Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

STREIFZÜGE/030: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 57, Frühling 2013


Streifzüge Nummer 56 / Herbst 2012

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALTSVERZEICHNIS

Franz Nahrada: Demonetarisierung.
Der Diskurs über die Abschaffung des Geldes

Elfriede Jelinek: Der bewegte Beweger (zu Johan Simons)

Franz Schandl: Bewegungen?
Strategische Thesen zur Bilanz einer fetischisierten Form

Emmerich Nyikos: Borniertheit und Weitsicht.
Über zwei Arten, sich in Bewegung zu setzen

Julian Bierwirth: Rastlose Moderne

Meinhard Creydt: Individuum Subjektform und Neurose.
Das wenig bewegende Individuum und seine neurotische Pseudoaktivität

Joseph Roth: "Romantik" des Reisens

Franz Schandl: Die Verlockungen des Terrains oder:
Streifzüge der Streifzüge

Lukas Hengl: Bewegungsmelder

Home Stories: mit Beitragen von Maria Wölflingseder,
Franz Schandl und Severin Heilmann

Marianne Gronemeyer: Bildung braucht Gastlichkeit.
Zum Gedenken an Ivan Illich

Petra Ziegler: Vorgeburtlich verdrahtet.
Alte Biologismen im neuro-hippen Look

Tomasz Konicz: Wofür kämpfen wir?
Plädoyer für eine realistische Utopie

Erich Ribolits: Das Ende der Emanzipation

Kolumnen
Dead Men Working - Maria Wölflingseder: Bewegungsfreiheit!
Immaterial World - Stefan Meretz: Stigmergie

Rubrik 2000 abwärts
Ilse Bindseil (I.B.): Fallhöhe horizontal
Lorenz Glatz (L.G.): Un-Orte der Bewegung
Hedwig Seyr (H.S.): Am Gürtel - mitten in Wien
Dominika Meindl (D.M.): Fußball und Pseudo-Prolos
Annemarie Rieder (A.R.): Die Maßnahme

Rezensionen
Franz Schandl (F.S.) zu Dieter Braeg (Hg.): Wilder Streik - das ist Revolution.
Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973
Petra Ziegler (P.Z.) zu Felix Hasler: Neuromythologie -
Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung

*

Einlauf

von Franz Schandl

Ja der Einlauf. Der Einlauf unser Schwerpunktthema betreffend war alles andere als überwältigend. Er ließ zu wünschen übrig, und so bedurfte die Nummer größerer Nachhilfe als sonst. Bewegen, so scheint es, ist ein recht poröses Gebiet. Und ominös noch dazu. Der Bewegungsbegriff hat ob seiner Vielfalt etwas Entgleitendes. Andererseits: Gibt es eigentlich irgendetwas, das nicht im Thema untergebracht werden könnte? Wohl kaum. So meine Beiträge, die auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben. Und ehrlich gestanden, auch auf den zweiten Blick nicht.

Die Nummer ist insgesamt auch etwas weniger kompakt geworden als die meisten ihrer Vorgängerinnen. Aber vielleicht ist das nicht immer ein Nachteil und auch Ausdruck einer gesellschaftlich desperaten Situation, die nicht einfach geleugnet werden sollte. Natürlich, alles Leben ist Bewegung, aber ist deshalb alle Bewegung schon Leben? Fragen sind das!?! Ebenfalls ist es ein Trugschluss, zu behaupten, dass es, weil es Bewegungen immer gegeben hat, etwas wie soziale Bewegung immer gegeben haben muss. Antworten sind das!?! Hm. - Man lese die Beiträge!

Extra hinweisen möchten wir noch auf zwei uns und vielleicht auch euch betreffende Angelegenheiten. Da wäre einmal der Samstag, der 20. April. Da begeben wir uns auf eine von Anton Tantner geführte Hausnummernflanerie durch die Wiener Innenstadt, Treffpunkt 15 Uhr, Ballhausplatz 2. Um Anmeldung wird gebeten. Details hier. Wer will, darf nachher mit zum Heurigen.

Und ab 2. Mai läuft in den deutschen Kinos Konstantin Faigles arbeitskritischer Dokumentarfilm "Frohes Schaffen". Näheres auf der Startseite von www.streifzuege.org. Wir spielen darin auch so unsere Rolle. Mal schauen, wie wir auf diesem medialen Terrain ankommen.

*

Demonetarisierung - Der Diskurs über die Abschaffung des Geldes

von Franz Nahrada

Es scheint, dass die Zeit der monolithischen politischen Organisationen in der antikapitalistischen Bewegung vorbei ist, dass aber dafür ein neues "organisiertes" Phänomen die Runde macht, das immer größere Bedeutung gewinnt. Es handelt sich dabei um diskurspolitische Interventionen, den Versuch, über die Klärung bestimmter Begriffe Schwerpunkte in unserem Denken und Handeln zu setzen. Mindestens drei solcher diskurspolitischer Interventionen sind in den letzten Jahren entstanden: der Diskurs um die Solidarische Ökonomie, der Diskurs zu den Commons und zuletzt um das bewusste Negieren des Geldes als Vergesellschaftungsmedium, die Demonetarisierung. (Daneben gibt es freilich noch die Peer-to-Peer Ökonomie, den Diskurs um Susbsistenz und Kreislaufwirtschaften (Circonomy), das Wiederentdecken der Schenkwirtschaft und vieles andere.)

Die Vermutung, dass es sich um verschiedene Aspekte ein und derselben - eben durchaus komplexen - Sache handelt, liegt nahe. Wir können uns ja in verschiedenen Diskursen gleichzeitig betätigen, sie sind gerade nicht ausschließend wie einstmals die Parteiungen. Es scheint mir so, dass es einmal um das grundsätzliche Verhältnis der ökonomischen Akteure zueinander (Solidarische Ökonomie, P2P Ökonomie, Circonomy), ein andermal um den kollektiven Bezug auf die inhaltlichen Elemente des Reichtums (Commons, Subsistenz) und zuletzt eben auch um die Aufhebung der versachlichten und entfremdeten Form der ökonomischen Beziehung selbst (Demonetarisierung, Schenkökonomie) geht.

Die weitere Vermutung ist, dass diese Diskurse nicht nur im Bezug aufeinander, sondern auch immanent viele verschiedene Antworten im Raum der Möglichkeiten entwickeln, wie wir besser leben und wofür wir uns einsetzen können. Ihr Pluralismus erscheint nicht als Mangel, sondern als Voraussetzung einer raschen und kreativen Entfaltung von Praktiken, die nur in ihrer Fülle und Vielzahl ein Jenseits des kapitalistischen Systems möglich machen und Antworten auf die ungelösten Fragen dazu geben.


Eine Welt ohne Geld?

Die Demonetarisierungsdebatte ist dabei so ziemlich der jüngste der Diskurse, und wahrscheinlich der schwierigste. Es wurde schon öfters darauf hingewiesen, dass die Vorstellung einer Abwesenheit des Geldes für viele Menschen so absurd ist wie die Vorstellung einer Abwesenheit der Luft zum Atmen. Wir sind dermaßen davon abhängig, unseren gesellschaftlichen Verkehr über das Geld zu "regeln", dass uns Geldfreiheit gar nicht denkbar erscheint. Ohne Moos ist nix los und ohne Göd gibt's ka Musi. Haben nicht alle historischen Erfahrungen gezeigt, dass es beim Zusammenbruch von Geldsystemen "immer" zu "Ersatzwährungen" gekommen ist wie etwa Zigaretten; dass das Tauschen doch notwendigerweise ein Wertaufbewahrungsmittel braucht; dass Wirtschaften ohne eine Rechengröße unmöglich ist; dass das Geld nicht nur eine enorm praktische Angelegenheit sei, sondern überhaupt Voraussetzung von Individualität, Unabhängigkeit und Freiheit schlechthin? So sehr durchgesetzt sind diese Überzeugungen, dass selbst diejenigen, die praktische Alternativen zum zusammenbrechenden Geldystem in Gang setzen wollen, dies zuallererst nur in der Form des Geldes denken und tun wollen, sei es als "Regionalgeld" oder als "Informationsgeld". Das tauschende Verhalten (ich gebe nur, wenn ich direkten Gegenwert bekomme) erscheint ihnen als Verkehrsform erwachsener Menschen schlechthin. Geld wird im herrschenden Denken zum "Kommunikationsmittel der Bedürfnisse" verklärt, mit dem schlichten "Argument", dass im herrschenden Wirtschaftssystem das Bedürfnis ohne Geld stumm und machtlos ist. Da können Millionen Menschen verhungern, Milliarden in verschiedensten Formen der Verwahrlosung existieren, da können Gesundheit und elementare Existenz massenhaft draufgehen, die gute Meinung vom Geld ist nicht totzukriegen, die Vorstellung regiert, dass ohne es alles noch schlimmer wäre. Zumindest war das bis vor kurzem so.

Deswegen ist der Demonetarisierungsdiskurs notwendig: und wie auch bei den anderen genannten Diskursen geht es zunächst darum, zu entbergen, dass die herrschende Vorstellung vom Wirtschaften mehr oder weniger ausgeblendet hat, wie sehr unsere vergangene und gegenwärtige Realität voll geldfreier Elemente ist, und dass die allgemeine Ausblendung auch darüber funktioniert, dass man jene in lauter Besonderheiten auflöst, statt etwas Allgemeines darin zu finden.

Von der ursprünglichen gebenden Liebe der Mutter zu ihrem Kind, sozusagen der geldfreien Urerfahrung jedes Menschen, die Genevieve Vaughan als Ausgangspunkt verschiedenster kultureller Praktiken rekonstruiert, über die Ethnographien von Schenkökonomien, Potlach-Ritualen, Stammes-, Hof- und Dorfgemeinschaften, wie sie zum Beispiel die Bielefelder Subsistenzforschung (Mies, Bennholdt-Thomsen, Werlhof) vorgelegt hat, über die Entdeckung von durchaus gewaltigen geldfreien bedürfnis- oder zielorientierten Beziehungsnetzen innerhalb von Orden, Gilden, Organisationen, Unternehmungen hin zu intentionalen Gemeinschaften wie den Reduktionen der Jesuiten in Paraguay, den israelischen Kibuzzim und vielen anderen existiert eine Unmenge an Belegen, die zweifeln lässt an der behaupteten Universalität des Geldes. Moderne Entwicklungen wie die freie Softwareentwicklung oder die wachsende Bedeutung des Freiwilligensektors ergänzen diesen Befund. Während die Vertreter der Commons - auch ausgelöst durch den Wirtschaftsnobelpreis an Elinor Ostrom - einander für die Suche nach dem weltweit Gemeinsamen schon mehrmals trafen, steht das für die den Commons verwandten und mit ihnen sich inhaltlich überschneidenden geldfreien Netzwerken und Praktiken noch aus. Und doch ist das Allgemeine intuitiv zu spüren.

Diese Debatte über und das Ringen um geldfreie Gesellschaften ist ja an sich keineswegs neu; im Urchristentum ist sie genauso zu finden wie in linken Strömungen der organisierten Arbeiterbewegung, im Anarchismus, Maoismus, Trotzkismus, bei Che Guevara: und dennoch erschien der Anspruch auf eine grundsätzliche Kritik des Geldes noch vor wenigen Jahren ein absolut toter Hund zu sein. Vielleicht auch deswegen, weil Geldfreiheit historisch oft genug mit Unterordnung unter ein moralisches Diktat verstanden wurde. Schon Danton wusste aber, dass die Währung der Moral das Blut ist. Die elementare Abscheu davor hat die Geldgesellschaft in einer Art sekundärer Moral lange zusammengehalten, getragen von der irrigen Annahme, dass mit Geld jeder nach seiner Facon selig werden könne und niemanden anderen um Erlaubnis fragen müsse.

Mittlerweile ist konsensual: Das Muster "Geldfreie menschliche Beziehung" hat durchaus die doppelte Bedeutung, dass einerseits Geld nicht die menschliche Beziehung vermittelt, aber andererseits auch, dass die beteiligten Menschen gewaltfrei miteinander umgehen. Das Andere des Geldes ist eben gerade nicht die Kommandowirtschaft, Rationierung, Zuteilung, Anordnung - sondern die freie Übereinkunft und die Orientierung am menschlichen Bedürfnis, mithin eine Verfassung der freien Individualität. Mittlerweile sind wir geneigt zu erkennen, dass das Geld kein Mittel der Freiheit ist.

Mit der Krise von 2008 entstand grundsätzliches Misstrauen gegen die bisher sakrosankte Welt des Geldes. Eine Ahnung geht um, dass nicht die Gier einzelner Menschen "schuld" ist am Zusammenbruch bisher noch als in obigem Sinn rational empfundener Verhältnisse, sondern dass es gerade die sachgemäße Entwicklung der Logik des Geldes selber ist, die zur massenhaften und unseligen Vernichtung von Reichtum und Lebenschancen führt. Diese Logik funktioniert schon einige Zeit nur mehr durch Simulation, durch Aufrechterhaltung eines an sich schon nicht mehr lebens- und existenzfähigen Zustandes. Das Mittel der Simulation war und ist die Verschuldung, die Erzeugung von Geld aus Nichts beziehungsweise aus dem vagen Versprechen, dass die Schaffung von Geld zur massenhaften Entstehung von geldwertigem Reichtum führt. An diesem Versprechen und am Versuch, es praktisch wahr zu machen, droht unsere Welt gerade zugrundezugehen. Längst reicht unser Planet dafür nicht aus, und aus den Schuldnern werden nicht nur Verlierer und Gewinner, sondern sie alle werden zunehmend Gefangene einer ausweg- und sinnlosen Situation. Wir können beobachten, wie die Institution des Geldes mit ungeheurer Wucht Privatmacht erzeugt, die sogar die bisherigen Herrscher der Welt, die Staaten, auf immer mehr Gebieten herausfordert. Zugleich sind die Werke dieser Privatmacht so wenig durchdacht, so unkoordiniert, so redundant, so lückenhaft, so chaotisch, so aggressiv, so verschwenderisch, dass aller reale Reichtum, alles kulturelle Erbe, alle Zukunft darin verbrannt werden und für wenige Spektakel eine ganze Welt draufgehen muss - wahrscheinlich auch buchstäblich an Überhitzung. Genauso wenig wie wir uns das moralische Spektakel der planwirtschaftlichen, nachholenden Modernisierung geben wollen, wollen wir uns diese "unsichtbare Hand" geben, die eher eine unsichtbare Faust geworden ist, die zerstört, zerschlägt, würgt.

Ja, und deswegen ist die Frage nach der Welt ohne Geld keine esoterische Fragestellung mehr. Immer mehr Menschen beginnen sich zur Notwendigkeit zu bekennen, dieser verrückten Ökonomie ihren nervus rerum zu ziehen, ihre fundamentale Macht zu brechen. Längst ist auch der prekäre Zusammenhang von Staat und Geld klar geworden. Das Politische, die scheinbar andere Seite der freien Privatwillkür, hat sich nur auf der Grundlage des Geldsystems halten und entwickeln können, das eine konnte das andere nur beherrschen, indem es ihm diente. Der Staat erhält sich durch Steuern und Kredit. Er sorgt für ein Zusammenwirken der Klassen, das den in seiner Währung geldwertigen Reichtum wachsen lässt. Jetzt, wo das Geldsystem zusammenbricht - ausgerechnet durch die Fortschritte in der Produktion des Reichtums, die zugleich Entwertung des Geldes bedeuten - steht auch der Kaiser ohne Kleider da. Die Finanzkrise des Staates ist zur Krise des Politischen selbst geworden, und alle Antworten in dessen Rahmen sind selbst nur mehr prekär und scheinhaft, weil sie immer von der Annahme ausgehen, dass genügend Geld für die Wohltaten des Staates vorhanden sein muss. Die Grundeinkommensdebatte macht hier keine Ausnahme, sie ist einerseits das letzte Opium der Geldsubjekte, aber markiert andererseits auch einen Wendepunkt, indem sie auch schon auf ein Jenseits der Geldbeziehung schaut. Wenn man sich aber auch aus dieser letztlich illusionären Vorstellung heraushalten will, bleibt einem nichts anderes übrig, als das Geld direkt infrage zu stellen.

Diese grundsätzliche Infragestellung der Geldlogik ist aber, wie gesagt, schwierig, weil sie uns aufnötigt, aus all dem, was unsere Existenz heute ausmacht, theoretisch wie praktisch auszusteigen oder zumindest all dies gehörig umzubauen, denn die Abhängigkeiten und Vernetzungen, die das Geld bis hin zur Welt der Produkte und Bedürfnisse geschaffen hat, sind eine surreale Anhäufung von absurden Disparitäten. Und doch sind wir noch in der Aufhebung von genau dieser Geldgesellschaft abhängig.

Ausgangspunkt ist unter anderem die Feststellung, dass das Geld vom einzelnen Menschen gerade nicht aufgehoben werden kann, auch wenn es spannende Experimente gibt, geldfrei zu leben. Zu dicht ist das Netz der Abhängigkeiten, das um uns gewebt ist, zu wenig haben wir zu geben, auch wenn wir zumindest ab und zu einen Schlafplatz für Couchsurfer zur Verfügung stellen können. Spätestens beim Frühstück sind wir dann wieder von einer ganzen Welt von Ware-Geld-Relationen abhängig. Davon dürfen wir uns nicht beirren lassen. Der Gedanke muss sich herausnehmen, nach dem Grund zu fragen, auch wenn uns das kein Geld einbringt. Und nur wenn wir die Gesetze des Geldes durchschauen, können wir an eine wirkliche Aufhebung denken. Dieses durchschauende Denken hat freilich mindestens vier Dimensionen.


Demonetarisierung als Theorie...

Die erste ist die Erklärung des Geldschleiers. Was ist das eigentlich für ein Kommunikationsmittel, das eindimensional immer nur eines kommuniziert: ich bin so viel, eine Zahl, ein rein quantitativer Ausdruck, und zwar von allem (und daher von nichts!). Ist das nicht extrem verrückt? Die Antwort gibt die Theorie. Weit davon entfernt, ein neutrales Schmiermittel der Ökonomie zu sein, ist das Geld durch seine universell quantifizierende und inhaltsleere Natur nichts anderes als die Form des Wertes: selbstzweckhafter Produktion von Zugriffsmacht auf gesellschaftlichen Reichtum. Geld kann niemals vernünftige Produktion steuern, es ist das Spiegelbild einer für Herrschaftszwecke eingerichteten Welt und von untereinander unkoordinierten Akteuren. Nur deswegen und nur dafür taugt ein "Kommunikationsmittel", das nichts kommuniziert. Eine ganz zentrale Auflösung dieser Lüge vom Kommunikationsmittel bestünde in der Zurückweisung der Vorstellung, in dieser Gesellschaft würde es arbeitsteilig zugehen. Das Gegenteil ist wahr. Wo Zahlungsfähigkeit erwartet wird, wird von zu vielen redundant zu viel produziert; und dort wo sie nicht vermutet wird, unterbleibt notwendige Arbeit. In der Krise wird diese Nichtkommunikation schlagend und massenhaftes Verrotten und Vergehen von Reichtum ist die Folge. Plötzlich ist die Gesellschaft mit Armut, Krankheit, Gewalt konfrontiert, die sie glaubte überwunden zu haben. Die Wertform des Reichtums ist ein Hindernis für seine inhaltliche Entwicklung geworden, unsere technischen Fortschritte haben den Systemmangel so deutlich und unabweislich gemacht, dass er nicht mehr kompensiert werden kann - es sei denn durch die bewusste Hereinnahme von geldfreien Kräften, die über das System hinausweisen.

Die nächste Dimension bildet die Frage nach der Funktionsweise von geldfreien Gesellschaften - durch ein Denken, das sich die Freiheit nimmt, utopisch und visionär zu sein, und daher auch die Bedingungen präzis anzugeben vermag, die die Weiterentwicklung der Gesellschaft braucht.

Eine dritte Dimension bestünde darin, die oben genannten Triebkräfte und Energien zu identifizieren, die im Bestehenden schon vorhanden sind, um das Geld überflüssig zu machen.

Und erst eine vierte Dimension umfasst die praktische Kunst, diese Triebkräfte zu aktivieren und schrittweise auch untereinander zu verbinden, um wirkliche Veränderung herbeizuführen.

Die erste breite und weltweite Artikulation eines neuen radikalen Demonetarisierungsbewusstseins mit visionärer Komponente wird markiert durch den Film "Zeitgeist - Moving Forward" des amerikanischen Filmemachers Peter Joseph, der seine Darstellung einer durch Geschäft und Gewalt malträtierten Welt in eine globale Revolte umkippen lässt, die sich spontan durch Wegwerfen von Geld artikuliert. Freilich steht zunächst ein recht fragwürdiges Bild einer geldfreien Gesellschaft bei dieser Wunschvorstellung Pate: die technokratischen Visionen von Jacques Fresco, der ein mit allen notwendigen Daten gefüttertes Elektronengehirn die Bedürfnisse und Ressourcen ein- und zuteilen lässt. Alle haben angegeben, was sie brauchen und wieviel sie freiwillig beitragen wollen, der Computer berechnet die optimale Verwendung der Ressourcen und los geht's...


...und als Praxis

Hier aber beginnen schon die Debatten. Wo beginnt die Freiwilligkeit? Was ist, wenn sich Bedürfnisse und Ressourcen nicht ausgehen? Hat nicht jeder andere Vorstellungen von der Welt, in der er leben will?

Offensichtlich ist der Diskurs auf diese Weise nicht zu führen. Demonetarisierung kann nicht vorgestellt werden als ein Zustand, den man vielleicht noch mit mathematischen Formeln beschreiben kann. Vielmehr ist Demonetarisierung verbunden mit der durchaus schmerzhaften (gleichzeitig furchterregenden und befreienden) Erkenntnis, dass Geld als Träger der Vermittlung menschlicher Kommandogewalt über fremde Arbeit nur abgelöst werden kann, wenn aus dem wortlosen Kommando des Geldes ein wirklicher Kommunikationsprozess von Menschen geworden ist.

Mit anderen Worten: nur durch die Einübung und das Wiedererlernen einer Betrachtungsweise, in der die eigene Reproduktion, das eigene Bedürfnis im Kontext eines positiven Bezugs zu den Bedürfnissen anderer steht, ist Demonetarisierung zwischen Menschen denkbar. Nur wenn ihnen ihr wirklicher Austauschprozess (nicht das Tauschen von Äquivalenten!) zu ihrem wahren Lebensprozess, zu ihrem wirklichen Bewusstsein geworden ist, können sie sich des Fetischs Geld entledigen. Das wird in verschiedenen Größenordnungen verschieden zu bewältigen sein.

Aber es gilt: Wer dem Geld ade sagen will, der verabschiedet sich auch von einer gewissen Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit. Dies wird ein langer Prozess sein, und er wird nicht an einem, sondern an verschiedensten Orten gleichzeitig beginnen. Vielleicht beginnt er auch mit "Inseln der Demonetarisierung", mit wieder entstehenden Solidargemeinschaften, die sich in einem "Innen-Außen-Verhältnis" zur Welt definieren und nach innen hin demonetarisieren.

Wir hören schon wieder Ausdrücke wie "Stamm" und "Phyle", und manche warnen vor Tribalisierung. Aber vielleicht ist es doch ganz anders: diese "Inseln" wissen, dass sie keine Inseln bleiben dürfen, dass jeglicher "lokaler Kommunismus" immer wieder von der Macht des Geldes vernichtet worden ist. Nun hat es nie in der Geschichte eine derart dichte Kommunikationsbasis gegeben, die den Fortschritt der einen in Wissen und Handlung sofort zum Fortschritt aller machen kann. Nie in der Geschichte sind Menschen aller Kulturen in der Lage gewesen, sich über theoretische und materielle Aufgaben so rasch zu verständigen, sich zu informieren und zu organisieren. "Crowdfunding" liefert dafür einen Vorgeschmack, Menschen können auch Ressourcen monetärer Art bündeln, um gemeinsame Anliegen zu realisieren. Auf dieser Grundlage können sie sich zur Aufgabe setzen, die einzig wahre Existenzbedingung einer geldfreien Gesellschaft herzustellen: ein globales Aggregat aus Angeboten, das in Quantität und Qualität, in Originalität und Diversität und vor allem in puncto Sinnhaftigkeit und Kohärenz die Welt des spektakulären und illusorischen Reichtums übertrifft, der als Ergänzung zu offener Repression nach wie vor das Begehren der funktionalen und funktionslosen Massen zu kontrollieren und zu kanalisieren versucht.

Die Antwort liegt also in der Mobilisierung globaler Wissenskooperation ebenso wie in der Bewahrung und Vervielfältigung kultureller Eigenarten; in der Entwicklung kooperativer Kreislaufschlüsse zwischen solidarischen Unternehmungen und Gemeinschaften auf regionaler, kontinentaler und globaler Ebene ebenso wie im Erzielen von neuen Graden der (lokalen) stofflichen Autarkie. Vielleicht ist das Beste das wir sagen können, dass es in der Natur kein Geld gibt - und dass wir von dem grandiosen Zusammenspiel der Prozesse, der endlosen Zahl von Nischen und Besonderungen, der Biotope und Vernetzungen, der genialsten Technologien und der verschwenderischsten Reichtümer und Schönheiten in der Welt vor dem Menschen unendlich viel lernen und es sogar noch viel besser machen können.

*

Der bewegte Beweger
(zu Johan Simons)

von Elfriede Jelinek

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

Sie finden den Originalbeitrag unter:
http://www.elfriedejelinek.com/

*

2000 Zeichen abwärts

Fallhöhe horizontal

Hoch aufgestiegen muss man sein, um tief fallen zu können: das war das Lernpensum des Literaturunterrichts noch in den Jahrzehnten nach dem zweiten Krieg, und das ist heute das Modell der medialen Inszenierung. Wer mit der BILD-Zeitung hinaufbefördert wird, wird von ihr vom Sockel hinuntergestoßen werden. Im spektakulären Fall des Einzelnen, so die Voraussetzung, wird das Schicksal eines jeden erlebbar gemacht. Und tatsächlich, in der Maske der Erhabenheit bekommt das unfassbar Fremde eigenen Unglücks etwas greifbar Vertrautes.

Daneben hat sich eine andere Form von Fallhöhe etabliert, die den Begriff scheinbar ad absurdum führt und deren Besonderheit darin liegt, dass sie nur gelegentlich herangezogen werden kann, wenn sie sich nicht abnutzen, sondern ihren Zweck erfüllen soll, auf die aller Dramatisierung zugrunde liegende Realität zu verweisen. Am tiefsten fällt dabei, wer mit der bösen Sache am wenigsten zu tun hat, von ihr nicht erhoben worden ist, von ihr auch nicht hinuntergestürzt werden kann und - trotzdem fällt. Der fehlende Bezug würde durch den Begriff der Unschuld eher verharmlost, wahrt der doch noch einen Bezug zur Schuld und wird der ursächlichen Rolle des Zufalls, die die horizontale Fallhöhe charakterisiert, nicht gerecht. Prompt hat sich der als Inbegriff von Zynismus gewürdigte Begriff des Kollateralschadens eingestellt. Formal durch Dabeisein, eine durch einen übergeordneten oder vielmehr anders angeordneten Sinn bewirkte Betroffenheit ausgelöst, ist der Kollateralschaden gewissermaßen eine Dynamisierung des Zufalls. Die Verwendung von lebenden Schutzschildern - ob in der Strategie oder Gegenstrategie, als Schachzug oder als Unterstellung - ist dagegen Ausdruck der vollzogenen Integration der Nichtbeteiligten in dasselbe System, dem auch die Drohne als die Verkörperung des unbeteiligten Aggressors entspringt. Unbeirrt verfolgt das Verhängnis die Nichtgemeinten und macht aus ihnen - Symbole.

(Weitere Teile dieses Textes auf www.streifzuege.org)

I.B.

*

Bewegungen?

Strategische Thesen zur Bilanz einer fetischisierten Form

von Franz Schandl

"Die sozialen Errungenschaften haben immer wieder nur ein schon im voraus feststehendes Ergebnis bestätigt und ihre Siege waren immer die der Ware."
(Raoul Vaneigem, Das Buch der Lüste)


In den folgenden Überlegungen geht es um eine grobe historische Verortung sozialer Bewegungen. Unsere Betrachtungsweise ist eine, die strikt von den Resultaten ausgeht, weniger die propagierten Vorhaben und Selbstbeschreibungen beachtet. Euphorie sollte man sich jedenfalls verbieten, analysieren wir ihre Geschichte und ihre Verlaufsformen etwas nüchterner, als wir es gewohnt sind zu denken. Selbst eingefleischte Kritiker starren auf Bewegungen, freilich immer auf solche, die es nicht gibt.

Bewegungen hinterlassen, hat man zu ihnen kein libidinöses Verhältnis, einen bitteren Beigeschmack. Der hat damit zu tun, dass Wünsche projiziert werden, die sich über jene nicht verwirklichen lassen. Wir dürfen nicht stets von Chancen reden, sondern vor allem auch von ihren Tücken und Ergebnissen. Der Gedanke, der sich aufdrängt, ist der, dass es nötig ist, soziale Bewegungen als Größe der Transformation in Frage zu stellen. Was hiermit auch geschieht.


Avantgarde statt Alternative

Im Kapital offenbart sich eine dynamische Struktur sondergleichen. Als bewusstloses Verhältnis seiner selbst reagiert es auf Anforderungen impulsiv und konvulsiv. Das bürgerliche System muss stets gegen sich selbst revoltieren, um sich zu erneuern. Das tut es nicht in Form von Vorhaben oder gar Verschwörungen, sondern aufgrund seiner Bedingungen und Zwänge. Soziale Bewegungen nehmen in diesem Prozess eine bevorzugte Stellung ein. Bewegung sagt der Struktur, was gut für sie ist. Meist ist jene auch wirklich sensibler, was die unmittelbaren Aufgaben betrifft. Das führt zu Rebellionen gegen Missstände, ohne die Überwindung der Zustände wirklich ins Visier zu bekommen.

Soziale Bewegung ist eine immanente Form kapitalistischer Herrschaft. Ihr Formieren ist Reformieren, das Transformieren ausschließt. Ihre Funktion besteht objektiv darin, gerade durch ihren Widerstand das System auszutarieren. Das kann sie, für nichts anderes taugt sie. Ganz trocken Niklas Luhmann: "Das System immunisiert sich nicht gegen das Nein, sondern mit Hilfe des Neins, es schließt sich nicht gegen Änderungen, sondern mit Hilfe von Forderungen gegen Erstarrung in eingefahrenen, aber nicht mehr umweltadäquaten Verhaltensmustern." (Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1987, S. 507)

So agieren die unstabilen Bewegungen als Stabilisatoren des Systems. Das haben sie zwar nicht vor, aber das stellen sie an. Sie spielen mit, obwohl sie oft das Gegenteil unterstellen. Unter der Hand gerät die praktizierte Kritik zur affirmativen Innovation. Interventionen werden absorbiert. Alles endet im Arrangement, nicht nur, was die Kompromisse betrifft, sondern auch was die Haltung der Bewegten ausmacht. Das ist hier jetzt gar nicht als Vorwurf oder Verrat zu sehen, sondern will lediglich einen nüchternen Blick ermöglichen. Bewegungen bewegen sich letztlich in diesseitigen Schemata, alles andere ist ideologischer Schein. Bewegung meint Avantgarde des bürgerlichen Seins, nicht Alternative. Bewegungen resynthetisieren.

Soziale Bewegung bedeutet Intensivierung, Verdichtung und Beschleunigung der Modernisierung. Sie folgt einem Denken in Defiziten und Komparativen. Bewegung handelt als ein Kollektivsubjekt des Kapitals. Die Aufgabe der Bewegungen besteht auch immer darin, ins politische Geschäft zu kommen und nicht das politische Geschäft zu überwinden. Sie gehorchen der Logik von Staat und Zivilgesellschaft. In diesem Spiel sind sie zu positionieren, nicht gegen es zu transpositionieren. Der Charakter der Bewegung zeigt sich weniger in deren Motiven und Bestrebungen als an ihren Resultaten.


Dosierung und Anschluss

Bewegungen öffnen Ventile, nicht Türen. Heißer Dampf soll kontrolliert entweichen. Die Mentoren der Bewegung und die Polizisten des Staates sind die Kontrolleure der Dosierung. Es ist eine unbewusste Übereinkunft. Bewegungen fungieren als ideologischer Apparat der Macht. Sie klagen ein, was diese verspricht. Sie sprechen also nicht selbst, sie plappern nach. Ihre Rede holt die Leute tatsächlich dort ab, wo sie sind. Sie bestätigt sie, anstatt sie zu belästigen und aufzustacheln. Sie ist anschlussfähig in übelstem Sinne. Kennzeichen der Bewegung ist nicht Reflexion, sondern die Mitgerissenheit, ein Erfasst-Werden, nicht ein Erfassen. Bewegungen sind amorphe Massen, die nichts wissen und nichts wissen wollen, weil sie schon alles zu wissen meinen. Man bedient die gemeinen Vorurteile. Hauptsache Bewegung! Hauptsache es tut sich was! Egal was, Hauptsache!

Bewegung ist Appell und Zuruf, nicht Praxis und Tat. Der Terminus Protest umschreibt das ganz vorzüglich. Nicht wir wollen machen, sondern sie sollen gefälligst tun, ist die Botschaft, die rüberkommt. Staat und Kapital sind ihre Ansprechpartner. Bewegungen sind ganz in der Politik befangen und im Geld sowieso, um das es meist geht. Alle neuzeitlichen Bewegungen sind monetär instruierte oder zumindest tangierte Bewegungen.

In ihrer ganzen Tragweite gilt es zu erfassen, dass wir nicht einfach die Aktivisten sind, sondern vielmehr die Aktivierten. In den Bewegungen werden Betroffene mobilisiert, nicht Bewusste. In Bewegungen setzen zwar Menschen sich in Bewegung, aber eben nicht sich gegen sich in Bewegung. Bewegungen sind ein reaktiver Faktor der Unmittelbarkeit. Sie wollten etwas verhindern oder verbessern. Nicht das Andere ist ihr Vorhaben, sondern stets die Forderung, die sie an die jeweiligen politischen und ökonomischen Verantwortlichen stellen und je nach Stärke auch durchzubringen verstehen. Sie setzen Akzente im Rahmen der Form.

Gerade der suggerierte Radikalismus verschleiert mehr, als er enthüllt. Indes, nur er bewerkstelligt die Entstehung. Würde eine Bewegung zu ihren Höhepunkten sagen, was sie in ihren Anfängen propagiert, würde man sie verlachen; würde sie in ihren Anfängen das sagen, was sie zu ihren Höhepunkten verkündet, käme sie nie in die Gänge. In der Hegel'schen Logik ist dies übrigens im Kapitel über Repulsion und Attraktion recht pointiert beschrieben: "Diese Selbständigkeit ist bestimmter der Irrtum, das als negativ anzusehen und sich gegen das als negativ zu verhalten, was ihr eigenes Wesen ist. (...) Die Versöhnung ist die Anerkennung dessen, gegen welches das negative Verhalten geht, vielmehr als seines Wesens, und ist nur als Ablassen von der Negativität seines Fürsichseins, statt an ihm festzuhalten." (G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik I [1812], Werke 5, Frankfurt am Main 1986, S. 192f.)

So paradox es klingt: Um die Konvention zu erneuern, muss die Intervention dezidiert gegen jene verstoßen. Diese Regelverletzung, die keine Regelaußerkraftsetzung ist, ist aber bloß ein temporärer Aspekt, der für die Initiation notwendig ist, in Folge aber der Pragmatisierung weicht. Man könnte das Ganze als eine inverse Verpuppung beschreiben: Was als schöner Schmetterling begann, verwandelt sich in eine hässliche Raupe, die fortan sich in der Politik der kleinen Schritte übt.

Die Radikalität mancher Ansagen sollte also nicht täuschen, diese sind zwar nicht bewusst gesetzt, aber denn doch zur Täuschung da. Diese Täuschung ist aber geradezu Voraussetzung und Bedingung des Handelns, sie ist die bedeutendste dem Subjekt erscheinende Komponente der Mobilisierung. Diese ist nötig, weil Anstoß und Anregung nur tragen, wenn eins sich nicht das zu Erwartende erwartet, sondern mehr. Die Fiktion der Transzendenz ist die Medizin der Immanenz. "Seit der Aufklärung, zu der man als Vorform vielleicht bereits die Reformation rechnen sollte, verständigen sich die Menschen über ihre gesellschaftlichen Interessen mit Hilfe jener Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, zu denen ihnen der unbegriffene Prozess ihrer wertförmigen Vergesellschaftung gerinnen musste. Seitdem hat jede der nacheinander auf die historische Bühne getretenen Bewegungen das gleiche Schauspiel geboten, ideologisch mit zunehmendem Erfolg von der opferfreudigen 'Prinzipientreue' zum gänzlich unheroischen 'Machbarkeitspragmatismus' zu degenerieren." (Peter Klein, Demokratie und Sozialismus, Marxistische Kritik Nr. 7 [1989], S. 145)

Auf diesen Umstand hat die österreichische Sozialwissenschaftlerin Rosa Mayreder schon vor fast hundert Jahren hingewiesen. In ihrer schlüssigen Analyse unterscheidet sie zwischen einer ideologischen und einer organisatorischen Phase einer Bewegung. In Letzterer geraten dann die "Ideologen" und die "Realpolitiker" - man staune über die Termini - unweigerlich aneinander: "Zu diesen typischen Unvermeidlichkeiten gehört es, dass als nächste Folge der inneren Kämpfe zwischen der ideologischen und der realpolitischen Richtung Risse und Spaltungen der in ihrer ideologischen Phase noch ganz einheitlichen Gruppe entstehen. (...) Nunmehr, da der Druck von außen nachlässt, gewinnen die realpolitischen Motive immer mehr an Gewicht über die ideologischen. Das unbeugsame Festhalten an den ideologischen Forderungen erscheint dem realpolitisch orientierten Tatmenschen als weltfremde Einsichtslosigkeit, indes der ideologisch orientierte Prinzipienmensch jede Nachgiebigkeit gegenüber den herrschenden Zuständen als verderblichen Opportunismus auffasst." (Rosa Mayreder, Der typische Verlauf sozialer Bewegungen, Wien - Leipzig, 2., verbesserte Auflage 1925, S. 26)


Wert und Spektakel

Scheinbar gibt es kein Anliegen mehr, das ohne Symbolik auskommt. Die Ästhetisierung des Widerstands ist obligat, denn nur mit ihr erzielt man entsprechende politische Resonanz. Es geht um Codes und um Rituale, vor allem aber um Performance und Show. Die Inszenierung ist unhintergehbares Gebot. Keins ist seins ohne Selbstdarstellung. Attraktivität ist nicht die Konsequenz eines profanen Gefallens, sondern einer normierten und nominierten Gefälligkeit. Jede Bewegung spricht die Sprache des Spektakels. Es ist die "Ökonomie der Aufmerksamkeit" (Georg Franck), die hier bedient wird und die, ganz im Rahmen der Politik verbleibend, Lösungen vorschlägt.

Auch die Kunst der Provokation ist eine Variante kulturindustrieller Dramaturgie. Sie sucht nach einem Event, um Beachtung zu erheischen. Die Formen politischen Widerstands werden immer origineller und eventueller, die Inhalte jedoch sind dürftig, selbst wenn die direkte Aktion den obligaten Protest abgelöst hat. Über das ewige Gesuder von Freiheit und Gerechtigkeit reichen die Basics kaum noch irgendwo hinaus. Man spricht eine Sprache, die nichts anderes verspricht als das, was sowieso versprochen wird. Die zeitgenössischen Initiativen von Attac bis Occupy sind ein matter Abklatsch einstiger Hochzeiten, ebenso die weltweiten "Demokratiebewegungen", die allesamt im gängigen Horizont befangen sind. Einmal mehr möchte man Demokratie und Politik "neu erfinden". Jetzt aber wirklich und echt noch dazu.

Unablässig werden sie ab- und angerufen, als Vorlagen der Einmischung gelten nur sie: die bürgerlichen Werte. Die Bewegung rüttelt also nicht an dem, woran sie sich reibt. Während Herrschaft mitunter auch ein zynisch-ehrliches Verhältnis zu den Werten pflegt, haben Bewegungen ein idealistisch-verklärtes. Sie werten die Werte immer wieder auf. Jede Bewegung eine Aufwertungsbewegung. Nichts Besseres kann dem System passieren, als dass sich die Bewegungsleute an die Werte der Herrschaft klammern, wenn sie an Demokratie und Politik, an Freiheit und Gleichheit, an Gerechtigkeit und Menschenrechte, an Sozialstaat und Rechtsstaat glauben. Permanent fordern sie das Versprechen ein und beharren trotzig auf dem ideologischen Schein. Die Monstranzen der Aufklärung gelten als Insignien der Andacht. In den Bewegungen herrscht geradezu eine inbrünstige Bejahung der Werte und des ihm zugrunde liegenden Werts. Anstatt die bürgerliche Welt zu entzaubern, besingen sie den bürgerlichen Himmel. Bewegungen sind Chöre der Affirmation.

Das Spektakel ist durch Bewegungen nicht zu durchbrechen. Bewegungen sind dem System verpflichtet, das sie hervorbringt und zu dem sie zurückmüssen. "Sie sind hiermit ihrem Sein und Setzen nach nur eine affirmative Einheit." Und Hegel eine Seite weiter: "Das negative Verhalten der Eins zueinander ist somit nur ein Mit-sich-Zusammengehen." (G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 192) Bewegungen sind Repulsion und Attraktion in einem. Bewegung wirkt nicht als Lösung, sondern als Schwingung. Ausgangs- und Zielort sind gleich, substanziell verändert sich nichts. Bewegung ist eine Projektion, die unsere Lüste in die falsche Richtung leitet. Wir nehmen uns in ihr als autonom und mündig wahr und werden doch bloß engagiert.


Aufstand statt Widerstand

Stefan Meretz schreibt: "Die Linke hingegen ist im 'Widerstandsmodus' befangen und versteht nicht, dass sich Widerstand an die Formen des Alten kettet und nicht von diesen abhebt: Zu widerstehen bedeutet 'nur', unter Bedingungen der zunehmenden Barbarisierung die eigenen Lebensbedürfnisse immanent zur Geltung zu bringen. Eine Widerstandsbewegung kann die Barbarisierung als Ausdruck der objektiven Krisenentfaltung der Warengesellschaft nur bremsen und partiell aufhalten, sie kann ihr aber noch nicht einmal denkend etwas Neues entgegensetzen. Denn das scheint mir klar: Das Neue ist nicht nur einfach das Nicht-Alte. Ein Neues wird sich nur durchsetzen, wenn es die Lebensbedürfnisse der Menschen besser als das Alte erfüllen kann. Danach ist zu suchen." (Wikipedia in der Krise, Streifzüge 36/2006, S. 35)

Nicht bloß auch, sondern gerade im Widerstand verwirklicht der aufgeklärte Bürger seine Pflicht am Staat. Politischer Widerstand drückt gegen das, was gegen einen drückt. Er ist Reaktion, ein Dagegenhalten, nicht mehr. Widerstand richtet sich nicht gegen das unbekömmliche Spiel, im Gegenteil, man will sich besser im Spiel positionieren. Was als unmittelbare Notwendigkeit sich aufdrängt, wird zu einer Falle, weil durch die tätige Affirmation der Form die generelle Destruktivität theoretisch unbegriffen und praktisch unangegriffen bleibt. Widerstand teilt die Voraussetzungen seiner Auseinandersetzung als eherne Bedingungen.

Einmal mehr geht es um ein Interesse in und nicht um eine Alternative zum. Interesse und Alternative kollidieren. Das Interesse hat ein Interesse, als Interesse aufrechterhalten zu bleiben. Der Kommunismus hat demgegenüber das Anliegen, Interessen als gesellschaftliches Zwangsverhalten zu überwinden und die sich nun entwickelnden individuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Auf keinen Fall dient er bestimmten Subjekten oder Klassen!

Das Neue muss geschaffen werden, es entsteht nicht im Widerstand, sondern in der Hinwegsetzung, im praktischen Aufstand. Wobei der keineswegs militant zu denken ist, aber doch in aller Deutlichkeit die Gemeinsamkeiten (vor allem Demokratie, Recht und Aufklärung) mit der Herrschaft zu kündigen hat, will er sich als Alternative überhaupt inaugurieren. Nicht Widerstand ist angesagt, sondern Aufstand. Nicht: Wir wollen uns das nicht gefallen lassen, sondern: Wir wollen anstellen, was uns gefällt. Widerstand meint Reaktion, Aufstand meint Aktion! Es ist also der Versuch, den Appell und die Forderung durch Ermächtigung und Initiative zu überwinden.

Widerstand bleibt in der Form, die ihn hervorbringt, fest eingebunden, Aufstand ist der Versuch der Befreiung von ihr. Der Aufstand ist eine enorme Setzung, die jenseits konventioneller Kriterien liegt. Widerstand ist defensiv, Aufstand ist offensiv. Und dieser Aufstand ist überall zu Hause; in Fabrik und Büro, im Schlafzimmer und in der Küche, auf den Straßen und Plätzen, in Medien und Institutionen, in Sprache und Musik. Aufstand heißt sich ständig selbst in die Hand zu nehmen, Unmündigkeit und Hörigkeit zu erkennen und sie verlassen zu wollen. Er kann sich täglich ausdrücken, erproben und akzentuieren. In jeder einzelnen Situation des Lebens können wir wollen - trotz aller Zwänge! Im Widerstand hingegen wird lediglich die gesellschaftliche Rolle wahrgenommen, nicht diese selbst in Frage gestellt.

Der Aufstand soll natürlich nicht als Akt der Machtübernahme verstanden werden, sondern als Werk der Selbsterhebung. Improvisationen und Experimente erzeugen Situationen, die spüren lassen und zeigen, dass es anders ginge, dass das gute Leben keine Utopie ist, sondern geschaffen werden kann. Hier und jetzt und morgen noch viel mehr. Dafür muss man sich freilich auch einiges abgewöhnen. Selbstbehauptung ohne Selbstkritik ist reine Affirmation. Man bringt dann bloß seine Stellung in Stellung. Indes, die Aufgabe, alle Prozesse und Handlungen zu reflektieren, ist leichter postuliert als realisiert. Das Gros der Menschen kommt nämlich kaum über die existenzielle Sicherung hinaus. In sie fließen fast alle Energien. Und die noch übrig sind, verlieren sich in Erholung und Unterhaltung, was man den einzelnen Subjekten auch nicht verübeln kann. Natürlich setzt damit eine Routine ein, die stets das bestätigt, was ist, und somit jede Lust am Können an der Sorge um das Dasein scheitern lassen will.


Organisation und Bewegung

Bewegungen sind ein Faktor der Diskontinuität. Daher war auch der Drang, sich separat, also über sie hinaus zu institutionalisieren, stark ausgeprägt. Insbesondere in der Arbeiterbewegung strebte man rasch zur Etablierung von Organisationen: Parteien, Gewerkschaften, Bildungsvereinen, Krankenkassen, Pensionsversicherungen. Man traute seiner Bewegung nicht allzuviel zu. Zu Recht. Bewegungen gleichen nicht unschuldigen Kindern, die von falschen Führern verführt und verraten wurden. Die Organisation ist ja aus den Schwächen der Bewegung erwachsen. Zu nennen wären da die hohe Fluktuation, der Mangel an Verlässlichkeit und Verbindlichkeit, an Kontinuität und Seriosität, an Transparenz und Kontingenz, weiters die Problematik informeller Strukturen und die Skepsis gegenüber der Spontaneität und Selbsttätigkeit der Massen. Bewegungen mögen zwar stabilisieren, aber sie selbst sind alles andere als stabil. Organisationen wiederum haben den Nachteil, dass sie Bürokratien mit sehr egoistischen Sonderinteressen herausbilden. Immer wieder kommt es daher zu Verzögerungen aufgrund interner Logiken und Abläufe.

Vorzüge der Bewegungen liegen somit auch in ihrer Flexibilität, deren Unmittelbarkeit und Unbekümmertheit ist Folge davon, dass sie eben keine festen Apparate und Hierarchien mit sich herumschleppen. Sie sind rascher, vor allem auch rascher zu handhaben. Bewegungen verdeutlichen Beschleunigungen. Dort, wo der Kapitalismus nie Ruhe gibt und von einer ungemeinen Mobilmachung ergriffen ist, dort setzen die Bewegungen partout noch eins drauf. Gerade das Kapital ist ja die Bewegung par excellence. Unter deren Herrschaft soll alles den Charakter der Ware annehmen, mithin zur Gallerte des Werts werden. Bewegung wird buchstäblich eingefordert. Still sitzen und Ruhe geben ist nicht, Beschäftigung und Engagement sind angesagt.

Doch auch die Beschleunigung ist in die Tage gekommen. Wie vieles andere steckt sie inzwischen im Stau. So tritt auch der kaum noch an die großen Zeiten der Reform erinnernde konservative Gehalt in den Appellen deutlicher hervor. Slogans wie "Hände weg" oder "Nein zu" demonstrieren, dass man schon zufrieden wäre, bliebe es so, wie es ist. Man orientiert sich weniger an irgendwelchen Zielen als am Status quo. Bewegungen kommen so nicht nur zum Stillstand, sie fordern ihn gar ein. Am deutlichsten zeigt sich das übrigens bei den Resten der Arbeiterbewegung, die heute bloß noch das Gestern gegen das Morgen verteidigen wollen, weil sie keine Perspektive mehr haben.


Jenseits der Bewegung

Der ewige, explizite wie implizite Rekurs auf die Bewegungslinke, dass sie doch gefälligst tun sollte, führt nicht weiter. Sie kann nicht. Das hält nur auf. Die Bewegung ist Teil des Systems, nicht Gegenteil. Widerstand funktioniert immanent, nicht transzendent. Bewegungen schleppen nicht Schlacken der Bürgerlichkeit mit sich, sondern sie sind bürgerliche Schlacken. Bewegungen scheitern lediglich an Zielen, die sie objektiv gar nicht haben können, nicht jedoch an denen, für die sie eingerichtet sind. Transvolution (den Begriff ziehen wir der Revolution eindeutig vor) ist jenseits der Bewegung.

Mit den Bewegungen geht es zu Ende. Nicht bloß der Traditionsmarxismus ist tot, auch die gesamte Bewegungslinke liegt im Sterben. Anstatt sich als Totengräber des Kapitalismus zu erweisen, war sie vielmehr Arzt. Wenn die letztjährigen Aktivitäten tatsächlich unter dem Titel "Bewegung für globale Gerechtigkeit" (Global justice movement) einer "Gegenmacht" (David Graeber, Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus. Es gibt Alternativen zum kapitalistischen System. Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Behringer, München 2011, S. 12) firmieren, dann belegen diese Formeln, was hier einmal mehr aufgeführt wird. Es ist die alte Litanei.

Die Muster diverser Interventionen und Motivationen werden immer flacher. Gegenwärtig sind wir bei Konglomeraten angelangt, die nicht einmal mehr im Ansatz über die herrschende Ideologie hinausreichen wollen. "Demokratie jetzt!" oder "Geld ist genug da!" sind absurde Slogans, die einem nur einfallen können, wenn einem nichts mehr einfällt. "Ich persönlich halte die soziale Marktwirtschaft für einen guten Kompromiss", sagt etwa Erik Buhn von Occupy Frankfurt. (Spiegel 18/2012) Eigentlich ist es unverständlich, was solche Leute von einer Karriere in SPD oder Grünen abhält. Aber vielleicht greifen wir da sowieso der Zukunft voraus. Zwischenzeitlich könnten sie es auch noch bei den Piraten probieren.

Jeder Traum scheint endgültig verloren gegangen zu sein. Es gibt nichts mehr zu träumen. Die Bewegungen verkommen zusehends auf das Niveau von Bürgerinitiativen. Zunehmend tragen sie diese Bezeichnung auch in ihrem Titel, ohne das Regressive dieser Form(ulierung) in Ansätzen zu reflektieren. Diese Namensgebung ist nicht zufällig, sondern offenbart den insistierenden Charakter auf geradezu penetrante Weise: Bürgerinitiativen und Bürgerrechtsbewegungen sind Initiativen des Bürgerlichen. (Zur Typologie der Bürgerinitiativen, siehe: Franz Schandl/Gerhard Schattauer, Die Grünen in Österreich. Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft, Wien 1996, S. 81ff., bzw. Streifzüge 4/1999, S. 14f.)

Ein Fetisch mehr ist zu verabschieden. Transvolution ist Antibewegung. Antibewegung könnte bedeuten, sich der vorerst schwierigen Aufgabe zu stellen, sich nicht in und nicht nach den vorgesetzten Bewegungsgesetzen zu bewegen. Und wo es dennoch geschieht, nichts anderes zu behaupten, sondern es unbedingt so zu benennen. Wir raten ja von keinem Engagement ab, wir geben allerdings zu bedenken, dass das Wirkungsfeld von Bewegungen keines ist, das über die gegebene Struktur hinausführt. Denn die Bewegungsgesetze der Bewegungen sind die Bewegungsgesetze des Kapitals. Jene mögen nicht in diesen aufgehen, aber sie vermögen auch nicht über sie hinaus zu gehen.

Für die Transposition des Elementaren steht keine Partei, keine Klasse, kein Subjekt und keine Bewegung zur Verfügung. Einzig die massive wie massierte Negation der eigenen Charaktermasken kann die Voraussetzungen schaffen: Wir wollen nicht die sein, zu denen wir gezwungen werden. Es geht nicht um eine einfache Ablöse, sondern um einen Prozess der Ablösung, der überall und nirgends stattfinden kann. Selbstermächtigung heißt also nicht: Wir wollen wir sein, sondern Wir wollen wir werden. Jene erfüllt also keine Tatsache als tätiges Bekenntnis, sondern lehnt sich akkurat wie praktisch gegen die eigene Konstitution auf. Die Transformation der bürgerlichen Gesellschaft wird sich außerhalb antiquierter Muster vollziehen.

Da wir an einem Ende stehen, stehen wir auch an einem Anfang. Wir sollten diesen nicht übersehen und als Opposition gleich Kapital und Staat weiterhin die von der Krise geschüttelte Gesellschaft simulieren.

*

Borniertheit und Weitsicht

Über zwei Arten, sich in Bewegung zu setzen

von Emmerich Nyikos

"Der Mensch bewegt sich nur, wenn Notwendigkeit ihn aufruft."
(Alexander v. Humboldt)


Es hat immer wieder Realisten unter den Denkern gegeben, und zweifellos war Alexander von Humboldt einer von ihnen. Denn nichts könnte richtiger sein als der oben zitierte Satz: Nur die Notwendigkeit bewegt das Subjekt, Subjekt zu sein, also zu agieren.

Nun gibt es freilich zwei Arten von Notwendigkeit: die, welche man unmittelbar spürt, und die, welche nur reflexiv, nur durch das Denken einsichtig wird.

Von der ersteren Art ist die Notwendigkeit, die sich aus den bürgerlichen Lebensumständen, aus der Struktur der aktuellen Gesellschaftsordnung ergibt: Will man konsumieren, so muss man seine Arbeitskraft verkaufen, vorausgesetzt, dass man über sonst nichts verfügt. Das dürfte jeder ohne Umschweife einsehen, ist also ein Grund, der bewegt: ein argumentum ad hominem im klassischen Sinne.

Von einer ganz anderen Art ist die Notwendigkeit, die historische Dimensionen besitzt, d.h. sich aus dem Systemverlauf der kapitalistischen Weltgesellschaft herleiten lässt, nämlich dann, wenn diese Gesellschaft sich anschickt, in eine terminale Instabilitätsphase überzugehen: wenn, mit anderen Worten, nicht nur das Mittel - die Akkumulation des Kapitals - von der Warte der Gesellschaft aus im Hinblick auf den anthropologischen Zweck "nicht mehr notwendig ist", sodass die bürgerliche Ordnung im Hegelschen Sinne unwirklich wird, noch bevor sie zu existieren aufgehört hat - sie ist unsinnig geworden, würde man sagen -, sondern die "normale" Reproduktion der kapitalistischen Warengesellschaft - das "Wachstum" in rein quantitativen Kategorien als Korollarium der Tauschwertorientierung - überhaupt die Grundlagen dieser Gesellschaft auf lange Sicht untergräbt: die externe Umwelt, auf der sie notwendigerweise basiert. Es genügt, hier auf den "Global Overshoot Day" zu verweisen, der jetzt schon in den August fällt.

In allen diesen Fällen handelt es sich um die "weiteren Konsequenzen" der Praxis, um die schon die bürgerliche Philosophie seit Giambattista Vico wusste, um die Folgen nämlich, die zwar an und für sich in den Handlungen liegen, von den Akteuren aber nicht intendiert sind, und die, weiterhin, unmittelbar "unsichtbar" bleiben, d.h. nur reflexiv, nur durch das Denken "wahrnehmbar" sind. Ebendeshalb setzt die Lösung des Problems - das Stoppen des Zugs, der auf den Abgrund zurast, wie Walter Benjamin es formulieren würde, nachdem er, fügen wir hinzu, die Endstation schon erreicht hat - die flächendeckende Überlegung voraus: den prometheischen, nicht den epimetheischen Modus des Denkens auf großer Stufenleiter.

Wohlgemerkt: so wie die Dinge jetzt liegen, das prometheische Denken der Mehrheit . Ist dies aber realistisch? Offenbar nicht. Denn das Hemd ist für die meisten allemal näher als der Rock, und dies umso mehr, als der Winter zwar unvermeidlicherweise kommt, jetzt aber noch ein laues Sommerlüftchen weht. Wenn der Winter dann einmal da ist, dann freilich ist es zu spät.

Das Problem, dem wir gegenüberstehen, ist dies: Nur wenn man sich auf den Standpunkt der Gesellschaft stellt, also über den Dingen die Dinge "von oben" betrachtet, nicht aus dem persönlichen Loch durch eine schmale Öffnung hinauf, wird man geneigt sein, die adäquaten Schritte zu setzen, die die aktuelle Situation als notwendig erweist: die Herstellung gesellschaftlichen Eigentums und rationale Planung des Produktionsprozesses vom Standpunkt des Gebrauchswerts, dessen also, was für die integrale Gesellschaft - gestern, heute und morgen - als sinnvoll erscheint. Integral in diesem Sinne: "Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen." (K. Marx, Das Kapital III, in: MEW 25, S. 784) Integral aber auch in diesem anderen Sinn: Werden die Potenzen, die im Laufe der Geschichte akkumuliert worden sind - die Produktivität -, nicht adäquat genutzt, so waren die Mühen der vorangegangenen Generationen, der Toten, buchstäblich umsonst.

Wir sollten daher ein ganz anderes Konzept von "Regierung" propagieren (auch wenn dessen Durchsetzung wahrscheinlich einer veritablen Katastrophe als "Anreiz" bedarf), das Konzept der volonté générale, die nichts mit der volonté dieses oder jener - und nichts mit ihrer Summe - zu tun hat, ein Konzept, das darin besteht, dass der Gesichtspunkt, der in der öffentlichen Sphäre als allein maßgeblich anerkannt wird, der des übergeordneten Ganzen, der der Geschichte sein muss. Und das heißt im Konkreten: Nur wer bereit ist (und dazu kann allerdings im Prinzip jeder und jede bereit sein), sich auf den Standpunkt der Gesellschaft als eines Prozesses, d.h. der Geschichte, zu stellen - und sich nicht darauf versteift, von der Warte seines persönlichen Vorteils aus dies oder jenes durchzusetzen -, sollte wirklich regieren, d.h. in diesem Falle befugt sein, die Maßnahmen zu determinieren, die historisch notwendig sind, als Konsequenz des argumentum rationale, das die Geschichte diktiert. Oder wie Platon es so schön formuliert hat: Die Könige sollten Philosophen und die Philosophen Könige sein. Denn die Dummheit - die alleinige Feindin der Menschheit - reitet uns direkt in den Abgrund.

Post scriptum: Wenn es eine Pflicht gibt, der wir alle unterliegen, dann sicherlich die, uns nicht wie die Idioten zu verhalten. Überhaupt wäre es besser, wenn die devoirs de l'homme an die Stelle der droits de l'homme treten würden.

*

Dead Men Working

Bewegungsfreiheit!

von Maria Wölflingseder

"Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Wo alles zu viel fährt, geht alles sehr schlecht: Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft." - Das schreibt Johann Gottfried Seume in den Aufzeichnungen seines "Spaziergangs nach Syrakus im Jahre 1802". Also lange vor der Erfindung der Eisenbahn und des Autos. Für jene, die Seume noch nie begegnet sind: seinen Spaziergang nach Syrakus startete er in Leipzig.

Jede Zelle braucht Wärme, Licht und Bewegung. Daher ist Gehen eine umfassende Wohltat. Umso schöner in angenehmer, anregender, aufregender oder beruhigender Umgebung. Wie aber steht es, wie aber geht es 211 Jahre nach Seume mit der Bewegung? Die herrschenden gesellschaftlichen Vorgaben, die Anforderungen und Empfehlungen sind höchst widersprüchlich. Einerseits werden wir seit Jahrzehnten mehr denn je zum (Still-)Sitzen in die Schule, ins Büro, ins Auto, ins Flugzeug, vor den Fernseher, vor den Computer genötigt respektive gelockt. (In vorauseilendem Gehorsam zwingen wir uns bereits selbst dazu.) Und die, die sich bewegen müssen bei der Arbeit, tun dies meist auf ungesunde Weise oder unter großem Zeitdruck.

Andererseits wird neuerdings körperliche Bewegung vollmundig propagiert. In den zuständigen staatlichen Stellen regt sich Missfallen über die Kosten für Gesundheit, für die Spitalserhaltung und die Krankenkassen. (Ja, als Kostenfaktor, als Humanressource wird der Mensch vornehmlich wahrgenommen. Systemlogisch konsequent.) Mehr zu Fuß zu gehen oder mit dem Fahrrad zu fahren wird überdies als Heilmittel gegen die Mensch und Natur schädigenden Auswirkungen von 50 bis 60 Jahren automobilen Individualverkehrs und ausgeweiteten Flugverkehrs dringend empfohlen. Jedoch ist der Platz dafür oft miserabel, gefährlich oder gar nicht vorhanden. Und die öffentlichen Verkehrsmittel, die uns angepriesen werden, sind außer in den Städten und auf den Hauptverbindungen von seltener Frequenz und abends und am Wochenende meist gar nicht vorhanden.

Aber leiden die Menschen nur an mangelnder Bewegung oder nicht in erster Linie an den Lebens- und Arbeitsbedingungen in unseren komplett kruden Gesellschaftsverhältnissen? Gehören nicht diese unverzüglich hinterfragt und verändert, anstatt die Menschen notdürftig an die Gegebenheiten anzupassen? Aber offenbar will man uns die Quadratur des Kreises schmackhaft machen. Je härter und stressiger die Bedingungen, desto erfrischter, entspannter und gestählter sollst du jeden Morgen in der Arbeit oder am Arbeitsamt erscheinen. Je krankmachender die Umstände, desto gesünder musst du werden! Schön geschmeidig, flexibel, ultraelastisch.

Zurzeit ist eine regelrechte staatliche Propagandamaschinerie angelaufen, um alle Bürger und Bürgerinnen zu gesundheitsfördernder Bewegung zu animieren. Keine Kosten und Mühen werden gescheut, um möglichst viele Gemeinden für "Bewegungsevents" zu gewinnen (www.gemeinsambewegen.at) und um uns alle "Fit für Österreich" zu machen (www.fitfueroesterreich.at). Um bestimmte Personengruppen, kümmern sich ganze Kohorten von "Gesundheitsreferent/innen" und "Casemanager/innen": Allen voran Ältere und Kranke sollen wieder "fit2work" werden (www.fit2work.at). Aber auch "die Arbeitsfähigkeit und Gesundheit von Ein-Personen-Unternehmen (EPU)" wird "frühzeitig, nachhaltig und ressourcenorientiert gefördert" (www.gesundundarbeitsfaehig.at). Und mit "Hilfe des Programms 'Fit für die Zukunft - Arbeitsfähigkeit erhalten' soll der Erhalt bzw. die Förderung von Arbeitsfähigkeit bei Berufstätigkeiten in besonders beanspruchenden Branchen unterstützt werden" (www.arbeitundalter.at). Schließlich steht noch die Fitness der Schulkinder auf der Staatsagenda. Seit dem schlechten Abschneiden unserer Sportler bei den Olympischen Spielen von London 2012 wird von der "Österreichischen Bundessportorganisation" die tägliche Turnstunde gefordert. Denn "die Österreichische Jugend ist beim Alkohol- und Nikotinkonsum und bei der Fettleibigkeit europaweit in den Medaillenrängen". Alle Parlamentsabgeordneten haben die Petition unterschrieben (www.turnstunde.at). Auch die Bildungsministerin begrüßt die tägliche Schulstunde, hat allerdings zu wenig finanzielle Mittel dazu.

Welch tolle staatliche Fürsorge! Jetzt fehlt nur noch die Schaffung gesunder Lebensbedingungen! Wozu herz- und kreislaufbedrohender Stress? Wozu beklemmende Existenzängste? Wozu kopf- und bauchmarternder Konkurrenzdruck von Kindesbeinen an? Obendrein kontaminierte Luft, Nahrung und Materialien, sowie Elektrosmog, um deren Auswirkungen sich niemand ernstlich schert. Wozu, zum Teufel, diese ganz und gar unheilsame ständige Selbstoptimierung nach der fragwürdigen Logik des Marktes und das ewige wie eine Verwertungsmaschine Funktionieren-Müssen? - Warum wird all das nicht umgehend behördlich untersagt? - Anstatt dessen werden die Menschen - von der Wiege bis zur Bahre - immer mehr gemaßregelt.

Alte Leute erzählen oft, was in der Kindheit für ihre Entwicklung von großer Bedeutung war. Das Verbringen von Zeit alleine oder mit anderen Kindern, ohne Aufsicht, ohne jegliche Vorgaben außerhalb des Hauses, außerhalb der Wohnung. Egal ob am Land oder in der Stadt, überall gab es genug Orte, genug Räume, in denen sie sich frei bewegen konnten. In denen sie sich und die Welt phantasievoll entdecken konnten. Heute hingegen herrscht die Vermarktung möglichst vieler menschlicher Bedürfnisse - also nicht nur die Wellness-Branche, sondern auch "Outdoor-Pädagogik" und "Öko-Pädagogik".

So bietet auch das "Österreichische Institut für Schul- und Sportstättenbau" "Hilfestellung zur Entwicklung individueller (sic!) Schulfreiräume": Die Nutzung von Flächen im Freien erfolgt nach den Kriterien "Beteiligung, Nachhaltigkeit und Sicherheit". Es sollen "Möglichkeiten zur Erholung und zur multifunktionalen Nutzung" gegeben sein. Zu den Prinzipien gehören: "Barrierefreiheit, Gender Mainstreaming, Kommunikation, Bewegung, Lernort, Natur und Umwelt, Präsentation und Veränderbarkeit" (www.schulfreiraum.com). - Ob Seume nach all diesen Reglementierungen noch Lust gehabt hätte, nach Syrakus zu spazieren?

*

Rastlose Moderne

von Julian Bierwirth

Der Kapitalismus ist laut Marx und Engels durch "die fortwährende Umwälzung der Produktion" und "die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände" gekennzeichnet und führe dazu, dass "alles Ständische und Stehende verdampft" (Kommunistisches Manifest). Was Marx und Engels zunächst für Beziehungen der Menschen zueinander beschrieben haben, gilt sogar in einem wesentlich weiteren Sinne. Alles im Kapitalismus zielt auf Bewegung ab, und wer in ihm nicht untergehen will, ist darauf angewiesen, diese Bewegung stetig zu beschleunigen. Das gilt zunächst und ganz einleuchtend für die Produktion: Dass nur diejenige Arbeit als Beitrag zum gesellschaftlichen Reichtum anerkannt wird, die zur Verfertigung des Produktes notwendig ist, gilt nicht nur für die Produktion der Waren, sondern auch für ihren Transport dorthin, wo sie verkauft werden sollen. Um die Umschlagzeiten zu verkürzen und die Transportkosten zu verringern, stehen auch hier die Zeichen auf Beschleunigung. Zu Zeiten der Hanse betrug die Fahrtgeschwindigkeit über Land fünf bis sieben Meilen, zu Schiff waren immerhin bis zu 32 machbar. Erst seit dem 18. Jh. ging es dann immer schneller. Die alten Karren wurden durch Kutschen ersetzt und die Wege wurden zu gepflasterten Straßen. Für die gut 600 km zwischen Paris und Bordeaux dauerte es 1765 immerhin noch 14 Tage, 1780 waren es bereits nur noch sechs, bis 1831 war die benötigte Zeit bereits auf drei Tage gesunken, 1848 ließ sich diese Strecke im Sommer in flotten 40 Stunden zurücklegen und heute dauert die Fahrt mit dem PKW zwischen sechs und sieben Stunden - eine bemerkenswerte Karriere der Geschwindigkeit.

Diese immense Beschleunigung wurde von den Zeitgenossen durchaus nicht immer nur positiv zur Kenntnis genommen. Denn die Verkürzung der Reisezeiten ging nicht selten auf Kosten der Muße und Annehmlichkeit. Der Schriftsteller Joseph von Eichendorff hat das in seinem Roman "Aus dem Leben eines Taugenichts" 1826 anschaulich geschildert: "Wir fuhren nun über Berg und Tal Tag und Nacht immerfort. Ich hatte gar nicht Zeit, mich zu besinnen, denn wo wir hinkamen, standen die Pferde angeschirrt, ich konnte mit den Leuten nicht sprechen, mein Demonstrieren half also nichts; oft, wenn ich im Wirtshause eben beim besten Essen war, blies der Postillon, ich mußte Messer und Gabel wegwerfen und wieder in den Wagen springen und wußte doch eigentlich gar nicht, wohin und weswegen ich just mit so ausnehmender Geschwindigkeit fortreisen sollte."

Beim Unternehmen der Beschleunigung handelte es sich also ganz augenscheinlich um einen Selbstzweck. Wäre es darum gegangen, den Einzelnen mehr Zeit zu verschaffen - das Vorhaben wäre großartig gescheitert. Weil es aber gerade darum nicht ging, sondern lediglich um Beschleunigung um der Beschleunigung willen, muss es hingegen als höchst erfolgreich bezeichnet werden.

Wesentlich drastischer noch als zur Zeit der Postkutschen fiel die Skepsis gegenüber der neuen Technologie bei der Durchsetzung des Eisenbahnverkehrs aus. So schrieb etwa der Dichter Heinrich Heine über die Eröffnung der Eisenbahnen in Paris: "Während aber die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfasst den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Wir merken bloß, dass unsre ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen, fortgeschleudert wird, dass neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns erwarten, und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reiz, verlockend und zugleich beängstigend. (...) Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Mann getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir nur Geld genug, um auch letztere anständig zu töten! (...) Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee."

Im Rückblick erscheint derartiger Pessimismus unangebracht. Wir haben uns an die neuen Reisegeschwindigkeiten gewöhnt, eine Fahrt mit der Kutsche ist für uns ein romantisches Erlebnis, eine gewöhnliche Dampflok kommt uns angesichts heutiger Beförderungsmöglichkeiten geradezu grotesk langsam vor. Einstmals als unvorstellbar erlebte Neuerungen sind so heute zur Normalität geworden. Ist der Mensch also ein Gewohnheitstier, das sich zwar mit etwas Zeit, aber am Ende doch recht problemlos an neue Situationen anpassen kann? Ist er in eben diesem Sinne ein "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse", wie Marx das in den Thesen über Feuerbach formulierte?

Es ist nicht auszuschließen - aber es gibt doch allerhand erschreckende Hinweise, dass die Beschleunigungszumutungen, die inzwischen das ganze Leben ergriffen haben, den Menschen arg zusetzen: Wenn etwa laut dem neuesten Stressreport der deutschen Bundesregierung die Anzahl der Ausfalltage von Erwerbstätigen aufgrund psychischer Erkrankungen in den letzten 15 Jahren um 80 Prozent gestiegen ist, dann deutet dies darauf hin, dass Tempo und Hektik in der postfordistischen Arbeitswelt den Menschen nicht unbedingt gut bekommen. Und der vom AOK-Bundesverband in Auftrag gegebene Fehlzeiten-Report zeigt für Deutschland eine Verdoppelung der Krankheitstage aufgrund psychischer Erkrankungen. Kein Wunder also, dass Burnout und Depressionen in aller Munde sind: Ganz offensichtlich setzt unsere Psyche am Ende die Entschleunigung durch: mit Krankheit oder Tod.


Weiterführende Literatur

Badura, Bernhard: Fehlzeiten-Report 2012: Gesundheit in der flexiblen Arbeitswelt: Chancen nutzen - Risiken minimieren, Berlin: Springer Verlag.

Borscheid, Peter: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt/New York: Campus Verlag 2004.

Lohmann-Haislah, Andrea: Stressreport Deutschland 2012: Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden, Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2012.

*

Individuum, Subjektform und Neurose

Das wenig bewegende Individuum und seine neurotische Pseudoaktivität

von Meinhard Creydt

"'Menschen ohne Welt' waren und sind diejenigen, die gezwungen sind, innerhalb einer Welt zu leben, die nicht die ihrige ist; einer Welt, die, obwohl von ihnen in täglicher Arbeit erzeugt und in Gang gehalten, 'nicht für sie gebaut' (Morgenstern), nicht für sie da ist..."
(Anders 1993, XI)

In der bürgerlichen Gesellschaft herrscht die Fremd- und Selbsterwartung, das Individuum möge ein starkes Subjekt sein. Uns interessiert hier der psychopathologische Folgezusammenhang der mit dieser Subjektivitätsform verbundenen Einheit von Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbstbeschuldigung. "Die Menschen wurden frei gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können - um schuldig werden zu können: folglich musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung als im Bewusstsein liegend gedacht werden..." (Nietzsche 2, 977)

In der bürgerlichen Gesellschaft stellen sich viele gesellschaftlich konstituierte Probleme dem Individuum als mit seinen eigenen Bordmitteln zu lösende Aufgaben. Ebenso offenherzig wie affirmativ heißt es bei Luhmann (1970, 40): "Die Grundprobleme eines Systems werden durch die Systemstrukturen nicht gelöst ..., sie werden ... als Verhaltenslast den Handelnden auferlegt." Im Christentum konnte die Interpretation eigener Probleme noch als Moment einer nicht individuell zu heilenden Ambivalenz des Menschen zwischen gut und böse verstanden werden. Zur Grundproblematik des nachchristlichen Bürgers gehört die Immanentisierung der Tragik.

Die Subjektform koexistiert mit einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der aufgrund des in ihr herrschenden Primats des abstrakten Reichtums viele Individuen sich als "Wirkschwächling" oder "Tunsschwächling" (Helwig 1964, 59) erfahren müssen. Sie sehen ihre "Lebensmächtigkeit als Tunsmächtigkeit" (ebd.) gemindert. "Leben ist Gestaltausprägung und lebt nur so weit, wie eine ausgeprägte Gestalt in die ebenfalls ausgeprägte Umwelt eingreift." (Helwig 1961, 66) Die Unbestimmtheit der Ausprägung oder die problematische Wirk-Konstellation zwischen Subjekt und Objekt sind Helwig zufolge der Neurose immanent. Diese Unbestimmtheit wird überkompensatorisch durch "Tunsverstärkung" (ebd., 221) imaginär überwunden. "Unter allen Symptomen der Neurosen liegt das Gesetz: Lieber eine sinnlose Bestimmtheit als eine sinnvolle Unbestimmtheit." (Ebd., 222) Wer kaum etwas bewegt, dem bleibt immer noch die neurotische Pseudo-Aktivität.

Die Individuen avancieren auch dadurch zu vermeintlichen Subjekten ihres Lebens, dass sie sich eine "Illusion von Kontrolle" selbst dort zurechtlegen, "wo nur blinder Zufall oder unsichtbare Kräfte walten. In verschiedenen Experimenten hat sich gezeigt, dass normale, seelische gesunde Probanden sich verhalten, als hätten sie Einfluss auf Ergebnisse, die de facto rein zufallsabhängig sind." (Degen 2000, 192) Dies gilt auch negativ. Man beschuldigt sich, Verursacher von Ereignissen zu sein, unter denen man leidet. "Positiv" geht es darum, sich als Individuum zu beweisen, dass man (frau auch) scheinbar überlegen über das ist, wovon man abhängt. Kultiviert wird hier der Gestus, selber der Arrangeur aller eigenen Existenzbedingungen und Abhängigkeiten zu sein. "Alle Welt ist viel zu angelegentlich mit sich selbst beschäftigt, als dass man ernstlich eine Meinung über einen anderen zu haben vermöchte; man akzeptiert mit träger Bereitwilligkeit den Grad von Respekt, den du die Sicherheit hast, vor dir selbst an den Tag zu legen. Sei, wie du willst, lebe wie du willst, aber zeige kecke Zuversicht und kein böses Gewissen, und niemand wird moralisch genug sein, dich zu verachten. Erlebe es andererseits, die Einigkeit mit dir zu verlieren, die Selbstgefälligkeit einzubüßen, zeige, dass du dich verachtest, und blindlings wird man dir recht geben." (Mann 1987, 154)


Selbstbeschönigung als Versuch zur Verringerung der Kluft zwischen Individuum und Subjekt

Zur Orientierung darauf, ein starkes Subjekt zu sein, gehört die selbstwertdienliche Beschönigung. Dem Individuum werden die Aufgaben des Subjekts, also: Autonomie, Selbstbestimmung, Selbstbeherrschung und Selbstverantwortung, zugerechnet, und es versteht und missversteht sich auch selbst im Horizont dieser "Herausforderungen". Die Divergenzen zwischen der individuellen Faktizität und diesen Aufgaben machen Scham- und Schuldgefühle wahrscheinlich. Darauf bezogene imaginäre Dissonanzreduktionen sind dann hochwillkommen.

Der "gesunden" Psyche wird nachgesagt, sie sei realistisch und vollziehe keine Verzerrungen der Realität. Wer eine so gute Meinung von der symptomfreien Psyche hegt, den muss das Ausmaß an selbstwertdienlichen Beschönigungen verwundern. Wir haben es mit dem Widerspruch zu tun, demzufolge eine Mehrheit von ihren jeweils überdurchschnittlichen Leistungen überzeugt ist. (Vgl. Taylor 1993, 29f., Degen 2000, 191) Versuchspersonen sehen sich durch positive Attribute genauer beschrieben als durch negative. Erfolgserlebnisse bleiben gut im Gedächtnis, Misserfolge fallen leichter einer Gedächtnislücke anheim (Degen 2000, 191). Die Liste der Studien über die Kluft zwischen subjektivem und objektivem Urteil ist lang (vgl. Degen 2000, 193).

Umso weniger das Individuum real bewegen kann, desto stärker liegt es dem Individuum als Subjekt nahe, sich ein imaginär-phantastisches Gebiet zu reservieren, in dem es dann als "Herr im Ring" erscheinen oder mildernde Umstände geltend zu machen vermag. "Der Neurotiker zieht den Kreis so, und so klein, dass er mit Mutmaßlichkeit dort die Überlegenheit gewährleistet sieht. Er beschränkt sich auf die Familie, seinen Berufskreis, eine einsame Beschäftigung oder zieht sich auf die Insel einer von niemand verstehbaren Tätigkeit zurück. Da er aus dem Wertungsbereich der Allgemeinheit freiwillig (durch seine Geltungsangst - d.h. Angst vor Geltungseinbuße - gezwungen) ausgeschieden ist, kann er nun alles, was er tut, in ein ganz nach seinen Bedürfnissen zugeschnittenes Wertsystem zwängen. Dinge und Handlungen, die zu den selbstverständlichsten Obliegenheiten jedes Menschen gehören, erscheinen so in seinem neurotischen Bezugssystem maßlos verwichtigt, und ihr Vollbringen liefert ihm das so ersehnlich begehrte Selbstwertgefühl." (Rühle-Gerstel 1980, 93f.) Die eigene vergleichsweise schlechte Position soll als Resultat unfairer Verstöße anderer gelten. Selbsteinschränkung aus Angst vor Infragestellung durch nichtbewältigbare Aufgaben und Machtgewinn im "resignationsvollen Lebensplan" (ebd., 111) gehen miteinander einher: "In eine banale Formel gebracht, würde er etwa lauten: Mein Lebensmodus, mich Schwierigkeiten zu entziehen, gibt mir das Machtgefühl, mich ihnen nicht stellen zu müssen. Ich nehme Leid und Lächerlichkeit auf mich, um nicht der Herbeigezwungene zu sein." (Ebd.)

Das idealisierte Selbstbild bildet "ein ausgesprochenes Hindernis des Wachstums, weil es Unzulänglichkeiten entweder ableugnet oder einfach verachtet" (Horney 1973, 83). Das Individuum legt sich seine unentwickelten Sinne und Fähigkeiten als Tugenden zurecht. "Nachgiebigkeit wird Güte, ... Aggressivität wird Stärke, ... und Abseitsstehen wird Weisheit, Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit. Was ... als Unzulänglichkeit oder Defekt erscheint, wird jeweils verwischt oder retuschiert." (Horney 1985, 20f.) Für die beschönigende Selbstinterpretation muss das Individuum einen großen Energieaufwand betreiben, der es von seinem In-der-Welt-Sein weiter entfremdet. "Das idealisierte Selbst wird nicht in einem einzigen Schöpfungsakt vollendet: wenn es einmal erzeugt ist, verlangt es dauernde Aufmerksamkeit. Um das idealisierte Selbst zu aktualisieren, muss der Mensch unablässig daran arbeiten, die Wirklichkeit zu verfälschen. Er muss seine Bedürfnisse in Tugenden oder vollauf gerechtfertigte Erwartungen ummünzen; er muss seine Absichten, ehrlich oder rücksichtsvoll zu sein, in die Tatsache verdrehen, dass er ehrlich und rücksichtsvoll ist." (Ebd., 33f.) Ein ganzes "System des Stolzes" (ebd., 208) entsteht. Das idealisierte Selbstbild als Umgang mit der eigenen Weltlosigkeit überhebt das Individuum seiner Existenz und entwirklicht es noch zusätzlich. Der imaginäre Charakter und die Autosuggestion drohen sich zu verselbständigen. Dazu tragen auch die Schwäche der Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen des Individuums und der ihnen gegenüber aversive Charakter der gesellschaftlichen Realität bei. Beide erschweren eine Vergegenwärtigung des Individuums in seinem In-der-Welt-Sein. "Die Menschen vermögen sich selbst in der Gesellschaft nicht wiederzuerkennen und diese nicht in sich, weil sie einander und dem Ganzen entfremdet sind." (Adorno 1979, 44f.) Die mangelnde Selbstvergegenwärtigung des Individuums in der gesellschaftlichen Welt schwächt das reale Ich und steigert die Wahrscheinlichkeit seiner Verwirrung durch das idealisierte Selbst. "Einem Cockerspaniel würde es wohl kaum einfallen, dass er 'in Wirklichkeit' ein irischer Setter ist. Beim Menschen hingegen ist dieser Übergang nur deshalb möglich, weil das eigentliche Selbst vorher undeutlich und verworren geworden ist." (Horney 1985, 22) Damit wäre dann die Grundkonstellation der Neurose als "Erkrankung der Phantasie" (Jung) gegeben, ohne mit dieser notwendigen Bedingung der Neurose schon ihre hinreichende Erklärung zu beanspruchen.


Die Verselbständigung der neurotischen Pseudokontrolle gegen sich selbst

Neurosen beinhalten die Verkehrung, dass am falschen Ort, mit untauglichen Mitteln auf bloß subjektive Weise Zwecke verfolgt werden. Die Betroffenen neigen zu Bedeutungshandlungen, die individuell unaufgearbeitete und z.T. auch unaufarbeitbare Probleme überkompensieren sollen. Der oder die Betroffene möchte den eigenen psychischen Haushalt ausgleichen, tarnt das Ungekonnte und Unbewältigte vor anderen und vor sich selbst und versucht das Unbehagen verschoben an anderer Stelle zu bearbeiten oder zu wenden. Die Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit der Probleme ist vergleichsweise schwach gegenüber dem Druck zur Abwendung der mit ihnen verbundenen negativen Empfindungen und Gefühle. Die Lösungsbewegung kann so nur imaginär sein: Umwertung des Problems, Selbsttäuschung über den eigenen Zustand, Investitionen in den Ausbau eines (über)kompensatorisch "guten" Selbstbildes als Gegenstabilisierung. Ein irgendwie geartetes Unbehagen, schlechtes Gewissen und Unzulänglichkeitsempfinden zeigt an, dass das Problem fortbesteht. Mangels anderer Bewältigungsvermögen wird dem überkompensatorischen Ideal von sich selbst auf manierierte, verstiegene und verschrobene Weise nachgegangen (Binswanger 1956). Nicht mehr das Ausgangsproblem ist dann das Thema, sondern der Symptomstress, der aufgrund der mangelnden Bearbeitbarkeit des Problems entsteht.

"An der Wiege der Neurose steht das Leiden 'unter einem nichtseinsollenden Zustand'... Der Neurotiker wickelt sich in ein Netz ein, welches aus nichtseinsollenden Verfehlungen und seinsollenden Bestrebungen unentknüpfbar geflochten ist." (Caruso 1952, 92) Die starke Affinität zu Nebenrealitäten bildet bereits ein zentrales Moment der Lebensweise psychisch unauffälliger Bürger. Ihnen gilt oft das, was sie voneinander unterscheidet, als wichtiger als ihre Gemeinsamkeiten. Die bereits in der Arbeitsteilung und funktionalen Spezialisierung angelegte Kultivierung von Sonder- und Inselbegabungen geht mit einer Entropie von Paralleluniversen einher. Manch postmoderner Kult um die Vielheit macht aus dieser Not eine Tugend. In der neurotischen "Lebenshäresie" (ebd., 59) steigern sich die schon in der "gesunden" bürgerlichen Lebensweise enthaltenen partikular-idiosynkratischen Erfahrungsverarbeitungen und die Abwertungen wesentlicher Dimensionen des In-der-Welt-Seins. "Das ganze System der falschen Rationalisierungen, der falschen Verabsolutierungen und der unerlaubten Relativierungen bildet einen Irrgarten, durch welchen der Neurotiker zu einem unbekannten Ausgang strebt." (Ebd., 94)

Mit der Undeutlichkeit der Problemwahrnehmung korrespondiert jene Perspektive, die die Problemwahrnehmung von der imaginären Antwort her angeht, wie sie vor der Ausarbeitung der Frage schon präsent zu sein scheint. Jene Strebungen und Interessen, die die Problemregion betreffen, werden abgewertet. Was derart ausgeschlossen, abgedrängt und exiliert wird, verkümmert im Maße seiner mangelhaften Entwicklung und Befriedigung. "Das neurotische Subjekt will sich in seinem unaufgehobenen Mangel nicht sehen." (Haerlin 1976, 66) Dasjenige, das nicht gesehen werden soll, das Ungekonnte, Unbewältigte und zu Verdrängende, verwildert in seiner Exiliertheit und missrät radikal und asozial. Ein Teufelskreis kommt in Gang: Die Verdrängung legitimiert sich angesichts der Gestalt, die sie selbst mit hervorbringt.

In der Neurose verspürt der Betroffene auf undeutliche Weise, dass irgendetwas problematisch ist an seinem Empfinden und Denken. Dies führt aber zunächst nur zur Verstärkung des Sich-Verschraubens in die Verschrobenheit der Neurose. "Der Neurotiker hat die dunkle Ahnung, er hätte sich verirrt, und straft sich dafür - auf eine unwirkliche Weise, weil er nicht weiß, wo er zu irren begann." (Caruso 1952, 85) "Der Neurotiker ringt ständig um die Lösung. Wie Don Quichotte ringt er gegen Windmühlen, da er den Widersacher nicht klar erkennt und ihn mit Vorliebe durch einen Sündenblock symbolisiert." (Ebd., 93)

Schon das Bewusstsein und die Subjektivität der normalen Existenz des Individuums in der modernen kapitalistischen Gesellschaft sind von massiven problematischen Verformungen des In-der-Welt-Seins durchzogen. In der Neurose verwildern diese Verformungen. Sie bildet eine idiosynkratische Privatideologie. Hier eskaliert die imaginäre Pseudokontrolle zu einem Agieren, in dem die Eigenstimulierung umgekehrt proportional zur Realitätsüberprüfung der Vorstellungen ausfällt. Die privatpersönliche Assimilation, die unter dem kalten Stern des abstrakten Reichtums und der ihm entsprechenden Weltlosigkeit steht, verkehrt sich gegen die allgemeinen Verständigungs- und Verkehrsformen innerhalb dieser Weltlosigkeit. Was für die normalen Bewusstseins- und Subjektivitätsformen gilt, steigert sich hier noch - und zwar so, dass es sich nicht nur objektiv, sondern unmittelbar subjektiv gegen die Individuen richtet: als deren Verwirrung in sich.

Ohne mit dieser Skizze so etwas wie eine hinreichende Theorie der Neurose zu beanspruchen, ist doch festzuhalten: Die Neurose bildet auch ein Symptom dafür, dass die in der modernen kapitalistischen Gesellschaft lebenden Individuen mit der ihnen durch die Subjektform abverlangten Verkehrung, die gesellschaftlich konstituierten Mängel ihrer Existenz mit einem idealisierten Selbstbild zu überspielen, in neurotisierende Folgezusammenhänge geraten. Das massenhaft vorfindliche massive neurotische Elend lässt sich auf seine gesellschaftlichen konstitutiven Kontexte durchsichtig machen. Auch daraus folgen gute Gründe, die moderne kapitalistische Gesellschaft in Frage zu stellen.


Literatur

Adorno, Theodor W. 1979: Soziologische Schriften I, Frankf. M.

Anders, Günther 1993: Mensch ohne Welt, München.

Binswanger, Ludwig 1956: Drei Formen mißglückten Daseins, Tübingen.

Caruso, Igor 1952: Psychoanalyse und Synthese der Existenz, Freiburg.

Degen, Rolf 2000: Lexikon der Psycho-Irrtümer, Frankf. M.

Haerlin, Peter 1976: Recht und Anerkennung. Philosophische Untersuchungen zum psychoanalytischen Prozess, Stuttgart.

Helwig. Paul 1961: Psychologie ohne Magie, München.

Helwig. Paul 1964: Liebe und Feindschaft, München.

Horney, Karen 1973: Unsere inneren Konflikte, München.

Horney, Karen 1985: Neurose und menschliches Wachstum, Frankf. M.

Luhmann, Niklas 1970: Soziologische Aufklärung I, Opladen.

Mann, Thomas 1987: Der Wille zum Glück, Frankf. M.

Nietzsche, Friedrich 1980ff.: Kommentierte Studienausgabe, hg. v. Colli/Montinari, München.

Taylor, Shelley E. 1993: Positive Illusionen. Produktive Selbsttäuschung und seelische Gesundheit, Reinbek bei Hamburg.

Rühle-Gerstel, Alice 1980: Der Weg zum Wir. Versuch einer Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie, München (Zuerst Dresden 1927).

*

REZENSION

Dieter Braeg (Hg.): Wilder Streik das ist Revolution. Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973. Die Buchmacherei 2012, 175 Seiten, ca. 13,90 Euro

Der von Dieter Braeg herausgegebene und auch großteils verfasste Band führt in die Jahre nach 1968, in eine Zeit, wo die Arbeiterbewegung noch einmal erwachte. In diesem Buch zeigt sie sich in manchen Belangen von ihrer frischesten Seite. 1973 erreichte die Streikbewegung ihren Höhepunkt, fast 300.000 Arbeiter traten in den Ausstand. Der hier in Druck und DVD dokumentierte Arbeitskampf bei Pierburg war sogar einer der erfolgreichsten der sonst an Erfolgen eher traurigen bundesrepublikanischen Arbeiterbewegung. "...und eines Tages gehören sie uns, die Fabriken", sagt eine Stimme auf der DVD. "Wilder Streik - das ist Revolution", so sah es der Polizeipräsident von Neuss, als im Sommer 1973 fast die gesamte Belegschaft rebellierte.

Braeg, damals stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, belegt wie aufgrund von Radikalität und Entschlossenheit einerseits, aber auch von Solidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter diverser Nationalitäten anderseits, diese ihre Forderungen weitgehend durchsetzen konnten. Von großem Interesse ist, dass es sich bei den Betroffenen wie Beteiligten hauptsächlich um ausländische Kräfte, insbesondere uns Frauen handelte. Selbst die vom Autozulieferer versuchte Verlagerung der Betriebsstätten konnte letztlich verhindert werden und auch das gerichtliche Nachspiel wurde gewonnen.

Ebenso analysiert wird die Frage "Wie organisiert man wilde Streiks?", denn die Gewerkschaften legitimierten die Pierburger Konfrontation erst im Nachhinein. Teilweise spielt die IG-Metall eine üble Rolle. Reflektiert wird unter anderem auch, was das immense Engagement etwa eines männlichen Betriebsrates für Privatleben und Beziehung bedeutet.

F. S.

*

"Romantik" des Reisens*

von Joseph Roth (gestorben 1939)

* Frankfurter Zeitung, 6. Juni 1926

Die Freude, die einer vor einer Reise empfinden mag, ist immer geringer als der Ärger, die sie schließlich verursacht. Nichts ärgerlicher als ein riesiger Bahnhof, der aussieht wie ein Kloster und vor dessen Eingang ich immer einen Moment überlege, ob ich nicht doch lieber die Schuhe ausziehen soll, statt den Gepäckträger zu rufen. Nichts ärgerlicher als ein eisernes Geländer vor einer vergitterten Kasse. Vor mir schwebt ein Rucksack. Hinter mir stößt mich ein eiserner Stab, der durch die Ösen eines Strohkorbes gezogen ist. Ich muss mich tief bücken, um dem von aller Welt abgeschlossenen Schalterbeamten mein Fahrziel anzugeben. Er hat nur ein einziges offenes Quadrat, durch das er Geld entgegennimmt und Geräusche. (...)

Unverschämt hohe Trittbretter führen zu meinem Kupee. Warum nicht gleich Leitern? Man klettert in den Wagen wie auf einen Dachboden zum Wäschetrocknen. Die Abteile sehen aus wie Zündholzschachteln, die auf einer ihrer Reibflächen stehen. Die Sitze sind so raffiniert gebaut, dass zwischen meinen Knien und denen meines gegenüber sitzenden Mitreisenden kein Platz mehr ist. Wir könnten ein Schachbrett auf unseren Knien aufstellen. Wir können die Augen nicht aufschlagen - wir müssen uns sofort ansehen. (...)

Schaffner wechseln oft, wie Aprilwetter. Sie zeichnen Striche auf die Fahrkarten. Einfache Striche. Dazu müssen sie mich wecken. Diese kunstlosen Striche (aber selbst Löcher) mache ich selbst ebenso gut. Oberschaffner kontrollieren dann die Striche der Schaffner. Von Gepäcknetzen drohen tödlich schwere Koffer, die ihr Gleichgewicht nicht finden. An Grenzen kommen Zollwächter und rauchen meine Zigarren. In den Korridoren hängen Beil und Säge hinter einer Glasscheibe und gemahnen an Unfälle.

Wenn man ankommt, fällt man über Koffer. Wenn man einen im Gepäckwagen hat, muss man eine Stunde warten. Alle Bahnhöfe sind verschwenderisch weit und hoch gebaut. Aber nur durch ganz schmale Pforten kann man ins Freie kommen. Alle Fahrkarten muss man abgeben. Was macht die Eisenbahndirektion mit all diesen alten Pappendeckeln?

Kein Mensch ist schlimmer dran als ein Reisender. Es ist merkwürdig, dass diese mittelalterliche, schikanöse Art des Reisens allen so romantisch vorkommt. Unsere Kleider sind zerstört. Heiße Würstchen und kaltes Bier ruinieren unsere Magen. Wir haben gerötete Augen und fette, schmutzige Hände. Und bei all dem sind wir glücklich! (...)

Im Kino sehe ich manchmal die Salonwagen amerikanischer Millionäre. Sie diktieren Sekretärinnen in die Schreibmaschine. Sie sitzen in Wannen und baden, während sie fahren. Ein Neger frottiert sie. Eine Köchin bereitet ihnen Leibspeisen zu. Manche fahren in Salonautomobilen, sie sind nicht einmal von Schienen abhängig. Manche Fliegen in Aeroplanen, kapitalistische Vögel. All das könnten wir auch verlangen. Die Fahrkarten sind teuer genug. Wir müssten nicht auch noch Kinoplätze bezahlen.

Unsere Fahrzeuge, die sogenannten Verkehrsmittel, sind weit hinter unserer Zeit zurück. Sie stehen in keinem Verhältnis zu unserem Stolz auf die "Errungenschaften" und zur Verachtung, die wir für die Postkutschen haben. Die Eisenbahnabteile sind den Postkutschen ähnlicher, als die Eisenbahnbehörden glauben. Im Zeitalter des Radios knipst man noch Löcher in Pappendeckel! Die Zeitgenossen des lenkbaren Luftballons schleppen schwere Koffer! Wir erwägen schon Reisen zum Mond. Wir wollen nächstens den Mars besuchen. Wir haben die Relativitätstheorie gefunden. Aber weil wir sie nicht verstehen, haben wir doch noch keine Veranlassung, auf Hühnersteigen zu schlafen, wenn wir Betten bezahlen.

Die modernen Aeroplane sind schon komfortabler als die Eisenbahnen. Wenn ich Aphorismen machen wollte - ich mache keine -, würde ich sagen: Es ist bequemer, von einem Aeroplan abzustürzen, als mit der Eisenbahn zu landen. Für Zugzusammenstöße gibt es keine Fallschirme. Auch Schwimmgürtel suche ich vergebens auf Lokomotiven. (...)

Mit achtzig Kilometer Geschwindigkeit in der Stunde ist man immer noch langsamer als die Zeit. Die Zeit macht hunderttausend Kilometer in der Sekunde. Während ich im fahrenden Zug sitze, laufe ich ihm weit voraus. Das ist der Sinn der Relativitätstheorie. (...) Meine Photographie kann ich in einer Sekunde telegraphisch übermitteln. Mich selbst übermittle ich erst in zwölf Stunden. Wenn ich angekommen bin, sehe ich mir gar nicht mehr ähnlich. Man kann sich nicht im Zug rasieren.

In der dritten Klasse sitzt man auf Holzpritschen, wie in Kerkerzellen. Wenn einer die Lampe auslöscht, müssen alle schlafen. Zeitungen kann man nicht lesen, weil es finster ist. Wenn das Licht brennt, zittern die Zeilen des Leitartikels. Nur aus Verzweiflung hält man das Feuilleton straff über dem Knie. - Wenn man den Kopf zum Fenster hinausstreckt, hat man ihn verloren. Er liegt in einem Brunnen. Wenn man sich gegen eine Tür lehnt, fliegt man hinaus wie eine Orangenschale. Dabei ist das Hinauswerfen harter Gegenstände verboten. (...)

Jedes "Übertreten der Vorschriften wird geahndet". Gepäckdiebe kann man "zur Anzeige bringen". Sie sind um keine Preis der Welt dazu zu bringen. Wer Angaben macht, die zur Eruierung des Diebes führen, erhält eine Belohnung. Aber wer es einmal versucht hat, weiß wie schwer es ist, von der Eisenbahn Belohnungen zu erhalten. Im Gegenteil: Man muss oft "nachzahlen". Man bekommt sogar Quittungen. Man kann sie vor den Spiegel in der Toilette stecken. Er ist ohnehin blind.

Das Abspringen ist verboten. Das Abspringen nur Verbrechern gestattet. Anständige Menschen kriegen die Tür gar nicht auf, es sei denn, dass sie sich gegen sie während der Fahrt lehnen. Kinder sind an der Leine zu halten. Hunde dürfen nicht in den Wagen genommen werden. Aber für redselige Reisende sind keine Maulkörbe vorgeschrieben. (...)

Es gibt Luxuszüge, D-Züge, Schnellzüge, Personenzüge, verschiedene Taxen, verschiedene Klassen, Vorschriften Hemmungen, Verbote. All das empfindet man "romantisch".

Dennoch ziehe ich es vor, in einem D-Zug erster Klasse nach Monte Carlo zu fahren, als zu Fuß eine Steuererklärung auszufüllen...

*

Die Verlockungen des Terrains oder: Streifzüge der Streifzüge*

von Franz Schandl



I.

Mal was anderes. Wir gehen raus.

Das Schreiben ersetzt allzu oft das Handeln. Jenes kann zu einer Sucht werden, indem es von einem wichtigen Ausdrucksmittel zur zentralen, ja fast ausschließlichen Aufgabe des Kritikers aufsteigt. Schreiben heißt nicht unbedingt leben, schon gar nicht erleben. Vor allem der kritische Intellektuelle neigt dazu, hauptsächlich mit seinesgleichen zu verkehren und seinesgleichen zu suchen. Das ist ihm individuell gar nicht zu verübeln, es fragt sich nur, ob es gescheit ist, ob eins damit nicht seinen Horizont einengt, indem a priori einiges ausgeschlossen wird.

Kritiker lieben die Zeitachse, Geschichte ist die ihnen anverwandte Wissenschaft. Was sie vernachlässigen, ist die Geographie. Sie erscheint ihnen als ein bloßes Nebeneinander von Orten, und da will eins sich, weil es ja kann, doch zumindest seinen aussuchen oder umgekehrt, die ihm unangenehmen meiden. Lieber als reell den Raum zu durchstreifen, durchzieht eins virtuell die Zeit.



II.

Streifzüge der Streifzüge stehen also auf dem Programm. "Unter den verschiedenen situationistischen Verfahrensweisen lässt sich das Umherschweifen als eine Technik des hastigen Passierens verschiedenartiger Stimmungsfelder definieren. Das Konzept des Umherschweifens ist unlösbar verbunden mit der Erkundung psychogeographischer Auswirkungen und der Affirmation eines konstruktiv-spielerischen Verhaltens. Es steht in jeder Hinsicht im Gegensatz zu den klassischen Begriffen der Reise und des Spaziergangs." (Guy Debord präsentiert Potlatch 1954-1957, Berlin 2002, S. 332) Eins gibt sich den "Verlockungen des Terrains" hin, "vom Standpunkt des Umherschweifens besitzen die Städte ein psychogeographisches Bodenprofil mit konstanten Strömungen, Fixpunkten und Strudeln" (ebenda).

Umherschweifen, "derive", nannten die Lettristen, die späteren Situationisten, ihre Streifzüge durch Paris, Streifzüge nennen sie die Streifzüge durch Wien. Es geht darum, bewusst wie experimentell, neue Pfade zu betreten. Im Mikrokosmos räumlicher Weltdurchschreitungen soll Terrain für weitgehende Überlegungen und Handlungen gefunden werden. "Die Psychogeographie macht sich also anheischig, die genauen Gesetze und Auswirkungen der geographischen Umwelt zu studieren, gleich ob diese bewusst gestaltet ist oder nicht, sowie ihren direkten Einfluss auf das psychische Verhalten der Individuen." (S. 299) Es geht um präzise Beobachtungen, die festgehalten und analysiert werden sollen. Um eine genaue Anschauung von Räumen und ihren Dimensionen. Gegenwart und Zukunft gehen vor der Vergangenheit. Die offene Zeit ist gewichtiger als die (ab)geschlossene.

Aufgebrochen werden soll auch die Vergangenheitsfixiertheit, die eine doppelte Trauer darstellt; einmal betrauert sie verpasste Gelegenheiten, das andere Mal ehedem (gegen sie oder auch von ihr) durchgesetzte Ungeheuerlichkeiten. Das Starren auf das Gewesene lähmt die Kritik mehr, als sie diese beflügelt. Sie verwechselt ständig Perspektive mit Retrospektive. Das Vergangene wird nicht als Aspekt von Gegenwart und Zukunft wahrgenommen, jenes tritt vielmehr auf als historische Beladenheit, als Beschlagnahme ad infinitum. Was der übrigen Gesellschaft zu Recht an Geschichtsvergessenheit vorgeworfen wird, kompensiert und zelebriert sich geradezu als manische Geschichtsversessenheit.

"Was alles nicht sein darf" ist allerdings kein guter Antrieb einer kritischen Bewegung, sondern eine Bremse. Das "Nie wieder!" tendiert zu einem "Nie" und meint im Resultat mehr sich selbst als das zu Bekämpfende. Das Negative verrät sich als unsympathischer Attentismus der Form. Zweifellos, eins entgeht mehr den Tücken des Lebens, je mehr es davon liegen lässt. Aber das kann wohl kaum Ziel sein.


III.

Wir wissen nicht, welche Möglichkeiten heute vorhanden sind, doch wir glauben zu wissen, dass die, die wir nützen, nicht die einzigen sein können. Daher begeben wir uns auf die Suche. Wir können uns verlaufen, aber wenn wir stehen bleiben, wissen wir nicht einmal dies. Formal handelt es sich bei den Streifzügen um nichtteilnehmende Beobachtungen, die sich aber der Teilnahme und des Beobachtet-Werdens nicht gänzlich entziehen können und auch nicht sollen. Die Streifzüge dienen aber keinem agitatorischen Zweck. Sollte sich irgendwo Zuspruch und Unterstützung ergeben, dann freut das, wir sind jedoch auf keiner Werbetour. Der Streifzug ist kein Feldzug.

Gegenstand der Betrachtung sind Erzählungen und Anekdoten ebenso wie Baulichkeiten und Werbeflächen, Geschäfte und Strassen, vor allem aber die Verhältnisse von Menschen in ihrer spezifischen Umwelt. Grad und Dichte der Weltdurchdringung durch den Wert soll an seinen Objekten rezipiert werden, ganz anschaulich gilt es, die Stimmungen der bürgerlichen Gemüter zu eruieren. Aber auch die Möglichkeiten der Entziehung und das Sperrige will studiert sein. Inwiefern jenes kritisch ist oder kritisch werden kann bzw. nicht über Renitenz und Ressentiment hinausreicht, ist jeweils zu sondieren.


IV.

Zu erstellen ist eine Art Typologie der Streifzüge, die freilich ständig den Anforderungen, Erfahrungen und Erkenntnissen anzupassen ist. Auf jeden Fall gilt es loszugehen. Bei den Streifzügen unterscheiden wir das Passieren und das Verweilen (inbegriffen die Pausen). Streifzüge gestalten sich letztlich situationsbedingt. Es soll keine fixen Vorgaben geben, was wiederum heißt: es gibt welche und auch keine. Eins kann folgendes auseinanderhalten:

• Ausgangspunkt und Endpunkt sind räumlich getrennt, weiters ist zu unterscheiden, ob der Endpunkt bestimmt ist oder sich aus anderen Faktoren ergibt oder ergeben darf.

• Ausgangs- und Endpunkt fallen in eins, also ein zurückkehrender Rundgang

• Ausgangs- und Endpunkt sind mit dem Raum identisch, z.B. die Belagerung eines bestimmten Ortes (Bahnhof, Geschäftsviertel, Grätzel etc.-).

Es ist zu unterscheiden, ob Streifzüge vorbereitet werden (mit Plänen, Beschreibungen, Büchern und Artikel über diverse Räume) oder ob man sich relativ unvorbereitet in den Raum begibt. Beides hat Vor- und Nachteile. Das Moment der positiven wie negativen Überraschung ist bei der weniger vorbereiteten Variante eher gegeben. Was da an Sinnlichkeit gewonnen wird, geht an Vorkenntnis verloren. Es ist wohl jeweils eine adäquate Mischform zu finden, die sich nicht der Beliebigkeit überantwortet, aber auch nicht nach einem sturen Streben sich Aufgaben setzt, die zu bewältigen wären. Es gilt kein Plansoll zu erfüllen.

Gewöhnlich richten sich die Streifzüge im Alltag der Woche (wobei das Wochenende sowieso zusehends verschwindet) ein, es können aber auch auf Ereignisse bezogene Streifzüge stattfinden, die sich an Aufmärschen, Streiks, Konzerten, Fußballmatches, Begräbnissen, Veranstaltungen unterschiedlichster Natur orientieren.

Streifzüge durch Wien können sich gestalten als Achsenzüge (eine Dirittissima etwa von Nordost nach Südwest), als Grätzelzüge (vom Mexikoplatz über Bacherplatz und Europaplatz zum Elterleinplatz), als Geschäftszüge, als Geleisezüge (von der Nordbahn zur Westbahn), als Winkel- oder Würfelzüge (dreimal rechts, zweimal links, vier Gassen geradeaus, einmal rechts, dreimal links, etc.-), als Industriezüge, als Vorstadtzüge, als Kommandozüge (irgendjemand darf auf bestimmte Zeit unwidersprochen die Richtung vorgeben). Und so weiter und so fort. Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Der spielerische Variantenreichtum ist äußerst wichtig, ein Grundzug des Streifzugs. Das einfache Sich-treiben-Lassen ist dabei ebenso möglich wie die strikte Vorgabe einer Route. Samt Abweichungen von dieser und jenem.


V.

Streifzüge haben aber nichts Prozessives an sich. Wir treten nicht auf, wir treten ein. Uns soll etwas auffallen, nicht wir wollen auffallen. (Ausnahmsweise ist freilich wieder alles möglich.) Wir vertreiben uns hier weder die Zeit noch den Raum, sondern versuchen in letzteren einzudringen, nicht aber um primär in ihm aufzugehen, sondern um seine Funktionsweise zu erkunden. Auffälligkeiten werden angesprochen, beredet und notiert.

Vor allem sollen die Teilnehmer der Streifzüge ins ungedrängte Reden kommen, eben weil das enge Korsett der Sitzung, die Tagesordnungspunkte und die dort notwendige Disziplin aufgesprengt sind. Es kann passieren, wozu sonst wenig Zeit ist. Diese soll durch die Ausweitung der Tätigkeit im Raum zurückgeholt werden.

Das Irgendwo-hängen-Bleiben ist Wunsch und Ärgernis in einem. Natürlich ist es hanebüchen zu sagen, Zeit spielt keine Rolle. So sollte zumindest das Kontinuum der Zeit nur für den Streifzug an sich (z.B. ein Tag) vorgegeben sein, nicht jedoch die einzelnen Proportionierungen. Hier sollte Dauer vor Zeit, Hängen vor Drängen gehen.


VI.

Streifzüge sind praktische Übungen der Gesellschaftskritik. Sie sollen den Horizont erweitern, indem wir ihn durchschreiten. Der Schreibtisch wird zeitweilig, aber bewusst verlassen, ohne sich aber in die herkömmliche Praxis (Sitzungen, Informationsstände, Diskussionsveranstaltungen, Demonstrationen) zu begeben. It's a venture. Ein Experiment, das, sollte es im einzelnen auch scheitern, uns zumindest um einige Herumhirschereien reicher gemacht hat.

Transvolution versteht sich jedenfalls nicht als bloß literarische, sondern als eine wirkliche, eine, die die Welt umwälzen will, nicht bloß eine, die einen Beitrag zu ihren Deutungen leistet. "Was strebt, unwirklich zu bleiben, ist das Geschwätz." (Debord, S. 305) Nicht nur deswegen, aber auch daher gehen wir auf Walz.

* Das Manuskript stammt aus dem Jahr 2004

*

2000 Zeichen abwärts

Un-Orte der Bewegung

von Lorenz Glatz

Ich habe eine Luftaufnahme eines Highway-Dreiecks gesehen, neben dem sich idyllische Wohnparks mit gepflegten Familienhäusern auf großen Grundstücken mit getrimmtem Rasen erstrecken. Dort erholt man sich, ruht aus für das, wozu man über die Highways muss. Sonst ist dort nicht viel vorgesehen. Für alles andere, die Arbeit, die Schule, den Kurs, den Verein, das Einkaufen, das Vergnügen, Besuche, für den Urlaub muss man Autofahren, und das nicht zu knapp. So ist es vielfach auch bei uns, in Amerika nur schon um gut zwanzig Jahre und im Durchschnitt viele Meilen länger.

Ich bin ein paar solche Strecken (kurze bloß) auf großen Highways mit dem Rad gefahren. Die Bündelung von Stress, Lärm und schlechter Luft ist unwirtlich und schwer auszuhalten. Derlei Bewegung ist nicht fürs Radfahren, fürs Gehen natürlich schon gar nicht, sondern für lärmisolierte Fahrkabinen mit air conditioning, Freisprechanlage, Radio und Musik, eventuell ein Gespräch gedacht. Man durchquert ein Außen, mit dem eins keinen Kontakt verspürt, von ihm so wenig wie möglich hört und riecht und nur mit Tunnelblick auf die Fahrbahn sieht.

Die Indianer, die, so wird erzählt, ihre Busreise nach kurzem unterbrochen haben, "damit die Seele nachkommt", sind hier und wohl auch sonstwo in den "entwickelten Ländern" ausgestorben. Die Seele reist nicht mehr, sie ist in einem Cocon versponnen, aus dem sie unberührt in die gleiche Art Welt entlassen werden möchte wie die, in der sie vorher war und die sie im Reisen nie verlassen hat. Das Dazwischen wird nicht wirklich wahrgenommen, man knüpft an das an, was vor dem und im Gehäuse war und mit der Bewegung und ihrem Ort fast nichts zu tun hat.

Was z.B. Europas Autobahnen angeht, so werden sie als Unwirtlichkeit und Öde nach Möglichkeit von den Wohngegenden mit Mauern abgeschirmt, vom Sehen, Hören, Riechen, so gut es geht, von der Umwelt abgeschlossen, als Orte aufgezwungener Bewegung aus dem Leben weggedrängt. Solche Orte sind hinter sich zu bringen, ihr Suchtwert ist das Rasen, ihre Entwicklung die Beschleunigung.

L.G.

*

Bewegungsmelder

von Lukas Hengl

Ich lebe in einem Wohnhaus in einer ruhigen Gasse Wiens. Am unteren Ende des Stiegenhauses ist ein Bewegungsmelder angebracht. Rot blinkend gibt er sich durch die verglaste Eingangstüre schon von weitem zu erkennen. Dort wacht er über das Haus. Ein Schritt zu nahe, es macht Klack, die zuvor rot blinkende Diode leuchtet kurz grün auf, und Sekundenbruchteile später schaltet sich eine Lampe über der Türe, die einer Notausgangsleuchte gleicht, ein.

Immer wieder erforsche ich jenen Millimeter zuviel, jenen "point of no return", bei dem der Bewegungsmelder mich messerscharf und unbestechlich genau registriert. All meine Studien haben gezeigt, dass der Melder vollkommen fehlerlos arbeitet. Folglich gibt es für mich keine Möglichkeit, das Haus in Dunkelheit zu betreten oder zu verlassen, außer ich würde auf den Bewegungsmelder von weitem schießen.

Der kleine grün blinkende Kasten, der sich mittlerweile über mir befindet und kurz zuvor das Hof- und Ganglicht entfachte, ist das einzige, was mich je vollständig registriert hat: Ohne jegliche Selbstbefangenheit vermag dieses kleine feine Gerät mich vollkommen, zur Gänze zu erfassen. Unfehlbar erkennt es bewegte Materie und schaltet, über jeden Zweifel erhaben, das Licht an.

Seit geraumer Zeit stehe ich nun im mittlerweile wieder pechschwarzen Flur und starre auf die rot blinkende Diode. Der Wiener Gangmief aus Schweinsbratensaft, Staub und kalten Wänden steigt mir in die Nase, meine Stirne ist schweißnass. Die kleinste Regung würde mich und das gesamte Stiegenhaus wieder in grelles Licht tauchen - ich widerstehe ihr. Angstvoll höre ich in den Hof hinein, selbst eine vorbeihuschende Katze könnte mich aus diesem sonderbaren Zustand, in den ich unversehens geraten bin, stoßen. Doch unter keinen Umständen möchte ich daraus befreit werden. Der Bewegungsmelder beobachtet mich indes mit dem eisernen Blick eines Zen-Meisters, sein Stock ist das Licht.

In mir beginnt sich etwas zu regen, eine Bewegung, die über den Kasten droben erhaben ist, die aber seine Präsenz provoziert. Schlagartig wird mir bewusst, dass all mein bisheriges, nach außen gerichtetes Streben nach Glück oder dem Fehlen von Unwohlsein, diese Innenschau verhindern sollte. Ich fühle mich verlassen, einsam, klein und nutzlos; das Schwert der Erkenntnis schneidet durch meinen Verstand, die große Blase der Vernunft zerspringt und lässt ein keuchendes, schweißgebadetes Tier zurück. Es macht Klack: eine alte Frau keucht gebückt und in sich vergraben, kurz nur aufblickend, in den Lift. Ich versuche diese Prüfung zu bestehen und verharre bewegungslos, bis es wieder dunkel wird. Zurück in der Schwärze fixiere ich erneut den rot blinkenden Blick des Meisters. Mittlerweile schaffe ich es nicht einmal mehr zu blinzeln, denn selbst das könnte der überaus akkurate Apparat erfassen. Wieder überkommt mich meine Einsamkeit und Irrelevanz.

Erst gefühlte Stunden später erkenne ich, dass die Konfrontation mit Problemen Lösungen aus ihnen macht, und beginne, mich in der Dunkelheit zu bewegen. Von nun an werde ich wieder selbst das Licht andrehen müssen.

*

Home Stories

Gleichklang?


Eine Sprechblase voller Fragezeichen braut sich über meinem Kopf zusammen angesichts der Trends, die sich zwischen Debatten über Po-Grapschen und sexuelle Belästigung einerseits und Kontaktarmut andererseits auftun. Nicht nur Wellness-Massagen aller Art, auch Free Hugs und Kuschelpartys werden als Rezept gegen fehlendes Bewegt-Sein und Berührt-Werden gepriesen. Während die Hugs kostenlos sind, muss alles andere selbstverständlich berappt werden. Genauso wie die Benutzung der zahllosen Kontaktplattformen im Internet. Ein lukratives Geschäft in wirtschaftlich miesen Zeiten. - Aber ist an diesen angebotenen Alternativen nicht grundsätzlich etwas verkehrt? Wird da nicht das Pferd von hinten aufgezäumt? Geht es nicht zuerst um das Betroffen-Sein, das Bewegt-Sein, um den Gleichklang. Und dann um die Zuwendung? Bei den angebotenen Alternativen verkürzt sich alles auf die Zuwendung, auf irgendeine Zuwendung, auf eingekaufte Zuwendung. Wären da nicht Glückspillen aus der Apotheke der einfachere Weg? Fehlt da nicht das Entscheidende? Das einmalige Erlebnis der Anziehung, der Inspiration, der Sehnsucht, der Hingabe?

www.gleichklang.de heißt eine viel beworbene "alternative Kennenlern-Plattform für naturnahe, umweltbewegte, tierliebe und sozialorientierte Menschen". Alternativ scheint sich hier auf den sogenannten "Lebensstil" der Kunden zu beziehen. Die Art der Partnervermittlung ist jedoch nicht anders als bei anderen Plattformen, sondern höchstens noch "berechnender". Den Zufall, die Überraschung scheinen nämlich heute alle zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. "Es werden mithilfe eines wissenschaftlichen Fragebogens und eines Persönlichkeitstests relevante Informationen zum Lebensstil und zur Persönlichkeit, aber auch zum Äußeren, erhoben. Auf dieser Grundlage können dann mithilfe eines psychologisch-mathematischen Vermittlungsalgorithmus optimale Partnervorschläge und Freundschaftsvorschläge unterbreitet werden." Es geht dabei um eine Ermittlung "mit scharfen Einschluss- und Ausschlusskriterien, Ähnlichkeitsmaßen und einer Umsetzung der sogenannten Fuzzi-Logik". - Alles läuft generalstabsmäßig geplant ab: Sage mir deine Präferenzen - vegan oder vegetarisch, religiös/spirituell oder a-religiös, deine sexuelle Orientierung (erstaunlich wie viele es da gibt), deine sexuellen Funktionsstörungen, deine Behinderungen und Erkrankungen, deine besonderen körperlichen Merkmale (z.B. dick) und vieles andere - und ich sag dir, wer zu dir passt.

Unter Gleichklang verstehe ich das genaue Gegenteil. Mein Bewegt-Sein und meine Begegnungen entspinnen sich jenseits jeglicher Kategorien und Kriterien, jenseits aller Weltanschauung, ja, jenseits des Verstehens! Gleichklang ist, etwas tief Bewegendes zu erleben, ohne es erklären zu können. Wenn ich einem Menschen begegne, einen Ort erlebe, ein Lied höre, eine Geschichte lese, ein Bild betrachte, kann es passieren, dass die Zeit stillzustehen scheint. Dann, wenn mein Gegenüber mich zum Klingen bringt, weil es auf denselben Ton gestimmt ist, und wir uns gegenseitig auf den Grund der Seele schauen.

Patrick Leigh Fermor, der 1933 als 18-Jähriger zu Fuß von Amsterdam nach Konstantinopel wanderte, beschreibt das in seinem Buch "Mani" so wunderbar (Frankfurt/M. 2012, erstmals 1958, S. 187, aus dem Englischen von M. Allié und G. Kempf-Allié):

"Langsam bricht der Abend über diese letzten Reste des Mauerwerks herein, die Zikaden werden leiser und verstummen, spiegelglatt schimmert das Meer unter uns, es ist gespenstisch still: eine vollkommen andere Welt. Ein tiefer Frieden herrscht in diesen Ruinen altgriechischer Tempel. Wenn man sich als Reisender an eines der gestürzten Kapitelle lehnt und die Stunden verstreichen lässt, verschwinden alle Ängste und quälenden Gedanken... Fast alles, was geschehen ist, schwindet in einem Reich der Schatten und des Trivialen, und mühelos tritt an dessen Stelle etwas Strahlendes, Einfaches, Ruhiges, das alle Knoten löst und alle Rätsel aufklärt und uns gütig und ohne alles Drängen zuzuflüstern scheint, dass das ganze Leben, wenn man ihm nur eine Chance dazu gäbe, ohne Zwang, ohne Behinderung, ohne die Quälereien des Verstands unendlich glücklich sein könnte." - Ich kenne dieses unbändige Gefühl, wenn das Glück so selbstverständlich ist, als ob es nichts anderes gäbe.

von Maria Wölflingseder


Laufen

Wenn ich durch den Wald laufe, laufe ich durch mein Leben. Es ist tatsächlich ein Erlebe, bei dem ich die Geschwindigkeit ebenso bestimme wie die Entfernung. Es geht nicht nur um den Streifzug durch die Gegend, es ist ein Streifzug durch mich. Ganz lebendig wird mir und ich spüre mich als Teil der Welt. Leibhaftig teilhaftig. Und das scheint nur zu bekommen, denn als Theoretiker im geschätzten Elfenbeinturm verstehe ich mich auch gerne als Gegenteil. Aber das ist bloß eine Seite, ob meine dunkle oder helle sei dahingestellt.

Beim Gehen oder Spazieren ist es der Charme der Nähe, der einen motiviert. Beim Joggen ist es der Appetit auf eine wenn auch nicht übermäßige Distanz. Nähe und Ferne reichen sich im Laufen die Hand oder, besser eigentlich, sie geben sich die Beine. Denn die sind als die flinken Transporteure die aktivsten Körperteile. So ist das Joggen eine Lust am Entfernen, aber anders als etwa beim Reisen an einer nur mäßigen Weite. Eine Strecke, die als Geschenk wahr- und angenommen wird.

Wichtig ist, dass meine Anstrengung meine wird. Sie erscheint mir nicht aufgezwungen, sondern - so abgeschmackt das Wort im bürgerlichen Zeitalter auch klingt - freiwillig. Wenn ich will, drossle ich das Tempo und beginne zu schlendern, bleibe stehen oder setze mich ins Gras. Und wenn mir andersrum danach ist, spurte ich los oder springe über Gräben oder hüpfe blöd herum. Und wenn ich niederfalle, was selten ist, falle ich weich. Ich rieche und höre. Und meine Augen blicken, vor allem der linke Argus, der mit den Null Dioptrien. Er späht nach Pilzen und Beeren. Rotkappen. Parasol. Eierschwammerl. Heidel. Him. Brom.

Ich verlaufe mich auch ganz gern. Vor allem in den Wäldern verliert man Richtung und Ziel und findet sich plötzlich an Punkten wieder, die man weder angestrebt hat noch erwartet hätte. Es ist eine sich selbst setzende Magie. So wird der Wald zum Märchenwald, zu einem von mir erschaffenen Labyrinth der Bäume und Wege, der Sträucher und Hecken. Manche Ecken kenne ich inzwischen so gut, dass ich mich gleich unheimlich heimlich fühle, gerate ich in ihre Nähe. Sie warten zwar nicht auf mich, aber wenn ich es mir einbilde, wird es wohl so sein. Ich erwarte es jedenfalls kaum. Im Laufen habe ich Gegenden kennen gelernt, die ich sonst (auch nicht durch das Wandern und schon gar nicht durch das Fahren) nie kennen gelernt hätte. Und was mir da nicht alles einfällt, aber teilweise auch wieder ausfällt, weil ich es mir nicht merke und nicht immer Papier und Stift eingesteckt sind.

Es gibt Räume, die laufe ich leichter als andere. Das liegt an einer mentalen Strömung, deren Entstehung schwer zu beschreiben ist. Es ist eine situative Schöpfung meiner selbst. Erfahrungen weiten sich aus und werden gleichzeitig inniger. Selten bin ich so konzentriert wie beim Laufen, aber auch selten bin ich so zerstreut. Alles wird dichter und loser, und manchmal kann ich es nicht mehr scheiden. Laufen ist eine Bewegung, deren Zweck in ihr selbst zu sich kommt und außerdem wirkt. Nachher geht's mir jedenfalls besser.

Es macht einen Unterschied, ob man am Laufen gehalten wird oder ob man selbst läuft. Die bürgerliche Gesellschaft hat wenig Leben, aber viel Ablauf zu bieten. Das Kapital ist Gebieter der Existenz, nicht Spender des Daseins. Im Kapitalismus wird viel Leben versäumt. Der Großteil unserer Existenz ist versäumtes Leben. Dieser Gedanke nun, der mich des Öfteren deprimiert, und den ich bloß aushalte, weil ich ihn konsequent verdränge, befällt mich beim Laufen nie. Ähnliches gelingt nur noch beim Koitieren und beim Dinieren. Dort ist sogar gelegentlich die Güte höher, aber im Schnitt ist sie, insbesondere beim Essen, niedriger. Das Laufen fluktuiert weniger und es ist lockerer, weil es auch oder vielleicht sogar insbesondere solo gestaltbar ist. Joggen tue ich am liebsten allein. Man muss sich auf niemanden einlassen, kann sich selbst loslassen. Ich gleite in andere Sphären. Der Himmel streichelt mich dann.

Laufen ist kein Rennen und schon gar kein Wettrennen. Es ist eine umfassende Transposition. Ich laufe mit mir davon und finde mich, ohne mich zu suchen. Je länger ich laufe, desto läufiger werde ich. Es hat was von einer orgiastischen Selbstausschüttung, etwas, das man sich gut tun kann, ohne jemanden zu behelligen. Die Erotik des Laufes ist eine mein er Lebensspenderinnen. Wenn ich einmal einen Tag oder gar mehrere keine Zeit habe, geht mir etwas ab. Und je weniger mir abgeht, desto besser bin ich zu leiden und desto leichter bin ich auszuhalten. So laufe ich häufig. Immer wieder und immer noch. Keine Ahnung, wann ich auslaufe...

Franz Schandl


unterwegs entwegt - und vice versa

Im Zug. Mein Blick streicht über die vorbeiziehende Landschaft. "Vorbeiziehend"... - als Bub hielt ich jedes Mal den Atem an, als sich der Zug unmerklich rückwärts in Bewegung setzte, Fahrt aufnahm und in die Schalterhalle zu krachen drohte. Irgendwann ließ ich mich von den abfahrenden Garnituren am Nebengleis nicht mehr beirren. Fensterplätze blieben aber bevorzugte Wahl, namentlich jene in Fahrtrichtung. In dieser Situierung schiebt sich dem Betrachter vom Horizont her die unbekannte Landschaftsmasse bedächtig näher, gibt sich erkennbare Kontur, zerbricht in Einzeldinge, zerfällt in definierte Details und entzieht sich in ihrer größten Annäherung, rasend zersplitternd jetzt, dem gerade noch gesondert Fassbaren; fegt vorbei, unerkannt, unergründlich.

Inzwischen hab ich den gegenüberliegenden Sitzplatz lieb gewonnen, auf dein mich früher zuweilen unerklärliche Beklemmung überkam. Von hier nimmt der Vorbeizug den entgegen gesetzten Lauf: da platzt etwas ins Gesichtsfeld, wird erfasst, rasch kleiner werdend entflieht es dem Blick; die Trennschärfe schwindet, gemächlich löst es sich im Ganzen, bis es sich im weiten Horizont nahezu vollständig einebnet. (Ob die veränderte Sitzplatzpräferenz mit meinem Alterwerden zu tun haben sollte? Ich verwarf die Überlegung, eitel.)

Beim Fußgang bin ich es, der vorüberzieht, nicht die Umgebung. Und während einem Bahnreisen eine klare Gerichtetheit in Raum und Zeit nahe legen, kann beim Gehen grundsätzlich alles jederzeit anders laufen; vorausgesetzt, Freude beflügelt den leichten Fuß und kein Zweck bindet ihn in geregelte Bahn. Das geschieht drum meist spontan und also meist allein; oft zu zweien, bisweilen zu mehrt; des Tags oder im Vollmondschein, kaum bei Regen; Der Wald ist in Rufweite und er ruft nicht selten. Die Streckenleistung ist dabei nicht berauschend, irgendwo zwischen Wanderung und Spaziergang.

Beim Verlassen der Forstwege stellt sich ein sonderbares Gefühl ein. Denn der Weg kennt noch sein eigenes vor und zurück, verlangt den Fortschritt und bietet ein Ziel. Abseits davon tritt die Zwecklosigkeit des Ausgangs aber deutlicher hervor. Vorn, hinten, links und rechts, jedes woher, wohin und wielange verliert allen äußeren Bezug: Keine Wegmarke, kein Zeitziel, kein Ziel überhaupt; Unmittelbarkeit des Standorts, fünf erfrischte Sinne und die seltene Lust, überrascht zu werden sind wegweisend allein! Jede Richtung, jedes Tempo ist möglich.

Den Eispickel hab ich mit, wenn die allzu vertraute Stimme in mir drinnen eindringlicher frägt Wofür? und mir meine Entrichtetheit verscheucht. Ich pflüge damit schmale Pfade durch den Wald, seine Lichtungen, über Wiesen und lege Aussichtsplätze an, zum schwachen Zwecke der Erlustigung. Des Wildes Tritt verrät, dass den Bewohnern des Waldes die Panoramastrecken ebenfalls zusagen.

Zur Abenddämmerstunde hab ich mich auf der Wiesenrampe eingefunden. Der Ast einer mächtigen Schwarzkiefer birgt sie nicht zur Gänze... Dass es die Erde ist, die sich dreht, nicht der Mond, der aufgeht, beleidigt mein ästhetisches Empfinden (so irr ich mich ganz gern hierin); und doch drehen wir uns rasend schnell, jagen im Hüllentempo um unsern Stern; und der, wer weiß wohin? Und ich lieg da, starre hinunter in diese unerforschliche Schwärze: Regungslos, Einschlüssen gleich im Kristall, flimmern Myriaden solcher Gestirne. Ein welkes Nadelpaar hat sich gelöst. Über mir hör ich, wie es seinen Weg durchs Astwerk nimmt. Dann ist's wieder still. Wie es sein kann?

Severin Heilmann

*

2000 Zeichen abwärts

Am Gürtel - mitten in Wien

Ein Sonntagsspaziergang klärt auf. Auch am Gürtel gibt es ein Nord-Südgefälle. Gleich außerhalb, in der Gegend des Brunnenmarkts, reiht sich auf der einen Seite ein schön renoviertes Bürgerhaus im Stil der vorletzten Jahrhundertwende ans andere, dazwischen immer wieder schicke Neubauten, Galerien, florierende Geschäfte, Restaurants und Kaffeehäuser, türkische, Altwiener und andere; die Straßen sind belebt; gut verdienende junge Menschen ziehen ein, tummeln sich am Bauernmarkt. Sanierung und Aufstieg, der Bürgermeister blickt stolz aus dem Schaukasten seiner Partei. Mitten in Wien hält.

Unlängst war ich südlich davon: ein leeres Geschäft neben dem anderen, der letzte Bäcker hat unlängst zugemacht; noch sind Preistafeln für Brot und Gebäck, Leberkäs und Bier zu sehen, schon auch jede Menge Reklamezettel und ein paar Bierdosen vor der Ladentür, kaputte Jalousien, verstaubte Schaufenster. Kosmetiksalon mit Massage, Nagelstudio, ein ärmliches Handygeschäft, ein schon lang geschlossener Feinkostladen und ein seit einigen Jahren aufgegebenes Gasthaus, durch dessen staubige Fenster man in einen riesigen Saal blickt gähnende Leere. Verwahrloste Häuserfassaden, ein heruntergekommenes Jugendstilhaus, ein formschöner Eingang mit Rundbogen, der Verputz abgebröckelt, das Tor offen, der rechte Flügel zerkratzt, Splitter ragen aus dem Holz, im Hauseingang hängen elektrische Kabel aus den Wänden, die Postkastentüren sind eingedrückt oder fehlen überhaupt, der gekachelte Fußboden übersät mit Prospekten und Zeitungen; hinter der kaputten Hoftür quillt der Abfall aus den Mülltonnen. Hier wohnt und versucht sich über Wasser zu halten, wer sich's "drüben" nicht (mehr) leisten kann. Auch mitten in Wien.

So ist die feine Marktwirtschaft, sie trägt das in sich wie der Berg das Tal, die Wolken den Regen, das Leben den Tod. Bloß: Sie ist keine Naturerscheinung. Sie ist von Menschen gemacht, das lässt hoffen.

H. S.

*

Bildung braucht Gastlichkeit*

Zum Gedenken an Ivan Illich

von Marianne Gronemeyer

* Vortrag, gehalten am 6.11.2012 im "Aktionsradius Wien" in der Reihe "Ausstieg ans dem Hamsterrad"


Den größten Teil dessen, was wir wissen, haben wir alle außerhalb der Schule gelernt. Schüler lernen das meiste ohne ihre Lehrer und häufig trotz dieser. ... Wie man leben kann, lernt jeder außerhalb der Schule. Wir lernen, sprechen, denken, lieben, fühlen, spielen, fluchen, politisieren und arbeiten, ohne dass ein Lehrer einen Anteil daran hätte. Selbst Kinder, die Tag und Nacht unter der Obhut von Lehrern und Erziehern sind, bilden da keine Ausnahme. Ob Waisenkinder, geistig Behinderte oder Lehrersöhne, sie lernen das meiste von dem, was sie lernen, jenseits des für sie geplanten 'Bildungsweges'." Dies schrieb Ivan Illich schon 1971 in seiner Streitschrift "Deschooling Society". - Auf Deutsch erschienen 1972 als "Entschulung der Gesellschaft" (München 4 1995, das Zitat auf S. 52f). Aktuell ist das also nicht, und längst haben sich die Gemüter, die damals weltweit in große Erregung über diese Publikation gerieten, darüber beruhigt. Sie haben es vorgezogen, sie zu vergessen, statt sich mit ihr zu konfrontieren und von ihr ärgern zu lassen. Und heute diskutieren wir über die Schule, als hätte es diesen Text nie gegeben. Ich fahre also noch ein wenig fort, um Sie auf den Geschmack zu bringen: "Die Schule lehrt uns, dass Unterricht Lernen produziere. ... In der Schule lehrt man uns, dass wertvolles Lernen das Ergebnis von Schulbesuch sei ... und dass sich dieser Wert schließlich durch Zensur und Zeugnis messen und nachweisen lasse. Tatsächlich ist Lernen diejenige menschliche Tätigkeit, die am wenigsten der Manipulation durch andere bedarf Das meiste Lernen ist nicht das Ergebnis von Unterweisung. Es ist vielmehr das Ergebnis unbehinderter Interaktion in sinnvoller Umgebung. Die meisten Menschen lernen am besten, wenn sie ,dabei sind'." (ebenda S. 64f)

Hier würde es sich lohnen, innezuhalten und sich in unvoreingenommener Selbstprüfung zu üben. Natürlich müssten wir, sofern wir professionelle Lehrer oder Lehrerinnen sind oder unser Einkommen als Bildungsbürokraten oder Bildungspolitiker verdienen, diese klar und unmissverständlich vorgetragenen Thesen bestreiten, andernfalls ja unsere berufliche Existenz sich ziemlich schildbürgermäßig ausnähme. Wir wären dann Leute, die unter einem ungeheuren Aufwand an Lebenszeit, Lebenskraft und Finanzen andere etwas zu lehren unternähmen, was die längst - und ohne unser Zutun sogar weit besser - können. Lernen nämlich. Wie aber, wenn wir einmal für einen Augenblick unsere verzweifelte Angewiesenheit darauf, uns als sinnvoll beschäftigt zu wähnen, beurlauben würden und uns ganz auf unsere eigene Erfahrung verlassen? Müssten wir uns dann nicht auch eingestehen, dass unser schulisches Bildungsquantum nicht sehr ausschlaggebend dafür war, dass wir und wie wir unser Leben meistern können, oft allerdings sehr ausschlaggebend dafür, dass es zuweilen nicht gemeistert werden kann.


Der offizielle Zweck der Schule

Dass in der Schule nichts gelernt wird, ließe sich notfalls verschmerzen, wenn doch sowieso das Wissenswerte außerhalb der Schule gelernt wird. Es wäre dann schlimmstenfalls kostbare Zeit verplempert worden. Tatsache aber ist, dass die Schule in dem, worin sie die ihr Anvertrauten unterweist, sehr effizient ist. Ihr heimlicher Lehrplan ist durchdringend wirksam. Wir Pädagogen sind nolens volens Agenten des heimlichen Lehrplans, auch wenn es uns gelingen mag, ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen und die offizielle Zweckbestimmung der Schule beim Wort zu nehmen. Der heimliche Lehrplan aber hat für die Bildung verheerende Folgen.

Ich unterstelle also und bin darin gar nicht sehr originell, dass die Schule neben einem offiziellen Lehrplan einen heimlichen verfolgt, einen also, der der Sichtbarkeit und der ins Auge springenden Kenntlichkeit entzogen ist. Offiziell ist die Schule eine Veranstaltung, deren höchstes Bestreben es ist, möglichst viele, im Idealfall alle Mitglieder der Gesellschaft möglichst viel lernen zu lassen, um die Teilhabechancen jedes einzelnen zu mehren und seine oder ihre Lebensaussichten zu verbessern. Das klingt gut und edel und ist einer demokratischen Gesellschaft würdig. Aber natürlich soll auch das Bildungsniveau der Gesamtgesellschaft gehoben werden, um deren Position auf den Weltmarkt zu optimieren und zu festigen. Das klingt nicht mehr ganz so gut und edel, sondern eher vorteilskalkulierend, aber doch immerhin legitim. Und das Zauberwort, das die Bildungsbemühungen adelt, heißt Chancengleichheit.

Der Glaube an das segensreiche Wirken der Schule beruht auf einer Reihe moderner Selbstverständlichkeiten, die uns so in den Kleidern hängen, dass wir gar nicht auf die Idee kommen, sie zu bezweifeln. Die Unbefragtheit dieser Selbstverständlichkeiten, die von Bildungsreform zu Bildungsreform litaneihaft wiederholt und als unerschütterliche Grundannahmen mitgeschleppt werden, machen, dass der heimliche Lehrplan sein Inkognito wahren kann.


Falsche Grundannahmen

Zu diesen Grundannahmen gehört zuallererst die Überzeugung, dass Bildung knapp sei, so knapp, dass sie - leider - nicht für alle reicht und deshalb unerhörte gesellschaftliche Anstrengungen unternommen werden müssen, um den Bildungsvorrat zu mehren, so dass von dem Surplus dann auch die bisher Benachteiligten, die Bildungshabenichtse, etwas abkriegen können. Und diese Prozedur wird als ein Beitrag zur Verbesserung der Chancengleichheit propagiert.

Tatsächlich ist dies ein doppelter Etikettensehwindei. Denn erstens ist Bildung keineswegs knapp, im Gegenteil, sie ist überreichlich vorhanden, man findet sie nicht nur in Museen, Bibliotheken und anderen kulturellen Veranstaltungen, sondern buchstäblich auf der Straße: An jeder Straßenecke, in jeder Kneipe, in jedem Zugabteil, im Fußballstadion, im Theaterfoyer, in Wald, Wiese, Berg und Tal findet sich jemand, der in der Lage ist, mich dies oder das zu lehren, wovon er mehr oder anderes versteht als ich. Man muss nur herausfinden, was das sein könnte und wie die vorhandene Kenntnis zur aufgekeimten Frage kommen kann. Jede Begegnung, auf die man sich einlässt, auch die mit menschengemachten Dingen oder mit den Gebilden der Natur ist prinzipiell bildungsträchtig, solange man die Fähigkeit zu staunen und neugierig zu sein, nicht eingebüßt hat. Genau diese Fähigkeiten werden allerdings in der Schule ziemlich gründlich niedergemacht. Jeder Tag hat nicht nur 24 Stunden, sondern auch Tausende von Gelegenheiten, sich zu bilden, wenn man Augen und Ohren, Nase und Mund aufsperrt. Jeder kann prinzipiell jedes Anderen Lehrer sein. Jede/jeder, und sei er auch arm im Geiste, versteht von irgendetwas mehr als andere und ist also in der Lage, anderen dazu zu verhelfen, sich zu bilden oder bilden zu lassen. Bildung also ist nicht knapp. Knapp ist freilich schulische Bildung, der es vorbehalten ist, zertifiziert zu werden, und die darum allein und exklusiv dazu taugt, mich vor anderen auszuzeichnen und meine gesellschaftlichen Rangansprüche zu beglaubigen.


Etikettenschwindel

Damit sind wir beim zweiten Etikettenschwindel: Es wäre ein Desaster, wenn tatsächlich alle die Chance bekämen, der Weihen der höheren Bildung teilhaftig zu werden und mit dem Abiturzeugnis in der Tasche, die Schule zu verlassen. Denn: "If everybody stands on tiptoe, no-one sees better" sagt Fred Hirsch in seiner Studie über die Social limits to Growth. Wenn alle auf den Zehenspitzen stehen, sieht niemand besser. Will sagen, die Schule muss ganz unbedingt ihre Veranstaltung so einrichten, dass nicht alle in ihr reüssieren können. Das ist ihr Beitrag zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Friedens. Wie sollte man, wenn alle die Chance bekämen, zum Schulerfolg zu gelangen, den Menschen erklären, warum in einer demokratischen Gesellschaft, in der das gleiche Recht für alle gilt, die einen im Dunkeln landen und die andern im Lieht, die einen sich in den schlecht bezahlten und prekären Niederungen der Gesellschaft tummeln und die andern sich in den gehobenen Rängen sonnen. Es ist wahrscheinlich die wichtigste Aufgabe der Schule, mit der verglichen ihr Bildungsauftrag gänzlich unerheblich ist, dafür zu sorgen, dass diese Sortierung ohne Tumult vonstatten geht, weil nämlich die Erfolglosen glauben, dass sie sich ihr Versagen selbst zuzuschreiben haben. Es hat eben nicht zu mehr gereicht.

Entgegen der Doktrin des offiziellen Lehrplans kommt es also ganz und gar nicht darauf an, dass und was in der Schule gelernt wird, sondern lediglich darauf, dass sich alle nach dem Modell der Gauss'schen Normalkurve sortieren lassen. Alle müssen miteinander vergleichbar sein. Und damit das klappt, müssen sich alle an denselben Standards messen lassen. Wollte man ernstlich alle am Schulerfolg teilhaben lassen, dann müsste ja jeder nach seiner Facon selig werden können. Es müssten in der Schule so viele verschiedene Talente und Begabungen zum Zuge kommen, wie es Lernende und Lehrende in ihr gibt.

Wenn sich aber die Schule tatsächlich daranmachen wollte, allen eine Chance zu eröffnen, das ihnen Gemäße zur Erscheinung und zum Leuchten zu bringen und es zu seiner vollen Möglichkeit zu entfalten, dann gäbe es nichts mehr zu zensieren. Denn die Zensur dient ja ausschließlich dazu, die drop-outs zu identifizieren und sie ihrer Selbstachtung zu berauben.


Der heimliche Lehrplan

Auch das eine gut kaschierte Wahrheit über die Schule: Sie ist nicht daran interessiert, an ihren Schülern Könnerschaften zu entdecken und diese für die Bildung aller in Gebrauch zu nehmen, sondern daran, sie bei ihren Unfähigkeiten, Unzulänglichkeiten, bei ihren Schwächen, Mängeln und Fehlern zu behaften, denn nur dann kann sie den Glauben an ihre Unentbehrlichkeit und heilsgeschichtliche Notwendigkeit nähren. Daraus entsteht auch die irrige Vorstellung, dass Menschen zum Lernen nicht gemacht seien und durch sanften Druck oder deutlichen Zwang dazu gebracht werden müssen, es zu wollen, oder - wenn schon nicht zu wollen - es doch wenigstens zu tun. Tatsächlich muss man nur kleine Kinder dabei beobachten, wie sie sich mit nicht ermüdendem Eifer bemühen, diese oder jene selbstgesetzte Aufgabe zu bewältigen, um zu verstehen, dass die Angeödetheit, mit der junge Leute der Lernanforderung begegnen, nicht etwa eine anthropologische Konstante ist, sondern ein von der verfassten Pflichtschule erzielter "Erfolg". Erst wenn die Lernlust den Kindern ausgetrieben wurde, werden sie ja schulreif, reif für Beschulung.

Und noch ein weiteres Element des heimlichen Lehrplans dient der Schule zur Rechtfertigung. Die Annahme nämlich, dass in der Bildung wie andernorts Konkurrenz der entscheidende Motor ist, um die schüttere Lernbegeisterung aufzumöbeln. Die Schule lehrt, dass mein Lernerfolg umso größer ist, je mehr andere ich hinter mir lasse oder drastischer noch, zur Strecke bringe. Schulisches Lernen ist ein Nullsummenspiel, bei dem es nicht darauf ankommt, Einsicht und Erkenntnis zu gewinnen, sondern Sieger zu sein. Siegen wollen erfordert aber eine gänzlich andere Bemühung und Haltung als erkennen wollen. Und tatsächlich sind beim Siegen-Wollen so viel wahrheits- und erkenntniswidrige Motive im Spiel, dass dabei jede Einsicht - außer der in die Spielregeln des Siegens - auf der Strecke bleibt. Kurzum unter Konkurrenzbedingungen hat Bildung keine Chance.

Die Komponenten, mit denen der heimliche Lehrplan ausstaffiert ist, sind damit noch nicht erschöpft. Gänzlich selbstverständlich und also unbezweifelt ist die Praxis, die Lernenden in Rudeln von Gleichaltrigen zusammenzufassen, weil nun glaubt, so das Lernen zu optimieren. Aber wieso soll ich die besten Lernbedingungen dann vorfinden, wenn ich ganz unter Meinesgleichen bleibe. Es ist ja im Gegenteil nicht sehr anregend, wenn lauter Gleichaltrige die gleichen Aufgaben vorgesetzt bekommen und alle an denselben Standards gemessen werden. Solche Vereinheitlichung dient keinesfalls ihrer Bildung, sondern schafft die Möglichkeit, Lernen verfahrensmäßig zu organisieren und die Vergleichbarkeit der Lernenden sicherzustellen.

Und auch das gehört zum schulischen Ritual unverrückbar dazu, dass das Lernen in 45-Minuten-Einheiten zerhackt wird. Wehe, wenn sich wider alles Erwarten doch ein Interesse am Gegenstand regt, wenn die Schüler sich verfangen und in eine Sache mit Leib und Seele hineingeraten. Die Schulglocke sorgt dafür, dass sie schnell wieder abgekühlt werden. Enthusiasmus interruptus. Ein Schultag verlangt den Schülern ab, dass sie unablässig von einem Gegenstand zum andern hetzen, bei nichts verweilen, nichts studieren und nichts lieben lernen können. Wie Wendehälse müssen sie ihre Aufmerksamkeit von einem Belang zum andern jagen. Die vier Tugenden, die Erich Fromm als Vorbedingung einer jeden Fähigkeit benennt, nämlich dass sie mit Konzentration, Disziplin, Geduld und letztem Ernst erlernt werde, wird Schülern wie Lehrern in der Schule systematisch abtrainiert.


Nicht dürfen, was man soll

All das ist fatal und macht die Schule zu einem unwirtlichen, ungastlichen Ort, an dem die Möglichkeit, sich zu bilden, der Möglichkeit, entweder Erfolge einzuheimsen oder zu versagen, geopfert wird. Verhängnisvoll aber ist, dass die Schule - und darin ist sie das genaue Spiegelbild unserer Gesellschaft, nicht etwa deren Korrektiv oder Kontrapunkt, die in ihr Tätigen in den Irrsinn treibt. Ich meine damit, dass die Schulinsassen fortwährend mit paradoxen Forderungen konfrontiert werden. Forderungen, die hohe Autorität beanspruchen und darauf pochen, erfüllt zu werden, die aber einander so grundsätzlich widersprechen, dass man ihnen, wie man sich auch dreht und wendet, nicht gleichzeitig gerecht werden kann. In der Psychologie hat sich für diese Situation der Begriff "double bind" eingebürgert. Die Schule ist ein Ort, in dem die Menschen nicht dürfen, was sie sollen. Nicht zu dürfen, was man gleichzeitig soll, das ist in der Tat eine Situation auf die man nur in dreierlei Weise reagieren kann. Man kann an ihr krank werden, man kann gewalttätig werden oder sich in völlige Gleichgültigkeit flüchten.

Es gab einmal einen Film mit James Dean in der Hauptrolle, der die junge Generation mit dem Titel:" Denn sie wissen nicht, was sie tun", porträtierte.

In Anlehnung an diesen Titel nun also die Feststellung: Denn sie dürfen nicht, sie sollen. Wenn ich die Gesellschaft, in der ich lebe, jemandem, der fremd ist hierzulande, in wenigen Worten beschreiben sollte, um ihre Spielregeln offen zu legen, dann würde ich sie vielleicht mir diesem Satz charakterisieren. Sie ist eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder mit der Forderung konfrontiert, dass sie sollen, was sie zugleich nicht dürfen. Das ist eine heillose und beängstigende Lage, die die Lehrenden und Lernenden durchaus miteinander teilen. Ich will sie aber zunächst aus der Perspektive der Lernenden, in Augenschein nehmen.

• Sie sollen lernen, sich sozial und rücksichtsvoll, kooperativ und solidarisch zu benehmen, aber belohnt werden sie dafür, dass sie andere in der härter werdenden Konkurrenz des Ausbildungsalltags zur Strecke bringen. Und tatsächlich sehe ich die Schüler und Studenten damit beschäftigt, wie sie, sich in den höheren Kopfrechnungsarten übend, auf Kommastellen genau, ihre Position in den heimlichen Ranglisten der Konkurrenten kalkulieren. Diese Rechenübungen scheinen mehr dazu angetan, ihre Stirn in Falten zu legen, als irgendein noch so relevanter Inhalt es je vermöchte. Der Lernerfolg misst sich nicht nach dem, was ihnen aufgegangen ist, oder was sie beunruhigt oder zum Zweifel ermutigt hat, was Fragen hat entstehen lassen, die sie unbedingt weiterverfolgen wollen, dem an eben diesen bedrohlich schwankenden Bewegungen auf der Vergleichsskala, die ihnen jeden Mitbewerber um die begehrten Spitzenpositionen brenzlig werden lassen.

• Die Lernenden sollen lernen, aufmerksann und bei der Sache zu sein, tatsächlich aber ist der ganze konsumistische Betrieb, an dem ja das vergötzte industrielle Wachstum hängt, darauf angesetzt, sie zu zerstreuen und mit Nebensachen zu beschäftigen. Und die Frage, ob nicht die Lehrpläne längst den Supermärkten der Angebote gleichen, in deren Regale man greifen muss, um zu kriegen, was man zu brauchen glaubt, ist allzu berechtigt. Wobei unübersehbar ist, dass man nur noch brauchen darf, was im Angebot ist.

• Sie sollen lernen, Verantwortung zu übernehmen, aber sie leben in einer Welt, in der es für sie nichts zu verantworten gibt, weil alles so unverrückbar feststeht, dass sie nur noch befolgen können, was ihnen vorgeschrieben ist. Der Radius ihres Wirken-Könnens ist ja nicht annähernd so groß wie der ihres Bewirkt-Werdens.

• Sie sollen lernen, Vertrauen zu haben und zuversichtlich zu sein, erfahren aber beständig, dass man ihnen nicht traut, weshalb sie mit Kontrolle und Überwachung drangsaliert und mit Zensuren diszipliniert und entwertet werden.

• Sie sollen kreativ und erfinderisch sein, werden aber mit Dingen überschüttet und in Verfahren eingefädelt, die jede eigene Idee im Keim ersticken.

• Sie sollen Leistungen erbringen und ihren Beitrag zum Wohl der Allgemeinheit nicht schuldig bleiben, tatsächlich erfahren sie tagtäglich, dass es auf sie gar nicht ankommt, dass sie für überzählig und nicht verwendbar erklärt werden.

• Sie sollen redlich und aufrichtig sein und werden von Kindesbeinen daran gewöhnt, sich vorteilhaft ins Bild zu setzen, Schwächen und Scheitern gut zu kaschieren und an sich selbst nur gelten zu lassen, was gefällt.

• Sie sollen Persönlichkeit entwickeln, erfahren aber, dass sie nur noch als Kontoposten in Budgetkalkulationen vorkommen. Nicht wer sie sind, steht in Frage, sondern, wieviel sie kosten.

• Sie sollen couragiert und mutig sein, werden aber mit Sicherheitsvorkehrungen umstellt, die ihnen jede Eigenmächtigkeit austreiben. Unlängst sah ich eine junge Mutter eine Kinderkarre schieben. "Born to be wild", stand in aufdringlichen Lettern seitlich auf dem Fahrgestell. Und da saß dann das arme Wesen, das zur Wildheit geboren war, mehrfach angeschnallt und - bei strahlender Abendsonne - vor jedem Ein- und Andringen der Außenwelt durch einen Wind- und Wetterschutz und ein Insektengitter sorgsam bewahrt, in seinem Vehikel, in dem es umherkutschiert wurde, nach dem Richtungswillen der Erwachsenen "born to be wild". Mir wurde dieser Anblick, der mich mir wirklichem Mitleid für das vollkommen wehrlose Wesen erfüllte, zum Inbegriff heutiger Existenz.

Genau von dieser Art sind die Zumutungen, die eine Gesellschaft, in der die Erfolgskriterien und die Kriterien des Anstands nicht nur auseinanderdriften, sondern in vollkommen gegensätzliche Richtungen weisen, ihren Mitgliedern auferlegt. Wir haben unsere gesellschaftlichen Verhältnisse so eingerichtet, dass Autorität, Ansehen und Macht denjenigen zukommt, der andere am nachhaltigsten und durchdringendsten zu schädigen versteht. Je mehr Mitwesen ich abhänge im rat-race um die guten Posten, je mehr ich den meisten vorenthalten kann, je mehr eigene Vorteile ich zu Lasten anderer akkumuliere, desto besser, will sagen angesehener stehe ich da, desto mehr Anspruch auf Gefolgschaft der Vielen kann ich geltend machen. Erfolg wird also in Einheiten von Schaden, den ich andern zufügen kann, verrechnet. Und wir Pädagogen sind dazu ausersehen, durch geeignete Maßnahmen zu verhindern, dass die Vorteilssucht hemmungslos wird. Pädagogik soll der entfesselten Egomanie, die das Triebwerk der modernen Gesellschaft ist und die darum nicht nur geduldet, sondern sakrosankt ist, Zügel anlegen, damit die Wolfsnaturen nicht ungebändigt, sondern zivilisiert gegeneinander wüten.


"Annahme verweigert!"

Vielleicht ist heutzutage die wichtigste Aufgabe von Pädagogen die, die paradoxen Forderungen, in deren Dienst sie gestellt werden, nicht weiterzugeben an die, die ihnen anvertraut oder ausgeliefert sind: "Annahme verweigert!" Vielleicht läge die Aufgabe darin, gemeinsam mit den Lernenden die Koalition der Nicht-Einverstandenen zu begründen und ihr eine Stimme zu geben.

Wohlgemerkt, ich rede nicht davon, dass wir den Versuch unternehmen sollten, das Unvereinbare vereinbar zu machen, der Geldlogik irgendwie Spuren von Anstand einzuhauchen, sie moralisch ein wenig aufzupäppen, um sie und uns vor ihren schlimmsten Auswüchsen zu bewahren. Ich meine nicht, wir sollten die Institutionen, derer diese Logik sich bedient, humanisieren. Das wäre ein Kraftakt, bei dem wir uns bis zur Lächerlichkeit überheben und verschleißen. Ich spreche davon, dass wir überall, in den Institutionen und außerhalb ihrer, Nischen finden und gründen sollten, die sich gegen die Zumutung der paradoxen Anforderungen sperren, gastliche Orte eben, da wir uns versammeln, um freundschaftlich und aufeinander hütend miteinander nachzudenken. Es geht wohl nicht darum, es etwas besser zu machen, sondern es ganz anders zu machen, im Abseits, im Windschatten, bei jeder Gelegenheit.

Was wir den Jungeren am sträflichsten vorenthalten, ist nicht der Lebensspaß, sondern die Teilhabe am Lebensernst, die Erfahrung, dass es auf sie wirklich ankommt. Ich bin zutiefst überzeugt, dass derjenige, der nie im Auge eines Andern eine auf ihn gerichtete Hoffnung hat aufglimmen sehen, entweder verkümmert oder um sich schlägt. Und das meint ja vielleicht im tiefsten der Begriff des Lebensernstes, dass da jemand ist, "der auf mich zählt, dem ich für meine Handlungen verantwortlich bin", so Paul Ricoeur. "Um verlässlich zu sein", schreibt er, "muss man das Gefühl haben, gebraucht zu werden. Um das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden, muss dieser Andere auf uns angewiesen sein. 'Wer braucht mich?', ist eine Frage, die der moderne Kapitalismus völlig zu negieren scheint. Das System strahlt Gleichgültigkeit aus." Und bei George Steiner lese ich: "Heute, wo die ganze Therapie darauf hinausläuft zu vereinfachen und nur keine Anstrengung zu fordern, scheint es nur sehr viel schwieriger geworden zu sein, zur Freude zu gelangen, in Freude zu wachsen. Der Kampf, der notwendig ist, um alltägliche Schwierigkeiten zu meistern, hat überhaupt nichts Trübsinniges an sich, im Gegenteil, in dem Augenblick, da sich das Gelingen einstellt, gibt es einen Augenblick des Lachens, der riesigen Freude."

Aber dieses Lachen hat eben nicht das Geringste zu tun mit dem Spaß, mit der Disneylandisierung der Gesamtgesellschaft, in der jeder glaubt, ein Anrecht auf Amüsierliches zu haben. Das Lachen, von dem George Steiner spricht, ist eines das aus dem Tun entspringt, aus dem Gelingen und nicht aus industriell erzeugtem, käuflichen Firlefanz und Schund, der mit der Verheißung aufwartet, dass er alle Anstrengung in Spaß verwandle. Edutainment ist ja eine dieser verabscheuungswürdigen pädagogischen Leitideen, mit denen sich die Schule beim Publikumsgeschmack anbiedern will.


Eine erst noch auszudenkende Schule

Was Aristoteles einmal über die Stadt sagte, das könnte auch in die Gründungsakte einer erst noch auszudenkenden Schule geschrieben werden. Er stellt fest, eine Stadt werde aus unterschiedlichen Menschen gemacht, ähnliche Menschen brächten keine Stadt zuwege. Damit eine Einrichtung menschlich und lebendig wäre, müsste sie also, Aristoteles zufolge, aus und von den Menschen, die sich in ihr zusammenfinden, gebildet sein. Können wir das von unseren Schulen wirklich sagen? Das würde ja bedeuten, dass die Institution sich nach den Menschen richten müsste. Ich höre aber in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion allenthalben die Forderung, dass die Menschen sich nach der Institution richten sollen. In dem einen Fall ist das Wesen der Schule bestimmt durch die unendliche Überraschung, die in jedem einzelnen schlummert, im andern Fall ist gerade die Überraschung der Störfaktor, der den reibungslosen Gang der Verfahren und Reglements, die die Institution ausmachen, durcheinanderbringt.

Die zweite unerlässliche Bedingung für das gute Miteinander ist, Aristoteles zufolge, diese unerschöpfliche Verschiedenheit der Menschen. Mit nichts scheinen nun die sogenannten Reformen aller Bildungseinrichtungen so wenig zu rechnen wie mit den überraschend verschiedenen Menschen, die die Schulen und Hochschulen bilden.

Schulreform bedeutet im Gegenteil, die Schulen und Universitäten abzusichern gegen alles Unvorhersehbare. So werden sie gesichtslos, menschenneutral, und spurenresistent.

Zur Tilgung der Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Schuleinwohner werden eben allenthalben die hochgelobten Standards etabliert, die alle vergleichbar machen sollen, damit jedem "output" sein Marktwert zugemessen werde und damit die Kosten der "Inputs" penibel kalkuliert werden können. Was die Schule ausmacht, ist eben nicht, dass sie aus verschiedenen Menschen gebildet wird. Ich erinnere mich an eine Zusammenkunft unter Kollegen, in der über Studienreform sinniert wurde. Ich kann Ihnen versichern, dass während einer vierstündigen Debatte weder von Studentinnen und Studenten noch von Professorinnen oder Professoren die Rede war, nicht von Sekretärinnen oder Hausmeistern oder Reinmachefrauen, von keinem einzigen Menschen und auch von keinem einzigen Inhalt, sondern nur von Verfahren, von Evaluation, Modularisierung, Schlüsselqualifikationen, Credit Points, Vergleichbarkeiten, Angebotsprofilen, outputorientierten Angebotsketten, effizienten Kontrollen, Qualitätssicherung und Marktchancen. Die Maschinierung des Lernens schreitet voran und wie bei aller Maschinierung ist die Besonderheit, der Einzelfall, die Singularität ein Störelement. Vereinheitlichung und Wiederholbarkeit sind die Prinzipien maschinellen Funktionierens.

Was wäre, wenn unser lebhaftestes Interesse nicht der Vergleichbarkeit aller, sondern der vollkommenen Unvergleichlichkeit, der absoluten Einzigartigkeit eines jeden einzelnen gälte? Was wäre, wenn wir zweitens der Überraschung, dem Unerwartbaren und Staunenswerten in der Schule Gastrecht gewährten?

Was wäre, wenn wir drittens statt der alles durchherrschenden Konkurrenz der Freundschaft und Befreundung Vorrang gäben, wenn wir also die Schule als einen gastlichen Ort begriffen, in dem die Gastfreundschaft das Miteinander regelt?

Und was - viertens -, wenn an die Stelle der Wissensvermittlung und Qualifikation das Denken und das Fragen träte?

Das klingt zunächst alles ganz harmlos und zustimmungsfähig. Tatsächlich aber erfordert es ein Umdenken von solcher Radikalität, dass dabei kaum ein Stein auf dem andern bliebe.


Ein Ort der Verschiedenheit

"Der Mensch muss dem Menschen versprochen werden", stellt Peter Sloterdijk fest: "Was Menschen sein können, davon erfahren sie aus einem ständigen Strom von Ankündigungen, Ernennungen und Aufrufungen. ... Der Mensch muss dem Menschen versprochen werden, bevor er an sich selbst erprobt, was er werden kann." Ich muss Hörer einer Stimme werden", die mich zu mir ernennt und mir meinen eigensten Weg des Seinkönnens verheißt." Bis zu diesem letzten Satz hin hätten wir Lehrende uns noch ganz behaglich fühlen können. Sind wir nicht, jedenfalls solange wir nicht lehrensmüde geworden sind, solche, die die uns Anvertrauten anfeuern, über sich selbst hinauszuwachsen und sich nicht zu begnügen mit dem erreichten Stand der Dinge? Berufen wir sie nicht ständig zu Höherem? Stellen wir nicht beständig Aufgaben, an denen sich die Jüngeren bewähren sollen und können? Gewiss. Aber darum geht es nicht bei der Rede vom Menschenmöglichen. Es geht nicht darum, den Andern mit einer bestimmten Erwartung zu konfrontieren und ihn am Gängelband des Projektes, das ich mit ihm vorhabe, laufen zu lassen. Es geht darum, ihm seinen Weg des eigensten Seinkönnens zu verheißen. Es geht darum, dass ich Hoffnung setze auf seine Andersheit. Indem ich mir ein Bild davon mache, wer der Andere werden soll, habe ich ihn, so sagt Max Frisch es in seinen frühen Tagebüchern, schon zu meinem Opfer gemacht.

Lassen Sie mich das Gemeinte in weniger großen Worten an einer Karikatur verdeutlichen, an die ich mich undeutlich erinnere.

Unter einem, sagen wir, Affenbrotbaum ist eine Schulklasse versammelt. Der Löwe ist der Lehrer, und die Schülerschar ist ziemlich bunt zusammengewürfelt: da steht ein Elefant herum, etwas gelangweilt, eine Schlange hat ihren Kopf hochgereckt und züngelt vor Aufregung, eine Schnecke ist mitsamt ihrem Gehäuse mit von der Partie, ein Goldfisch im Glas wurde herbeigeschafft, ein Papagei hat sich eingefunden und vielleicht noch eine Maus. Der Löwe hält zu Beginn der Prozedur eine eindrucksvolle Rede über Gerechtigkeit. Gerecht solle es zugehen bei dem Bildungsvorhaben und damit es gerecht zugehe, sollten alle die gleiche Aufgabe lösen; zum Beispiel zunächst einmal die, dass alle den Affenbrotbaum erklimmen. "Ich bin schon oben", sagt der Papagei, noch bevor es richtig losging. Das werde ich schaffen, sagt sich die Schnecke und macht sich auf den Weg. ohne zu ahnen, dass, bevor sie die Aufgabe erledigt hat, ihre Mitbewerber längst in Rente gegangen sein werden. Der Goldfisch im Glas versteht nicht einmal die Aufgabenstellung. Die Maus fragt sich, was sie da oben solle, seien da etwa Nüsse zu finden. Die Schlange ist erfolgreich, sie hat sich der Aufgabe wirklich gestellt. Und der Elefant, der natürlich keine Chance hat, sein gewaltiges Gewicht in die Höhe zu stemmen, der wird gewalttätig, er schlingt seinen Rüssel um den Baumstamm und reißt ihn unter lautem Trompeten einfach um. A propos "lautes Trompeten", wenn das nun die Aufgabe gewesen wäre, oder wenn es darum gegangen wäre, wer sich möglichst langsam fortbewegen könne, oder wenn Schwimmen angesagt gewesen wäre?

Es ist leicht einzusehen, dass mit den heutzutage propagierten Lernstandards, an denen sich alle bewähren sollen, keine Gerechtigkeit und schon gar keine Chancengleichheit zu erzielen ist. Aber dies, dass die Einen den Anderen gegenüber von vornherein im Nachteil sind, den sie nie und nimmer aufholen können, ist nur die eine Seite der traurigen Geschichte. Noch trauriger ist es, dass wir alle, die wir in einer Gesellschaft zusammenleben, uns um das Beste bringen, um den größten gesellschaftlichen Reichtum, nämlich die unendliche Verschiedenheit der Menschen und die unbegrenzte Fülle, die in dieser Verschiedenheit zu suchen und zu finden wäre. Wie entsetzlich öde, wenn all diese Unterschiedlichkeit unter das Prinzip des Elefantischen oder Löwischen gezwungen wird, anstatt den Reichtum auszukosten, der sich daraus schöpfen lässt, dass sich verschiedenste Seinsweisen miteinander ausbalancieren. Vereinheitlichung ist immer gewalttätig. Und die Sieger dieser Gewaltausübung tun sich selbst Gewalt an. "Manches sollte man nicht sein", schreibt Elias Canetti, "aber das Einzige, das man nie sein darf, ist ein Sieger".


Ein Ort der Überraschung

Unübersehbar ist in unserer Epoche die geradezu panische Angst vor der Überraschung. Man kann sagen, dass alle gesellschaftlichen Kräfte in dein großen Projekt gebündelt werden, die Überraschung zu zähmen, wenn nicht gar auszumerzen, und das Leben einer totalen Berechenbarkeit zu unterwerfen. Jedes Lernziel, jeder Lehrplan, jedes reglementierende Verfahren, jede Methode und jede Kontrolle trägt die Spuren dieser Angst vor dem Unvorhersehbaren. Wir glauben vielleicht, dabei Sicherheit zu gewinnen, obwohl sich immer wieder zeigt, dass die Überraschung sich nicht an die Kandare legen lässt. Aber was wir dabei zuallererst verlieren, ist unsere Freiheit. Jede Sicherungsmaßnahme kostet Freiheit. Eines ist immer nur auf Kosten des anderen zu haben. Und die Frage, wieviel Sicherheit wir der Freiheit opfern wollen und wieviel Freiheit der Sicherheit müsste tagtäglich, ja stündlich neu entschieden werden. Aber mit Blick auf die Schulwirklichkeit wie auf die Wirklichkeit der ganzen Gesellschaft haben wir der Verbarrikadierung, der Planung und der Überwachung ein für allemal den Vorzug gegeben und die Freiheit, im Augenblick, hier und jetzt das Rechte zu tun, fristet nur noch ein Nischendasein. Hüten wir also wenigstens die Nischen.


Ein Ort der Gastfreundschaft

Die Frage, die sich unter dieser dritten Ortsbeschreibung sogleich aufdrängt, ist die, wer denn in der Schule Gast und wer Gastgeber sein sollte. Die Antwort gibt uns die Herkunft des Wortes "Gast". "Gast" ist mit dem lateinischen "hospes" verwandt. Und der "hospes" ist beides: er ist Gast und Gastgeber, jedes zu seiner Zeit. Wenn wir also von der Schule als einem gastlichen Ort sprechen, dann ist jeder des Andern Gast, aber auch jeder des Andern Gastgeber. Niemand ist nur Gebender und niemand nur Nehmender. Und daraus eben erwächst die Grunderfahrung aller Gastlichkeit. Gast und Gastgeber sind einander ebenbürtig, nicht gleich. Und aus dieser Ebenbürtigkeit erwachsen ihnen Pflichten. Mal die Pflicht des Gastgebers, der den Andern, den Fremden, beherbergt, mal die Pflicht des Gastes. Ich bemühe noch einmal George Steiner: "Die Menschen sind gegenseitig Gäste und Wirte, so wie beide Gäste des Lebens sind. Wie soll sich ein Gast seinem Wirt gegenüber benehmen? Was in seiner eigenen Macht liegt, soll der Gast zum Wohlsein ... und zum Wohlstand seines Wirtes beitragen. Auf der Schwelle beim Verlassen - vergessen Sie nie, dass der Name Gottes im bescheidenen Gruß 'Adieu!' steckt - soll der Dank ein gegenseitiger sein." Das ist doch eine schöne Metapher für das, was es heißt, einander als Gast und Gastfreund und nicht als zu bessernden, zu behandelnden, zu belehrenden, zu heilenden und zu bewertenden Anderen zu betrachten: Die Ebenbürtigkeit anzuerkennen, die darauf beruht, dass wir alle Gäste des Lebens sind.

Mein Lehrer Ivan Illich, der als Lehrer Gastlichkeit wie kein anderer gepflegt hat, hat in seinen letzten Lebensjahren eher beiläufig darauf hingewiesen, dass Wahrheitssuche und das Ringen um Einsicht überhaupt nur in einem Klima der Gastlichkeit und der Freundschaft, um den gemeinsamen Tisch herum, stattfinden können, und er rühmt den Finanzbeamten, der eingesehen hat, dass ein guter, einfacher Wein sein wichtigstes Lehrmittel sei, so dass er den dafür verausgabten Betrag von der Steuer absetzen konnte.


Ein Ort des Denkens und des Fragens

Dem Denken ist nicht viel Erfolg beschieden. Es ist nicht, wie man heute sagt ergebnisorientiert, es bringt keine Produkte hervor. Vier Eigenheiten sagt Heidegger dem Denken nach, die alle das Denken als eine Daseinsbestimmung der Schule zu disqualifizieren scheinen, denn es sind recht eigentlich keine Eigenschaften des Denkens, sondern Untauglichkeitserklärungen. "Denken führt zu keinem Wissen wie die Wissenschaften. Das Denken bringt keine nutzbare Lebensweisheit. Das Denken löst keine Welträtsel. Das Denken verleiht unmittelbar keine Kräfte zum Handeln."

Wozu aber dann soll es gut sein? Denken scheint die nutzloseste aller Tätigkeiten zu sein. Es führt zu nichts. Und doch wurde es schon zu Sokrates' Zeiten als so gefährlich angesehen, dass es mit dem Tode bestraft wurde. Gerade, dass es zu nichts führt, macht, dass es unaufhörlich weitergehen muss. Es vermehrt nicht die Antworten, sondern die Fragen. Das hat wohl Kafka gemeint, als er sagte, wir sollten unsere Zeit nicht an Bücher verschwenden, die nicht wie ein Eispickel über uns kämen und das, was in unserem Schädel gefroren sei, zertrümmerten. Denken zersetzt alle Gewissheit. Gewissheit ist die Zwillingsschwester des Fanatismus. Wer seiner Sache gewiss ist, der duldet keinen Widerspruch, der wird eisenhart und unbeugsam im Durchsetzen seines Willens, von keinem Zweifel angekränkelt. Hannah Arendt fragt: "Könnte vielleicht das Denken als solches - die Gewohnheit alles zu untersuchen, was sich begibt oder die Aufmerksamkeit erregt, ohne Rücksicht auf die Ergebnisse oder den speziellen Inhalt - zu den Bedingungen gehören, die die Menschen davon abhalten oder geradezu dagegen prädisponieren, Böses zu tun?"

*

2000 Zeichen abwärts

Fußball und Pseudo-Prolos

Wenig ist öder als das ewige Anbiedern der Leistungs- und Entscheidungsträger an den proletarischen Rasenspaß. "Schaut, ich bin toootal volksnah!", tröten die Wichtigen von den Bildern, auf denen ihr feister Fuß nach dem Ball tritt. "Geht gefälligst Golf spielen, ihr Bonzen!", brummt da die Arbeiterklasse. Und mit was? Mit Recht!

Auch die bürgerliche Bohème missbraucht den Fußball. Seit Friedrich Torberg die Fußball-Kastanien aus dem Feuer der intellektuellen Tabus geholt hat, wollen alle Gscheitln mitnaschen.

Dünnbeinige Philosophiestudenten und Webkünstler machen sich mit Inbrunst das schicke Retro-Adidas-Hoserl dreckig. Milieuüblich tiefe Sprüche klopfen sie mit Freude, Berechnung und ironischem Augenzwinkern. Ihr Gekicke muss nämlich beweisen, dass das Elfenbeintürmchen eh einen Hinterausgang hat. Wer kickt, kann doch gar nicht so abgehoben und weltfremd sein. Hoffen sie zumindest. Allzu viel Volksnähe liebt der Intellektuelle dann übrigens nicht: Huch! Diese Goldketterl und Schnurrbärte! Am allerschlimmsten aber sind Frauen, die ihre aufgesetzte Emanzipation krampfhaft durch Holzen und Bolzen zur Schau stellen müssen. Furchtbar ist das!

"Mooooment!", fiept mich der Leser mit Einblicken in meine Biographie an. "Die Alte spielt doch selbst! Und was ist dieser doofe Text anderes als unnötiges Gscheitln?" Ich sag' dazu nur eins: Mein Opa war Straßenarbeiter. Das adelt die folgenden sieben Generationen als Proletarier.

D.M.

*

Vorgeburtlich verdrahtet

Alte Biologismen im neuro-hippen Look

von Petra Ziegler

Geschlechtsspezifische Zuordnungen à la weiblich / intuitiv / emphatisch / irrational und männlich / analytisch / individualistisch / systematisierend haben (wieder) Konjunktur. Neuerdings neurowissenschaftlich "untermauert".


War es im 17. Jahrhundert noch die zu "zarte Beschaffenheit der Gehirnfasern" beim weiblichen Geschlecht, die den französischen Philosophen Nicolas Malebranche vermelden ließ, "alles Abstrakte ist ihnen unbegreiflich", so gelten heute etwa ein unterschiedlich ausgebautes Corpus callosum (das ist der die Hemisphären verbindende Faserbalken), ein Mehr oder Weniger an weißer Substanz (steht in Zusammenhang mit beschleunigter Kommunikation zwischen einzelnen Gehirnregionen), eine eher laterale oder bilaterale Arbeitsweise und diverse abweichende Aktivierungsmuster in einzelnen Hirnarealen bei der Lösung bestimmter Aufgaben als ursächlich für "angeborene" Unterschiede im Verhalten, Fühlen und Denken von Frauen und Männern.

Persönlichkeitsmerkmale aus tatsächlichen, vermuteten oder bloß behaupteten hirn- oder sonst physiognomischen Merkmalen abzuleiten hat traurig-schaurige Tradition. Ob nun das Verhältnis Schädellänge zu Schädelumfang, ein durchschnittlich geringeres Gehirngewicht oder allerhand absonderliche Vorstellungen über die weibliche Physiologie herangezogen wurden, um Personengruppen auf bestimmte Zuständigkeitsbereiche zu verweisen, ihnen intellektuelle Unterlegenheit zu konstatieren oder die Fähigkeit zur Mitgestaltung des Gemeinwesens überhaupt abzusprechen, das Gehirn war, so die Medizinhistorikerin Ruth Bleier "immer wieder der Kampfplatz, auf dem die Kontroversen um Geschlechts- und Rassenunterschiede ausgetragen wurden". Mit Verweis auf wissenschaftliche Autorität wurde und wird nur zu gerne argumentiert, geht es darum, aufzuzeigen, was "Frauen zu Frauen" und "Männer zu Männern" macht und sie auf "ihre jeweiligen Plätze" zu verweisen.

Einmal mehr werden in nicht wenigen populärwissenschaftlichen Publikationen jüngeren Datums "Tabus gebrochen", um gestürzt auf die "neuesten Methoden in der Gehirnforschung" eine imaginierte Phalanx politisch korrekter Gleichheitsfanatismen aufzubrechen. Damit wird aufgeräumt, und wir werden aufgeklärt über die "wahre Natur von Männern und Frauen", "typisch weibliche Gehirnschaltkreise für Brutpflege und Fürsorge" und warum ein Mann nicht anders kann und "ungeduldig wird, wenn eine Frau zu lange redet".

Neurosexismus und Neurononsense nennt dergleichen die Neurowissenschaftlerin Cordelia Fine in ihrem 2010 erschienenen Buch "Delusions of Gender. The Real Science behind Sex Differences. How Our Minds, Society, and Neurosexism Create Difference". (Deutschsprachige Ausgabe unter dem - nicht ganz treffenden - Titel "Die Geschlechterlüge. Die Macht der Vorurteile über Mann und Frau", 2012 bei Klett-Cotta. Aus dem Englischen von Susanne Held.) Die Autorin kämpft sich tapfer durch die einschlägigen Verkaufsschlager rund um ihr Fachgebiet, als da, unter einer Vielzahl anderer, wären: Das weibliche Gehirn (Louann Brezendine), Frauen denken anders, Männer auch (Simon Baron-Cohen), Brain-Sex - Der wahre Unterschied zwischen Mann und Frau (Anne Moir, David Jessel), Männer sind vorn Mars, Frauen von der Venus (John Gray), Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken (Allan und Barbara Pease).

Was sie findet, ist nicht nur ihr ein Ärgernis: nicht selten mangelhaftes Grundmaterial, voreilige Spekulationen bei dürrer Faktenlage, die zahlreichen Wissenslücken werden recht beliebig mir alten Stereotypen gefüllt.

Angesichts der Widersprüchlichkeit der vorliegenden Forschungsergebnisse kritisiert Fine vor allem die vorgebliche Eindeutigkeit in den populärwissenschaftlichen Darstellungen und die "Unverfrorenheit, mit der Daten überinterpretiert und Fehlinformationen verbreitet werden" (Fine, S. 368).


Blobology

Knallig-bunte Darstellungen weiblicher und männlicher Gehirne führen uns die jeweilige "Andersartigkeit" regelrecht vor Augen. Positronen-Emissions-Tomographie und funktionelle Magnetresonanztomographie bringen bislang Verborgenes an die Oberfläche." Ersichtlich" wird dabei so allerhand. Etwa die unterschiedliche Fleckenausbildung bei Süchtigen und Nichtsüchtigen, bei Konservativen und Progressiven, bei Links- und Rechtshändern, Optimisten und Pessimisten, bei Männern und Frauen. Dank angewandter "Kleckskunde" erfreuen uns beinahe täglich Meldungen mit erfrischenden neuen Erkenntnissen über das menschliche Wesen. Brain Imaging lässt "Lustzentren rot pulsieren" oder das Angstzentrum blau anlaufen, lässt uns "in Echtzeit beobachten", was sich in unseren Köpfen abspielt, wenn wir mit Fotos von Schokoladekuchen, von Hillary Clinton, einer neuen Produktaufmachung oder den schmerzverzerrten Gesichtern Nahestehender konfrontiert werden, wenn Probanden mit den Fingern einen Rhythmus mitklopfen oder dreidimensionale Objekte drehen, - was immer so an Versuchsdesign einfällt." Objektivitätsmaschinen" (Jan Slaby) gleich bringen die Hightech-Scanner mentale Vorgänge "ans Licht".

Anders gesagt, die computergestützt generierten Darstellungen erwecken einen durchaus irreführenden Eindruck. Sie haben die "verführerische Suggestivkraft einer wahrheitsgetreuen Abbildung" (Felix Hasler: Neuromythologie - Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, S. 43. Siehe auch Rezension weiter unten), die digitalen Hirnbilder versprechen nichts weniger als einen "Blick ins lebende und arbeitende Gehirn". "Sie sind bunt, sie wirken überaus lebendig und sie vermitteln Eindeutigkeit. Ein roter Fleck im linken Hirnlappen impliziert demnach beispielsweise, dass genau an dieser Stelle das Sprachareal liege und es bei Frauen anders ausgebildet sei als bei Männern", bestätigt die Biologin und Wissenschaftsforscherin Sigrid Schmitz im FORUM Wissenschaft das Faszinosum der bildgebenden Verfahren. Damit "wird suggeriert, es sei gelungen, die spezifischen Hirnvorgänge sichtbar zu machen, die einer ganz bestimmten Bewusstseinserfahrung zugrunde liegen." (Hasler, S. 49)

Das Verfahren stützt sich auf Indizien. Gemäß der Annahme, erhöhte neuronale Aktivität zeige sich in gesteigertem Verbrauch von Sauerstoff, handelt es sich bei den Tomographiebildern um "anschaulich aufbereitete grafische Darstellungen der statistischen Verteilung von zeitabhängigem Blutfluss und Sauerstoffbedarf im Gehirn" (ebd., S. 43). Die bunten Flächen stehen, mit den Worten von Cordelia Fine, "für eine statistische Signifikanz am Ende eines komplizierten, über mehrere Stadien laufenden Analyseprozesses", der "einen breiten Spielraum für falsche Befunde" offen lässt.

Untersuchungen mit Hirnscannern müssen aufgrund äußerst hoher Kosten mit eher bescheidenen Stichproben auskommen, oft mit Gruppen von lediglich zehn bis maximal zwanzig Versuchspersonen. Eine verweist auf eine entsprechend große Anzahl von Zufallsresultaten und Scheinkorrelationen. Eine vergleichende Analyse der Daten wird schon durch die kaum überschaubare Zahl unterschiedlicher Berechungsverfahren erschwert. Asymmetrien tauchen auf oder verschwinden, je nachdem welche statistische Schwelle bei der Berechnung von Gruppenbildern eingestellt wird (vgl. Schmitz).


Genderwahn

"Neurowissenschaftler, die nur ein einzelnes Exemplar vor sich haben, können nicht angeben, ob es sich um ein männliches oder ein weibliches Gehirn handelt." (Fine, S. 269) Nicht einmal die gewöhnlich als gesichert präsentierte unterschiedliche Spezialisierung des weiblichen resp. männlichen Gehirns bei der Sprachverarbeitung lässt sich anhand von Meta-Analysen bestätigen. Zusammenfassende Studien aus 2004 und 2008 lassen "keine signifikanten Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Lateralisierung der Sprachfunktion" (ebd., S. 227) erkennen. Eines Fachkollege Mikkel Walentin hält nach eingehender Untersuchung vorliegender Dokumentationen die zugrundeliegende Behauptung eines größeren weiblichen Corpus callosum überhaupt für einen Mythos (ebd., S. 229).

Vielfach postulierte "fundamentale" Unterschiede schrumpfen auf ein recht bescheidenes Maß. Der weibliche Vorsprung beim Erkennen "nonverbaler Gefühlsausdrücke" etwa liegt bei 54 Prozent überdurchschnittlichem Abschneiden gegenüber 46 Prozent bei den männlichen Teilnehmern (ebd., S. 259). Das sollte Letztere nicht unbedingt zu Gefühlsanalphabeten prädestinieren.

Insgesamt fällt auf, dass lediglich Unterschiede - und die noch stark übertrieben - ausposaunt werden. Ergebnisse, die keine Differenzen nachweisen, fallen sprichwörtlich unter den Tisch, zumindest finden sie keinen Weg in die Populärmedien. Dass die Variabilität innerhalb der Geschlechtergruppen in aller Regel höher ist als die zwischen ihnen, bleibt ebenfalls vielfach unerwähnt (vgl. Schmitz).

Zu all dem kommt: Selbstbild und soziale Erwartungshaltungen beeinflussen die Versuchspersonen massiv. Dabei zeigen auch augenscheinliche Nebensächlichkeiten in der Anlage des Experiments Wirkung. Bei Versuchen, ihre mathematische Begabung zu überprüfen, schnitten Frauen besser oder schlechter ab, je nachdem ob sie während der Testeingangsphase den durchaus subtilen Hinweis bekamen, der Test diene der Beantwortung der Frage, warum einige Menschen in Mathematik besser seien als andere. offenbar ausreichend, um ein Phänomen namens Stereotyp-Bedrohung zum Vorschein zu bringen. Das Wissen um das verbreitete Vorurteil "Frauen haben weniger mathematisches Talent", und das gleichzeitig bewusst gemachte "Frau-Sein" (etwa durch Ankreuzen des Feldes "weiblich" im Fragebogen) verbinden sich zu einer self-fulfilling prophecy.


Etikettierungen

Neurobiologie - das müsse doch einleuchten - sei nunmal Schicksal. Ungläubige bekommen als quasi ultimativen Trumpf entweder irgendwas mit Rhesusaffen oder folgenden gerne zitierten Fall entgegengehalten: Kleines Mädchen bekommt von seinen Eltern ein Feuerwehrauto anstelle einer Puppe. Und prompt wird die Kleine, das Auto in den Armen wiegend und tröstend: "Keine Sorge, kleines Auto, alles wird gut", ertappt. Mädchen-Gehirne seien eben "mit charakteristischen Impulsen ausgestattet", Mädchen als Mädchen "strukturiert". "Ihr Gehirn ist bereits bei der Geburt unterschiedlich (von dem der Jungen, Anm.), und aus diesem Gehirn stammen Impulse, Wertvorstellungen und die gesamte Wahrnehmung der Realität." (Brizendine, S. 32)

Ebenso scheint die Evolution die Oberstübchen der Mädels mit einer Vorliebe für pinkfarbenen Tüll ausgestattet zu haben. Und dagegen, so der mit Bedauern oder einer nicht geringen Portion Häme servierte Kommentar, helfen alle gutgemeinten Versuche nicht, den Nachwuchs genderneutral aufzuziehen.

In Betracht gezogen, wie sehr manehen ihr Auto als Familienmitglied gilt, erscheint das kindliche Agieren allerdings ohnehin nur folgerichtig. Überhaupt ist die gesamte "Versuchsanordnung" nur in wenigen Aspekten beeinflussbar.

Genderspezifische Zuschreibungen finden sich bereits in den Erwartungshaltungen an die noch nicht einmal gezeugte Nachkommenschaft. Ist das Geschlecht des Babys bekannt, werden dessen Bewegungen im Mutterleib unterschiedlich gedeutet, der Tonfall gegenüber dem Ungeborenen ändert sich. Eben erst auf der Welt bildet die immerhin rückläufige Rosa/Blau-Einteilung (das zarte Blau war übrigens ursprünglich für die Mädchen reserviert) nur den offensichtlichsten Teil einer frühen "Kategorisierung". Die deutlichen Gendermarkierungen (nicht nur) im Dress-Code von Babys und Kleinkindern kamen nebenbei bemerkt erst auf, nachdem sich im Lauf des 19. Jahrhunderts bei den pädagogisch Befassten die Auffassung breitmachte, dass Geschlechterrollen durchaus erst gelehrt werden müssten. Alsdann galt es, den Sprösslingen ihre Geschlechtszugehörigkeit und das dementsprechende Verhalten möglichst früh und unmissverständlich aufzuzeigen. Die permanente Präsenz von Genderverweisen in deren (unserer) Umwelt lässt keinen Zweifel an der Bedeutung dieses Unterschieds und geben von Beginn an Orientierung darüber, welche Attribute zu einer Frau respektive einem Mann gehören. Eine schmückt ihre Ausführungen mit recht hübschen Anekdoten über den jeweiligen Erkenntnisstand der kleinen "Genderdetektive" ("Einen Penis hat jeder; aber Haarspangen tragen nur Mädchen.").

Allzu freie Rollenauslegung wird sowohl vom gleichaltrigen wie auch vom erwachsenen Umfeld mit mehr oder weniger Unverständnis bis Ablehnung sanktioniert. Dabei verläuft die "ordnungsgemäße" Zurichtung bei Buben meist noch um einiges regider. Ein weiblicher Wildfang, eine "wilde Henne" (selbst hier darf der Hinweis auf die "eigentliche" Zugehörigkeit nicht fehlen), kann schon eher auf schmunzelnde Anerkennung hoffen.

Was sich darüberhinaus bei diversen Untersuchungen über frühkindliche Präferenzen niederschlägt und die Ergebnisse nicht wenig verzerrt: die (unbewussten) genderspezifischen Erwartungen prägen die mütterliche bzw. väterliche Wahrnehmung von den Gefühlen, aber auch Fähigkeiten eines Kindes. Entsprechend dem Geschlecht der Babys neigen auch nahe Bezugspersonen dazu, deren motorische Leistungen zu unter- oder zu überschätzen, oder sie reagieren mehr oder weniger einfühlsam auf Veränderungen in deren Gesichtsausdruck (vgl. Fine, S. 314ff.).

Einmal eingeimpft, und wir sind zweifellos alle Geimpfte, wirken diese "stereotypischen Genderassoziationen" auch in durchaus reflexionsfähigen Menschen nach, sie "bleiben aktivierbar und bereit, die entsprechenden Details des Selbstbilds mit Leben zu füllen, wenn der soziale Kontext die Genderidentität in den Vordergrund rückt." (Fine, S. 361)


Neuroplastizität

Von uralten Schaltkreisen, von Programmierung, Strukturiertheit und vorgeburtlicher Verdrahtung ist da die Rede, ein Vokabular, das Fixiertheit, ja Unveränderlichkeit nahelegt. Dabei zeichnet sich unser zerebraler "Apparat" gerade durch seine faszinierende Wandelbarkeit (und Anpassungsfähigkeit) aus. "Schließlich führt jegliche Form der Einflussnahme auf das Gehirn, sei sie pharmakologischer oder nicht-pharmakologischer Art, zu neuroplastischen Veränderungen. Entgegen früherer Annahmen ist nämlich auch das vollständig entwickelte erwachsene Gehirn noch höchst reaktiv auf Umwelteinflüsse. Neuronale Verschaltungen können sich innerhalb von Minuten nach Stimulation ändern. Auch Sport, eine Psychoanalyse und selbst ein banaler Kinobesuch führen zu neuronalen Veränderungen." (Hasler, S. 132)

In einem komplexen Wechselspiel von Biologie und soziokulturellen Beeindruckungen werden die "Bestandteile unserer politischen, sozialen und moralischen Anstrengungen unserer physischen Verfassung buchstäblich einverleibt, inkorporiert" (vgl. Fine, S. 366). Mit anderen Worten: was uns in einer geschlechtlich aufgeteilten Welt widerfährt, manifestiert sich sichtbar in unseren Gehirnen." Hirnbilder von Erwachsenen lassen beide Interpretationen zu: das Gehirn als Ursache oder als Ergebnis des Verhaltens." (S. Schmitz)


Fazit

Von den immer wieder hervorgehobenen geschlechtsspezifischen Abweichungen in der Gehirnstruktur, den typisch "männlichen" und "weiblichen" Verarbeitungsmustern, bleibt bei genauerer Prüfung nicht viel übrig. Noch weniger haltbar erscheint es, daraus "unveränderliche, hirnphysiologisch grundgelegte psychische Unterschiede" abzuleiten.


Nachbemerkung

Analytisches Denken, Einfühlungsvermögen, Fantasie, Fürsorglichkeit, kommunikative Kompetenz, Konzentration, Sinnlichkeit, Zuwendung (in alphabetical order) sind als menschliche Fähigkeiten und Eigenschaften zu kultivieren. Sie können nicht delegiert werden, weder an eine bestimmte - vermeintlich besonders prädestinierte - Gruppe noch an einen quasi-separierten Teil innerhalb des fragmentierten bürgerlichen Individuums. (Jedenfalls nicht, ohne dass eins daran zu zerbrechen droht.)

Das führt zur Frage, warum manche die Welt partout voll emotionaler Dusseln und latent orientierungsloser Seelchen sehen wollen?

Nicht einmal für das knirschende kapitalistische Getriebe ist dergleichen noch funktional. Im Kampf um männlichen Machterhalt mag es eher dienlich scheinen. Von vormodernen Vorstellungen von der Frau als unvollständigem, verstümmelten Mann bis zum seit der Aufklärung vorherrschenden bi-polaren Modell stützten die biologisch-medizinischen Konstruktionen von Geschlecht stets auch eine hierarchische Ordnung von "Männlichem" und "Weiblichem". Zwar ist innerhalb der bürgerlich-patriarchalen Gesellschaft die männlich bestimmte Sphäre von Öffentlichkeit und Produktion, die sich aus sich heraus nicht reproduzieren kann, notwendig auf das (weiblich eingeschriebene) "Andere" angewiesen (und vice versa). Die jeweiligen Bereiche waren aber - trotz gegenteiliger Beteuerungen - niemals "gleichwertig". Daran ändert im Übrigen nichts, dass die darauf basierenden Rollenbilder gewissermaßen von der krisenbestimmten Realität eingeholt wurden.

Das feministische Aufbrechen geschlechtsspezifischer Einengungen ist damit keineswegs geschmälert. Sofern es sich nicht auf Ansprüche innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse beschränkt, wäre dessen Wiedererstarken mehr als wünschenswert. Mit einer weiteren Anpassung an ein im Wesentlichen androzentrisches Gleichheitsideal ist im zwischengeschlechtlichen Verteilungskampf allenfalls noch kurzfristig Terrain zu gewinnen, emanzipatorische Perspektive eröffnet sich daraus jedenfalls keine (mehr).

*

REZENSION

von Petra Ziegler

Felix Hauer: Neuromythologie - Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. transcript Verlag 2012, 260 Seiten, ca. 22,80 Euro


Die "schier unglaubliche Diskrepanz zwischen dem gegenwärtigen Welterklärungsanspruch der Neurowissenschaften und den empirischen Daten" ist Ausgangspunkt von Felix Haslers Plädoyer für Neuro-Skepsis und kritische Reflexion neurobiologischer Forschungspraxis. "Von der Struktur des Bewusstseins über die neuronale Verortung moralischen Handelns bis hin zur molekularen Grundlage psychischer Störungen. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis die Neurowissenschaften Kants vierte Frage werden beantworten können: Was ist der Mensch?" Selbst vom Fach, nimmt der Autor die modernen Neuro-Mythen und ihre mediale Darstellung in den Blick. Er wendet sich gegen biologischen Reduktionismus und verweist auf die Grenzen neurowissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten. Nicht zuletzt setzt er dabei auf innerdisziplinäre Ansätze, die eine einseitige Betrachtung der Menschen als "isolierte zerebrale Subjekte in einem sozialen Vakuum" ablehnen.

Ein ausführlicher Abschnitt widmet sich der biologischen Psychiatrie samt rasant ausufernder Verschreibungspraxis von Antidepressiva und den Manipulationen seitens der pharmazeutischen Industrie. Weitere Kapitel beleuchten u.a. Neuroimaging, die Debatte um die "Illusion Willensfreiheit", Neuro-Doping, Neuro-Forensik oder die "Problemzonen der Lügendetektion".

Trotz umfangreichen Quellenmaterials und detailreicher Ausführungen leichtfüßig im Stil bietet Felix Haslers Buch weitaus mehr als nur ein hilfreiches Argumentarium gegen grassierende Neuro-Spekulation.

*

Wofür kämpfen wir?

Plädoyer für eine realistische Utopie

von Tomasz Konicz


Die Verwertung ist aussichtslos und zerstörerisch...

In seiner Agonie greift das Kapital ein letztes Mal in voller Intensität um sich, alles - alle Lebensbereiche, alle Kontinente, alle Ressourcen, alle verbliebenen Nischen und Rückzugsräume, ja, unser Innerstes selber - soll der Verwertungslogik unterworfen werden. Mittels einer letzten extremistischen Expansionsbewegung, einer letzten "Flucht nach vorn", mit der das Kapitalverhältnis seinen eskalierenden Widersprüchen davonzueilen versucht, werden gigantische Rohstoffmassen zur Aufrechterhaltung der immer stärker ins Stocken geratenden Verwertungsbewegung verheizt, steigen die Emissionen von Treibhausgasen immer weiter an.

Dabei sind es gerade die konkurrenzvermittelten Produktivitätssteigerungen, die nicht nur die innere Schranke des Kapitals bilden, sondern auch zur Eskalation der Ressourcen- und Klimakrise (der äußeren Schranke) führen. Je stärker die Produktivität ansteigt, desto geringer wird die in der einzelnen Ware vergegenständlichte abstrakte Arbeit (und somit ihr Wert), was folglich die Tendenz zur extremen Steigerung des Materialverbrauchs für die Verwertungsbewegung immer weiter befeuert. Unsere natürlichen Lebensgrundlagen werden so in einem immer schnelleren Tempo "verbrannt", um die selbstzweckhafte, Amok laufende Kapitalverwertung - der im Produktionsprozess mit der lebendigen Arbeit die Substanz abhandenkommt noch etwas länger aufrechtzuerhalten. Es ist, als ob die kollabierende globale Verwertungsmaschinerie in ihrem historischen Untergang nochmals sicherstellen wollte, dass nichts dem Kapitalismus folgen kann.

Dieser Prozess des "Verbrennens" der Naturschätze - der in den letzten Jahren umweltzerstörerische Techniken wie das Fracking, die Ölsandförderung oder die Ressourcenausbeutung in der Arktis hervorgebracht hat - ist bereits sehr weit fortgeschritten und hat mitunter einen irreversiblen Charakter angenommen. Es gilt vor allem als sicher, dass aufgrund der steigenden Treibhausgasemissionen die sogenannten "Kipppunkte" des Klimasystems überschritten werden. Laut einer innerhalb der Klimawissenschaft dominanten Hypothese wird ab einer CO2-Konzentration von mehr als 450 ppm - die einem globalen Temperaturanstieg von zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter entspricht - der Klimawandel irreversibel beschleunigt, da ab diesem Grenzwert ein Tipping Point (Kipppunkt) des Klimasystems erreicht werde, der eine Kaskade sich selbst verstärkender Rückkopplungseffekte auslösen würde, bei denen die Treibhausgasemissionen ohne weiteres menschliches Zutun über einen sehr langen Zeitraum immer weiter zunehmen würden. Diese CO2-Konzentration wird in den nächsten Jahren überschritten werden.


...und hinterlässt eine katastrophale Erbschaft

Somit wird sich die postkapitalistische Gesellschaft zwangsläufig mit den Folgen eines unkontrollierbar eskalierenden Klimawandels konfrontiert sehen, der selbst die Sicherung der Grundbedürfnisse eines Großteils der Menschheit zu einer Herausforderung machen wird während zugleich ein großer Teil der natürlichen Ressourcen, die heute immer schneller geplündert werden, nahezu erschöpft sein dürfte. Aus diesen Tendenzen resultiert die schlichte Unmöglichkeit, eine postkapitalistische materielle "Überflussgesellschaft" zu schaffen, deren Realisierung in den Parolen "Alles für Alle" und "Alles muss im Überfluss vorhanden sein" propagiert wird. Angesichts der gegenwärtig sich voll entfaltenden Klima- und Ressourcenkrise müssen diese Vorstellungen einer kommunistischen Gesellschaft, in denen die der Produktivkraftentfaltung immanente Möglichkeit materieller Reichtumsfülle durch die Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse quasi "befreit" würde, ins Fantasiereich der "Nicht-Orte" verbannt werden.

Die kommende Gesellschaftsformation wird somit geprägt sein von der Auseinandersetzung mit den verheerenden Verwüstungen der kapitalistischen Systemkrise, seien diese nun ökologischer, sozialer oder auch psychischer Natur. Solch ein postmortaler Kampf mit dem Kapital, mit seinem mörderischen Vermächtnis, dürfte über einen langen Zeitraum selbst eine Gesellschaftsformation prägen, die das Kapitalverhältnis und den daraus resultierenden Fetischismus bewusst überwinden und einen Absturz in die Barbarei vermeiden konnte. Eine solcherart progressiv ausgerichtete postkapitalistische Gesellschaft wird somit auch nicht widerspruchslos sein, wie überhaupt die religiös grundierte Forderung nach der Widerspruchslosigkeit des menschlichen Gemeinwesens die Funktion von Widersprüchen als Triebkräften sozialer Entwicklung verkennt. Der kommende Widerspruch wird sich nicht mehr zwischen dem Kapital und der menschlichen Gesellschaft entfalten, wie es derzeit der Fall ist, sondern zwischen dem Menschen und der Natur. Präziser: Der Widerspruch wird in dem gesamtgesellschaftlichen, kollektiven Kampf gegen die langfristigen Folgen der gegenwärtig verbrochenen Klimakrise bestehen, bei dem die Menschheit um die Beibehaltung und Verbesserung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen ringen wird.

Dieser Widerspruch wird in der Form eines Wettrennens zwischen dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt und der nicht mehr kapitalistisch gehemmten und auf destruktive Abwege geführten Produktivkraftentfaltung einerseits und den Verwüstungen der ökologischen Krise andererseits ablaufen. Vom fetischistischen Zwang befreit, ihre Entwicklung an den Erfordernissen der Kapitalverwertung auszurichten, würden die entsprechend transformierten Produktivkräfte von einem planetarischen Zerstörungswerkzeug zu einem bewusst gesellschaftlich eingesetzten Mittel zivilisatorischer Behauptung mutieren. Dieser postmortal-antikapitalistische Kampf gegen die Folgen der Systemkrise der Verwertung könnte dramatische Ausmaße annehmen, seine Intensität hängt direkt von der Intensität der klimatischen Verwüstungen ab, die nach dem Überschreiten der besagten Tipping Points über die Menschheit in einer unkontrollierbaren Weise hereinbrechen werden. Es wird letztendlich ein Kampf um die Aufrechterhaltung der menschlichen Zivilisation sein.


Transformation der Gesellschaft...

Hierbei wäre eine gigantische Transformationsbewegung nahezu aller Gesellschaftsbereiche zu bewältigen, die sich bereits jetzt andeutet - wenn auch nur in rein negativer Form, als ein aufgrund eskalierender faux frais vom Kapitalismus nicht mehr bewältigbarer Strukturwandel. Die Lohnarbeit wird mit dem Kapitalismus absterben, sie führt bereits jetzt nur noch ein auf Pump finanziertes Zombieleben, doch zugleich werden wir nicht in einem mühelosen Wunderland aufwachen. In einer postkapitalistischen Gesellschaft gäbe es ungeheuer viel zu tun, insbesondere müssten die Struktur der Produktivkräfte, die Güterherstellung, die Energieversorgung, der Agrarsektor auf kollektive und bewusst geplante Produktion umgestellt werden. Unüberschaubar allein die notwendigen Maßnahmen, mit denen die Lebensmittelerzeugung gegen die Verwerfungen des Klimawandels abgesichert werden müsste. Die Herausforderung, den Stoffwechsel zwischen Natur und Gesellschaft auf eine neue, ressourcenschonende Grundlage zu stellen, stehen ja - etwa bei der "Energiewende" - schon jetzt auf der Tagesordnung, können aber nicht mehr in Form der Lohnarbeit bewältigt werden, da die hierbei auftretenden Missverhältnisse zwischen gigantischen Investitionen und geringen Verwertungsprozessen dem im Wege stehen. Erst nach Überwindung des Kapitalismus kann all das vollbracht werden, was sich als Geschäft der Verwertung nicht mehr rechnet.

Genauso wenig, wie mensch den Begriff der Produktivkräfte mit der gegenwärtigen Maschinerie identifizieren darf, die von der Wertverwertung geformt wurde, müssen auch die hiervon geschaffenen konkreten Gebrauchswerte, die allen kapitalistischen Waren anhaften, als historisch und vom Verwertungszwang deformiert begriffen werden. Eine volle Entfaltung der Produktivkräfte im Postkapitalismus würde somit nicht die maximale Steigerung des Ausstoßes etwa von Autos oder Smartphones unter Beibehaltung der überkommenen industriellen Organisationsstruktur mit sich bringen, sondern gerade deren grundlegende Überwindung und die Ausrichtung auf größtmögliche Ressourcenschonung, die in der fetischistischen kapitalistischen Werbewirtschaft, die dem Joch der uferlosen und selbstzweckhaften Geldvermehrung unterworfen ist, schlicht unmöglich ist.

Die Parolen "Alles für Alle", oder "Alles muss im Überfluss vorhanden sein", mit denen suggeriert wird, hinter dem revolutionären Akt der Überwindung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse liege ein Warenparadies, blenden aber vor allem aus, wie pervertiert die Gebrauchswerte der meisten Waren im Kapitalismus sind. Sie unterstellen, in der Ware befinde sich ein objektiver überhistorischer Gebrauchswert, der im Verlaufe der Systemtransformation nur von der Tyrannei des Werts zu befreien wäre, um ihn sich dann aneignen zu können. Der Wert kontaminiert, ja pervertiert jedoch in vielen Fällen die Gebrauchswerte - von der ungesunden Nahrung über die vielen Statussymbole (Auto, Handy, Klamotten etc.) bis hin zu der Art, wie wir wohnen. Wert und Gebrauchswert hängen zusammen, sie bedingen einander, können nicht in "gut" (Gebrauchswert) und "böse" (Wert) geschieden werden. Ein Beispiel hierfür liefern die zu hunderttausenden leer stehenden Häuser in Spanien, bei denen es sich zumeist um die auf Abschottung ausgerichteten Reihen- und Einfamilienhäuser handelt, die so ziemlich das genaue Gegenteil einer postkapitalistischen urbanen Struktur aufweisen. Auf der iberischen Halbinsel führt die Krise des abstrakten Werts zwar tatsächlich zu einer massenhaften Zerstörung von konkreten Gebrauchswerten, doch weisen diese selber schon die Kainsmale der Wertvergesellschaftung auf.

Die Artikulation von Bedürfnissen, die nicht durch Entfremdungsprozesse verunstaltet sind, kann nur in Form eines gesamtgesellschaftlichen Dialogs in einer postkapitalistischen Gesellschaft geschehen, in dem die Grundbedürfnisse aller Menschen mit den durch Klima- und Ressourcenkrise gegebenen Einschränkungen und den fortschreitenden technischen Möglichkeiten in Ausgleich gebracht werden. Hier, bei der bewussten Planung und Gestaltung der gesellschaftlichen (Re)Produktion, ist der utopische Kern zu verorten, an dem wir bei unserem antikapitalistischen Kampf trotz allein Realismus festhalten müssen. Mit der bewussten, unvermittelten und kollektiven Gestaltung der gesellschaftlichen Reproduktion wie des Stoffwechsels zwischen Gesellschaft und Natur wäre ein buchstäblich utopisches Moment realisiert, etwas, das es in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat. Es handelte sich um eine gesellschaftliche Struktur, die aus dein utopischen "Nicht-Ort" in die Realität überführt werden würde.


...oder etwas zwischen Orwell und Mad Max

Dies wäre der Bruch mit der bisherigen Geschichte, die von Marx als unbewusst über die Menschen ablaufende "Vorgeschichte der Menschheit" bezeichnet wurde. Die bewusste Regelung und Planung des gesellschaftlichen Stoffwechsels durch die Gesellschaftsmitglieder ist gleichbedeutend mit der Überwindung des Fetischismus. Der Mensch gestaltet dann die soziale Entwicklung, er wird nicht mehr von einer blindwütigen, sich hinter seinem Rücken konstituierenden Verwertungsdynamik getrieben, die derzeit dabei ist, in offene Barbarei umzuschlagen. Dieser "utopische" Schritt, dies Einfache, das schwer zu machen ist, stellt somit eine Überlebensnotwendigkeit der Menschheit dar. Entweder werden wir den Fetischismus überwinden, oder der zivilisatorische Prozess wird kollabieren und wir finden uns in einer Zukunft wieder, die irgendwo zwischen 1984 und Mad Max angesiedelt sein dürfte.

*

2000 Zeichen abwärts

Die Maßnahme

Die Kursleiterin öffnet das Fenster. "Nun testen wir die Flugtauglichkeit!" Heute ist der 11.11.11. Ein gutes Heiratsdatum. Ich bin in einer "Maßnahme", und wir verbessern gerade mit Basteln unsere "Teamfähigkeit".

Nein, da mache ich nicht mit! Ich würde mich zu Tode schämen, wenn mich jemand sieht, der mich kennt. Ich setze mich zum Computer. Wikipedia versteht unter einer Maßnahme "hoheitliches Handeln, das in die (Grund-)Rechte einer Person eingreift und gegen deren Willen vollzogen wird". Ich kenne den Begriff nur im Zusammenhang mit Exekutive, Legislative, Jugendämtern, Krankenanstalten und Pflegebereich. Der in meinem Fall zuständige "Amtsträger" ist das Arbeitsmarktservice, die Maßnahme ein sechswöchiger Bewerbungskurs. Von Akademikern bis zu Personen ohne Berufsausbildung reicht der Bogen der Teilnehmer.

Während der ersten Woche wird versucht das Selbstvertrauen der Langzeitarbeitslosen anzuheben. Wer bin ich? Was will ich? Was sind meine Stärken? Habe ich Schwächen? (Ich frage mich, wie wir zwanzig Menschen hier ohne "zeitgemäße Bewerbungsstrategien" bisher immerhin insgesamt 209 Arbeitsstellen finden konnten.)

Danach sollen computergestützt Bewerbungen verfasst werden. Zwei Personen ist es unmöglich, einen Computer zu bedienen: einer liebenswert-temperamentvollen serbischen Analphabetin und einem älteren Herrn aus dem Baugewerbe, der fürchtet, dass die Tasten dem Druck seiner kräftigen Finger nicht standhalten würden. Auch die Anwender-Kenntnisse der Trainerin sind eher bescheiden, aber erfahrene KollegInnen aus dem Kurs leisten tatkräftig Beistand.

Begeisterungsschreie der siegreichen Gruppe signalisieren: Das Ei ist gelandet! Heil noch dazu. Eingebettet im fragilen Flugkörper aus Papier, welcher im fiktiven Assessment-Center nur mit Hilfe von Bleistift, Schere und Fadenmaterial im Wettbewerb konstruiert wurde.

Ich wende mich meinen Mails zu. Ein Arzt hat mich angeschrieben, um meine EDV-Dienste in Anspruch zu nehmen. Freiberuflich, nicht angestellt. Meine drei Kinder habe ich alleine großgezogen, jetzt muss es wohl auch ohne regelmäßiges Einkommen gehen. Ich werde zusagen. Das Risiko weiterer Maßnahmen erscheint mir größer.

A.R.

*

Das Ende der Emanzipation

von Erich Ribolits

Abgesehen davon, dass die im gesellschaftskritischen Lager verortete Bildungstheorie für praktisch-pädagogische Bemühungen keine nachhaltige Bedeutung erlangt hat, war sie auch zu keinem Zeitpunkt mit Leitbegriffen gesegnet, mittels derer sie sich in ihren Zielumschreibungen vom bürgerlich-pädagogischen Mainstream absetzen konnte. Im Allgemeinen wurde auch von ihrer Seite auf die traditionellen Begriffshülsen der bürgerlichen Pädagogik zurückgegriffen, die da lauten: Mündigkeit, Autonomie, Selbstbewusstsein, ... Einzig der Begriff "Emanzipation" gab zumindest eine Zeit lang einen Bezugspunkt ab, um sich als Kritiker der bürgerlichen Pädagogik auszuweisen. Wer in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts Emanzipation zum vorrangigen Ziel der Pädagogik erklärte, wurde zumindest von den besonders konservativen Vertretern des pädagogischen Mainstreams recht schnell als "Linker" sowie als jemand abgestempelt, der die "freiheitlich-demokratische Grundordnung" in Frage stellt.


Vom Kampfbegriff...

Tatsächlich hat der Begriff Emanzipation eine lange und in großen Abschnitten aufs Engste mit der bürgerlichen Gesellschaft verknüpfte Geschichte hinter sich. Die Wurzeln des Begriffs stammen aus der römischen Antike, wo mit emancipatio die Freisprechung des Sohnes vom Vater - also seine Entlassung aus väterlicher Verfügungsgewalt - angesprochen wurde. Im neunzehnten Jahrhundert wurde der Begriff dann im Zusammenhang mit der Befreiung der aus Afrika nach Amerika verschleppten Sklaven, der politischen Gleichstellung von jüdischen Gesellschaftsangehörigen sowie von Frauen aufgegriffen und avancierte zu einem politischen Kampfbegriff. Mit Emanzipation wurde dabei jeweils die Integration von bisher in ihren Rechten beschränkten Personengruppen in die allgemein geltenden gesetzlichen Bestimmungen angesprochen. In seiner neuzeitlichen Bedeutung kann Emanzipation mit "Selbstbefreiung" übersetzt werden, der Begriff impliziert eine Bezugnahme auf das Eingangsversprechen der bürgerlichen Moderne, die in der Losung nach "gleichem Recht für alle" ihren populärsten Ausdruck gefunden hat.

In der Erziehungswissenschaft wurde das Aufgreifen des Emanzipationsbegriffs wesentlich durch die Verwendung des Terminus durch Jürgen Habermas beeinflusst. Er definierte Emanzipation als einen Akt der Selbstreflexion, letztendlich also als einen Bildungsprozess (vgl. Habermas 1968: 261). Die vorübergehende Bedeutung von "Emanzipation" als Zielbegriff einer wissenschaftstheoretischen Position der Pädagogik ging insbesondere auf ein 1968 erschienenes Buch mit dem Titel "Erziehung und Emanzipation" von Klaus Mollenhauer und auf einen kurze Zeit später erschienenen Buchbeitrag von Wolfgang Lempert mit dem Titel "Emanzipation und Bildungsforschung" zurück. Mollenhauer bestimmte Emanzipation in seinem Text als "die Befreiung des Subjekts (...) aus Bedingungen, die seine Rationalität und das mit ihr verbundene Handeln beschränken" (Mollenhauer 1968: 11). Bei Lempert hieß es: "Das emanzipatorische Interesse ist das Interesse des Menschen an der Erweiterung und Erhaltung der Verfügung über sich selbst. Es zielt auf die Aufhebung und Abwehr irrationaler Herrschaft, auf die Befreiung von Zwängen aller Art. Zwingend wirkt (...) auch die Befangenheit in Vorurteilen und Ideologien. Diese Befangenheit lässt sich wenn nicht völlig lösen, so doch vermindern, durch die Analyse ihrer Genese, durch Kritik und Selbstreflexion." (Lempert 1969, zit. nach Wulf 1983: 164) Abgesehen davon, dass diese Definitionen von einem aus heutiger Sicht geradezu naiv anmutenden Glauben an eine überhistorische und unabhängig von den jeweils gegebenen Machtverhältnissen existierende Rationalität getragen sind, erstaunt es heute auch, dass die mit derartigen Umschreibungen grundgelegte emanzipatorische Pädagogik zum Enfant terrible der pädagogischen Szene werden konnte.


...zum Systemerfordernis

Zwischenzeitlich ist nämlich die seinerzeit in Opposition und Abgrenzung zum erziehungswissenschaftlichen Mainstream idealisierte Zielsetzung emanzipatorischer Pädagogik - das selbstreflexive, rationale und kritische Individuum - nachgerade zum gesellschaftlichen Idealtypus avanciert. Die durch technologische Entwicklungen und die fortschreitende Internationalisierung des wirtschaftlichen Geschehens ausgelöste massive Verschärfung der Konkurrenz zwischen Regionen, Firmen und Arbeitskräften hat die Anforderungen für gesellschaftlichen Erfolg völlig verändert. Wie Ulrich Bröckling in seinem Buch "Das unternehmerische Selbst" schreibt, darf heute "nichts (...) dem Gebot der permanenten Selbstverbesserung im Zeichen des Marktes entgehen. (...) Selbst der Einspruch, die Verweigerung, die Regelverletzung lassen sich in Programme gießen, die Wettbewerbsvorteile versprechen." (Bröckling 2007: 283, Hervorhebung E.R.) Selbstbestimmung, Selbstreflexion, Autonomie sowie auch das Hinterfragen und der Widerstand gegen unhinterfragt Geglaubtes sind inzwischen zu gesellschaftlichen Metaforderungen avanciert und werden als unabdingbare Notwendigkeiten für den Fortbestand der Gesellschaft sowie den ökonomischen Erfolg von Betrieben und Institutionen bezeichnet und von allen Gesellschaftsmitgliedern eingefordert. Wie der belgische Bildungsphilosoph Jan Masschelein pointiert formuliert, haben "Begriffe wie Autonomie, Selbstbestimmung, Kritik, Befreiung (...) die Fronten gewechselt, und es ist zunehmend unklar, wo überhaupt die Fronten verlaufen" (Masschelein, 2003: 129). Und er folgert, unter Hinweis auf eine Reihe von Autoren, "dass Autonomie und Kritik (zwischenzeitlich - E.R.) nicht mehr gegen die gesellschaftliche Ordnung und gegen Herrschaft und Macht eingebracht werden können, sondern (...) als avancierteste Form der Macht zu deuten" (ebd.: 130) sind. Damit ist den seinerzeit unter emanzipatorischem Anspruch idealisierten Erziehungszielen allerdings weitgehend ihre gesellschaftskritische Potenz verloren gegangen. Es ist kaum mehr möglich, sie gegen die gesellschaftliche Ordnung und gegen die derselben innewohnende Herrschaft und Macht in Stellung zu bringen - letztendlich sind sie zu einem integralen Bestandteil des Status quo geworden.

Schon vor fast 15 Jahren hat Jean-François Lyotard diesbezüglich festgestellt: "Emanzipation ist nicht mehr als Alternative zur Realität angesiedelt, sie ist kein Ideal mehr, das ihr zum Trotz erobert und ihr von außen aufgezwungen werden muss. Sie ist vielmehr eines der Ziele, die das System (...) erreichen will (...)." (Lyotard 1998: 69) Das kommunikations- und konfliktfähige, kritische, autonom und selbstbewusst handelnde Individuum steht nicht im Widerspruch zum fortgeschrittenen, international und unter weitgehend entgrenzten Konkurrenzbedingungen agierenden Kapitalismus. Ganz im Gegenteil, dieses Individuum ist für das System zwischenzeitlich notwendig und funktional geworden. Genau eine derartige "emanzipatorische Verfasstheit" der menschlichen Subjekte braucht das System nämlich, um weiterhin operativ zu sein. Damit ist es heute aber nicht mehr bloß absurd, Emanzipation als Kampfbegriff gegen die Herrschaft des Menschen über den Menschen in Stellung bringen zu wollen; Emanzipation - so wie sie von den Apologeten der emanzipatorischen Pädagogik gefasst worden war ist letztendlich sogar zu einer besonders avancierten Form der Zementierung gegebener Herrschaftsbedingungen geworden.


Politische Emanzipation...

Um nachvollziehen zu können, wieso es innerhalb kürzester Zeit offenbar ziemlich problemlos möglich war, den mir systemkritischem Pathos in die Welt gesetzten Kampfbegriff Emanzipation durch das System zu "vereinnahmen" und als eine systemstützende Größe zu etablieren, erscheint es mir hilfreich, auf die Unterscheidung zwischen "politischer" und "menschlicher Emanzipation" zurückzugreifen, wie sie von Karl Marx eingeführt wurde. Marx postulierte schon in seinen Frühschriften, dass "politische Emanzipation" keineswegs im Widerspruch zu den Prämissen der bürgerlichen Gesellschaft steht, sondern dass ganz im Gegenteil der Kampf um diese sogar ein ganz wesentliches Element zur Durchsetzung dieser Gesellschaftsformtion war. Er umschrieb politische Emanzipation als die Freisetzung der Menschen von persönlichen Abhängigkeiten und ihre Etablierung als gleichberechtigte Mitglieder im bürgerlich-demokratischen Staat. Marx stellte dabei ausdrücklich klar, dass politische Emanzipation einen großen Fortschritt gegenüber der vorherigen gesellschaftlichen Verfasstheit darstellt, er schrieb allerdings auch, dass die Aufhebung politisch legitimierter Ungleichheit nur die Vorstufe für eine tatsächliche, von ihm als "menschlich" apostrophierte Emanzipation sein kann.

Politische Emanzipation steht für die Befreiung als Staatsbürger und das Herstellen politischer Gleichheit - Menschen stehen einander als gleichberechtigte und unabhängige Individuen im Kampf um mehr oder weniger gute (Über)Lebensmöglichkeiten gegenüber. In der politischen Sphäre sollen sie sich als Teil einer Gemeinschaft von Gleichberechtigten als Gemeinwesen - empfinden, im sozialen Leben aber als egoistische Privatmenschen agieren, indem sie andere Menschen und letztendlich auch sich selbst zum Mittel für das Herausschlagen eines Konkurrenzvorteils degradieren und sich dergestalt zum Spielball der ihnen aufgeherrschten Macht des Werts machen. Gleich sind sie nur insoweit, als sie alle im gleichen Maß Mittel zum Erreichen des außer ihnen liegenden Metazwecks des bürgerlich-kapitalistischen Systems - des Generierens von Wert - sind. Mensch liebe Emanzipation und damit tatsächliche Freiheit würde dagegen bedeuten, dass es Menschen gelänge, die ihnen auferlegte Spaltung in Gemeinwesen und egoistischen Privatmenschen zu überwinden, sich also von der Determinierung durch den Wert zu befreien und sich, mit den Worten Kants, "zu ihrem eigenen Zweck" machen. Politische Emanzipation ist eben nicht "Freiheit für alle", sondern bloß eine für alle in gleicher Form gegebene Unfreiheit. Alle - ohne Ansehen der Person sind der Rationalität der Verwertung und der Verwandlung von Geld in mehr Geld unterworfen. Konsequent verwirklichte politische Emanzipation bedeutet, dass tatsächlich nur mehr das mehr oder weniger rationale Verhalten von Menschen darüber entscheidet, welche Positionen in der gesellschaftlichen Hierarchie ihnen zukommt - ihre Verwertbarkeit bestimmt über ihren gesellschaftlichen Wert.


...heißt nicht Befreiung der Menschen

Dass eine derartige politische Emanzipation bis heute nicht völlig umgesetzt ist, ist offensichtlich. Im "Kampf aller gegen alle" haben noch lange nicht alle Menschen die gleichen Möglichkeiten. Der soziale und familiäre Hintergrund von Menschen, ihre finanziellen Möglichkeiten, ihr Geschlecht, ein eventuell vorhandener Migrationshintergrund oder ihre nicht gegebene Staatsangehörigkeit, verschiedentlich auch sexuelle Präferenzen oder religiöse Zugehörigkeit sowie eine Reihe weiterer persönlicher Faktoren wirken sich als Handycap im allgemeinen Verteilungskampf aus. Insbesondere die sich als "emanzipatorisch" bezeichnende Erziehungswissenschaft hat ihre Forderung nach fortschreitender Demokratisierung der Gesellschaft dementsprechend auch immer mit der Analyse der und dem Kampf gegen die ungleichen Bildungschancen und systematischen Benachteiligungen von Teilen der Gesellschaft (auch) im Bildungswesen verbunden. Und seit Bestehen der bürgerlichen Gesellschaft gibt es eine ganze Reihe gesellschaftlicher Kräfte, die sich der endgültigen Durchsetzung und dem Ausbau der politischen Emanzipation verschrieben haben. Gewerkschaften, (insbesondere sozialdemokratische) Parteien, aber auch religiös und allgemein humanitär motivierte Gruppen führen einen stetigen Kampf dafür, dass alle Menschen im gleichen Maß das Recht haben, sich "ohne Ansehen ihrer Person" den aus dem Zwang zur Verwertung von allem und jedem abgeleiteten Leistungskriterien stellen zu dürfen. Gekämpft wird darum, dem System, das auf dem Kampf um die Maximalrendite beruht, jene Gerechtigkeit abzutrotzen, die es von Anfang an versprochen hat - für alle gleiche Chancen bereitzustellen, zu Gewinnern oder Verlierern werden zu können.

Emanzipation gesellschaftlich Benachteiligter hat in diesem Sinn kaum je etwas anderes bedeutet, als die dem bürgerlich-kapitalistischen System eingeschriebene Logik - jene Rationalität, die in den durch Eigentum, Ware und Staat bestimmten Prämissen vorgegeben ist - endgültig zur vollen Geltung bringen zu wollen. Der in unterschiedlichsten Varianten geführte Kampf um politische Emanzipation war ein Kampf um Emanzipation innerhalb der Bedingungen des gegebenen politisch-ökonomischen Status quo, kaum je einer um Emanzipation von diesen. Die Grundprämisse des Systems, die Koppelung der (Über) Lebensmöglichkeiten von Menschen mit dem Maß ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, sich im Verwertungssystem einzubringen, war stets sakrosankt. Idealisiert wurde bloß ihre Fähigkeit, die Durchsetzung der vom bürgerlichen Staat versprochenen "Chancengleichheit" im Konkurrenzkampf zu erkämpfen - also das Herstellen fairer Bedingungen im Kampf aller gegen alle innerhalb eines auf Ungleichheit beruhenden gesellschaftlichen Systems. Emanzipation wurde begriffen als die Aufhebung politisch festgelegter hierarchischer Unterschiede zwischen den durch den Begriff Staatsbürger als Gleiche suggerierten Angehörigen der Gesellschaft. Ziel emanzipatorischer Bemühungen war die Ermächtigung zur gleichberechtigten Teilhabe am System dafür galt es, den Mut und die Fähigkeit zu entwickeln, die je eigenen Interessen zu begreifen und gegen Übervorteilung aufzutreten.

Indem die allgemeine Vorstellung, was Emanzipation bedeutet und wie sie sich äußert, kaum je über die der immanenten Logik des Systems geschuldeten Vorstellung von (ökonomischer) Vernunft hinausgegangen ist, blieben die sich als Gegenmacht (Countervailing Power - Galbraith) verstehenden Kräfte letztendlich auch immer in den Strukturen der Macht gefangen. Auch die emanzipatorische Pädagogik blieb - trotz ihrer avancierten Zielsetzungen - auf diese Art dem bürgerlich-kapitalistischen System verpflichtet. Indem Mollenhauer formulierte, "dass das erkenntnisleitende Interesse der Erziehungswissenschaft das Interesse an Emanzipation" sei, und daraus folgerte, dass es somit um die "Befreiung der Subjekte (...) aus Bedingungen, die ihre Rationalität und das mit ihr verbundene gesellschaftliche Handeln beschränken" (Mollenhauer 1968: 10f.), bindet er pädagogisches Handeln - trotz seines kritischen Impetus - unversehens an das herrschende System. Unter dem Fokus, das gegebene Gesellschaftssystem überwinden zu wollen, ergäbe die Forderung, dass Bildung vernünftige Subjekte hervorbringen soll, nämlich nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass es eine vom gesellschaftlichen Status quo unabhängige Rationalität gebe, die dem Menschen zugänglich sei und mittels der er sich der Logik des Systems kritisch gegenüberstellen könne.


Das Subjekt - ein Kind von Macht und Vernunft

Spätestens seit Foucault können wir uns aber um das Wissen der hoffnungslosen Verschränktheit von Vernunft und Macht nicht mehr drücken. Zwar hat Herbert Marcuse (1967) auch schon in Zeiten der Hochblüte der emanzipatorischen Pädagogik massiv infrage gestellt, dass es gerechtfertigt wäre, die herrschende Rationalität als "vernünftige" Einsicht zu bezeichnen. In seiner berühmten Rede am Kongress des SDS in Berlin 1967 stellte er die Bezugnahme auf eine überhistorische Rationalität in Zweifel, indem er argumentiert, dass der Stand der Produktivkräfte längstjede vernünftige Rechtfertigung für Armut, Krieg und ökologische Zerstörung absurd erscheinen lasse, aber aufgrund "der totalen Mobilisierung der bestehenden Gesellschaft gegen ihre eigenen Möglichkeiten der Befreiung" (ebd.: 12) - dennoch ungebrochen an gegebenen Machtstrukturen festgehalten wird. Aber erst Foucault hat mit unmissverständlicher Deutlichkeit die Möglichkeit einer Selbstgründung des Individuums nach Maßgaben der Vernunft, Wahrheit, Selbsterkenntnis und Ähnlichem als Illusion entlarvt und der auf kritisch-rationaler Reflexion beruhenden Emanzipationsvorstellung der Moderne damit eine radikale Absage erteilt. Die Frage der Beziehung von Wahrheit und Macht, die sein Werk über weite Strecken bestimmt, beantwortet er, indem er in Abrede stellt, dass Wahrheit und Macht überhaupt voneinander losgelöst existieren - sie sind, wie die Seiten einer Münze, zwei Erscheinungsformen desselben. In einem Interview brachte Foucault die Sache auf den Punkt, indem er formulierte: "'Wahrheit selbst ist die Macht." (Foucault i978: 54) Sie "ist von dieser Welt" (ebd.: 51), also keine transzendente Größe, sondern Ausdruck der herrschenden Machtverhältnisse. "Die Wahrheit ist zirkulär an Machtsysteme gebunden, die sie produzieren und stützen, und an Machtwirkungen, die von ihr ausgehen und sie reproduzieren." (ebd.: 54) Wahrheit ist demnach nicht das Ensemble wahrer Dinge", sondern das "Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden" (ebd.: 53) wird. So gesehen ist Rationalität - das vernunftgeleitete Denken - aber letztendlich nichts anderes als eine Artikulation der Macht, als eine Orientierungsmarke für Selbstbestimmung - im Sinne einer Absetzbewegung des Subjekts von Macht - damit aber völlig ungeeignet (vgl. Masschelein 2004: 89).

Das Subjekt existiert nicht unabhängig von Vernunft und Macht, es ist - ganz im Gegenteil - unmittelbarer Effekt von deren Zusammenwirken: Im Subjekt findet die unselige Verknüpfung von Macht und Vernunft statt. Einerseits schafft die herrschende Vernunft überhaupt erst ein spezifisches Verständnis davon, was ein Subjekt ist und bringt es auf diese Art in einer bestimmten Ausprägung zur Geltung und andererseits tradieren die vernünftig (im Sinne der Herrschaft) agierenden Subjekte kraft ihres Selbstverständnisses die gegebenen Machtstrukturen. Im Subjekt wird die Verschränkung von Macht und Wissen konkret - jenseits des "Macht-Wissen Dispositives" existiert so etwas wie ein Subjekt überhaupt nicht. Dementsprechend ist das Subjekt in seiner aktuell gegebenen Erscheinungsform sowohl Folge der in Form "pastoraler Führung" (Foucault) zur Geltung kommenden Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft als auch zentrale Größe zum Aufrechterhalten derselben. Indem das Subjekt über "Selbstreflexivität" - im Sinne des permanenten Hinterfragens der je eigenen Gedanken, Sehnsüchte, Ängste, Wünsche und des eigenen Verhaltens im Namen der (systemgeschuldeten) "Vernunft" definiert wird, stellt es letztendlich nur ein Synonym für das Selbstanlegen jener "Fesseln" dar, die verhindern, dass die Prämissen der Macht unterlaufen werden. Das von der (emanzipatorischen) Pädagogik idealisierte, autonome, selbstreflexive und vernünftige Subjekt ist tatsächlich nichts anderes, als der "Durchgangspunkt von Machtbeziehungen" (Masschelein 2003: 126) und nicht ein unbeeinflusst von diesen agierendes Gegenüber. Dementsprechend ist es absolut unangebracht, das emanzipierte Subjekt als jene souveräne Instanz zu idealisieren, die kraft kritisch-rationaler Reflexion die Macht in ihrem Bestand zu gefährden imstande ist.

In einer Gesellschaft, die auf Konkurrenz und Warenrausch beruht, ist es ein Vernunftbeweis, andere zu übervorteilen und dergestalt die Bedingungen des eigenen Überlebens zu optimieren. Ein derartiges Handeln dahingehend zu interpretieren, dass jemand dabei irgendwelchen "niedrigen Instinkten" folgen würde, geht völlig an der Realität vorbei. Andere auszustechen, zu verdrängen und in ihren Lebensmöglichkeiten zu beschneiden, ist in der Konkurrenzgesellschaft nicht das Resultat eines bösartigen, von Gier oder Geiz getragenen egoistischen Verhaltens, sondern schlicht und einfach vernünftig. Die in den gesellschaftlichen Strukturen zum Ausdruck kommende Rationalität drängt den einzelnen mit aller Macht dazu, sein Leben möglichst perfekt unter den Aspekt der Nutzenmaximierung zu stellen. In letzter Konsequenz besteht ja die Macht eines gesellschaftlichen Systems in der Identität von Systemprämissen und geltender Wahrheit. Somit kann das vernünftige Subjekt - das sich an "der Wahrheit" orientierende Ich - nie etwas anderes sein, als Erfüllungsgehilfe des Systems. Und unter Bedingungen des Marktsystems beweist sich jemand als vernünftig, wenn er alles zu Markte trägt und so teuer wie nur möglich als Ware verkauft, was sich innerhalb seines Verfügungsbereichs zur Verwertung eignet, sowie sich im Gegenzug alles dessen er bedarf, so billig wie möglich am Markt verschafft. Wer sein Leben nicht solcherart am Kosten-Nutzen-Kalkül ausrichtet, wird nicht nur in der Werbung als "Blödmann" abqualifiziert. Indem das System einen derartigen Korridorblick erzwingt, wird dieses Verhalten schlussendlich nicht bloß als "strategisch vorteilhaft", sondern als ein Konstitutionsmerkmal des Subjekts - als "natürlich" - begriffen, womit aber zugleich jedes Alternativverhalten in den Bereich der Unvernunft rückt. Gleichzeitig reproduziert das als vernünftig geadelte Verhalten von Menschen permanent die auf Warentausch beruhenden gesellschaftlichen Verhältnisse, somit aber auch den auf jeden Einzelnen wirkenden "Zwang der Wahrheit", sich weiterhin so zu verhalten.


Transformation des Subjekts

Indem die herrschende Vernunft und was unter Anwendung derselben als Wahrheit gilt, die konstituierenden Bedingungen des Subjekts darstellen, ist das Finden einer Wahrheit die über das System hinausweist, somit aber letztendlich nur über den Weg einer Transformation des Subjekts möglich. Erst wenn das Subjekt quasi über sich selbst hinauswächst und insofern zu einem anderen wird, als es (in Teilbereichen) den Anruf negiert, sich zu sich selbst und zu anderen so zu verhalten, wie es einem als "vernünftig geltenden Subjekt" zukommt, wächst eine neue Wahrheit heran. In diesem Sinn folgert Foucault, dass (tatsächliche) Kritik am System erst dann gegeben ist, wenn diese sich nicht bloß darin erschöpft, eine "Überprüfung unter dem Anspruch der Vernunft" vorzunehmen, sondern sich in Form einer praktischen Verweigerung einer bestimmten Regierungs- und Subjektivitätsform äußert. Kritik ist für ihn deshalb nicht als rationaler Akt zu fassen, sondern als "Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin" (Foucault 1992: 15). Wie Maschellein (2003: 139) schreibt wird Mündigkeit "in dieser Linie nicht als rationale Autonomie und Projekt rationaler Kritik gesehen, sondern als eine praktische Haltung, in der man sich der Interpellation, sich auf diese bestimmte Weise zu sich selbst und anderen zu verhalten, entzieht". "Ein solches Unternehmen" so Foucault - "ist das einer Ent-Subjektivierung", eine Aktion, in der sich "das Subjekt von sich selbst losreißt" und daran hindert, weiterhin "derselbe zu sein" (Foucault 1996: 27). Im Sinne dieser Argumentation bedeutet Emanzipation also, sich der herrschenden Vernunft - die sich im Appell äußert, eine bestimmte Selbst- und Fremdwahrnehmung zu pflegen und ein bestimmtes Sein zu verwirklichen nicht bloß in Form rationaler Argumentation, sondern "in der Tat" zu verweigern. Eine derartige konkrete, "veränderte Erprobung seiner selber" stellt nach Foucault als praktische "Kritik dessen, was wir sind, zugleich die historische Analyse der uns gegebenen Grenzen (...) und ein Experiment der Möglichkeit ihrer Überschreitung" (Foucault 1990: 53) dar.

Konkret bedeutet die "veränderte Erprobung seiner selbst" nichts anderes als ein Sich-Einlassen auf Erfahrungen, die über den Erfahrungshorizont hinausweisen, den das System üblicherweise bereitstellt, und die dazu animieren, das Verhältnis zu sich selbst und zur Welt "unmittelbar" anders zu begreifen. Das Subjekt kann sich von den es bestimmenden, habitualisierten Herrschaftsstrukturen nur emanzipieren, indem es sich in Erfahrungen "stürzt", durch die es sich selbst den Boden unter den Füßen wegzieht. Der "normale" Erfahrungsraum, in dem sich Menschen im Rahmen des gegebenen gesellschaftlichen Systems bewegen, ist definiert durch Verwertung und Konkurrenz. Diese "normalen" Erfahrungen stellen - im durchaus wörtlichen Sinn - den "Nährboden" der herrschenden Vernunft dar, dergemäß es schlichtweg verrückt ist, Mitmenschen nicht als Konkurrenten und die Welt (einschließlich seiner selbst) nicht als Ausbeutungsobjekt wahrzunehmen und zu behandeln.

Darüber hinaus bleibt Kritik am herrschenden System, die sich darin äußert, dass seine Absurdität mit den Mitteln der Rationalität zu belegen versucht wird, völlig den Systemprämissen verhaftet und stellt in letzter Konsequenz nur ein Einübungsritual in dieselben dar. Wer ein System besiegen will, muss sich - egal ob er das mit Waffengewalt oder auch nur intellektuell versucht - auf den Kampfplatz begeben, auf dem das System zu Hause ist. Konkurrenz, Sieg und Niederlage sind Dimensionen herrschaftsförmiger Systeme, sich auf sie einzulassen bedeutet letztendlich, sie als adäquate Mittel des sozialen Umgangs zu akzeptieren. Das Bewusstsein der Kämpfer wird auch durch einen aus gesellschaftskritischem Engagement gespeisten Kampf im Sinne des auf Macht und Herrschaft programmierten Systems deformiert. In der liberalen und sozialistischen Mythenbildung werden Kampf und Erkämpftes zwar als Gang des Fortschritts und der Befreiung imaginiert, tatsächlich mündet aber auch jeder Kampf für eine "herrschaftsfreie Welt" in der Aporie, dass die Kämpfer untauglich für ein Leben in der herbeigesehnten besseren Welt werden (vgl. Glatz 2012: 21) und diese somit nicht nur nicht verwirklichen können, sondern ihrer Verwirklichung letztlich massiv im Wege stehen. Kämpfer für eine bessere Welt sind eben bestenfalls in der Lage das jeweils im Amt befindliche "Personal der Herrschaft" zu stürzen; die Herrschaft selber jedoch "ist ein Phönix, sie entsteht neu aus der Flamme des Kampfes" (ebd.: 22).


Erfahrungen jenseits des Werts

Nicht die Exekutionsorgane der Macht sichern in erster Linie Herrschaft ab, sondern die Tatsache, dass es nur um den Preis der Unvernunft möglich ist, über die Wahrheitsgrenzen des Systems hinauszudenken. Anerkanntes vernünftiges Subjekt zu sein, ist gleichbedeutend damit, ein durch die Rationalität des Systems kolonialisiertes Bewusstsein zu pflegen und qua diesem dem System in die Hände zu arbeiten. Vom ersten Moment unseres Daseins an, sind wir mit einer Lebensweise konfrontiert, die uns das kritische Belauern unserer Mitmenschen und den Kampf gegen sie als einzig vernünftige Verhaltensweise erscheinen lässt. Konkurrenz ist die sich permanent in den Vordergrund drängende Größe in unserem Denken und Handeln und wird sogar dann zum selbstverständlichen Bezugspunkt, wenn wir Vorstellungen der Überwindung des Systems zu entwickeln versuchen. Ein System kann nicht aufgerieben werden, indem, wie in einer Mathematikaufgabe, die richtige Lösung gesucht und gefunden wird - systemadäquates Verhalten wird durch Erfahrungen erlernt, genauso muss es auch verlernt werden. Emanzipation von der uns auferlegten Subjektivität und das Fördern einer Individualität die jenseits der internalisierten (ökonomischen) Vernunft liegt, kann nur auf Basis von Erfahrungen geschehen, die fern von Verwertung und Konkurrenz angesiedelt sind. Das Unterlaufen der Prozesse der Subjektivierung durch die Strukturen der Normalität bedeutet, sich auf Erfahrungen mit sich selbst und mit anderen einzulassen, die die Logik des Systems konterkarieren; Erfahrungen, die von einem dem System völlig fremden Bestimmungsmerkmal gekennzeichnet sind - nämlich von Zuneigung und (Nächsten)Liebe.

Wenn die "Bedingung der Möglichkeit von Emanzipation" aber konkrete Erfahrungen von Aspekten eines Lebens sind, das nicht unter der Prämisse des Werts steht, hat das weitreichende Konsequenzen für pädagogisches Handeln. Pädagogik, der es tatsächlich um eine Ermächtigung von Individuen zum Sprengen der Grenzen des Systems ginge, müsste erkennen, dass sie ihr Ziel gar nicht erreichen kann, wenn sie sich auf das Werkzeug der vernünftigen Reflexion beschränkt. Auf diesem Weg kann sie letztendlich immer bloß dem zum Durchbruch verhelfen, was von Marx als politische Emanzipation bezeichnet wurde. Es fehlt ihr das Instrumentarium, um Menschen zu mehr zu befähigen als zu einem Kampf um gerechtere Bedingungen innerhalb des gegebenen gesellschaftlichen Status quo. Wollte Pädagogik tatsächlich den Mut fördern, die Grenzen des Systems zu übersehreiten, müsste sie sich der "Frage nach den Chancen des Individuums, seiner eigenen Verstrickung in die historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber Distanz wahren" (Dietrich/Müller 2000: 12) zu können, radikal neu stellen. Und dabei müsste sie wohl auch in Rechnung stellen, dass der Mensch mehr wie eine rational gesteuerte Maschine funktioniert, sondern sein Verhalten ganz entscheidend auch von seinen der Vernunft nur äußert bedingt zugänglichen und vom System entsprechend weniger kolonialisierten Sehnsüchten nach Zwischenmenschlichkeit, unmittelbarer Lebendigkeit oder ästhetischer Befriedigung beeinflusst wird. Möglicherweise muss in Zeiten, in denen das rationale Hinterfragen der Ordnung zu einem Element ihrer Optimierung geworden ist, die Förderung des mündigen Individuums nicht als rational gewonnene Autonomie und als ein Projekt rationaler Kritik gesehen werden, sondern an derartigen unmittelbaren Aspekten des Menschseins ansetzen.


Eine gänzliche andere Form des Verhältnisses zueinander

Das politisch-ökonomische System Kapitalismus durchläuft gegenwärtig einen gewaltigen Modifizierungsprozess, dessen Verlauf die Hoffnung auf einen "Kapitalismus mit menschlichem Antlitz" immer mehr als Illusion entlarvt. Der Wandel des Kapitalismus impliziert zum einen den von mir skizzierten Effekt, dass jener Typus des autonomen Subjekts, dessen Förderung die emanzipatorische Pädagogik auf ihre Fahnen geschrieben hatte, zum gesellschaftlichen Idealtypus avanciert und die Pädagogik mit gesellschaftskritischem Anspruch auf diese Art ihrer Zielvorstellung verlustig geht. Zum anderen führt der mit gewaltigen sozialen Verwerfungen verbundene Übergang zu einem postbürgerlichen Kapitalismus aber auch zu neuen Versuchen von Menschen, ihr Leben besser mit ihren Sehnsüchten und vitalen Bedürfnissen in Einklang zu bringen. Vielfach nur als Notmaßnahme - weil ihnen eine Normalexistenz als Verkäufer ihrer eigenen Arbeitskraft und als Konsument von Waren, die nur unter dem Aspekt des Profits produziert wurden, verwehrt wird - beginnen sie neue Arbeits-, Lebens- und Konsumformen zu erproben. Vielfach sind es gar nicht theoretisch-gesellschaftskritische Reflexionen, die Menschen dazu bringen, mit Umsonst-Läden, Tauschkreisen, solidarischer Landwirtschaft, Lastenfahrrad-Kollektiven, Guerilla-Gardening, Liquid Democracy oder schlicht und einfach Nachbarschaftshilfe zu experimentieren. Und wenn diese Experimente auch häufig von Menschen initiiert werden, die aus dem gesellschaftlichen Verwertungszusammenhang hinauskatapultiert wurden oder es erst gar nicht geschafft haben, in diesem Fuß zu fassen, geht es dabei in der Regel um wesentlich mehr als um eine alternative Form des Durchkommens. Allen solchen Projekten ist gemein, dass die involvierten Menschen eine gänzlich andere Form des Verhältnisses zueinander einnehmen, als dies in der ökonomischen Sphäre üblich und möglich ist.

Letztendlich sind derartige Projekte überhaupt nicht als ökonomische Unternehmungen zu begreifen, sondern einzig als Versuche von Menschen, in einer Form zu leben und miteinander umzugehen, in der nicht der Wert und das Verwertungspotenzial von allem und jedem bestimmend ist. Sie sind getragen von einem offenbar "tief verwurzelten" Wunsch nach einer humaneren Welt in der grundsätzlich jedem Menschen Würde zukommt - einer Welt also, in der es nicht um eine Gleichheit vor dem Diktat der Verwertung geht, sondern um tatsächliche menschliche Gleichheit. Das heißt selbstverständlich überhaupt nicht, dass es in derartigen Projekten immer friedlich und freundschaftlich zugeht; der gravierende Unterschied besteht "bloß" darin, dass die Macht des Killerarguments der kapitalistischen Ökonomie, die Relation von Investition und Profit, zumindest in dem Maß gebrochen ist, als dies in einer Enklave in der auf Verwertung programmierten Welt möglich ist. Was in derartigen Projekten also geschieht, sind zarte Ansätze der Verwirklichung einer solidarischen Gesellschaft und damit tatsächlich menschlicher Emanzipation.

Wie schon ausgeführt, betont Foucault, dass eine Distanzierung von der bürgerlichen Regierungs- und Subjektivitätsform nicht über den Weg autonomen Denkens erfolgen kann, sie verwirklicht sich eher als spontane und vor allem tätige Verweigerung. Emanzipation, im Sinne einer Distanzierung von dem das rationale Denken beherrschenden System, ist dementsprechend kein Projekt rationaler Kritik, sondern eine konkret-praktische Haltung, die sich dem Aufruf zum systemgemäßen Verhalten gegenüber sich selbst und andern verweigert. Nicht das rationale Hinterfragen und Gewinnen von Distanz durch Entwickeln alternativer Normen und Prinzipien lässt auf Emanzipation von der durch das System verkörperten Macht hoffen, sondern das tatsächliche Unterlaufen desselben in (in der Regel wohl mikroskopisch kleinen) Teilaspekten des Lebens. Eine in dieser Form gewonnene Erfahrung in einem der angesprochenen Projekte kann vielleicht Bedingung der Möglichkeit für tatsächliche Emanzipation sein und Selbstbefreiung initiieren, somit also zu dein führen, was Foucault als "Entunterwerfung" bezeichnet (Foucault 1992: 15).


Literatur

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Dietrich, Cornelie / Müller, Hans-Rüdiger (Hg.) (2000): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken, Weinheim und München: Juventa.

Foucault, Michel (1978): Wahrheit und Macht. Interview mit A. Fontana u. P. Pasquino, in: Ders.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve Verlag, S. 21-54.

Foucault, Michel (1990): Was ist Aufklärung?, in: Erdmann, Eva / Forst, Rainer / Honneth, Axel (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt/M. und New York: Campus, S. 35-54.

Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik?, Berlin: Merve Verlag.

Foncault, Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Glatz, Lorenz (2012): Vermutungen über Kampf, in: Streifzüge 56, Wien.

Habermas, Jürgen (1968): Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Lyotard, Jean-François (1998): Postmoderne Moralitäten, Wien: Passagen-Verlag.

Marcuse, Herbert (1967): Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967, Berlin: Verlag Peter von Maikowski.

Marx, Karl (1976): Zur Judenfrage, in: Marx, Karl / Engels, Friedrich - MEW, Band 1, Berlin (Ost): (Karl) Dietz Verlag, S. 347-377.

Masschelein, Jan (2003): Trivialisierung von Kritik. Kritische Erziehungswissenschaft weiterdenken, in: Benner et al. (Hg.): Kritik in der Pädagogik. Versuche über das Kritische in Erziehung und Erziehungswissenschaft, Weinheim/Basel/Berlin: Beltz Verlag, S. 124-141. (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 46).

Masschelein, Jan (2004): 'Je viens de voir, je viens d'entendre'. Erfahrungen im Niemandsland, in: Ricken, Norbert / Rieger-Ladich, Markus (Hg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 95-115.

Mollenhauer, Klaus (1968): Erziehung und Emanzipation. Polemische Skizzen, München: Juventa.

Wulf, Christoph (31983): Theorien und Konzepte der Erziehungswissenschaft, München: Juventa.

*

Immaterial World

Stigmergie

von Stefan Meretz

Wenn Kooperation nicht das Gegenteil der Konkurrenz ist (vgl. Streifzüge 56/2012) - was dann? Gibt es Formen der Kooperation, die nicht konkurrenzförmig strukturiert sind? Die gibt es, und darum soll es im Folgenden gehen.

Kooperation ist das Zusammenwirken von Individuen mit dem Ziel, ein kohärentes Ganzes zu schaffen. Dabei müssen die Entscheidungen und Aktivitäten der Beteiligten so organisiert und synchronisiert werden, dass die zur Zielerreichung erforderlichen Teilaufgaben zueinander passen und sich ergänzen. Gewöhnlich werden Entscheidungen und Aktivitäten personell getrennt. In hierarchischen Systemen fallen die Entscheidungen "oben" und werden "nach unten" - entsprechend differenziert nach Teilaufgaben "durchgestellt". Mir wird gesagt, was ich zu tun habe.

Bei den oft als Gegenstück angesehenen konsensbasierten Verfahren treffen alle Beteiligten die Entscheidungen, die anschließend die einzelnen Personen (oder Teilgruppen) umsetzen. Auch hier fallen häufig Entscheidung der Gruppe (als Konsens) und Umsetzung durch je mich (oder meine Teilgruppe) auseinander. Zwar bin ich an der Entscheidung beteiligt, aber um des Findens einer Entscheidung willen stelle ich meine Bedenken oder Wünsche zurück. Der Findungsprozess ist schon aufwändig genug, und um nicht alles zu blockieren, widerspreche ich dem Konsens nicht, doch die Entscheidung ist nicht immer auch die meine. Entsprechend meiner Übereinstimmung mit dem Konsens setze ich die Aufgaben mal motiviert und mal nur gezwungenermaßen um.

Mischformen aus beiden Systemen sind die Regel - von Basisdemokratie mit informellen Machthierarchien bis zum demokratischen Zentralismus linker Kaderparteien, von der Linienorganisation bis zum Lean Management in flachen Hierarchien in Unternehmen. Bei allen Formen sind Entscheidung und Ausführung mehr oder minder deutlich getrennt. Marx identifizierte hierin den Kern der "knechtenden Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit". Es sind Verfahren der Kooperation, um sich in der Konkurrenz gegen andere besser durchzusetzen. Selbstunterwerfung, Entfremdung und Zwang folgen auf dem Fuß.

Mit Stigmergie geht Kooperation auch ganz anders. Stigmergie ist hinweisbasierte Aufgabenteilung. Bei Wikipedia weisen "rote Links" etwa darauf hin, wo noch ein Artikel geschrieben werden könnte. In einer To-Do-Liste steht, was noch gebraucht wird. Nicht eine einzelne oder kollektive Instanz weist mir eine Aufgabe zu, sondern Hinweise "schlagen mir vor", was ich tun konnte - die Entscheidung liegt allein bei mir. Eine Selbstauswahl hat enorme Konsequenzen für die Motivation. Ich entscheide mich nur für Tätigkeiten, die ich wirklich, wirklich tun will.

Damit wird deutlich, dass eine Entfaltung der Stigmergie eine Abwesenheit von Sachzwängen und Fremdbestimmung voraussetzt. Stigmergie braucht die freie Entfaltung der Individualität. Sehe ich mich zur Wahl gezwungen, habe ich also nicht die Wahl der Nichtwahl, weil ich mich fremden Zwängen unterwerfen muss (etwa denen des Geldverdienens), so ist auch die Wirkung von Stigmergie begrenzt. Daher funktioniert Stigmergie auch nicht gut für kleine Systeme. Das wird jede* kennen, die auf die eigene To-Do-Liste schaut und weiß, dass niemand kommen wird, um die Aufgaben für eine* zu erledigen.

Stigmergie eignet sich für sehr große Systeme. Wenn es genug Menschen gibt, so finden auch die Aufgaben, die ich nie machen würde, eine* die sich dafür begeistert. Und Aufgaben, die wirklich niemand angehen will, sind dann auch viel leichter anderweitig lösbar. Das hängt natürlich von den gesellschaftlichen Bedingungen ab. In einer freien Gesellschaft könnten unbeliebte Aufgaben gesellschaftlich redefiniert, technisch wegrationalisiert oder organisatorisch aufgeteilt werden - nicht nach Kriterien der Verwertung, sondern nach Maßgaben unserer Bedürfnisse.

So wie die individuelle Selbstentfaltung braucht Stigmergie ebenso die freie Verfügbarkeit der Beiträge für alle. Niemand setzt freiwillig Hinweise in Lösungen um, wenn diese anschließend privat angeeignet werden. Es ist kein Zufall, dass Stigmergie in Projekten commonsbasierter Peer-Produktion eine große Rolle spielt. Kevin Carson drückt es so aus: "In einer stigmergischen Organisation wird die Intelligenz eines jeden zur Eigenschaft von allen."

Stigmergie hat die Potenz, die gesellschaftliche Vermittlung über den Markt abzulösen. Die Vergesellschaftung über Ware, Wert und Geld kann aufgehoben werden, die "knechtende Arbeitsteilung" in Planung und Ausführung, Befehl und Gehorsam, Oben und Unten verschwindet. Commons, denen das Image des Lokalen und Begrenzten anhaftet, bekommen damit eine neue Perspektive. Denn Stigmergie funktioniert nicht nur für Individuen, sondern auch für Kollektive. Aus der Arbeitsteilung wird so die gesamtgesellschaftliche Aufgabenteilung, ein polyzentrisches System stigmergisch vernetzter Commons.

Gelegentlich wird das Preissystem des Marktes als stigmergisch beschrieben. Das ist in mehrfacher Hinsicht falsch. Stigmergische Hinweise, auch Stigs genannt, beziehen sich in doppelter Weise auf Bedürfnisse. Produktive Bedürfnisse werden realisiert, wenn Hinweise auf gewünschte Aufgaben aufgegriffen werden. Nutzungsbedürfnisse hingegen drücken sich selbst als Stigs aus: "Ich bräuchte das und das, hat das wer?" Solche Hinweise, gleich ob auf die Produktion oder die Nutzung bezogen, sind immer qualitativer Art. Der Preis hingegen ist eindimensional, ist nur Quantität, und er bezieht sich auch nur auf den Bedarf, also auf eine zahlungsfähige Nachfrage.

Stigs operieren nach dem Pull-Prinzip, Preissignale hingegen im Push-Modus. Stigs drücken direkt Bedürfnisse aus, Preise wollen mir etwas verkaufen, egal, ob ich's brauche oder nicht. Stigs ziehen Kreativität, Ideen, Selbstentfaltung und Energie an, denn alles geschieht freiwillig. Preise fungieren als Mittel der Überredung (Sonderangebot) oder der Bestechung (Arbeitslohn).

Ist Stigmergie die lange gesuchte Form der gesellschaftlichen Vermittlung jenseits von Markt und Plan?

Dank für die Durchsicht an Benni Bärmann, dem (Er-)Finder der "Stigs".

*

Auslauf

Lauf des Lebens?

von Franz Schandl

Es wird schon wieder funktionieren.
Es hat immer funktioniert.
Es muss funktionieren.
Es funktioniert.

Der letzte Fluchtpunkt des Kapitals ist das bürgerliche Subjekt. Selbst wenn es nicht mehr glaubt, tut es so, als ob es glauben könnte. Irgendwie wird es schon gehen. Es muss. Jammern verboten! Dieses System läuft weiter, nicht weil die Eliten so gerissen sind - sie sind vielmehr ratlos -, es basiert immer mehr auf den Fundamenten der Fiktion. Dieser Glaube ist weniger ein Bekenntnis zu als eine Kenntnis von - aber die wird jeden Tag erworben und gefestigt. Dieser Vollzug reproduziert stets das notwendige falsche Bewusstsein, das so überlebensnotwendig ist wie lebensfeindlich.

Positives Denken will jede Klage in eine Zustimmung überführen. Ziel ist die sich selbst steuernde Monade. Das Subjekt ist ein Brutkasten der Suggestion. Die Verunsicherung ist zwar allgegenwärtig, an allen Ecken und Enden droht sie, ja sie ist unleugbar, aber sie wird sofort, quasi automatisch umgepolt. Ich kann es schaffen, und so ganz falsch ist das auch nicht, selbst wenn es meistens nicht stimmt. Vergessen wir auch nicht, dass die Folgen vieler Erfolge durchaus verheerend sind.

Aus der Verunsicherung wird eine Sicherung und im negativen Fall eine Entsicherung, die nach Schuldigen sucht. Aber die erste Reaktion ist nicht das Ressentiment, sondern das Arrangement. Dieses meint nicht unbedingt Opportunismus. Das Arrangement kann durchaus auch mit Unbehagen, ja Kritik einhergehen, diese bleiben allerdings ohne Konsequenz in der Welt praktizierter Affirmation. Der Kapitalismus mag immer weniger überzeugen, aber man richtet es sich trotzdem so ein, als wäre man überzeugt. Analyse und Synthese fallen auseinander.

Die Synthese ist primär sinnlicher Kultur. Unser Problem ist die affektive Einstimmung, die letztlich als effektive Übereinstimmung handgreiflich wird. Die bürgerliche Alltagsreligion ist nicht als gesonderte Verzauberung auffällig, weil sie die allgemeine ist. Ihre Besonderheit besteht darin, dass wir durch den tätigen Vollzug unseres profanen Daseins permanent in dieser Logik handeln. Diese Prämissen erscheinen nicht als außergewöhnliche Zumutung, sondern als der gewöhnliche Lauf des Lebens. Kritik selbst bricht im Alltag zusammen, eben weil sie nicht lebbar, sondern maximal sagbar ist. Viele halten sie gerade aufgrund dieses Widerspruchs sowieso für unsäglich, vertane Lebenszeit, neben den nötigen Opfern ein unnötiges sozusagen.

Sie wissen nicht, was sie tun, aber sie tun es unablässig, und wenn sie nicht mehr können, tun sie so, als könnten sie trotzdem, und es stimmt auch irgendwie: denn nichts anderes können sie eigentlich.

Nichts anderes zu vermögen, weder vorstellen noch anstellen, und somit auch nichts anderes zu wollen, das haben sie von klein auf gelernt, in all den Schritten, die das Leben ihnen aufgedrängt hat, die notwendig gewesen sind, um hier und heute existieren zu können. Die, die auf das Überleben trainiert sind, haben wenig Ahnung, was Leben ist oder sein könnte. Sie haben es sich abgewöhnt. Sie, das sind übrigens wir.

Erkenntnis und Gefühl, dass sie nicht ihrem Leben dienen, sondern in einer Matrix befangen sind, sind verschüttet. Es ist eine Verzauberung, die taub und blind, sprach- und gefühllos macht. Geschmacklos ist der Kapitalismus und wir mit ihm sowieso, auch wenn das bunte Treiben der Events das Gegenteil unterstellt. Das Kapital lastet wie eine Gallerte auf seinen Subjekten. Zukunft scheint verklebt. Wir picken fest.

Es ist jedenfalls kein Gordischer Knoten der Macht, der politisch im Kampf zerschlagen werden könnte. Diese Losung gehört ganz zur herkömmlichen Welt.

*

AutorInnen

Julian Bierwirth, 1975. Lebt in Göttingen, Studium der Sozialwissenschaften. Weltverbesserer, z.B. bei Gruppe 180° - Für einen neuen Realismus und emanzipationoderbarbarei.blogsport.de

Ilse Bindseil, 1945. Bis 2008 Lehrerin für Deutsch, Französisch und Philosophie in Berlin. Redakteurin bei Ästhetik & Kommunikation, ilsebindseil.de

Meinhard Creydt, 1957. Soziologe und Psychologe, lebt in Berlin. Autor von Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit (2000). www.meinhard-creydt.de

Lorenz Glatz, Streifzüge.

Marianne Gronemeyer, 1941. Lehrerin, bis 2006 Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der FH Wiesbaden. Zuletzt u.a.: Genug ist genug. Über die Kunst des Aufhörens (2008).

Severin Heilmann, Streifzüge.

Lukas Hengl, betreibt seit 31 Jahren ein Selbst. Lebt in Klosterneuburg und Wien und ist als Barkeeper, Yogalehrer, Künstler und Kunstvermittler tätig.

Elfriede Jelinek ist Elfriede Jelinek.

Thomasz Konicz, 1973. Studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie in Hannover, Wirtschaftsgeschichte in Poznan, wo er wohnt. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa.

Dominika Meindl, 1978. Studium der Philosophie. Lebt als freibeutende Schreibmaschine von Texten aller Art, Bloggerin und Poetry Slammerin in Linz. minkasia.blogspot.com

Stefan Meretz, 1962. Lebt in Berlin. Schwerpunkte: Freie Software und Technikentwicklung. Unterstützer des Oekonux-Netzwerkes, Mitglied im Diskussionskreis Wege aus dem Kapitalismus, Blogger auf keimform.de. "Traforat" der Streifzüge.

Franz Nahrada, 1934. Jahrelange Beschäftigung mit Wissenskritik, neuen Medien, transdisziplinärer Forschung und den Potentialen ländlicher Räume als Lebens- und Lernräume. Zuletzt: Unsichtbare Intelligenz (2009).

Emmerich Nyikos, 1938. Historiker, lebt als freier Autor in Mexiko-City. Zuletzt erschienen: Das Kapital als Prozess. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems (2010).

Erich Ribolits, 1947. Lebt in Wien. Forscht zum Verhältnis von Arbeit, Bildung und Gesellschaft. Zuletzt: Bildung - Kampfbegriff oder Pathosformel (2011). "Traforat" der Streifzüge.

Anneinarie Rieder, 1949. Lebt in Wien. Pensionistin. Teilt ihr Leben mir Partner, Kindern, Enkelin, Hausrieren, Freunden und Bekannten. Hilft gerne. Schreibt Lyrik und Prosa.

Joseph Roths Artikel ist dem Buch "Sehnsucht nach Paris, Heimweh nach Prag - Ein Leben in Selbstzeugnissen", hg. von Helmut Peschina, Köln 2006, entliehen.

Franz Schandl, Streifzüge.

Hedwig Seyr, lebt seit mehr als einem halben Jahrhundert an der Donau: zuletzt in Wien und in Bratislava, wo sie siebzehn Jahre Deutsch unterrichtet hat.

Maria Wölflingseder, Streifzüge.

Petra Ziegler, Streifzüge.

*

IMPRESSUM

ISSN 1813-3312

MEDIENINHABER UND HERAUSGEBER
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche
Transformationskunde,
Margaretenstraße 71-73/23, 1050 Wien.
E-Mail: redaktion@streifzuege.org
Website: www.streifzuege.org

DRUCK
H. Schmitz, Leystraße 43, 1200 Wien
Auflage: 1200

COPYLEFT
Alle Artikel der STREIFZÜGE unterliegen,
sofern nicht anders gekennzeichnet,
dem Copyleft-Prinzip: Sie dürfen frei verwendet,
kopiert und weiterverbreitet werden unter Angabe
von Autor/in, Titel und Quelle des Originals
sowie Erhalt des Copylefts.

OFFENLEGUNG
Der Medieninhaber ist zu 100 Prozent
Eigentümer der STREIFZÜGE und an
keinem anderen Medienunternehmen beteiligt.

Grundlegende Richtung: Kritik-Perspektive-Transformation

REDAKTION
(zugleich Mitglieder des Leitungsorgans des
Medieninhabers)
Lorenz Glatz, Severin Heilmann, Franz Schandl,
Martin Scheuringer, Ricky Trang,
Maria Wölflingseder, Petra Ziegler
Covergestaltung: Isalie Witt
Layout: Françoise Guiguet

KONTEN
Österreich: Kritischer Kreis
PSK (BLZ 60000), Kontonummer 93 038 948
Konto für Abos in EU-Länder: Kritischer Kreis,
BIC: OPSKATWW
IBAN: AT87 60000 0000 9303 8948

ABONNEMENTS
Aborichtpreise für 3 Hefte pro Jahr.
1 Jahr 18 Euro, 2 Jahre 33 Euro, 3 Jahre 45 Euro.
Probenummer gratis

Erstbeziehende bitten wir um schriftliche
Bestellung (Mail oder Brief), da seitens des
grandiosen Bankservices den Kontoauszügen nicht
immer die vollständige Adresse zu entnehmen ist.
Bei Aboverlängerung bitten wir um die Anführung der
Postleitzahl bei der Einzahlung. Das Abo endet, wenn
es nicht durch Einzahlung verlängert wird.

*

Quelle:
Streifzüge Nr. 57, Frühling 2012
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
Margaretenstraße 71-73, A-1050 Wien
E-Mail: redaktion@streifzuege.org
http://www.streifzuege.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2013