschaft sprach, scheinen die Frustrationstoleranz gewöhnlicher Menschen in steigendem Maß zu überfordern und um sich in jene zu fügen und sie alltäglich durchzustehen immer mehr therapeutische Aufrüstung der "Wehre" notwendig zu machen. Die von den Verhältnissen auferlegten Schicksale zu ändern ist dabei freilich weniger denn je das Thema der Therapie noch das des Patienten. "Wir zwei werd'n das net ändern", erkannte man in Wien vermutlich schon zu Freuds Zeiten. Also: "In diesem Sinne ist die Therapie ein Kurs in Resignation" und: "Theoretisch liegt der Unterschied zwischen geistiger Gesundheit und Neurose nur im Grad und in der Wirksamkeit der Resignation: geistige Gesundheit ist erfolgreiche, wirksame Resignation - normalerweise so wirksam, dass sie wie eine ziemlich glückliche Befriedigung aussehen kann. .... Auf die Dauer erhebt sich nur die Frage, wie viel Resignation der Einzelne ertragen kann, ohne zu zerbrechen." (Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Suhrkamp 1987, 242) Die Dauer dieses Satzes währt nun auch schon bald sechzig Jahre, das gefragte Maß ist für täglich eher mehr Menschen überschritten und die "normale Wirksamkeit" für eine eher sinkende Zahl erreichbar.


Die "Schicksale" der Lust

Grundsätzlich widerstrebt uns aber Resignation. Menschen streben nach Lust als dem Inbegriff des Guten und meiden Unlust/Schmerz als das höchste Übel, sie beurteilen dementsprechend auch spontan das Zusammenleben mit den anderen Menschen danach, wie "lustig" bzw. "unlustig" es ist. So sind Menschen konstituiert. Für diese angeblich unmoralische Ansicht wurden die Epikureer von ihrem Anbeginn vor siebzehnhundert Jahren an gescholten, verspottet und diffamiert. Epikur selbst hat zudem - meines Erachtens zu Recht - darauf hingewiesen, dass die Wahrheit dieser Aussage nicht erst mit Vernunftgründen zu beweisen sei, sondern man an sie nur so "erinnern" müsse wie "dass Feuer heiß, Schnee weiß und Honig süß sei" (Cicero, De finibus bonorum et malorum I39f.).

Es ist Sinnenlust, natürlich gegeben, gesellschaftlich gestaltet, gesteigert und verfeinert: An-sehen, Zu-hören, Riechen und Schmecken-Können, Berühren und Festhalten, sich und andere Menschen, und die Natur. Lust ist Verlangen und Genuss, aktiv und passiv, Frage und Antwort, Kommunikation mit unsresgleichen und der Welt, Lust ist im engsten wie im weitesten Sinn erotisch, ihr Gebiet ist der Leib, die Früchte der Erde, das All. Und Lust ist unverzichtbar, ein "unveräußerliches, substantielles Interesse, das nicht, wie es der bürgerliche Markt- und Herrschaftsmechanismus suggeriert, bald fahrengelassen und verraten, bald festgehalten und realisiert, sondern nur, und sei es in den depraviertesten, entfremdetsten Formen, festgehalten werden kann", wie Freud es gegen die herrschende Vernunft seiner Zeitgenossen verteidigt hat und auch gegen den Großteil seiner Nachfolger verteidigen würde. (Ilse Bindseil auf: ilsebindseil.de/txt/txt11.html)

Schon Epikur spricht von verdrehten/verunstalteten ("depravierten") Lebewesen, die mit dem Streben nach Lust nicht zurechtkämen. Solch "beschädigtes Leben" (Adorno) ist allerdings nicht die Ausnahme, es ist vielmehr unser kulturell-zivilisatorisches "Schicksal". Das menschliche Ich entstand als seelische Instanz, die dem Menschen in der Realität zu dem verhelfen soll, was er braucht - zu seiner Lust mit sich, den anderen Menschen und der Welt. Eine Instanz der Berührung, des Austausches und der Teilhabe. Die Herrschaft setzt dem aber eine Realität entgegen, in der sich die Gemeinschaft der Menschen untereinander und mit der Natur in mörderischen Konflikten aufzulösen droht. Lust gerät weithin zu blanker Notdurft des Lebens, es entsteht eine Realität der Schädigung und Zerstörung von Mensch und Natur hinter einer Fassade stets verlockender, aber nie wirklich erreichbarer Ersatzbefriedigung.

Dieses gesellschaftliche Realitätsprinzip der Einschränkung, Kontrolle und Reglementierung schlägt auf den Menschen wohl schon ab seiner Empfängnis im Mutterleib ein und marginalisiert, ja merzt alle aus, die sich nicht anpassen wollen oder können. Die tief gestaffelten Institutionen und festen Strukturen der Gesellschaft samt den Ventilen der Lust, welche die so verunstalteten Lebewesen in vorgezeichneten Bahnen halten sollen, werden von der gesellschaftlichen Praxis der Herrschaft und Unterwürfigkeit, der unterdrückenden und auch der rebellischen Gewalt geformt. Die Theorie und die Lehre des allergrößten Teils der europäischen philosophischen Ethik und theologischen Moral haben die Prinzipien in göttliche Gebote und Verbote bzw. vernünftige Imperative und Verdikte gegossen.

Vernunft und Denken wird zum Gegenteil und Gegensatz von Sinnlichkeit und Lust. Aus dem Körper wird ein weitgehend desexualisiertes Instrument der Arbeit, alles Lebendige und die Welt überhaupt wird Mittel für die Zwecke der Herrschaft. Der Zusammenhang von allem mit allem (die sympátheia tôn hólon der Stoiker) muss der sich entwickelnden Technokratie der Machbarkeit bis zur Katastrophe entgehen.

Die Logik der Herrschaft beginnt mit der institutionellen Verdinglichung von Menschen durch Menschen. Sie steigert sich durch die Geschichte hindurch bis zur Selbstverdinglichung aller Menschen im Namen freier, gleicher, qualitätsloser Prinzipien des Rechts, des Gelds und seiner Vermehrung durch sinnlose Arbeit. Dank derer haben wir es so weit gebracht, wie wir sind. - "Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut", sagt Karl Kraus. Drastischer noch soll es Herbert Marcuse gesagt haben: "Wir hätten nicht die Scheiße, die wir haben, wären wir nicht die Scheiße, die wir sind." Und just in diesem anrüchigen Zustand ist das Ich als Träger der Prinzipien frei und autonom geworden.


Das gute Leben ist unvergesslich

Der antiautoritäre Anlauf der 60er und frühen 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hat viele überkommene Hierarchien nachhaltig geschwächt. Die "sexuelle Revolution" hat eine Reihe althergebrachter Tabus und Verbote gefällt und damit nicht wenig Lust und Liebe befreit. Überhaupt haben gar nicht so wenige junge KritikerInnen dieser Gesellschaft immer wieder versucht zusammen mit anderen eine neue, freie, "lustige" Lebensweise, eine richtige inmitten der falschen, zu finden.

Freilich ist der Antiautoritarismus als "lean management" und mit "Selbstverantwortung" und "Kreativität" als "Schlüsselqualifikationen" vom postfordistischen kapitalistischen System abgefedert, ja gutteils absorbiert worden. Die Schwächung der alten Sexualmoral wurde sogleich in sexy advertising ungeheuren Ausmaßes umgemünzt, um den Surrogatkonsum der verschiedensten Art anzustacheln, während dank der intensivierten Arbeits- und Konsumpflichten heute "wahrscheinlich weniger koitiert wird als zu irgendeiner anderen Zeit der Menschheitsgeschichte" (Ernest Bornemann, Der Spiegel 46/1993). Und der größte Teil der jungen Alternativen richtet sich schließlich sowieso bescheidener ein (und verwechselt vielleicht am Ende jene besser erträgliche Resignation, die "wie eine ziemlich glückliche Befriedigung aussehen kann", mit einem guten Leben).

Es ist aber so interessant nicht, warum "nicht alle Knabenmorgen-Blütenträume reiften". Denn es stimmt: "Die Macht der Gewohnheit von Millionen und Abermillionen ist die fürchterlichste Macht." Und doch unterschätzt der Satz diese noch bei weitem - sie sitzt und wirkt auch in denen drinnen, die sie überwinden wollen. Das Leben, gegen das wir uns auflehnen, ist das einzige, das wir gelernt haben.

Wichtiger ist jedoch: Es ist nicht das einzige, an das wir uns erinnern und das wir uns vorstellen können. Leib und Seele haben ein besseres im "Gedächtnis". Das verlorene, selbst das großteils vorenthaltene Glück der Kindheit und die wenn auch wenigen Momente der Erfüllung, der unverkürzten, ungebeugten, freien Lust im Leben bleiben als Phantasie und Wunsch gegen alle Macht der herrschenden Realität und Vernünftigkeit, sie sind vielleicht an den Rand gedrängt, aber wirksam.

Das gute Leben ist nicht jenes der wehrhaften Monade des autonomen Ichs, das vom gesicherten Territorium diverser Rechtstitel aus mit Konkurrenten sachlich verkehrt. Wie sehr das die heute geltende Grundlage auch der Freundschafts- und Liebesbeziehungen ist, zeigt sich jedes Mal, wenn solche in die Brüche gehen. Geld und Recht sind der sichtbare Ausdruck davon, dass wir uns als Fremde gegenüberstehen. Aber: "Geld ist kein Kinderwunsch gewesen", und "darum macht Reichtum so wenig glücklich" (Freud im Brief an Wilhelm Fließ vom 16.1.1898). Nicht weil Kinder so klug sind, sondern weil ihnen noch nicht so nachhaltig abgewöhnt werden konnte, was Menschen zu einem guten Leben brauchen. Zu den klugen Sätzen in der Bibel gehört denn auch: "Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr gewiss nicht in das Reich der Himmel eingehen" (das dort auch nicht überall so unirdisch gemeint ist, wie man es vielleicht in der Schule gelernt hat).

Profan gesagt: Ohne der Lust zu frönen lässt sich die Realität nicht überwinden, die uns der Lust nicht frönen lässt. Wir werden uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen müssen. Das widerspricht zweifellos der Realität, genau derjenigen jedoch, die durch eine neue zu ersetzen ist. Durch jene, an der wir verzweifeln mögen, die uns aber nicht aus dem Sinn gehen will und die in uns die Lust erregt, sie real zu machen: Freundschaft und Liebe, Fürsorge für unsresgleichen und die Welt, die wir bewohnen, in Fülle zu haben und zu geben, wonach der Sinn uns steht. Und "die große Weigerung", das hinzunehmen, was uns einander und der Welt verfremdet.

Raute

2000 Zeichen abwärts

...des guten geschmackes...

aber ich gehöre ja zu jenen alten menschen, die schon bevor sie alt wurden, jede hoffnung auf eine "besserung" der menschlichen verhältnisse, mit AUSSICHTSLOS zu beantworten pflegten. mein leben im abseits, auf selbst geschaffenen inseln spricht für sich. die büchse der pandora enthielt die hoffnung als strafverschärfung (...) meine antwort ist eine ganz konservative. darin bin ich eins mit den griechischen und römischen philosophen: das HEIL besteht in der rückkehr zum uralten. das ist über jahrtausende erinnert worden. noch Marx und Engels reden von der neuschaffung "urkommunistischer" verhältnisse. und Marxens frühschriften sehen den "freien" menschen ja bekanntlich "fischend und jagend" usw. usf..

ich habe mein leben ja nicht aus der lektüre philosophischer schriften heraus gewählt, sondern vor aller solchen, aus "ästhetischen" gründen. was hier als "von innen her" bestimmt heißt. aber noch I. Kant hat ja gezögert, bevor er seine schrift "kritik der urteilskraft" nannte. er, der klügsten einer, nannte sie zuerst "kritik des geschmackes". und ich gehöre nicht zu denen, die der ansicht sind, "über geschmack könne man nicht streiten". im gegenteil. der ist nämlich ein formbarer sinn. er kann dekadent deformiert werden (wie allgemein ersichtlich) oder widerständig geformt werden (wie einzelbeispiele zeigen).

krankheit lehrt einsichtige öfter einen neuen gechmack! da der "verlust der natürlichen selbstverständlichkeit" für immer dahin zu sein scheint, bleibt die gewinnung des "guten geschmackes", des "guten lebens", wie es die alten nannten, eine art "künstlerischer" leistung einzelner. ganz selten von gruppen. der außendruck ist einfach zu groß.

so lebe ich nach dem motto, dass es edler ist, sich der verlorenen (guten) sache zu verschreiben als der (bis zur katastrophe) siegreichen (schlechten). LATHE BIOSAS! [lebe verborgen!]

aramis
(Brief vom 25. März 2010)

Raute

Immaterial World

Demonetize it!

von Andreas Exner

Ein neuer Gedanke durchzieht wie ein virales Mem die Gesellschaft. Er taucht an unerwarteten Stellen auf und pflanzt sich rasch über verschiedene soziale Milieus hinweg fort, so als wäre einfach die Zeit dafür reif Wer eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus will, muss sie jenseits von Geld, Markt und Staat suchen. Dieser Gedanken wird nicht mehr nur in kleinen randständigen Blättern wie den Streifzügen gedacht, sondern er wird derzeit millionenfach angeschaut im Film Zeitgeist: Moving Forward. Dieses Phänomen ist wohl der deutlichste Ausdruck davon, dass immer mehr Menschen das zerstörerische Leben unter dem Diktat von Konkurrenz, Management und Staat nicht mehr wollen. Sie suchen keine "Gemeinwohlökonomie" (Christian Felber) oder sonst eine Reform der Marktwirtschaft, sondern eine Alternative zu ihrem unnötigen Leiden.

Die "Linke", die traditionell für sich in Anspruch nehmen wollte, eine solche Alternative zu bieten, hat darin gründlich versagt. Man darf dieses Urteil freilich nicht verallgemeinern. Autonome Strömungen außerhalb der Parteien, der Gewerkschaften und Interessenvertretungen haben immer wieder für ein Leben gekämpft, das ihnen die Verrenkungen des Marktes und staatlicher Herrschaft erspart. Doch war ihnen entweder nur ein zeitweiliger, lokaler Erfolg beschieden wie etwa den Diggers in der Hippie-Szene der US-amerikanischen Westküste, oder sie beschränkten sich darauf, kostenlos zu nehmen, was die Kaufhäuser und der Staat ihnen boten wie im Italien der 1970er Jahre. Sie brachten es jedoch nicht dazu, eine klare Alternative zu formulieren, wie ein Leben nach dem Kapitalismus aussehen muss und diese auch umzusetzen.

Die real existierende Zumutung im europäischen Osten hat dafür gesorgt, dass die Begriffe des Kommunismus und des Sozialismus kaum mehr taugen, um diese Alternative und den Weg dorthin zu beschreiben. Umso erstaunlicher, dass etwa die Zeitgeist-Bewegung den ursprünglichen Sinn des Kommunismus wieder aufgreift. Sie trifft sich auf diese Weise mit anderen Strömungen der "Linken", die den sozialdemokratischen und bolschewistischen Versionen des Kapitalismus, die jene für eine Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen hielten, nicht folgten. So etwa das "Unsichtbare Komitee", das nüchtern festhält: "Die praktische Abschaffung des Geldes kann nur durch die Ausweitung der Kommunen geschehen."

"Alle unsere Handlungen müssen uns dabei", so schreibt eine andere Gruppe 2009 im Zuge der studentischen Proteste in den USA "aus einer ausbleibenden Zukunft" (so der Titel ihres Komuniquées), "der Vergemeinschaftung näher bringen: das heißt, die Umgestaltung der Gesellschaft entsprechend einer Logik von freiem Geben und Nehmen sowie die sofortige Abschaffung des Lohns, der Wertform, des Zwangs zur Arbeit und des Tausches."

Noch stärker kommt der Gedanke des freien Lebens in der radikalfeministischen Debatte ans Licht, die eine Geschenkökonomie propagiert. Genevieve Vaughan entwickelt unter diesem Titel eine grundlegende Kritik des Patriarchats, das auf dem Tausch beruht. Tausch ist laut Vaughan nicht nur eine handfeste Praxis, sondern auch eine Art, die Welt und unsere Beziehungen zu denken. So wie der Tausch das Geld zu seinem Maß erhebt, fungiert der Mann als Maß aller Menschen. Eine Alternative, meint Vaughan, muss im Denken beginnen. Dies geschehe, wenn wir erkennen, dass die Tauschlogik wie ein Parasit von der viel grundlegenderen Logik des Geschenks zehrt und diese seinem Herrschaftsanspruch nicht zuletzt im Denken unterwirft. Eine Analyse, die ähnlich von Veronika Bennholdt-Thomsen in "Geld oder Leben" entwickelt wird.

Bemerkenswert ist an der Geschenkökonomie, wie klar sie nicht nur das Kapital, sondern auch Geld und Tausch ablehnt. Darin trifft sie sich mit einigen Strömungen des Marxismus: von der Wertkritik der Gruppen krisis und Exit über Michael Heinrich, Nadja Rakowitz oder Alfred Fresin bis zu bewegungsnahen Autor_innen wie John Holloway, Harry Cleaver oder Friederike Habermann. Die Geschenkökonomie als ein Ansatz, der Veränderungen nicht nur im Denken bewirken will, scheint eher zu einer gemeinsamen Praxis und einer internationalen Vernetzung anzuregen, als dies bei vielen der marxistischen "Brüder" der Fall gewesen ist.

Diese einerseits agitatorischen, andererseits theoretischen Ansätze wirken wie Begleiterinnen einer Entwicklung von Bewegungen, die eine praktische Perspektive der Überwindung von Geld und Tausch in unterschiedlichem Ausmaß propagieren. Während die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen dort, wo damit tatsächlich ein freies Lehen möglich gemacht werden soll, dies auf eine eher verkorkste Weise ausdrückt, scheint die Debatte um gemeinschaftlich und gleichberechtigt genutzte Ressourcen, so genannte Gemeingüter, mehr zu versprechen. Nicht nur kann ein riesiges Feld von heute existierenden Produktionsweisen verdeutlichen, wie ein Leben abseits von Geld, Tausch und Staat aussieht. Manche wollen auch ganz ausdrücklich, dass die ganze Gesellschaft auf Gemeingütern beruht.

Allerdings geschieht das in einer widersprüchlichen Form. Denn viele Fans der Gemeingüter wollen mit ihrer Hilfe nur Kapitalismus und Marktwirtschaft ergänzen. Häufig schränkt man sie auf natürliche Ressourcen ein, so als gäbe es irgendeinen natürlichen Grund, dass zwar eine Weide, nicht aber ein Stahlwerk ein Gemeingut sein kann. Und schließlich gibt es viele, die glauben, es gäbe einen glatten Übergang in eine bessere Gesellschaft, weil die Konzerne früher oder später einsehen würden, dass sie mit Gemeingütern mehr Geld verdienen könnten und dann, wenn sie bemerkten, dass das nicht so ist, friedlich abzögen.

Kein Gespenst geht um, sondern ein Spross ist sichtbar: der Gedanke, dass ein Leben ohne Geld und Tausch möglich ist und gut. Und ein Tun, das dahin drängt, sich zu erweitern und zu entfalten: in Gemeinschaftsprojekten, in vielen verschiedenen Versuchen, stückweise zum Aufbau einer Perspektive der Demonetarisierung beizutragen. Damit diese verstreuten Versuche, die alle für sich genommen seit einiger Zeit an Kraft gewinnen, noch stärker werden, hat sich das Netzwerk Demonetize it! gegründet. Über die Online-Plattform http://demonetize.it werden Informationen aus unterschiedlichen Projekten zusammengefasst und Aktivitäten koordiniert.

Raute

It's the system, stupid

Zeitgeist: Moving Forward

von Tomasz Konicz

Der dritte Zeitgeist-Film schreitet trotz etlicher Unzulänglichkeiten in die richtige Richtung voran

Dieser Film stößt an die Grenzen des Mediums. In 161 Minuten ist Regisseur Peter Joseph im dritten Teil seiner Zeitgeist-Filmserie bemüht, den Zuschauer von der Notwendigkeit einer baldigen Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise zu überzeugen, sowie eine gangbare Systemalternative zu der bestehenden Gesellschaftsunordnung aufzuzeigen. In knappen drei Stunden wird in Zeitgeist: Moving Forward ein gigantischer thematischer Bogen gespannt, bei dessen wissenschaftlicher Erschließung und Bearbeitung in den vergangen Jahrhunderten Kapitalismuskritiker jeglicher Couleur ganze Bibliotheken an Textmaterial produzierten. Seine Premiere, bei der 340 Aufführungen in über 60 Ländern stattfanden, hatte Zeitgeist: Moving Forward am 15. Januar 2011, was wohl den mit Abstand größten Filmstart eines unabhängigen Projekts in der Kinogeschichte markiert. Der Film ist ab dem 25. Januar frei im Internet, unter anderem auf Youtube, abrufbar.

Die vom US-amerikanischen Regisseur und Aktivisten Peter Joseph seit 2007 produzierten - und auf beständig wachsende Resonanz treffenden - Zeitgeist-Filme gelten innerhalb weiter Teile der Linken immer noch als Paradebeispiele verkürzter Kapitalismuskritik. Dieser Ruf haftet den Filmen von Peter Joseph aufgrund der Verschwörungstheorien an, die in seinem Erstlingswerk Zeitgeist: The Movie Verbreitung fanden.

So führte er darin auch einen Teil der Kriege des 20. Jahrhunderts auf das Wirken einer Verschwörung von Bankern und der amerikanischen Notenbank zurück, die die USA in diese Konflikte genötigt hätten, um hieraus Profit zu schlagen. Letztendlich wurden alle auch im ersten Zeitgeist-Film erschütternd visualisierten Verwerfungen, Widersprüche und Konflikte auf das Treiben einer Gruppe machthungriger Menschen zurückgeführt, während die Struktur und innere Antriebsdynamik des kapitalistischen Systems ausgeblendet blieben.

Mit dieser personifizierten, verkürzten Kritik des Kapitalismus bricht der jüngste Zeitgeist-Film radikal.

In einer Schlüsselszene wird deutlich, dass für die derzeitige allumfassende globale Krise keine "korrupten Regierungen, keine finsteren Konzerne oder Kartelle, keine fehlerhafte menschliche Natur, und keine geheime, versteckte Intrige" ursächlich verantwortlich sind, sondern die "Grundlagen unseres sozioökonomischen Systems selbst". Und eben dies macht die faszinierende Radikalität dieses Films aus - er bemüht sich, diese sozioökonomischen Grundlangen zu benennen und die Notwendigkeit ihrer Überwindung darzulegen.


Frontalangriff

Zeitgeist: Moving Forward ist in seiner fast schon entwaffnend naiven, da eigentlich schlicht logischen Herangehensweise radikaler als alle Kapitalismuskritik, die von Filmemachern wie etwa Michael Moore jemals geäußert wurde. Peter Joseph will seine Kritik tatsächlich an der Wurzel des Systems ansetzen und greift dabei die Grundlagen des Kapitalismus frontal an: Geld, Markt, Warenproduktion und Finanzkapital.

Der Film zieht in den ersten drei Kapiteln thematisch immer größere Kreise, vom Individuum über die Gesellschaft bis hin zum Planeten. Der erste Teil des Films, der sich mit dem ideologischen Konstrukt einer "menschlichen Natur" auseinandersetzt, kann als der gelungenste betrachtet werden. Hier zerlegen mehrere Wissenschaftler die weitverbreiteten Mythen eines genetischen Determinismus als Ursache von Charaktereigenschaften oder kriminellem Verhalten, wie auch die Idee einer in unserer genetischen Disposition gründenden menschlichen Natur. Der ideologische Charakter dieses genetischen Determinismus als ein "Weg zu sagen, wie die Dinge sind, ohne die Art und Weise zu gefährden, wie die Dinge sind", wird deutlich benannt. Am Fallbeispiel der Disposition zu Suchterkrankungen - die als eine Reaktion auf traumatische Kindheitserlebnisse interpretiert werden - wird dargelegt, wie das Individuum seit der frühen Kindheit im Wechselspiel mit seiner Umgebung geformt wird und wie gesamtgesellschaftliche soziale und ökonomische Faktoren bis in die intimsten zwischenmenschlichen Beziehungen hineinwirken. "Die elterliche Erfahrung, wie einfach oder wie hart das Leben ist, wird an die Kinder weitergegeben. ... Das frühe Leben ist ein Vorgeschmack auf die Welt, in der du leben wirst." Eine "menschliche Natur" als solche gebe es nicht, es mache nur Sinn, von der "menschlichen Natur" in Zusammenhang mit menschlichen Bedürfnissen zu sprechen. "Unsere Natur besteht darin, nicht von der Natur eingeschränkt zu sein", die Menschen werden durch ihre Gesellschaft geformt, wie es der Neuro- und Verhaltensbiologe Robert Sapolsky formulierte.

Diese individuelle Perspektive, die Rückkopplung auf die menschlichen Bedürfnisse, wird auch bei der Auseinandersetzung mit der "sozialen Pathologie" beibehalten, unter der unsere Gesellschaft subsumiert wird. Beeindruckend sind auch alle Filmsequenzen, bei denen der beständig zunehmende Konkurrenzkampf - das ewige Rattenrennen, bei dem jeder gegen jeden antritt - mit den gesundheitlichen Folgen für breite Bevölkerungskreise konfrontiert wird. Die Genese des kapitalistischen Menschenbildes, das den Menschen als des Menschen Wolf ansieht, wird vom Kopf auf die Füße gestellt, indem diese Ideologie auf die Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen im Kapitalismus zurückgeführt wird.

Die folgenden Kapitel, die sich mit den verheerenden gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen des kapitalistischen Marktsystems auseinandersetzen, kranken hingegen an einem fehlenden Kapitalbegriff. Dies soll nicht heißen, dass es in der zweiten Filmhälfte keine interessanten, wirklich an den Wurzeln der kapitalistischen Misere ansetzenden Passagen gäbe, doch fehlt diesen - teilweise sich selbst widersprechenden - Ausführungen der gemeinsame Nenner, der die disparat geschilderten Phänomene in Zusammenhang bringen würde. Der Film schildert den Konsum- und Wachstumszwang, die daraus resultierende Verschwendung ökologischer Ressourcen, die zunehmende soziale Ausdifferenzierung, die seit Dekaden schwelende Krise der Arbeitsgesellschaft und auch die globale Verschuldungsdynamik - doch gerade die gemeinsame Grundlage dieser Phänomene in dem krisenhaften Prozess der Kapitalakkumulation, der an innere und äußere Schranken stößt, wird nicht explizit benannt. Peter Joseph schafft es durchaus, gewisse Momente des Prozesses der Kapitalverwertung, bei dem ja das Kapital beständig seine Form von Geld über Waren zu mehr Geld (G-W-G') wechselt, zu erfassen. Doch eben diesen Verwertungsprozess selbst - denn nur aus dieser sich selbst zum Zweck dienenden Bewegung der uferlosen Akkumulation heraus ist Kapital zu verstehen - haben die Macher von Zeitgeist: Moving Forward bei aller Radikalität nicht erfasst. Stattdessen wird im Film verkürzt über "Geldsequenzen" fabuliert, denen die Marktsubjekte hinterherliefen.


Wissenschaftsgläubig

Hieraus resultieren dann die ernsthaften Mängel, die dieses monumentale Werk aufweist. Etwa wenn Geld einfach mit Schulden gleichgesetzt wird und diesem im Endeffekt kein Wert als solcher beigemessen wird - was ja aus rein naturalistischer Perspektive stimmen mag, aber die gesellschaftliche Funktion des Geldes als allgemeines Wertäquivalent nicht berücksichtigt. Generell sind die Abschnitte des Films, die sich mit dem Finanzsystem auseinandersetzen, misslungen, sie führen den Zuschauer in die Irre. Das ist umso bedauerlicher, da der Film ansonsten in vielen Punkten eine bislang von diesem Medium nicht gekannte Radikalität durchhält, die sich auch beim Entwurf der gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus manifestiert.

Unter dem Titel "Globale ressourcenbasierte Wirtschaft" wird in einigen logischen Schritten ein Gegenmodell entworfen, bei dem die nachhaltige Förderung, Distribution und Verarbeitung der global vorhandenen Ressourcen in Übereinstimmung mit den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen geschildert wird, die unter Zuhilfenahme fortgeschrittenster Informationstechnik und Automatisierung in höchster Effizienz und Ressourcenschonung bewerkstelligt werden soll. Markt, Geld, soziale Hierarchien und Privateigentum an Produktionsmitteln sollen hierbei überwunden werden. Der radikale Gedankenschritt, der hier gemacht wird, verliert aber sehr viel von seiner Wirkung, sobald die Argumentation - in objektiv unnötiger Weise - immer mehr in Details geht und die Stadtentwürfe des US-amerikanischen Architekten und Futuristen Jacque Fresco als verbindliche und absolut "logische" Vorbilder künftiger Urbanität propagiert. Joseph wirbt hier mit dem Anspruch wissenschaftlicher Objektivität für die urbanen Visionen seines Mentors, die vielen Zuschauern ob ihrer Sterilität kalte Schauer über den Rücken jagen dürften. In diesen Passagen driftet der Film in Ideologie ab.

Ebenso problematisch ist die naive Wissenschaftsgläubigkeit der Filmemacher, wie auch der sich um Joseph und Fresco formierenden Zeitgeist-Bewegung, die die Umsetzung der anvisierten sozialen Transformation realisieren soll. Joseph und Fresco sollten sich vielleicht einmal fragen, wieso die von ihnen vergötterte Wissenschaft seit ihrer Etablierung im Gefolge der Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise zur Zementierung und Optimierung von Ausbeutung und Unterdrückung so überaus erfolgreich eingesetzt werden konnte.

Dennoch schreitet Peter Joseph mit Zeitgeist: Moving Forward in die richtige Richtung voran. Der Film trifft tatsächlich den Zeitgeist, der Kapitalismus verliert gerade den ideologischen Schleier einer naturwüchsigen, natürlichen Gesellschaftsordnung. Mit einer beispiellosen Geschwindigkeit gewinnt dieser dritte Zeitgeist-Film derzeit an Popularität: Allein auf Youtube konnte das Epos bereits nach knapp zwei Wochen gut 2,5 Millionen Zugriffe verzeichnen. Es ist, als ob das allgegenwärtige Hintergrundrauschen der Kulturindustrie - ähnlich der Anfangssequenz des Films - zur Kenntlichkeit geronnen wäre und seine omnipräsente Deutungshoheit über die Realität verlöre. Immer mehr Menschen wachen aus diesem massenmedial induzierten Schlaf auf, in dem sie durch die Kulturindustrie, durch die Gesellschaft des Spektakels gefangen gehalten wurden, um zu erkennen, in welcher kaputten, die elementarsten menschlichen Bedürfnisse negierenden Welt sie leben. Es ist der allumfassende Krisenprozess der kapitalistischen Gesellschaftsformation, wie er eindringlich im vierten Teil des Films dargelegt wurde, der den Kollaps der ideologischen kapitalistischen Matrix ermöglicht. Trotz aller oben dargelegten Mängel besteht das Verdienst dieses Films darin, diesem Prozess des massenhaften Ankommens in der "Wüste des Realen", in einer vom Prozess der nur noch dem Selbstzweck dienenden Kapitalverwertung verwüsteten Welt, eine ungeheure Dynamisierung verliehen zu haben.


Link zum Film: www.youtube.com/watch?v=4Z9WVZddH9w

Raute

Rückkopplungen

Der traumlose Traum

von Roger Behrens

Das Kino vermag das Unwirkliche als Wirklichkeit, das Unmögliche als Möglichkeit darzustellen. Indem das Kino die Bilder in einer ihm eigenen Logik in Bewegung setzt, ist es ein dialektischer Apparat, der Ideologie produziert und reproduziert, aber zugleich auch Ideologie als solche destruiert - beziehungsweise aufklärt. Als durch und durch materialistische Maschine setzt das Kino fort, womit die idealistische Philosophie im neunzehnten Jahrhundert aufhörte: mit der Erkenntnis, dass es einen Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung gibt und dass das, was ist, nicht unmittelbar ist. Das Kino ist insofern ein Vermittlungsapparat, der in Bildern bewegt, was Begriffe nicht zu fassen vermögen. Die Matrix, mit der das Kino dabei arbeitet, ist der Traum.

Das Kino folgt dabei im Übrigen nicht nur historisch, sondern auch systematisch parallel der Psychoanalyse. Filme wie etwa Orson Welles' "Prozess" oder Victor Flemings "The Wonderful Wizard of Oz" funktionieren noch ganz so, wie Freud es sich in der "Traumdeutung" dachte: dass a) Träume überhaupt deutbar sind, und b) diese Deutung etwas über das Seelenleben und seine eventuellen Störungen verrät.

Ein Jahrhundert plus ein Jahrzehnt nach Freuds wegleitender Traumdeutung bricht Christopher Nolan allerdings mit allen Konzepten der Psychoanalyse: die Träume, um die es in seinem letzten Film "Inception" (USA 2010) geht, verlangen keine Deutung; mehr noch - es gibt in diesen Träumen auch gar nichts zu deuten. Sie geben nichts frei von dem, was nach Freud im Un bewussten verborgen ist: kein Begehren, keine Ängste, keine Sorgen und keine Lüste; stattdessen arbeitet Nolans Film mit der hierarchischen Architektur von Bewusstsein und Unter bewusstsein, die er sozusagen sozialpsychologisch als vollkommen in Ordnung voraussetzt.

Freud nennt Traumarbeit jenen Prozess, nach dem der latente Traumgedanke in (visuelle, akustische etc.) Bilder umgesetzt beziehungsweise manifest wird, also sich in das verwandelt, was wir gegebenenfalls als Traum erinnern. Die Traumdeutung kehrt dies um, versucht im manifesten Trauminhalt den latenten zu entschlüsseln. - In "Inception" ist dies teils auf den Kopf gestellt, teils banalisiert: Das Seelenleben ordnet sich hier in Levels, einem Computerspiel ähnlich - Probleme bilden verschiedene, zu bewältigende Schwierigkeitsgrade, keine Neurosen oder Störungen, die psychoanalytisch zu behandeln wären.

Die Differenzen zwischen manifesten und latenten Trauminhalten sind eingeebnet, die Traumarbeit fällt mit der Traumdeutung zusammen. Mithin obliegt in "Inception" die Traumarbeit nicht dem Träumenden, sondern Dom Cobb (Leonardo DiCaprio): Er hat aus der Fähigkeit, in anderer Leute Träume eindringen zu können, um sie zu manipulieren, seinen Beruf gemacht; spezialisiert hat er sich dabei auf die Träume der personifizierten Herrschaft, nämlich auf Träume von Führungspersönlichkeiten des Großkapitals - passend zu einer Welt, die ohnehin nur noch aus konkurrierenden Wirtschaftsimperien besteht; das sind zumindest die Parameter, mit denen im Film das Universum abgesteckt, das heißt kinografische Glaubwürdigkeit fürs Publikum erzeugt wird. Das bedeutet zum Beispiel: Cobb, der Traumexperte, ist kein Mediziner, also kein Irrenarzt und eben kein Analytiker, sondern - ganz im Sinne der vorgeführten Welt der Filmhandlung - Ingenieur, Informatiker.

Die Aufgabe, die in spannenden einhundertfünfzig Minuten gelöst wird: Cobb soll Robert Fischer (Cillian Murphy), dem Sohn eines im Sterben liegenden Unternehmers, den "Gedanken" einpflanzen, das Unternehmen nach dem Tod des Vaters aufzuteilen; einem Konkurrenten soll das Vorteile bringen. Dafür braucht es ein Team, wozu vor allem Ariadne (Ellen Page) gehört. Die junge Frau, die in dem Film zugleich als attraktive Retterin fungiert, ist "Architektin", und das meint hier: sie konstruiert Traumwelten (das heißt, sie hat diesmal nicht den Faden, der aus dem Labyrinth herausführt, sondern konstruiert überhaupt erst das Labyrinth - gleichsam um den Faden herum).

Die Schwierigkeit der Aufgabe besteht nun darin, dem Träumenden ein möglichst authentisches Traumreich zu schaffen; nur so kann tief genug in sein "Unterbewusstsein" eingedrungen werden, um die so genannte "Inception", wie nämlich die Gedankeneinpflanzung genannt wird, zu vollziehen. Und so führt das Drehbuch die Schauspieler von einer Traumschicht zur nächsten und es entsteht ein Traum im Traum im Traum ­... im Traum ... usw.

Doch jeder Traum ist nur der noch perfektere Nachbau der Wirklichkeit. Der Modus, in dem sich das im Traum wie in der Wirklichkeit gleichermaßen vollzieht, ist die Technik. So haben die von der Architektin gebauten Gebäude mit etwa den Traumhäusern, die Benjamin für das neunzehnte Jahrhundert beschrieben hat, nichts zu tun: Diese Architektur ist mit der Wirklichkeit identisch, die ihre surrealen Abweichungen und Irritationen längst hinter sich gelassen hat. Im Grunde ist diese Traumwelt phantasielos, auch wenn die kinografische Tricktechnologie, mit der hier die Wirklichkeit als Traum kopiert wird, phantastisch erscheinen mag. Was allerdings fehlt, sind jene Traumelemente des Unheimlichen, Verrückten, Spontanen und Un-, wenn nicht Wahnsinnigen, die seit den Anfängen des Kinos die Filmbilder bereicherten.

Was heute fehlt, ist jedoch das utopisch-emanzipatorische Potenzial der Traumfabrik (wie Ilja Ehrenburg schon 1931 seine "Chronik des Films" betitelte): nämlich dass der Film Träume liefern kann, nach denen die Wirklichkeit umzugestalten wäre, um schließlich die Wirklichkeit selbst als Traum zu konstruieren. Was bleibt, ist gute Unterhaltung. Und das ist, nach Leo Löwenthals Befund, Massenkultur als Psychoanalyse verkehrt herum. Die Träume, die hier geträumt werden, sind bloß noch ein "die gesamte sinnliche Welt in einem alle Organe erreichende[s] Abbild", wie es Adorno fürs Fernsehen fasste: ein "traumloser Traum" (GS Bd. 10·2, S. 507). Und das ist, weil es für die höchste Spannung sorgt, der technisch ausstaffierte Alptraum, der schließlich auch insofern traumlos ist, als dass er den realen Alptraum gegenwärtiger sozialer Verhältnisse völlig unberührt lässt.

Raute

Vom Antifaschismus zur Extremismusprävention

von Markus Mohr

Dem hohen Anspruch der Extremismusprävention gerecht zu werden, heißt stets auch, sie als gemeinschaftlichen Auftrag der demokratischen Kräfte zu verstehen.
Thomas Grumke / Armin Pfahl-Traughber (Subaltern Beschäftigte des Verfassungsschutzes)

Nach dem Zweiten Weltkrieg war in den beiden Nachfolgestaaten des nationalsozialistischen Deutschlands eine neue Staatsreligion von Nöten, die Konsequenzen aus der Katastrophe zog. Die DDR gründete dabei ihre Staatsdoktrin auf dem Antifaschismus und konnte damit beanspruchen, an das Erbe der KPD in der Weimarer Republik, den antifaschistischen Volkswiderstand in den vom Hitlerfaschismus besetzten Ländern und der gegen Nazideutschland siegreichen Sowjetunion, anzuknüpfen. Die Restauration in der BRD verbot es natürlich für das führende Personal, den Antifaschismus als ideologische Matrix für den Staatsaufbau heranzuziehen. Mit Ausnahme einer kleinen Schicht bürgerlicher Politiker aus der Weimarer Republik, die sich im Nationalsozialismus politisch nicht kompromittiert hatte: Die B- und C-Klasse war mit dem nationalsozialistischen Sumpf ideologisch und berufsbiografisch in einer Weise verwickelt, die sie jeden Anflug von Antifaschismus hat berechtigt fürchten lassen.

Das politische Führungspersonal der Bundesrepublik löste dieses Dilemma dadurch, dass für die Westrepublik die Staatsdoktrin des Antitotalitarismus zur Begründung für die "streitbare Demokratie" eingezogen wurde. Diese Doktrin zeitigt bis auf den heutigen Tag vielfältige Wirkungen. Legt man sie zugrunde, so wurde die Weimarer Republik nicht durch das tatsächlich realisierte Bündnis zwischen den konservativen Eliten und der nationalsozialistischen Massenbewegung hinweggefegt, sondern durch die Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten zerrieben. Diese Geschichtsinterpretation ist natürlich nicht von den Tatsachen gedeckt. Gleichwohl handelt es sich, aus der Sicht der führenden politischen Klasse der BRD, um eine außerordentlich geschickte ideologische Operation: Unter Beibehaltung des Antikommunismus kann so die Verantwortung für den Erfolg des deutschen Faschismus aus dem gesellschaftlichen Zentrum an den politischen Rand verlagert werden.

Die innenpolitische Betriebsdoktrin der BRD basiert auf der Bedrohung durch die am politischen Rand angesiedelten Extreme. In diesem Sinne beanspruchen die vom Bundesverfassungsgericht, 1952 gegen die neofaschistische Sozialistische Reichspartei und das 1956 gegen die Kommunistische Partei, erlassenen Verbote für die heutige politische Wirklichkeit unangefochtene Gültigkeit.


Antifaschismus nach der Studentenrevolte...

Manchmal jedoch verlieren die von oben verordneten Formeln des politischen Betriebs für die da unten an Überzeugungskraft und Legitimation. Es waren nicht zuletzt die Wirkungen der Studentenrevolte, die die offenkundig brüchig gewordene Antitotalitarismusformel einem Fegefeuer der Kritik aussetzte. Zugleich stieß sie auch so für die Westrepublik das Tor für eine Reformulierung antifaschistisch motivierter Theorie und politischer Praxis wieder auf. Die Ende 1968 erfolgende Relegalisierung der KPD in Form der auf das Grundgesetz verpflichteten Deutschen Kommunistischen Partei öffnete neue Spielräume für eine offene Präsenz antifaschistischer Politik in der BRD. Zusammen mit der Organisation Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) dominierte das orthodox-kommunistische Spektrum den Antifaschismus im außerparlamentarischen Spektrum bis in die 1980er Jahre hinein. Parallel dazu nahm der maoistisch inspirierte Kommunistische Bund in den 1970er Jahren im Rahmen seiner Hypothese einer "Faschisierung" der BRD eine vielfältige Untersuchungsarbeit über das neofaschistische Geflecht in der Republik auf In der politischen Praxis wurde dessen antifaschistisches Engagement in den 80er Jahren von autonomen Gruppen fortgeführt, die sich gegenüber dem orthodox-kommunistischen Spektrum hauptsächlich über den geltend gemachten Aspekt der Militanz abgrenzten.


...und nach dem Ende der DDR

Auch wenn die Folgen des Zusammenbruches der DDR und die von der Westrepublik diktierte Vereinigung der beiden Deutschländer die Formationen des alten Antifaschismus schwächten: Der exorbitante Anstieg einer neofaschistischen Straßenmobilisierung in den Jahren 1990-93 revitalisierte eine neue Form antifaschistischer Organisierung; seit den frühen 1990er Jahren gründeten sich aus dem unabhängig-alternativ-autonomen Milieu eine Vielzahl sich so benennender Gruppen. Manche Antifa-AktivistInnen integrierten ihr Engagement in die, nach dem Sommer 2000 seitens der SPD geführten Bundesregierung mit größeren Geldressourcen aufgelegten, Programme zur "Stärkung der Zivilgesellschaft gegen Rechts". Diese Programme waren Zeit ihres Bestehens niemals unumstritten. Den Konservativen waren sie stets ein Dorn im Auge.

Zeitgenössisch wurden die aus den staatlichen Töpfen alimentierten Projekte "gegen Rechtsextremismus" immer mal wieder flapsig als "Staatsantifa" bezeichnet. Richtig daran ist, dass nicht wenige gegen "Rechtsextremismus" engagierte AktivistInnen sich selbst als AntifaschistInnen verstehen. Falsch daran ist aber die Vorstellung, ausgerechnet die siegreich über die antifaschistisch grundierte DDR hervorgegangene Bundesrepublik könnte von ihrem Prinzip her dazu bereit sein, dem Antifaschismus diskursiv und materiell eine Gasse zu bahnen. Dagegen wissen die Behörden der inneren Sicherheit und hier vor allem der Inlandsgeheimdienst, der Verfassungsschutz, eine klare begriffliche Grenze zu ziehen.


Ochsen erzählen eine Erfolgsstory

Im Juni 2010 erschien in einem Wissenschaftsverlag ein Buch der Verfassungsschutzbehörden (VS), gleich mit einem Wiederholungsfehler im Titel: In "Offener Demokratieschutz in einer offenen Gesellschaft" stellen die Subalternen Thomas Grumke und Armin Pfahl-Traughber die "Öffentlichkeitsarbeit und Prävention als Instrumente des Verfassungsschutzes" vor. In fast allen Einzelbeiträgen dieses Werkes wird eine Erfolgsstory der VS-Behörden seit der Vereinigung der Deutschländer erzählt. Und zwar nicht die vom Kampf gegen den Neofaschismus, aber doch gegen etwas, was von dieser Institution begrifflich selbst erfunden wurde: den "Rechtsextremismus". VS-Wanderaustellungen gegen den "Rechtsextremismus", die als ein Element eines "diskursiven Verfassungsschutzes" benannt werden, werden darin zu einem "wahren Erfolgsprojekt der Öffentlichkeitsarbeit" erklärt, die die VS-Behörden zu einem "anerkannten Partner im Bereich der Prävention" machen. So gut wie alles was die VS-Reklamefacharbeiter in diesem Buch vorstellen, besitzt für sie einen "hohen Stellenwert", ist stets "bewährt" und "erfolgreich". Sie argumentieren dabei als Funktionäre eines Zwangsapparates, die die Disziplinierung diverser Gruppen sicherzustellen haben, die sich aktiv oder passiv der Zustimmung zu den herrschenden Verhältnissen verweigern.

Wären sie frei denkende Wissenschaftler, dann müssten sie ihre Tätigkeit dahingehend reflektieren, wie sie auch als ein politisches Frühwarnsystem für die Bevölkerung benutzt werden kann. Wie kann diese frühzeitig über verfassungsfeindliche Bestrebungen der Regierungen unterrichtet werden, damit die so von unten Mobilisierten rechtzeitig in Form von Aufruhr, Revolten, Sabotage und Dissidenz entsprechende Abwehrmaßnahmen ergreifen können? Nun ja, von Ochsen ist nun mal allen Ernstes kein Schweinefleisch zu verlangen, sagt da zutreffend der Volksmund.

Dieses Propagandabuch dokumentiert das zwischenzeitlich erreichte enorme Ausmaß einer Praxis des Inlandgeheimdienstes, mithilfe verschiedener Formen der Öffentlichkeitsarbeit die Tiefe seines Eindringens in die Gesellschaft zu erhöhen. Pfahl-Traughber stellt dabei unmissverständlich klar, dass es sich hier um "Erweiterungen verfassungsschützerischer Arbeit" handelt, mit der keineswegs "die Abschaffung oder Eingrenzung nachrichtendienstlicher Beobachtung von Extremisten" beabsichtigt sei.

In der Einführung heben die Herausgeber besonders hervor, dass das "präventive Engagement" der VS-Behörden allerdings "der Zusammenarbeit mit Partnern" bedarf, kurz: "Verfassungsschutzbehörden können die professionelle präventive Arbeit anderer nicht ersetzen, aber sinnvoll ergänzen und unterstützen." Dazu erfinden Grumke und Pfahl-Traughber den Begriff der "Extremismusprävention", die "als gemeinschaftlicher Auftrag der demokratischen Kräfte zu verstehen" sei.

Das ist die programmatische Formel, mit der der Verfassungsschutz politisch auf Antifaschistlnnen zugeht: der "Kampf gegen den Rechtsextremismus" als Teil der "Extremismusprävention" der durch "rechte Gewalt" in ihrem Gewaltmonopol bedrohten Demokratie. Dieses zu schützen, ist nun mal die Aufgabe des VS, der dafür alles Mögliche sein darf; eines aber eben definitiv nicht: antifaschistisch. Der Antifaschismus zielt in seinem Kern immer auch auf den Kapitalismus. Antifaschisten wissen darum, dass eben der Kapitalismus der Demokratie vorausgesetzt ist. Der Antifaschismus will daher in seinen Zielen einiges mehr, als die bürgerliche Demokratie bereit ist, zu gewähren. Deswegen wird er auch in Teilen des Bürgertums bis auf den heutigen Tag gehasst. Und es ist eben kein Zufall, dass nach 1990 sicher an die hundert antifaschistische Gruppen, Initiativen und Zeitungen ihre Negativ-Markierung in den jährlichen Berichten der Verfassungsschutzämter der Länder und des Bundes gefunden haben. Demgegenüber streitet der Kampf gegen den Rechtsextremismus lediglich um die Beibehaltung der verfassungsmäßigen Ordnung der Demokratie.

Hält man an dem Anspruch auf Antifaschismus fest, dann ist ein konstruktives Diskussionsengagement mit offiziellen VS-Repräsentanten im Rahmen eines zivilen politischen Dialogs absurd.


Deutungshoheit über Rechtsextremismus gewinnen?

Als Beispiel dafür mag die öffentliche Veranstaltung im Jüdischen Museum in Frankfurt a.M. Ende Juni 2010 unter der unter antifaschistischer Perspektive falschen Fragestellung: "Rechtsextremismus in Deutschland - wie geht man damit um?" dienen. Von dem Referenten des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrums Berlin (apabiz), Michael Weiß, wurde sein Entschluss in diesem Rahmen als Diskussionspartner an die Seite des amtierenden Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, zu treten, wie folgt begründet: Wenn im bürgerlichen Spektrum diskutiert werde und Vertreter linker Organisationen eingeladen sind, ihre Positionen darzulegen, dann sollten diese auch die Chance wahrnehmen. "Es geht darum, wer die Deutungshoheit hat zu definieren, was Rechtsextremismus ist", so Weiß weiter. Beim Publikum solcher Veranstaltungen herrschten häufig Informationsdefizite, viele Menschen glaubten, was Polizei und Verfassungsschutz berichteten. Diesen Behörden den öffentlichen Raum zu überlassen, hält Aktivist Weiß für unangemessen. (Junge Welt, 7.7.2010)

Der von Weiß formulierte Anspruch gegenüber dem VS in Sachen Rechtsextremismus eine "Deutungshoheit" erringen zu wollen, wurde von diesem bereits in einem Aufsatz im April 2009 formuliert. (Vgl. Monitor Nr. 40, April 2009) Mit Verlaub: Der von den VS-Behörden erfundene Arbeitsbegriff des "Rechtsextremismus" in der Bundesrepublik erfüllt nicht nur die Aufgabe, in verschleiernder Optik den Neofaschismus als eine Ansammlung einer wirklich sehr überschaubaren kleinen Minderheit von Querulanten irgendwo ganz am Rand des gesellschaftlichen Geschehens erscheinen zu lassen. Er ist in seiner Konstruktion ein vorbestimmter Begriff, der nicht einfach beliebig definiert werden kann. Er gibt erstens die politische Mitte als demokratische Norm vor und zweitens wird er von den VS-Behörden auch sehr deutlich als Pendant zum Linksextremismus definiert. Was natürlich kein Zufall ist. Kurz: Wer das von Neofaschisten verübte Pogrom in Rostock Ende August 1992 als "Rechtsextremismus" beschönigt, wird automatisch auch bei den fast zeitgleich dort stattfindenden "Ausschreitungen" von linksextremistischen AntifaschistInnen und Autonomen landen, von denen der damals amtierende Bundesinnenminister, Rudolf Seiters, erfindungsreich sprach. (Vgl. Woche im Bundestag Nr. 13, 9.9.1992) Lange Rede, kurzer Sinn: Über einen Begriff, der selber schon in sich manipulativ konfiguriert ist, ist keine "Deutungshoheit" zu erringen, sondern er ist zu verwerfen. Ein Antifaschismus als Teil der Extremismusprävention und damit im Dienst der inneren Sicherheit hört auf, einer zu sein.

Diese Überlegungen können sich die anhaltende Wirkungsmächtigkeit des Begriffes Antifaschismus zunutze machen. Für den Verfasser ist das nicht nur ein mehr als guter Grund dafür, diesen zur Kennzeichnung politischen Engagements für die Zukunft beizubehalten. Mehr noch: Eine beständig revitalisierte antifaschistische Optik eignet sich auch ganz exzellent dafür, die in die antiextremistische Staatsreligion eingeschriebenen politischen Lügen energisch zurückzuweisen.

Raute

2000 Zeichen abwärts

Liberating Art

Im Museum of Modern Arts in New York gibt es Yoko Onos Voice Piece for Soprano / Scream. / 1. against the wind / 2. against the wall / 3. against the sky / 1961 autumn.

Laut der Erläuterung an der Wand geht es um Befreiung, um die Frage, wer das Sagen hat. Als "Installation". Wer will, schreit per Mikrophon, Verstärker und Lautsprecher, allerdings zuerst against herself, denn die Wand steht ihr im Rücken. Und um endlich ein wenig das Sagen zu haben, folgen die Besucher brav den "orders" der Installation. Wir stehen geduldig und ein wenig geniert und scheu in einem perfekten Halbkreis, schreiten oder huschen zum leer gewordenen Platz am Mikro und erleichtern uns. Um die Wette, denn wer durch Stimmumfang oder Schrille hervorsticht, bekommt mehr Applaus. Der Aufpasser in seiner dezenten Uniform ist bloß kurz vorbeigekommen und entfernt sich, weil überflüssig. Das Schreien ist hier voll in Ordnung. Ein Stückchen Befreiung, installiert.

Auf dem Video der Museumshomepage macht es Yoko Ono vor. Ein Fan rutscht auf den Knien mit seiner Kamera ins Bild. Sie traut sich entschieden mehr als wir gewöhnlichen Besucher. Am Ende jubelt das Publikum - über einen Akt von Befreiung? Ein Posting eines Nutzers findet sich auch: ... And then it was over. Yoko and I had done it! Together we'd created a work of exhilarating, defiant, liberating art that turned heads, startled passersby, and covered me in a fine sheen of flop sweat.

Freund Pichl Peter hat recht gehabt: "Kunst verhält sich zum Museum wie Liebe zum Bordell". "Liberating Art" sollte auch als "Kunst befreien" gelesen werden.

L.G.

Raute

Zur politischen Ökonomie von Kopie und Kopierschutz - Teil 2

von Stefan Meretz

Analoge Kopie und Kopierschutz

Mit der Trennung von Ausführungsmaschine und Wissensträger richtet sich das Kopisten-Interesse nun auf beide Aspekte. Da die Ausführungsmaschine im analogen Zeitalter eine Spezialmaschine ist, die einen stofflich-spezifischen Wissensträger benötigt, um als komplette Maschine fungieren zu können, sind beide isoliert voneinander funktionslos. Gegeben jedoch, die Ausführungsmaschine liegt vor (etwa weil als Produktionsmittel erworben), so ist nun der Wissensträger, der die Produktionslogik repräsentiert, im Kopisten-Fokus. Können die passenden Lochbrettchen des Jacquard-Webstuhls kopiert werden und liegen die Rohstoffe vor, so steht der Produktion der neuesten Stoffmode nichts mehr im Wege. Der Urheber des neuen Musters wird düpiert und ggf. finanziell ruiniert. Hier nun haben das moderne Urheberrecht und seine Derivate (Gebrauchsmuster, Markenrecht etc.) einzuschreiten. Es musste sich jedoch zunächst aus dem traditionellen Privilegienrecht befreien und zu einem Verwertungsrecht werden.

Mit der Ablösung der Informationsträger von der Ausführmaschine wird die Produktion von Informationsträgern selbst kommodifiziert, wobei zunehmend die Produktion des physischen Trägers zum subalternen Moment der repräsentierten Information wird. Der Arbeits- und Materialaufwand analoger Tonträger ist verglichen mit dem getragenen Ton gering. Da jedoch die Ausführungsmaschine eine Spezialmaschine ist, die erst zusammen mit dem spezifischen Träger funktioniert, und da die analogen Informationsträger ohne hohen Aufwand nicht in gleicher Qualität wie das Original hergestellt werden können (so sind etwa Kopien analoger Tonträger immer von minderer Qualität als die Vorlage), gibt es hier eine technisch-immanente Schranke, die unbegrenztes Kopieren verhindert. Diese technische Begrenzung bildet zusammen mit dem Urheberrecht eine wirksame Kopierbehinderung, so dass ein expliziter technischer Kopierschutz noch kein Thema ist.

Ökonomisch unterscheiden sich die Informationsträger nicht wesentlich von herkömmlichen Massenwaren. Sie können in dem Maße zur eigenständigen Ware werden, wie Ausführmaschinen (etwa Abspielgeräte für analoge Tonträger) hinreichend weit verbreitet sind. Auch hier besteht eine stoffliche Kopplung von Träger und getragenem Inhalt, wenngleich Menge und Herstellaufwand des Trägers minimal geworden und mit hoher Stückzahl ideal skaliert sind. Während jeder Träger ein "Individuum" darstellt, ist jedoch der informationelle Inhalt allgemeiner Natur. Er erscheint auf jedem einzelnen Produkt und kann potenziell auf einen anderen Trägertyp wechseln, sofern für den neuen Trägertyp eine spezielle Ausführmaschine existiert (etwa von der analogen Schallplatte auf das analoge Tonband).

Da der Herstellaufwand zusätzlicher Informationsträger gering ist im Verhältnis zum initialen Aufwand, den Inhalt zu produzieren, steht ein ideales Mittel bereit, um Extra-Mehrwerte zu realisieren. Ein Extra-Mehrwert kann immer dann erzielt werden, wenn es gelingt, den Aufwand für die produzierte Ware unter den gesellschaftlichen Durchschnitt zu drücken. So erklärt sich etwa das Streben der Kulturindustrie nach der Generierung von "Hits" durch Schaffung eines uniformen Massengeschmacks.


Die digitale Kopie

Die locker gewordene Bindung von Trägermedium und Inhalt löst sich mit der digitalen Kopie völlig auf. Im Fokus steht nun ausschließlich die Reproduktion des Inhalts, während das Trägermedium gegenüber dem Inhalt (wie vorher das Produktionswissen gegenüber der Maschine) neutral wird. Bei Analogkopien spiegelte sich die Qualität des Trägermaterials noch in der Qualität des Produkts wider, so dass eine identische Reproduktion schwierig bis unmöglich war. Eine Kopie bedeutete (fast) immer auch einen Qualitätsverlust des getragenen Inhalts. Bei digitalen Kopien sind Hergestelltes und erneut Hergestelltes identisch. Eine Unterscheidung von Original und Kopie ist hier nicht mehr substanziell zu treffen, sondern ausschließlich sozial: Wer hat von wem was kopiert? Aufgrund ihrer Trennung von einem bestimmten stofflichen Träger - es muss nur irgendeiner sein - sind im Digitalen alle Kopien Originale und umgekehrt.

Zweites besonderes Merkmal in der Sphäre des Digitalen ist die Entkopplung des Prozesses der Reproduktion vom stofflichen Aufwand, wobei Entkopplung nicht bedeutet, dass gar kein Aufwand anfällt. Zwar ist der Einsatz von Material, Energie und Arbeit im Moment der Reproduktion verschwindend gering, bei der Herstellung der infrastrukturellen Voraussetzungen der Kopie ist jedoch ein erheblicher Aufwand an Material, Energie und Arbeit erforderlich. Im Unterschied zur Produktion stofflicher Güter ist der Aufwand also fast vollständig in die Infrastruktur gewandert.

Emanzipierte sich zunächst die Prozessbeschreibung vom auszuführenden Produktionsprozess, so nun die Prozessbeschreibung vom Trägermaterial. Das Triplet von digitaler algorithmischer Beschreibung, Träger der digitalen Repräsentanz des Beschriebenen und Prozessmaschine, die die algorithmische Beschreibung ausführt, ist stets vorhanden. Es macht nun keinen Unterschied mehr, ob Stahl produziert oder Musik abgespielt wird. Digitalität bedeutet Universalität, also vollständige Neutralität gegenüber einem Inhalt: Jeder Inhalt kann kodiert werden, für den eine Abspielmaschine bereit steht. Was hingegen das Fehlen einer Abspielmaschine bedeutet, erfährt man, wenn man beim neuen Computer verzweifelt nach dem Einschub für die "steinzeitlichen" Disketten sucht. Die Archivierung ist damit im digitalen Zeitalter zu einem wesentlichen Problem geworden. Der Universalität des Codes entspricht die Universalität der Abspielmaschine Computer. In der Güterproduktion wird sie begleitet von der universalisierten Prozessmaschine, etwa dem Produktionsroboter. Die zeitweilig gehegte Vorstellung einer total digitalisierten und damit automatisierten Produktion (Computer Integrated Manufacturing) ist dennoch eine Illusion, da in automatisierten Prozessen Neues als genuin Unbekanntes (wozu auch Störungen gehören) nicht abgebildet werden kann (vgl. Baukrowitz 2006: 102ff.).


Digitale Kopie und Kopierschutz

Die Trennung von externem Informations- und Wissensträger und Ausführungsmaschine war ein großer Schritt in der Entwicklung. Im Vergleich dazu mutet der Wechsel von der analogen zur digitalen Repräsentationsform der Information gering an. Die Folgen waren jedoch ungleich tiefgreifender. Die analoge Repräsentationsform klebt immer noch an einer bestimmten stofflichen Darstellungsweise, die es vermag, kontinuierliche Übergänge abzubilden. Seien es die Rillenform der Schallplatte, die Magnetisierungsintensität des Tonbandes oder Schablonengestalt bei der Hosen-Produktion - stets werden kontinuierliche Skalen unmittelbar-stofflich, eben analog, dargestellt. Die Messgenauigkeit begrenzt die Abbildungsgenauigkeit.

Mit dem Wechsel zur digitalen Form werden diese und noch etliche andere Begrenzungen aufgehoben. Die Materialgebundenheit des Trägers entfällt, es muss nur irgendein Träger sein, der in der Lage ist, zwei Zustände dauerhaft darzustellen. Die Abbildungsgenauigkeit ist potenziell unbegrenzt, durch einfache Erweiterung der binären Zahlendarstellung lassen sich Grenzen ins Große oder extrem Kleine nahezu beliebig verschieben. Der Art der Information und damit der Art der repräsentierten Inhalte sind keine Grenzen gesetzt. Kurz: Die digitale Form ist eine universelle Form der Repräsentation. Ihr steht mit dem Computer eine ebenso universelle Ausführungs- oder besser: Vermittlungsmaschine gegenüber, die auf keinen speziellen Anwendungszweck mehr festgelegt ist und beinahe beliebige Ausführungsmaschinen mit entsprechenden Steuersignalen versorgen kann. Der Computer ist zum universellen Vermittler der gesellschaftlichen Infrastruktur aufgestiegen: Internet, Produktion, Konsumgüter, Dienstleistungen.

Mit der digitalen Form ist die Erstellung einer Kopie dramatisch einfacher und aufwandssparender geworden. Die binären Codes lassen sich beliebig kombinieren und setzen als Binär-Kombinat neue Bedeutungen und Anwendungszwecke in die Welt. Jede digitale Erfindung ist im Moment ihrer Schöpfung nur einen Mausklick von ihrer globalen Verbreitung durch Kopie entfernt. Die Kopie ist nicht mehr ein außergewöhnliche Ereignis, sondern der Kern der digitalen Bewegungsweise des binären Codes. Die allgemeine digitale Infrastruktur basiert auf der Kopie. Sie zu unterbinden, hieße, die Infrastruktur abzuschalten und die Gesellschaft stillzulegen.

Ökonomisch schreibt die digitale Kopie die Tendenz fort, die schon mit der analogen Kopie begann. Der Hauptaufwand bei der Herstellung der Waren bezieht sich direkt auf den Inhalt, während die Verbreitung nun aufgrund der digitalen Form nahezu beliebig geworden und somit in die allgemeine digitale Infrastruktur gewandert ist. Der Universalität der digitalen Form muss die soziale Form als proprietärer Ware widersprechen, da sonst das Gut nicht verwertet werden kann. Voraussetzung für die Warenform ist die Knappheit des Guts. Die Knappheit ist zwar - anders als die VWL meint - keine natürliche Eigenschaft des Guts, sondern eine soziale Form der Produktion des Guts als Ware (vgl. Meretz 2007: 68f.), aber die Singularität und Begrenztheit des stofflichen Guts lässt sich leicht dafür nutzen, die Knappheit auch tatsächlich zu arrangieren - etwa indem der Zugriff auf die Ware unterbunden wird, die Produktion gedrosselt wird, Lieferboykotte organisiert werden, Güter gezielt vernichtet werden etc.

Das ist mit universellen digitalen Informationsgütern nicht so ohne weiteres möglich. Nutzung und Knappheit widersprechen sich. Nutzung bedeutet Kopie, Warenform bedeutet Verhinderung von Kopie. Gute Kopien müssen von im Sinne der Verwertung schlechten Kopien separiert werden. Diese Separation kann nur gelingen, wenn die Produzenten der Inhalte, die diese Inhalte in die Warenform pressen wollen, sowohl das digitale Gut wie auch die Infrastruktur kontrollieren und manipulieren können. Dieses Ziel wurde und wird auch verfolgt. Hierbei haben sich zwei technische Ansätze herausgebildet.

Erster Ansatz war (und ist) der digitale Kopierschutz des Produkts, also die Verknüpfung der Nutzung der digitalen Information mit der Verfügbarkeit eines Schlüssels, der über andere Kanäle verteilt wird (z.B. als Aufdruck auf der CD-Hülle). Doch da auch die Schlüssel leicht in die digitale Form gebracht und über die gleiche allgemeine Infrastruktur verbreitet werden können, geschieht dies auch. Wenn solche Schlüssel nicht durch Leaks direkt aus der Quelle stammen, so werden sie entweder per Cracking enttarnt oder durch Manipulation der Quellcodes des Produkts allgemein nutzbar gemacht. Jeder "Schutz" im Medium des Digitalen kann in diesem Medium auch entdeckt, umgangen oder anderweitig ausgehebelt werden. Es ist nur eine Frage von Kenntnissen und Aufwand, also der Zeit, bis neue digitale Sperrmechanismen unbrauchbar gemacht worden sind. Der Hase holt den Igel oft schon auf den ersten Metern ein.

Der zweite technische Ansatz besteht darin, nicht nur das digitale Gut, sondern auch die Infrastruktur als Ausführmaschinerie zu kontrollieren. Dies ist die Grundidee des digitalen Rechtemanagements (DRM), das inzwischen weitgehend gescheitert ist. DRM kombiniert ein verschlüsseltes Produkt mit einer virtuellen Ausführmaschine, die allein in der Lage ist, das verschlüsselte Produkt "abzuspielen". Viele DRM-Systeme existieren nur in Softwareform, das eigentliche Ziel ist jedoch die Verknüpfung von DRM-Software mit DRM-Hardware. In einem DRM-Chip wird ein individueller Schlüssel hinterlegt, der von den Inhalte-Kontrolleuren bei Nutzung eines Inhalts ausgelesen werden kann (vgl. dazu auch Meretz 2007: 74ff). Nur bei technischen Insel-Geräten wie Settop-Boxen, DVD-Playern, Spiele-Konsolen, eBook-Readern u.a. ist eine gewisse Haltbarkeit der Digitalkontrolle gegeben.

Der DRM-Ansatz offenbart den unauflösbaren Widerspruch, in dem sich das Kapital befindet. Einerseits ist die digitale Infrastruktur das ideale Medium zur Distribution informationeller Produkte, steht sie doch allen frei zur Verfügung. Offenheit und Neutralität sind hierfür die entscheidenden Bedingungen. Andererseits sind es genau diese beiden Bedingungen, die jegliche Aktivitäten wider die Warenform ermöglichen: Von der "Raubkopie" bis zu Schaffung von freien Kultur- und Wissensgütern. DRM ist nun der Versuch, in das öffentliche Netz ein virtuelles Privatnetz einzubauen, das von den Verwertern kontrolliert wird. Eine vollständige Kontrolle würde jedoch die Abschließung des quasi-privaten Netzes voraussetzen. Doch eine solche Abschließung ist einerseits sehr aufwendig und schwer zu erreichen, da alle virtuellen "Übergangspunkte" ins allgemeine öffentliche Netz kontrolliert werden müssten, und andererseits würde es die Innovationen abwürgen, die erst die Voraussetzung für neue verwertbare Produkte sind. Dieser Widerspruch zwischen Offenheit und Kontrolle muss zugunsten der Offenheit ausgehen, da sonst die komplette Verwertungsbasis abgeschnürt wird. Die schlichte Regel im Konkurrenzkampf lautet: Wer offener ist, setzt sich durch (vgl. Bauwens 2009).

Keine Regel ohne Ausnahme. Mit der fast vollständigen Kontrolle der Firma Microsoft über die Desktop-Betriebssysteme besteht eine Sondersituation, weil die Firma hier noch zu Zeiten einer sehr schwachen allgemeinen digitalen Infrastruktur eine Monopolstellung erreichen und seit dem mit unfeinen Tricks bis heute verteidigen konnte. Sie kann es sich noch leisten, nicht offen zu sein, aber die ersten Einbrüche in die Dominanz sind gelungen. So musste Microsoft das alte proprietäre und geschlossene Dokumentenformat der Büroanwendungen durch eine neue offene Version ablösen (das sog. OOXML), um eine ISO-Zertifizierung zu erlangen. Das offene Open Document Format (ODF), das u.a. von der Büroanwendung OpenOffice verwendet wird, hatte diesen Status schon vorher erreicht. Zudem musste Microsoft die nationalen Standardisierungsgremien mit massiven Interventionen zur Zustimmung drängen, da der vorgelegte und dann beschlossene Entwurf (6000 Seiten!) dem Transparenzgedanken widerspricht. Immerhin musste Microsoft auf zahlreiche mit der OOXML-Spezifikation verbundene Patente verzichten.

Technische Behinderungen als Maßnahmen zur Unterbindung von Digitalkopien haben nur Aussicht auf Erfolg, wenn sie von einer rechtsförmigen Absicherung (vgl. dazu ausführlich Nuss 2006: 67ff.) flankiert werden.

Das Umgehungsverbot für DRM-Mechanismen war daher die zentrale Forderung der Content-Industrie und fand 1996 schließlich in das WIPO (World Intellectual Property Organization)-Abkommen über Urheberrechte Eingang. Mit dem Digital Millenium Copyright Act (DMCA) überführten die USA 1998 die Bestimmungen in nationales Recht, die EU folgte 2001 mit einer entsprechenden Richtlinie. Deutschland hat die EU-Vorgaben - u.a. das Umgehungsverbot für DRM - 2003 und 2008 umgesetzt. Die rechtlich legale Privatkopie wurde damit weitgehend abgeschafft (vgl. Weißenborn 2009).


Kampf um die Warenform

Die Entwicklung von der stofflichen über die analoge zur digitalen Kopie spiegelt die doppelt-algorithmische Revolution in der Produktivkraftentwicklung des Kapitalismus wider. Dabei fällt die unmittelbar-physische Kopie in die Phase der Handwerker- und Manufaktur-Produktion des beginnenden Kapitalismus, die analoge Kopie in die Phase der Übertragung von Werkzeug und Produktionswissen des Handwerkers auf eine Maschine und ihre algorithmische Integration der Einzelprozesse zur Fließfertigung als fordistisch-tayloristisch organisiertem Gesamtprozess und schließlich die digitale Kopie in die Phase der Trennung von flexibler Prozessmaschine und digitaler algorithmischer Universalmaschine (Computer) in der postfordistischen Produktion (vgl. dazu auch Meretz 2003).

Bezog sich die Kopie zuerst auf den physisch verkörperten Zweck, dann auf den physischen Träger des mit ihm verkoppelten Inhalts, so schließlich nur mehr auf die auf einem beliebigen Träger dargestellte digitale Repräsentanz des Inhalts. Alle drei Elemente werden heute getrennt produziert: Inhalt, Träger und digitale Repräsentanz. Es liegt auf der Hand, dass in diesem Verhältnis der Träger unbedeutend und die digitale Repräsentanz verschwindendes Moment ist. Vorausgesetzt ist dabei immer die Existenz einer Ausführungsmaschine. Sofern diese zur Verfügung steht - die chemische Fabrik, das Autowerk, der Musikplayer, das BKA -, repräsentiert der Inhalt das fertige "Produkt": das Medikament, das Auto, das Musikstück, die Rasterfahndung. Die Ausführungsmaschine ist dabei immer weniger die einzelne zweckgebundene Spezialmaschine, sondern sie wird zunehmend in eine allgemeine Infrastruktur integriert, deren universelle Darstellungsweise die digitale Form und universelle Prozessweise die digitale Kopie ist.

Für den Kapitalismus, dessen Basis die Verwertung von lebendiger Arbeit ist, entsteht damit ein fundamentaler Widerspruch. Das gleiche Medium, die allgemeine digitale Infrastruktur, ist Ort und Mittel von Produktion, Distribution und Konsumtion.

Als Produktion soll das digitale Medium abgesperrt und exklusiviert werden, um die private Form der Produktion zu gewährleisten. Mittels physischer Trennung von Geräten, Daten und Wissen von der allgemeinen Infrastruktur durch technische (Firewalls, virtuelle geschlossene Netze) und organisatorische (Verschwiegenheitspflicht per Arbeitsvertrag) Maßnahmen soll die Allgemeinheit ausgeschlossen bleiben. Gleichzeitig ist die Allgemeinheit permanent präsent: in der wissenschaftlichen Kooperation, bei der Verwendung der allgemeinen Infrastruktur, im Austausch mit den Kunden, bei der Nutzung des Kundenwissens zur Produktoptimierung bis hin zur kundengenerierten Produktinnovation per "Crowdsourcing". Patent und Urheberrecht sind die rechtlichen Mittel, um den Widerspruch von Privatheit und Allgemeinheit in der Produktion in einer Verwertung ermöglichenden Bewegung zu halten. Doch der Anteil der allgemeinen Voraussetzungen der Produktion wächst stetig an. Jede private Abgrenzung stößt potenzielle Innovatoren ab. Nur wer offen ist, kann sich durchsetzen. Die Strategie lautet: Gib einen Teil der privaten Produktion (Wissen, Patente, Geräte, Arbeitskräfte, Code, Dokumente etc.) in die allgemeine Infrastruktur und gewinne dadurch an innovativer Kraft, Vertrauen und Wissen. Nur wer selber offen ist, kann die allgemeine Infrastruktur für sich instrumentalisieren.

Die Distribution braucht unabdingbar die Offenheit der digitalen Infrastruktur als "freien Markt". Gleichzeitig möchten die privaten einzelnen Marktteilnehmer "ihren" Marktanteil in zwei Richtungen kontrollieren: Einerseits sollen Konkurrenten fern und andererseits soll das Produkt beim Nutzer privat gehalten werden. Durchsetzung eigener proprietärer Funktionen als "Standards" war lange Zeit die dominante Bewegungsform für die erste Zielstellung und DRM für die zweite. Im Bereich der Online-Dienste sollten zunächst die Nutzer im "eigenen" Netz gehalten und von Konkurrenten abgeschottet werden, während nun diejenigen gewinnen, die ihre Schnittstellen offen legen, die Kooperation unterstützen und teilweise auch ihre Daten zur Verfügung stellen. Der "freie Netzmarkt" braucht die Netzneutralität, die Infrastruktur-Dienstleister sind hingegen an gezielter Verwertung separierter Netzausschnitte mit definierter Transportqualität interessiert. Auch hier tobt also der Kampf zwischen Offenheit und Privatheit, der im Kern ein Kampf um Warenform und Verwertung ist.

Auch bei der Konsumtion tritt dieser Widerspruch offen zu Tage. Kopierschutz und Kopierkontrolle sollen technisch verhindern, dass ein genuin allgemeines Gut auch tatsächlich sozial verallgemeinert wird. Doch verkapselte Geräte als digitale Inseln sind technisch weniger interoperabel als solche, die ihre Spezifikationen offen legen und den Zugriff anbieten. Neue Formen der Digitalkontrolle werden ersonnen, etwa bei Spielen. Durch die Kopplung von Spielerwerb und Online-Verbindung sind neue Abrechnungsmodelle möglich. Entsprechende Tendenzen der Verlagerung ins allgemeine Netz mit Bindung an einen Verwerter im Bereich der Anwendungssoftware (SaaS: "Software as a Service") untermauern diese Tendenz. Doch jede neue Schließung auf der Seite der proprietären Verwerter provoziert eine Innovation auf der Seite Schöpfer offener und freier Produkte.

War die Bewegung Freier Software der Reflex auf die proprietäre Enteignung der Software, so ist die freie Design-Bewegung der Ausdruck des produktiven Aneignungsbestrebens im Bereich der Hardware. Denn Hardware ist in erster Linie selbst auch wieder Software im weitesten Sinne: Konzeption, Entwurf, Gestaltung, Kodierung. Bei digitalen Konsumgütern vorwiegend im Kulturbereich wird der Trend zur prosumerischen Aneignung des Guts zur Erzeugung derivater neuer Güter (z.B. als Remix) besonders deutlich - mit der Folge einer Diversifizerung des Massengeschmacks im ungekannten Ausmaß. Gerade hier haben die großen Kulturkonzerne als erstes auf die Digitalkontrolle per DRM verzichtet, da sich in der Konkurrenz das Private nur als Allgemeines durchsetzen kann. Die unkontrollierbare Weiterverbreitung wird zähneknirschend hingenommen (und gleichzeitig rechtlich weiter bekämpft), um die Verwertung überhaupt zu retten. Ein digitales Kulturgut taugt nicht mehr als Ware. Ernst Lohoff (2007) hat hieraus den Schluss gezogen, dass digitale Informationsgüter keine Waren mehr sind.


Fazit

Die Kopie war und ist Wesensmerkmal der gesellschaftlichen Produktion aller Mittel zum Leben - unabhängig von der Gesellschaftsform. Die entwicklungslogische Rekonstruktion hat den Formwandel der Kopie im Kapitalismus von der unmittelbar physischen Kopie über die Analogkopie bis zur digitalen Kopie gezeigt. Dabei trennten sich die Elemente, die zuvor vereint als menschliches oder dinglich repräsentiertes Wissen und Können existierten. Die Trennung ermöglichte ihre getrennte Entwicklung in ungekanntem Ausmaß bis auf Basis der digitalen Form die Reintegration zu einer potenziell globalen allgemeinen digital-basierten Infrastruktur auf den Weg gebracht wurde. Kopierschutz und Kopierkontrolle sind dabei nur mehr einzig Ausdruck der Notwendigkeit, Produktion und Verwertung in der privatkapitalistischen Form zu halten. Sachlich und sozial ergibt die Beschränkung der weiteren infrastrukturellen Integration auf digitaler Basis keinen Sinn. Was historisch folglich ansteht, ist, dass die Gesellschaftsform der faktischen Allgemeinverfügbarkeit der Produkte folgt und die private Produktions- und Aneignungsweise des Kapitalismus aufhebt.


Literatur

Baukrowitz, Andrea (2006): "Informatisierung und Reorganisation. Zur Rolle der IT jenseits der Automatisierung". In: Baukrowitz, Andrea / Berker, Thomas / Boes, Andreas et al. (Hg.): Informatisierung der Arbeit - Gesellschaft im Umbruch, Berlin: edition sigma, S. 98-115.

Bauwens, Michel (2009): "How the law of asymmetric competition should affect innovation policy". http://o.ly/tsg (letzter Zugriff November 2010).

Grassmuck, Volker (2006): "Wissenskontrolle durch DRM: von Überfluss zu Mangel", in: Hofmann, Jeannette (Hg.): Wissen und Eigentum. Geschichte, Recht und Ökonomie stoffloser Güter, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 164-186.

Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm (1854ff.): Deutsches Wörterbuch, Leipzig: S. Hirzel.

Helfrich, Silke / Heinrich-Böll-Stiftung (2009): Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, http://o.ly/tsg (letzter Zugriff Oktober 2009).

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Meretz, Stefan (2003): "Zur Theorie des Informationskapitalismus. Teil 2: Produktive und unproduktive Arbeit", in: Streifzüge, Nr. 2, S. 41-46.

Nuss, Sabine (2006): Copyright & Copyriot. Aneignungskonflikte um geistiges Eigentum im informationellen Kapitalismus, Münster: Westfälisches Dampfboot.

Stallman, Richard (2009): "Das Recht zu lesen". In: Helfrich, Silke / Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, http://o.ly/tsd (letzter Zugriff Oktober 2009), S. 203-207.

Weißenborn, Stefan Robert (2009): "Kopierschutz und Privatkopie. Die Grenzen der Freiheit". http://o.ly/tss (letzter Zugriff Oktober 2009).

Raute

2000 Zeichen abwärts

bob Service Roboter

Eins unserer erwachsenen Kinder ist recht schlecht drauf. Sie hat eine schön klingende griechisch-lateinische Diagnose und einen recht hässlichen Alltag. Wir oft auch. Zu den kleineren Malheurs gehört, dass ihr zuweilen Dinge abhanden kommen. Manchmal recht knapp hintereinander. Im Vorjahr z.B. zweimal ein Handy. Der Providervertrag läuft auf meinen Namen - Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfänger bekommen keinen - wer weiß, ob sie zahlen können? ("Gratiskonto" bei der easybank natürlich auch nicht - bei dem bissl Geld hat die Bank ja nichts davon.) Ich habe also zweimal die Simcard sperren lassen und die missverständliche Auskunft bekommen, dass damit die Sache erledigt sei. War sie nicht, ich hätte außerdem noch postalisch kündigen müssen.

Ein Missgeschick kommt selten allein, sagt ein blödes Sprichwort. Viel blöder ist, es trifft auf uns zu. Wir sind damit eingedeckt, und dafür, das Bankkonto zu überwachen, solange noch was drauf liegt, reicht unsere Aufmerksamkeit nicht. So hat also der Billigprovider bob 16mal sein Pauschale von 8,80 abgebucht für zwei tote Leitungen.

Ich habe es schließlich bemerkt, gefragt und den Brief geschrieben, den Vorgang kurz geschildert und damit geschlossen: "Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie uns durch eine Gutschrift entgegenkommen würden." (Dem bob bleiben eh noch drei weiterlaufende Verträge von uns erhalten.)

Der Konjunktiv war richtig. Gekommen ist der Standardbrief "Schade, dass Sie sich von uns trennen wollen" und "es tut uns leid" - um den Vertrag zur Rufnummer xyz. Nicht einmal, dass es zwei Verträge waren, ist ihnen aufgefallen. Meist besteht der Spott zum Schaden ja in kalter Ignoranz.

Ich habe so zynisch wie mir möglich zurückgeschrieben und gehofft, dass ich dem anonymen Tastaturbenutzer des unterschriebenen "bob Service Team" den Tag ein wenig doch versaue. Die Antwort war die wortgleiche Schablone mit der zweiten Nummer. Was anderes, sagt mir ein Insider, lässt das Programm, das die Leute dort als Roboter zu bedienen haben, gar nicht zu.

A.W.

Raute

Rezension

Alfred Schobert, Analysen und Essays. Extreme Rechte - Geschichtspolitik - Poststrukturalismus,
Unrast Verlag, Münster 2009, 434 Seiten, ca. 29,80 Euro

Sterben muss jeder, doch besonders schlimm ist es, wenn es einen frühzeitig erwischt wie dieses Jahr Martin Büsser, den Herausgeber der testcard, oder 2006 den 1963 geborenen Alfred Schobert. Schobert, Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS), war bekannt für sorgfältige und gediegene Untersuchungen. Akribisch waren sie, selten voreilig, zumeist treffend. Schobert war alles andere als ein polemischer Eiferer. Großes Augenmerk galt einer Zurückweisung des "binären Reduktionismus", wie er etwa in Deutschland von junge Welt einerseits und Jungle World andererseits repräsentiert wird.

In vorliegendem Band findet sich etwa eine gründliche Analyse von Martin Walsers Schriften und Reden, ein Aufsatz über die Kontinuität des Eliten-Antisemitismus und die besondere Rolle von Henry Fords Buch "The international Jew" (1920), eine Kritik von Finkelsteins "Holocaust-Industrie" u.v.m. Auch wenn er einige Einwände gegen die Sichtweisen Arundhati Roys vorbringt, verteidigt er sie vehement: "An Roy tobte sich die 'linke' Variante des neu formierten denunziatorischen Subjektivitätstypus aus." Beiträge über den Poststrukturalismus nehmen den hinteren Teil des Buches ein. Sie lesen sich wie eine Hommage an Jacques Derrida, bei dem der Autor in Paris studierte.

Wer zu diesen Themen lesen will, dem sei der Band herzlich empfohlen. Gar manches hat zeitlosen Bestand, ist nicht bloß als Intervention in aktuelle Debatten zu verstehen. Es ist in jeder Hinsicht ein Verdienst, diese Artikel zusammengefasst und veröffentlicht zu haben.

F.S.

Raute

One World One Pain

Notizen zu den Rebellionen in Arabien und anderswo

von Lorenz Glatz

"We want Jobs & Peace life. We love Yemen." - So lautete jüngst ein Spruchband junger Demonstranten in Sanaa, die gegen ihren Patriarchen im Präsidentenamt aufbegehren. Tatsächlich dürfte sich heute ein großer Teil der Menschheit in Nord und Süd so ähnlich ein halbwegs gutes Leben vorstellen: Arbeit haben, damit man Geld hat zum Leben und zum nötigsten Prestigekonsum; kein Krieg und Bürgerkrieg; einigermaßen sicher sein vor Kriminellen und unbehelligt von Ordnungshütern; ein Staat, der einen nicht schon fürs Reden abstraft und über die Steuern hinaus in Ruhe lässt. Vermutlich umschreibt das auch so ziemlich das meiste von dem, was heutzutage in der historischen Selbstbescheidung der Menschheit gemeinhin als Freiheit durchgeht. Aber auch dieser Schatten eines guten Lebens ist nicht so leicht zu haben.


1.

Ein endemisch hoher Teil der Menschheit, vor allem der Jugend, ist in die Arbeitsgesellschaft nicht zu integrieren. Und wenn: "Working poor" ist kein Begriff aus einem Drittweltland, sondern aus den USA und meint einen wachsenden Teil der Arbeiterinnen dort.

Die jüngsten Unruhen, die sich von Tunesien aus in den arabischen Ländern ausbreiten und weltweit ein Echo finden, sind nicht zuletzt von einem historischen Höchststand der Lebensmittelpreise angeheizt worden. (Das war übrigens auch 1789 in Frankreich so.) Die Teuerung wird weitergehen. Dafür sorgen Umweltzerstörung und Land Grabbing beim Essen, Peak Oil und vielleicht bald schon Peak Everything bei allem anderen. Was alles das soziale Gefüge weltweit erschüttern wird. Selbst Senior Economists erwarten Aufruhr auch in "entwickelten Ländern".

Auf dem Trikont, wo diverse Potentaten nicht nur für ihre Macht und ihren Luxus, sondern vor allem für die Einhaltung der Weltwirtschaftsordnung sorgen, mögen Menschen ihre Empörung noch vorrangig mit dem Wunsch nach Wahlen und Zubehör a la Okzident verbinden. Aber auf halbem Weg kommen ihnen die Desillusionierten der "freien Welt" entgegen. - Eine Episode mit Symbolwert: Demonstranten in Wisconsin, USA, besetzen wegen radikaler Lohnsenkungen und der Streichung gewerkschaftlicher Rechte das Capitol in Madison und nennen ihren demokratisch frei und geheim gewählten Gouverneur "Gov Mubarak". Leute in Kairo, die ihrer neuen Regierung, die sie in die Demokratie zu führen hat, auf dem Tahrir-Platz lautstark misstrauen, erfahren davon. Sie bestellen per Internet Pizza für die Kollegen in Amerika und halten für sie die Losung vor die Kamera: "Egypt supports Wisconsin. One World One Pain."


2.

Es kann ansteckend sein, sich gegen die herrschende Ordnung und ihre Hüter an der Macht zu wenden, derzeit breitet es sich aus und hört hoffentlich so schnell nicht wieder auf. Denn selten wird mehr miteinander gesprochen, debattiert und gelernt als in solchen Zeiten. Freie Rede, Selbstermächtigung der Frauen, der Verachteten, Kooperation, Freundschaft, Freude aneinander, wo eben noch kalte Gleichgültigkeit oder tiefes Misstrauen herrschte, herausfordernde Zuversicht, wo gerade noch die Furcht sich krümmte, alles wird vorstellbar, wovon eins nicht zu träumen wagte, kurz: der unvergessliche Geruch von Freiheit.

Gewähr dafür, dass dieser sich auch bei einem Sieg der Revolten nicht bald verzieht, ist das jedoch leider keineswegs. Die meisten spontanen Vorstellungen, wie die Zustände zu bessern sind, knüpfen am Gewohnten an, am längst schon Etablierten: Wir vertreiben den Diktator und seine Clique, schaffen illegale Bereicherung, Brutalität und Willkür ab - und gehen dann wieder in den Alltag und die Arbeit, hoffentlich mehr Arbeit und für mehr Leute. Also trägt eins seine Haut zu Markte, um Geld fürs Leben draus zu machen und verdünnt mit jeder Stunde "Hauptsache ein Job" oder "wie krieg ich Arbeit" oder "Erholung von der Arbeit" und dem ganzen Rattenschwanz der öden, frustenden Sachlich- und Streitigkeiten von Arbeit, Geld und Ware jenen Geruch von Freiheit mit der Traurigkeit, wie wenig sich im Grunde doch geändert hat.

Es ist ein Zwangszusammenhang der Menschen, der zu einem Weltsystem der durchdringenden, alltäglichen Geldbeziehungen und Warenströme angewachsen ist. Er ist so allumfassend normal geworden, dass diese Verhältnisse von den meisten Menschen als so natürlich und unverzichtbar wie Essen und Trinken empfunden werden. Und schreibt man oben statt "Diktator" schlicht "Politiker", schrumpft auch die Differenz des Unmuts in "Dritter Welt" und "Freiem Westen" sehr zusammen.

Die Ideale von Demokratie und Gesetzestreue sind illusionär. Die Katastrophe der Geldbeziehungen ist schon deren Normalbetrieb, der durch Korruption und Beugung der Gesetze so viel gemildert wie verschlimmert wird. Und die gegenüber Mensch und Welt rücksichtslose Gier nach Geldvermehrung ist der Zweck des Geldes selber, sie ist das Herz des industriellen und technologischen Fortschritts, verträgt sich mit Diktatoren wie mit Demokraten. One World One Pain.


3.

Auch Arabischer Nationalismus, Islamismus (der entgegen aller demokratischen Propaganda eine islamische Anpassungsbewegung an den Kapitalismus war und ist!) und erst recht diejenigen, die von der Eingliederung in die westliche demokratische Welt träumen, werden auf dieser Grundlage nach dem Sturz der Tyrannen Vorstellungen formulieren, die sich im Grunde wenig voneinander unterscheiden. (So wie wir das in unserer Weltgegend von den etablierten demokratischen Parteien ja auch gewohnt sind.) Die diversen Strömungen haben offenbar schon zuvor so wenig Attraktivität und Formulierungsfähigkeit entwickelt, dass sie die von der Jugend ausgelösten, bemerkenswert "unpolitischen" Revolten bisher in keiner Phase anzuführen oder zu lenken imstande waren.

Die tunesische und die ägyptische Regierung des Übergangs zur Demokratie haben versprochen, dafür zu sorgen, dass alle internationalen Abkommen weiterhin eingehalten werden. Zu begrüßen ist das gewiss beim einen oder andern Friedensschluss. Vor allem aber ist dieses Versprechen jenseits von Demokratie und Diktatur eine Fortschreibung der Verhältnisse, die Land und Leute in der globalen Ordnung der Wertverwertung und Geldvermehrung zementieren. Mit ihrer Pakttreue versprechen die neudemokratischen Übergangsregime bloß dasselbe wie die alteingesessenen Demokraten im ziemlich bankrotten Griechenland oder Portugal oder Irland und all die anderen Sanierer im Rest der Welt natürlich auch: demokratisch mitzuwirken bei der Sanierung für den nächsten Kollaps, den Klimawandel, die Zerstörung und Vergeudung der Natur, von der wir leben. Und bei der Durchsetzung dieser Zumutungen ist auch der demokratische Staat in der Wahl der Mittel nicht sehr wählerisch.

Welche politische Richtung mit welchen Wendehälsen oder neuer Personage und in welcher Koalition auch immer schließlich in Ägypten oder Tunesien und vielleicht noch in ein paar Ländern an die Regierung kommen wird - keine von ihnen hat anderes vor, als auf jenen Schienen weiterzufahren. Denn Staat, Recht und Politik sind die siamesischen Zwillinge von Kapital, Geld und Markt. Sie definieren Freiheit und Wohlstand als die Chance, in der gnadenlosen Konkurrenz der Standort-Staaten, Konzerne und isolierten Individuen in der verrückten Hoffnung auf unendliches Wachstum zu reüssieren. Sie werden genau dem Knäuel an Problemen gegenüberstehen, der zu den Revolten geführt hat, aber mit den Mitteln politisch-staatlicher Macht nicht lösbar ist. Diese Gesellschaftsordnung und Lebensweise lässt sich nicht mehr verbessern, sie kann mehr über kurz als über lang nur aufgegeben oder in globale soziale und ökologische Katastrophen weitergeführt werden. One World One Pain. Da braucht es Tieferes als einen "Change" à la Obama.


4.

Die korrupten Politiker (ob Demokraten oder Diktatoren), die Spekulanten, die Heuschrecken oder gleich wieder: die Juden sind unser Unglück. Ausländer raus, ohne sie reicht's für uns schon noch. Sagt der Hausverstand, der ignoriert, worauf und woraus das Haus gebaut ist und wie mit der ehrlichsten Arbeit die destruktivsten Dinge gebaut werden, wenn damit nur Geld zu verdienen ist und rentable Investitionen möglich sind. Und wenn nicht, dann siehe oben. Derlei Strategie zur Reinwaschung und Rettung unserer "Leitkultur" und "sozialen Marktwirtschaft" hat in Europa und besonders dort, wo man deutsch spricht, seit langem Heimatrecht.

Aber auch Revolten machen mit solchem Denken und Fühlen nicht von alleine Schluss. So werden z.B. die Gastarbeiter in Ölstaat Libyen auch von Gaddafi-Gegnern malträtiert, beraubt, vertrieben. Und in die Proteste auf dem Tahrir-Platz mischten sich auch Töne gegen die "Judenknechte" des Mubarak-Regimes. Im Nahen Osten nimmt solcher Hausverstand leicht die Form eines ethnisch-nationalen, fundamentalistisch-religiösen und staatlichen Konflikts zwischen Israel und den arabischen Ländern an, der verheerende, ja atomare Sprengkraft birgt.


5.

In den Chefetagen der Politik und Wirtschaft hat man sich schon leichter getan. Planungshorizonte von fünf Jahren sind meist nur noch ein frommer Wunsch. Der Einbruch des globalen Finanzsystems vor drei Jahren war in den Prognosen der diversen Institute so wenig vorausgesehen wie die jetzigen Revolten in Maghreb und Levante und der Sturz "verhasster Diktatoren", wie sie jetzt heißen. Eben noch wurden sie ja als verlässliche Pfeiler der westlichen Welt der Demokratie wie Mubarak und Ben Ali hofiert oder als neu gewonnene Freunde wie Gaddafi mit Handkuss begrüßt.

Zweifellos wären dem Westen und natürlich auch vielen einheimischen Firmen ein demokratischer Umschwung in so heiklen Gebieten wie dem Nahen Osten durchaus angenehm - wenn nur sonst alles so bliebe, wie es ist. Demokratie hieße doch, dass die Leute selbst von Zeit zu Zeit ihren Sanktus geben würden zum Status quo des freien Zugangs zum Erdöl und allem, was dort sonst noch brauchbar ist für florierende Wirtschaft und lohnendes Investment. Dass sie vielleicht raunzen, schimpfen, die Regierungsparteien regelmäßig abstrafen, aber im Ganzen doch per Wahlen "realistisch" mitbestimmen würden.

Freilich setzt das voraus, dass die Bevölkerung den Eindruck hat, dass sie von den Zuständen doch auch profitiert, das heißt: dass es genügend andern schlechter geht als einem selbst. Das funktioniert in den reichen Ländern noch einigermaßen. An der Peripherie ist das ein Problem. Da können die Wünsche der Leute direkt "maßlos" werden, wenn sie einmal zu Wort kommen. Im Zweifelsfall geht dann der Status quo natürlich vor. Allerdings ist es zweifelhaft, ob die Menschen wirklich noch lang zu bremsen sind. Es geht um Länder, wo die jungen Leute in der großen Mehrheit sind. Und es ist schon mehr als zweifelhaft, ob sich USA und NATO zu Irak und Afghanistan eine weitere Schlamastik leisten können.

Damit aber steht noch etwas auf dem Spiel: die Hegemonie der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten in einer Schlüsselstellung des kapitalistischen Weltsystems. Die Verwertungsschwierigkeiten des von den USA ausgegangenen "Akkumulationsregimes" des Fordismus mit Fließbandproduktion und Automobilisierung ziehen sich schon über Jahrzehnte. Und ein neuer Goldrausch unter einem neuen Hegemon scheitert wahrscheinlich schon im Ansatz am nüchternen "Peak Everything". Wenn die Vormacht jetzt die wichtigste Erdölregion nicht unter ihrer politischen und militärischen Kontrolle halten kann, würde das in dieser Lage wahrscheinlich in den Zusammenbruch der herrschenden Hackordnung in der globalen Hierarchie münden und das Weltsystem des Kapitalismus ins Wanken, wenn nicht zum Einsturz bringen.


6.

Heißt es also nach fünfhundert Jahren "Rien ne va plus" im Weltkasino? Auf jeden Fall ist es höchste Zeit, hier rauszukommen. Es kommt drauf an, den Umgang mit den Ressourcen der Natur, vom Ackerboden über den Häuserbau bis zur Produktion der Güter eines guten Lebens von der Zwangsneurose Rentabilität und Finanzierbarkeit zu heilen, die Konkurrenz um Profit in die Kooperation für die Herstellung nützlicher und schöner Dinge und die Ausbeutung der Natur in einen Austausch mit ihr umzuwandeln. Da ist ein recht langer Weg zu gehen, mental, im Umgang miteinander und in praktischen Versuchen. Am besten der Nase nach, nach dem Geruch der Freiheit. In Madison, in Kairo, in One World. To stop the Pain.

Raute

Fukushima. So ist Kapitalismus

von Andreas Exner

Das Entsetzen nimmt kein Ende. Fukushima, das 9/11 des fossil-atomaren Energiesystems. Es ist das Schrecknis einer Welt, die nur Profit und Kapital kennt, das sich in diesem Kernreaktor und der unsichtbaren Todesstrahlung, die er aussendet, alptraumhaft verdichtet. Wie aus einem Katastrophenfilm wirken die Bilder und Meldungen aus Japan. So als hätten sich unsere bloßen Vorstellungen von der Zerstörungsenergie, die dem Kapital innewohnt, materialisiert. Eher können wir uns Vernichtung und massenhaftes Leiden vorstellen als das Leben in einer Welt des Teilens, der Achtsamkeit und Gemeinschaft, hat jemand einmal bemerkt. Dies ist so, weil die Welt so aussieht, wie wir sie uns vorstellen. Und wir stellen sie uns bis in alle Ewigkeit so vor, weil sie so aussieht.

Der Kapitalismus und seine unzähligen Schrecknisse erscheinen uns glaubwürdiger als eine Alternative: Wir glauben an das Kapital, das tödliche Versprechen endlosen Wachstums, und wir erweisen ihm zynisch die Huldigung, so als wäre die Herrschaft von Menschen über Menschen und die Natur etwas Würdevolles. Hätten wir den Kapitalismus nicht, dann hätten sich die Produktivkräfte nicht so enorm entwickelt, ist zu hören. Hätten wir den Kapitalismus nicht, dann lebten wir noch in dunklen Steinhäusern und müssten auf kargen Feldern fronen. Hätten wir den Kapitalismus nicht, dann gäbe es keine Handys und kein Internet. Hätten wir den Kapitalismus nicht, dann könnten wir nicht den Krebs behandeln, den die radioaktive Strahlung seiner Reaktoren verursacht. Hätten wir den Kapitalismus nicht, so ist zu schließen, wäre alles noch viel schlimmer.

Eine Welt des Teilens, der Achtsamkeit und Gemeinschaft: zwei Mal ein Fukushima, drei, vier, hundert Mal? Das ist selbstverständlich Unsinn. Ein Unsinn allerdings, der System hat.

Es ist eine geschmacklose Aufgabe, die vermeintlichen Errungenschaften des Kapitals gegenzurechnen mit den unglaublichen Leiden, die es verursacht hat, weiter verursacht und solange verursachen wird, bis wir es überwinden. Sie ist geschmacklos, aber notwendig. Und dabei sind die technischen Möglichkeiten, die der menschliche Geist freigesetzt hat und die das gegen konkrete Bedürfnisse und ökologische Begrenzungen rücksichtslose Kapitalverhältnis für sich ausbeutet und zu unserem Schaden einsetzt, nicht einmal dem Kapital zuzurechnen. Erfinderinnen- und Erfindergeist wirkt immer, wo Menschen sich zusammentun und lässt sich nicht bezahlen. Dem Kapital zuzurechnen ist jedoch die vollkommen sinnlose, selbstzweckhafte, rücksichtslose Mühle des Geldmachens um des Geldmachens willen, die sich alles unterwirft, was ihr in den Weg kommt, sobald das Geld überhaupt zur herrschenden Form von "Reichtum" wird - ein Wort, das einer kaum mehr über die Lippen kommen will in dieser Welt, die das Geld nach seinem Bild gemodelt hat. Zur unangefochtenen Form von "Reichtum" wird Geld zusammen mit der Marktwirtschaft, der scheinbar unausweichlichen Art, wie Menschen ihr Leben organisieren, tatsächlich jedoch der Ursache gewaltigen, unnötigen Leidens und Hemmschuh einer Alternative.


Das Kapital ist...

Das Kapital ist das: Die einen müssen ihre Arbeitskraft verkaufen, weil sie sonst nichts haben, von dem sie leben können; die anderen kaufen ihre Arbeitskraft, weil sie über die Produktionsmittel verfügen, die Maschinen, Fabriken, Rohstoffe, das Land. Kaufen und Verkaufen, das Geld, der Markt, bilden ihren Zusammenhang. Markt und Kapital sind zwei Aspekte eines Systems, der Markt ist die Sphäre, auf dem das Kapital seinen Profit einheimst durch redlichen Verkauf und die Objekte seiner Ausbeutung ohne Aufhebens aneignen kann durch unschuldigen Kauf: Naturstoff und Menschenstoff, Metalle, Energie, Land und Arbeitskraft.

Der Staat garantiert, dass sich daran nichts ändert: durch so genannte Sozialleistungen, damit die Lohnabhängigen sich in ihr Schicksal ergeben und es zeitweise sogar passabel finden können, durch den periodischen Einsatz von Polizei und Militär, wenn Menschen aufstehen, durch eine allseitig wachsende Kontrolle, um Unruhe, Widerstand und Alternativen möglichst im Keim zu ersticken, wenn der Staat sie nicht in seinen Apparat einbinden kann. Der Staat ist freilich nicht nur Polizei, Militär, Justiz und Regierung, sondern im Weiteren das ganze Konglomerat aus Gewerkschaften, Bildungseinrichtungen, Wirtschaftsverbänden, Zeitungen, Fernsehsendern, Vereinen, NGOs, Parteien und all den anderen Organisationen des Status quo, deren Aufgabe darin besteht, eine Abschaffung des Kapitalismus zu verhindern, mit Angst und Anreiz.

Die Verheerung steckt diesem sozialen Verhältnis namens Kapital von Anbeginn in den Gliedern. Ihre Elemente sind: die Vetreibung der Bäuerinnen und Bauern von ihrem Land, in Westeuropa seit der beginnenden Neuzeit, in den staatskapitalistischen Staaten des so genannten Realsozalismus in einer nachholenden Modernisierung, die abermals Millionen das Leben gekostet hat; ihre zwangsweise Umsiedlung und Enteignung in den ehemaligen Kolonien nach der formellen Unabhängigkeit; der für Millionen tödliche Abtransport ganzer Ernten für den Konsum der entstehenden Arbeiter_innenklassen; die massenhafte Versklavung von Afrikanerinnen und Afrikanern; die verschärfte Unterordnung der Frauen durch die von den Männern betriebene Auslöschung ihrer Freiheitsspielräume, Wissensbestände, Machtpositionen; die Ausraubung der Kolonien, rassistische Brandmarkung ihrer Bewohner_innen und ihre staatliche Zurichtung für die Bedürfnisse des Kapitals; die gezielte Vernichtung des Handwerks in Europa und den Kolonien; die Einpressung von Menschen in die Armee, die Arbeitshäuser, Gefängnisse, Psychiatrien, Schulen, Planstädte; die Ausradierung derer, die sich partout nicht einfügen wollten oder konnten, jener, die aufbegehrten und etwas anderes, eine menschliche Gesellschaft des Teilens und der Gemeinschaft begannen.

Die Verheerung setzt sich fort überall dort, wo sich das Kapital festsetzt: in seinen ständigen Krisen, aber auch in den Phasen der Prosperität, die nur die Gewalt der nächsten Krise erhöhen und einem Teil der Lohnabhängigen einen trügerischen Wohlstand des Warenkonsums erschließen, der für den Mangel an Selbstbestimmung entschädigen soll und sie für ihre Dienste an der kapitalistischen Ordnung bezahlt. In der Verelendung derjenigen, die das Kapital in großen Wellen in die Slums, Sweatshops und Fabriken spült. In den Kriegen und Vernichtungsfeldzügen, die das Kapital und sein Staat führen. Mal kühl berechnend wie im neoliberalen Putsch 1973 gegen Allende in Chile, das andere Mal an der Grenze zum Wahnwitz wie in der Madman-Taktik von Richard Nixon gegen Ende des Vietnamkriegs oder in den Stellungen des Ersten Weltkriegs, als Massen von Menschen mit der Aussicht auf den Tod unentwegt gegeneinander in das Niemandsland der Minen und Granaten rannten. Und schließlich in der Zone des blanken Wahnsinns wie in Nazideutschland gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, als man der Ermordung der Jüdinnen und Juden selbst noch die Rationalität der Kriegsführung unterordnete.


...die globale Katastrophe

Die globale Katastrophe, die das Kapital bedeutet, ist noch gar nicht in ganzem Ausmaß sichtbar. Denn vieles, was die meisten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen dem Kapital an "Fortschritt" und "Segen" andichten wollen, hat eine tödliche Hinterlassenschaft, die ihr wahres Gesicht erst in den kommenden Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten zeigen wird: Klimawandel, Atommüll, Gifte, gentechnisch veränderte Organismen, ausgeräumte Landschaften, tote Meeresgebiete und eine Infrastruktur mitsamt den daran gebundenen Produktionsabläufen, menschlichen Leidenschaften und Institutionen, die samt und sonders abhängen von einem lebensbedrohlichen Energiesystem. Dieses Energiesystem muss zwar ohnehin in absehbarer Zeit an purem Ressourcenmangel eingehen, und dazu gehört auch die Atomkraft, kann uns aber bis dahin und darüber hinaus das Leben auf Erden noch zur unausweichlichen Hölle machen - wenn wir es nicht abschalten.

Japan setzte auf den Ausbau der Atomkraft nicht zuletzt, weil das Land eine kapitalistische Modernisierung durchlief, jedoch keine dafür ausreichenden Möglichkeiten der Energieproduktion auf seinem Territorium hat. Am Beginn des Zweiten Weltkriegs drohte Japan der Boykott durch die USA. Es fürchtete vor allem, von den Erdöllieferungen abgeschnitten zu werden, die schon damals die Grundlage des expandierenden Systems von Kapital, Markt und Staat waren. Japan antwortete mit einer brutalen Strategie der imperialistischen Expansion. Am Ende, nach den unsagbaren Leiden des Weltkriegs stand der Einsatz der Atomenergie durch die USA - zum Zwecke der bloßen Vernichtung, bar selbst der abstrusen Todeslogik militärischer Notwendigkeit, der bis heute mit den Namen Hiroshima und Nagasaki verbunden ist. Und dies war zugleich ein Beginn, nämlich des Aufbaus einer zivilen Atomindustrie, der mit großer Verzögerung, dafür umso stärkerer Vehemenz seit den 1980er Jahren in die Gänge kam und das japanische Kapital und die daran gebundene Lebensweise der Lohnabhängigen mit immer mehr Energie versorgte.

Was mit Hiroshima begann, endet jedoch nicht notwendigerweise mit Fukushima. Während das Leiden, das unerträglich ist, gerade weil es von Menschen selbst verursacht worden ist, ins Auge springt, einen die Hände ringen lässt, fassungslos macht, macht noch fassungsloser und ist noch unerträglicher ein Faktum, das vielen gleichwohl noch nicht ins Auge springt: dass Fukushima nämlich nur ein Bild sein wird für eine Landschaft des Schreckens und der Verwüstung, die das Kapital für uns bereit hält, wenn wir es nicht beseitigen. Das Fukushima im Nordosten von Honshu in Japan wird gefolgt vom Kohle-Fukushima, das den Klimawandel noch weiter verschärft, von den Verfechtern des Systems jedoch bereits eilfertig als "saubere Alternative" zur Atomkraft angepriesen wird. Es wird bereits begleitet vom Biomasse-Fukushima, das in einer globalen Landnahme schwer vorstellbaren Ausmaßes eine Unzahl von Menschen ihrer Lebensgrundlagen beraubt - für die Verfechter des Systems jedoch "endlose grüne Energie" bereit hält. Und es zeichnet sich ein Rohstoff-Fukushima ab, das der Aufbau erneuerbarer Energiesysteme bedeuten würde, die nach der Meinung vieler Verfechter den überbordenden Energiehunger des Kapitals speisen sollen: Ausbeutung der Erde bis zum letzten Gramm Metall, Zerstörung der Lebensbedingungen bis zum letzten Refugium, Vernichtung der Alternativen bis zur völligen Gedankenleere. Die Katastrophe, die das Kapital bedeutet, wird zur medialen Endlosschleife, der das Publikum ebenso entsetzt wie apathisch zunickt.

Fukushima ist überall. Fukushima ist der Kapitalismus.

Eine Alternative macht Schluss mit Kapital, Markt und Staat. Sie erschließt und entfaltet die Welt des Teilens und der Gemeinschaft - die Grundlage menschlicher Gesellschaft, solange sie existieren wird. Und sie wird nur dann auf Dauer in gutem Leben existieren können, wenn diese Welt des Teilens und der Gemeinschaft die Oberhand gewinnt. Dies muss rasch geschehen.

Raute

Black Box and Dark Age

Dadurch, dass Wirtschaften der Verwertung dient und primär Privatangelegenheit ist, wird jeder Betrieb zu einer Black Box. Die Zurschaustellung gilt dem Produkt, nicht der Produktion. Die Öffentlichkeit weiß eigentlich nicht, was wirklich vorgeht. Betriebs- und Geschäftsgeheimnis verhindern entsprechende Informationen. Derlei Kenntnisse gelten als geschäftsschädigend. Black Box bedeutet, dass das Resultat zwar an die Öffentlichkeit muss - d.h. am Markt nach Käufern sucht, denn nur der Kauf realisiert den Wert -, aber alles Werden, der ganze Vorlauf einem großen Geheimnis gleicht: Produktionsmethoden, Arbeitsprozesse, Standards, Betriebsabläufe, Maschinen, Technologien, Patent, Copyright. Vorenthaltung von Wissen ist geradezu konstitutiv. Ausschluss der anderen ist Prinzip der eigenen Durchsetzung. Auch hier zeigt sich, dass Misstrauen herrscht und dass nicht füreinander, sondern gegeneinander produziert wird. Unbefugten ist der Zutritt verboten.

Konkurrenten wollen exklusiv entwickeln, exklusiv herstellen und vor allem exklusiv abkassieren. Der produktive Vorteil (so er einer ist) ist mithin kein Geschenk an die Gesellschaft, sondern ein Vehikel für Profite und Extraprofite. Der clandestine Charakter spezifischer Entwicklungen verdeutlicht einmal mehr, was von der Offenheit bürgerlicher Gesellschaften zu halten ist. Nicht Kooperation steht an, auch nicht die Einsparung paralleler Abläufe, sondern das Erobern von Märkten. Eigentlich gibt es kein menschliches Anliegen, das für Geheimhaltung von Produktionsmethoden und Patenten sprechen könnte. Jene ist eine Ausgeburt der Form, nicht des Materials. Ohne Formdiktat der Konkurrenz würde alles zur Kooperation drängen, nicht zum Ausschluss.

Für den Konsumenten heißt Black Box: Wir haben keine Ahnung davon, was da woher kommt und folglich auf uns zukommt. Die Betroffenen haben die Folgen zu tragen, ohne die Gefahren zu kennen. Full risk, no fun. Dass es etwa einen Konsumentenschutz geben muss, sagt alles über die Eigenart kapitalistischer Produkte aus. Der Konsument bedarf ja nur dort eines gesonderten Schutzes, wo er ein schutzloses, also ausgeliefertes Wesen ist. Die Auslieferung liegt übrigens in seiner Belieferung. Oder wie es die Alltagssprache als Drohung ausdrückt: Wir sind geliefert.

"Unsere Gesellschaft basiert auf dem Geheimnis", behauptet Guy Debord in seinem Werk "Die Gesellschaft des Spektakels" (1967). Transparenz und Kontrolle sind dem Kapital wesensfremd. Es kann nur bestehen und sich entwickeln als private "Black Box", wo Geschäftsergebnisse, also nackte Zahlen interessieren, nicht deren Zustandekommen und deren Ingredienzien, also die lebendigen Prozesse. Die offene Gesellschaft, die nichts mehr verbergen will, verbirgt sich selbst. Die Subjekte, die alles zu sehen, zu hören und vor allem zu spüren bekommen, sind blind, taub und gefühllos, was Motor und Getriebe, also Motivation und Antrieb anbelangt. Sie leben auf ihren Benutzeroberflächen, dienen den Apparaturen, indem sie diese bedienen. Der Organismus, obwohl überall zugegen, möchte unerkannt bleiben. "Obwohl menschgemacht und von uns allen mit in Gang gehalten, wird unsere Welt, da sie sich sowohl unserer Vorstellung wie unserer Wahrnehmung entzieht, von Tag zu Tag dunkler. So dunkel, dass wir sogar ihre Verdunkelung nicht mehr erkennen können; so dunkel, dass wir sogar berechtigt wären, unser Zeitalter ein 'dark age' zu nennen", schreibt der erst zu seiner Bedeutung gelangende große Philosoph Günther Anders.

Franz Schandl

Raute

AUSlauf

Das gute Leben...

von Ricky Trang

­...liefert 747.000 Google Hits. Das Glück ist keine neue Idee in Europa - doch blieb es über 200 Jahre um sie eher still. Nun wird sie wieder entdeckt, wird en vogue und es macht den Eindruck als wüchse das Verlangen nach mehr. Auch beim Mann oder der Frau die neben dir sitzt. Und doch gehören sie nicht zur Angry Brigade, haben keine Pistole in der Tasche und sind auch nicht zornig.

Eine Idee, in Beschlag genommen und zum Dogma erhoben von den Extremisten der radikalen Mitte. Jeder Klick führt zu einem weiteren Stein in der Mauer, die das bestehende für alle Zeit festschreiben will. Jede gelesene Zeile macht noch müder, abgestumpfter, zufriedener ob der einfachen Lösungen. Nestchenbauen in der Idylle des Elends, in der sich nie etwas ändert und das Überleben nie aufhört.

Sie alle, die vom guten Leben sprechen, ohne sich ausdrücklich auf das Alltagsleben zu beziehen, ohne zu begreifen, wie untrennbar jenes mit dem Ende des Tausches und der Universalität des Geschenkes verbunden ist und wie positiv die Ablehnung jedes Zwanges sein kann, bauen weiter an dieser Mauer.

Das gute Leben als Fortschreiben des Bestehenden, als Bewahren der Werte in einer Welt, die plötzlich zu zerbröseln droht. Das kleine bekannte Glück, in dem das Wahre nicht einmal als Moment des Falschen existiert, als einzig erstrebenswertes Ideal.

Gelähmt von 2000 Jahren christlicher Tradition des Erduldens und Kriechens, in froher Erwartung dessen, was kommt, wenn nichts mehr kommt. In frommer Hoffnung auf das gute Leben im Bestehenden, über das nicht hinausgedacht werden kann.

So ersetzt das Warten und Hoffen auf diesen oder jenen Erlöser den millenaristischen Willen zum irdischen Paradies. Den Willen, etwas Besseres zu entdecken und umzusetzen. Hier und Jetzt.

Im Jetzt der abstrakten und unbarmherzig gleichförmig verlaufenden Zeit. Der Zeit als Ware, in der wir nichts mehr sind als ihre bloße Verkörperung. Ihr wollen wir entkommen, sie falten und mit Wurmlöchern durchbohren. Time is the enemy - pleasure is the aim ist daher nur eine Erkenntnis derer, die sich auf die Suche nach dem guten Leben machen, ohne sich nach dem Bestehenden umzudrehen.

Ihr Weg ist die Revolte, die sich keiner bestimmten Sache mehr verschreibt, sich lustvoll dem systematischen Infragestellen der Arbeit und unserer gesamten Gesellschaft hingibt.

Eine Revolte, die erst durch die totale Kritik dieser Gesellschaft und insbesondere ihrer Idee des guten Lebens zu sich findet und diese Kritik durch Taten ausdrückt. Die leichten Herzens im Krieg mit der ganzen Welt ist und nur das unterstützt, was sie selbst zu ihrer Sache erklärt.

Sie verbreitet nicht deliriöse Verzweiflung, sondern agiert als unwiderstehliche Verführerin. Ohne Multitude und ohne Führer entwirft sie eine neue Praxis des permanenten Spieles, entfremdet die modernen Kommunikationswege, um sie mit einer Masse unbekannter Begierden und unverschämter Forderungen zu überfluten, die nicht etwa unverwirklichbar sind, sondern nur jenseits der bekannten Formen der sozialen Organisation liegen. Sie gibt sich mit nicht weniger als Allem zufrieden. Sie weiß, dass im geschlossenen Kreis praktizierte Freiheit allzu leicht als bloßer Traum endet, als Repräsentation ihrer selbst, während der Alltag wieder die Kontrolle übernimmt. Dementsprechend duldet sie keine Trennungen mehr und wird einzig von Lust und Verlangen getrieben und behauptet: Mir geht nichts über Mich.

Dann mag das gute Leben beginnen.

Raute

AutorInnen

aramis, 1930-2010. Flucht aufs Land. Lebte im Abseits selbstgeschaffener Inseln rund um historische Gebäude, welche er revitalisierte. Seit 1992 auf Schloss Lind (www.schlosslind.at). September 2010 selbstbestimmt gestorben.

Roger Behrens, 1967. Lebt in Hamburg, Weimar und Belo Horizonte. Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften. An mehreren Universitäten, bei testcard und Zeitschrift für kritische Theorie tätig.

Andreas Exner, 1973. Streifzüge-Redakteur.

Lorenz Glatz, 1948. Streifzüge-Redakteur.

Friederike Habermann, hat Ökonomie, Geschichte und Politikwissenschaft studiert, seit dreißig Jahren in sozialen Bewegungen aktiv; zwei Bücher über Solidarische Ökonomie: Aus der Not eine andere Welt. Gelebter Widerstand in Argentinien (2004) und Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag (2009); beteiligt sich am solidarischen und ökologischen Projekt Kesselberg bei Berlin.

Severin Heilmann, 1976. Streifzüge-Redakteur.

John Holloway, 1947 in Dublin geboren. Ist Professor am Instituto de Ciencias Sociales y Humanidades [Institut für Sozial- und Humanwissenschaften] der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla in Mexiko. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Crack Capitalism (Pluto, 2010) [Kapitalismus aufbrechen, Dampfboot, 2010], Change the World Without Taking Power (Pluto, 2005) [Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Dampfboot, 2002], Zapatista! Reinventing Revolution in Mexico (Mithrsg., Pluto, 1998) und Global Capital, National State and the Politics of Money (Mithrsg., Palgrave Macmillan, 1994).

Tomasz Konicz, 1973. Studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie in Hannover sowie Wirtschaftsgeschichte in Poznan. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa. www.konicz.info

Stefan Meretz, 1962. Berliner. Informatiker. Schwerpunkte: Freie Software und Technikentwicklung. Aktiv u.a. bei Oekonux und Wege aus dem Kapitalismus; "Traforat" der Streifzüge.

Markus Mohr, 1962. Autoschlosser, IG Metall-Mitglied, lebt in Hamburg im Hartz IV-Labyrinth.

Franz Schandl, 1960. Streifzüge-Redakteur.

Christian Siefkes, Informatiker, Ph.D. in computer science, derzeit freelancer in software engineering, Spezialist für text mining und statistical algorithms; Autor von Beitragen statt Tauschen AG SPAK Bücher 2008; lebt in Berlin.

Ricky Trang, Streifzüge-Redakteur.

Andreas Wally, Gelegenheitsautor; wenn ihm was bis auf die Lippen aufstößt, schreibt er 2000 Zeichen abwärts für die Streifzüge.

Maria Wölflingseder, 1958. Streifzüge-Redakteurin.

Petra Ziegler, 1969. Streifzüge-Redakteurin.

Raute

IMPRESSUM

ISSN 1813-3312

MEDIENINHABER UND HERAUSGEBER
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche
Transformationskunde,
Margaretenstraße 71-73/23, 1050 Wien.
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Auflage: 1500

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Eigentümer der STREIFZÜGE und an
keinem anderen Medienunternehmen beteiligt.

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REDAKTION
(zugleich Mitglieder des Leitungsorgans des
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Stephan Hochleithner, Franz Schandl,
Martin Scheuringer, Ricky Trang
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Quelle:
Streifzüge Nr. 51, Frühling 2011
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2011