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STREIFZÜGE/034: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 61, Sommer 2014


Streifzüge Nummer 61, Sommer 2014

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde





INHALTSVERZEICHNIS

Lorenz Glatz: Einlauf

Petra Ziegler: Sparen wir uns das!

Günther Anders: Apokalypse ohne Reich

Günther Anders: Die Apokalypse-Stummheit

Robert Pfützner: Die Apokalypse der Pädagogik.

Eugène Ionescos komisches Drama La Lecon

Tomasz Konicz: Und ewig lockt die Apokalypse.
Wieso sind Weltuntergangsspiele derzeit so unheimlich beliebt?

Lars Distelhorst: Ende der Geschichte?

Lorenz Glatz: Mit uns und der Welt ins Reine kommen. Verstreute Bemerkungen gegen apokalyptisches Fühlen, Denken und Handeln

Fabian Scheidler: Ausstieg aus der Apokalypse

Franz Schandl: Das Nichts nichtet nichts! Verdichtete Vorabthesen zur reinen Apokalyptik singulärer Tode

Home Stories: mit Beiträgen von Eva Maria Haas, Severin Heilmann und Lukas Hengl

Dieter Braeg: Arbeit in der Science-Fiction. Teil I

Andreas Exner und Isabelle Schützenberger: Die souverän ernährte Stadt? Potenziale und Grenzen des urbanen Gärtnerns (Teil I)

Peter Klein: Know-how für den Umbau. Harald Welzer und die Stiftung Futurzwei

Kolumnen
Dead Men Working: Maria Wölflingseder
Immaterial World: Stefan Meretz
Rückkopplungen: Roger Behrens

Rubrik 2000 abwärts
Albert Birson (A.B.)
Hedwig Seyr (H.S.)

Rezension
Manfred Sohn (M.S.) zu Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern

Franz Schandl: Auslauf

*

Einlauf

von Lorenz Glatz

Dass es so nicht weitergehen kann, ist ein triviales, massenhaftes Gefühl vor und in allen Umbrüchen. So fühlt es sich auch heute an. Tanz auf dem Vulkan, Abgrund, Apokalypse, Weltuntergang oder Rettung in letzter Sekunde - all das hat Hochzeit. Und zugleich natürlich die Beschwörung, dass wir einfach noch mehr vom Selben brauchen, um mit allem fertigzuwerden, was wir uns mit dem Selben eingebrockt haben.

Die Fleißigen und Anständigen buckeln und treten mehr denn je, die Tüchtigen schreien nach der fehlenden Anerkennung, die Schuldigen werden gesucht und gefunden, die Politiker, die Heuschrecken, die Trittbrettfahrer und Ausnützer, und natürlich die Juden.

An den Bildschirmen daheim und in den Spielhallen proben die spielerfahrenen Jungen den blutigen Endkampf. Und in immer mehr Gebieten der Welt tobt er schon mit scharfem Schuss.

Was geht da den Bach hinunter? Und warum? Wird es nur "die Stunde der Leoparden", wo sich wieder einmal alles ändern muss, damit alles beim Alten bleibt? Das könnte aber diesmal nur eine Illusion sein, auf jeden Fall aber ein Gang durch die Hölle. Oder öffnet sich wirklich ein "window of possibility" auf eine Welt, die Besseres bereithalten mag als bloß eine neue Form der alten Herrschaft? Diagnosen und Perspektiven dazu werden in dieser Nummer aufgetan, nichts ist befriedigend oder vollständig, Aufrisse sind es allemal.

Und wie immer findet ihr Beiträge zu einer Anzahl weiterer Themen, Fragestellungen und Projekte, zu Zuständen, die der Hinweise, der Analyse und Kritik bedürfen, die Wegmarken sein wollen zu einem Ausweg, den es zu bahnen gilt aus den irreparablen Zuständen, die wir nicht hinzunehmen gedenken. Es sind eben Streifzüge und jede Menge Transformationslust dazu. Anregende Lektüre wünschen wir Euch und uns wünschen wir jede Menge Kritik und Anregungen Eurerseits. Auch für Lob sind wir nicht unempfänglich.

*

Sparen wir uns das!

Von scheinbaren Notwendigkeiten zu notwendigen Einsichten

von Petra Ziegler

"Mit der Einsicht in den Zusammenhang stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretische Glauben in die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände."

(Karl Marx, MEW 32:553, Brief an Kugelmann)


Befreiung beginnt mit Ent-Täuschung. Der ebenso hartnäckige wie für die psychische Ausgeglichenheit des menschlichen Individuums bedeutsame Glaube an die Selbstwirksamkeit, also daran, den Lauf der Dinge mit dem eigenen Handeln beeinflussen zu können, wirkt seltsam paradox für den Erhalt des Bestehenden. Wir überschätzen unsere Spielräume. Es sei denn, wir verwechseln Selbstbestimmung mit unserer gerne bemühten "Freiheit" als Konsumierende, Wahlberechtigte, eklektisch Suchende wie Sammelnde, als Individualreisende auf all den Wegen, die uns angeblich offen stehen, oder dem Nonkonformismus belangloser Äußerlichkeiten und persönlicher Extravaganz.

Die vermeintliche Souveränität des modernen bürgerlichen Subjekts spiegelt sich in der Vorstellung, wir könnten's uns allen als widrig erkannten Umständen zum Trotz irgendwie richten. Und die Alltagserfahrungen scheinen dies zu bestätigen: da eine Konkurrentin ausgestochen, dort ein wenig cleverer oder schneller als andere, einfach was Gescheites gelernt oder auch nur das Glück der Tüchtigen, schließlich sind wir kompetent und verstehen uns auch gekonnt in Szene zu setzen. Nützt alles nichts, sind zur Not eh alle erpressbar, nicht unbedingt finanziell, emotional allemal. So sehen wir denn auch bei diversen Umfragen zwar die Gesellschaft insgesamt mehrheitlich den Bach runtergehen, die eigene Zukunft dagegen tendenziell rosig.

Offenbar beharren wir desto intensiver auf den Gegebenheiten, umso härter wir um unseren Anteil gerungen haben oder je mehr wir uns herausgefordert fühlen. Argumente bleiben ohnehin wirkungslos, solange Imaginationen aufrecht gehalten werden, resp. aufrecht zu halten sind. Die eigene Position will jedenfalls mit Vehemenz verteidigt werden. Das kommt nicht von ungefähr: Lassen wir sie als Illusion platzen, stehen wir erst einmal vor dem Nichts. Alle bisherigen Zugeständnisse und Bemühungen wären vergeblich, unwiederbringlich im Alltagssumpf der kapitalistischen Verhältnisse vergeudete Lebenszeit. Wir hätten umsonst investiert.

Der Schmerz könnte kaum größer sein, eine Kränkung sondergleichen. Ein weiterer Schlag für das menschliche Selbstverständnis - und das nach Kopernikus, Darwin und Freud. Dann doch besser aufs eigene Vermögen setzen und den Besitzstand waren. Lieber halten wir uns an die bekannten Übel.

Absurde Verhältnisse

Der eigene Knecht zu sein, ist gerade noch auszuhalten, solange gesichert scheint, auch Herr zu sein. Wir wissen, was wir wollen, und es wäre doch gelacht, würde gerade unsereins es nicht erreichen. Eigenverantwortlich, zielstrebig und lernfähig, befindet das Selbstbild. Dass das nur zu gut mit dem krisenkapitalistischen Appell der letzten Jahrzehnte zusammengeht, mag schon mal verstören, im Wiederholungsfall bleiben aber immer noch Coaching oder die Segnungen der Pharmaindustrie. Als Getriebene einer blinden Dynamik wollen und dürfen wir uns nicht erkennen. Nicht einmal gedacht sollte derlei werden, der letzte Rest von Boden wäre uns entzogen. Es wäre unerträglich, empörend!

So zu empfinden geht nur haarscharf daneben, denkbar knapp am "Moment der Wahrheit" vorbei sozusagen.

Eine Marionette, die selber die Fäden zieht, ist unmöglich. Und doch trifft dieses verrückte, aus Robert Kurz' "Subjektlose Herrschaft" entliehene Bild recht gut unsere alltägliche Wirklichkeit. Was uns zur kaum hinterfragten Selbstverständlichkeit geworden ist, unsere Existenz als Kauf- und Verkaufssubjekt, als ebenso besitzergreifendes wie verlustängstliches ewiges Mangelwesen schuldet sich eben dieser Verrücktheit. Wir reproduzieren sie in den Beiläufigkeiten des Alltags und bestätigen sie, indem wir mehr oder minder erfolgreich unsere subjektiven Interessen verfolgen. Indem wir an unseren Fäden zappeln, knüpfen wir das Netz dichter.

Ausgedacht hat sich das so niemand. Mit der Gleichsetzung und im Austausch unserer individuellen Arbeitsprodukte schaffen wir spontan, ohne Absicht oder Plan - sozusagen hinterrücks - die grundlegenden Struktur- und Bewegungsmuster unserer Gesellschaft. Es sind unsere eigenen wechselseitigen (Produktions-)Beziehungen, die uns in verselbständigter Gestalt konfrontieren. In unserem täglichen Tun, als Eigentümer von Produktionsmitteln und/oder Arbeitskraft, handeln wir uns eine im Wortsinn eigenwillige Form "sachlicher Abhängigkeit" jenseits persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse und handgreiflich ausgeübter Herrschaft ein. Mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, die zu keinem Zeitpunkt zur Verhandlung standen oder bewusst in Kraft gesetzt wurden. Diese Form bestimmt unser Leben weit über den Umstand hinaus, dass wir erst vermittels erfolgreichen Verkaufs der eigenen Arbeitskraft partiellen Zugriff auf Waren aller Art und damit die Produkte anderer erhalten. Als blindes Resultat unserer Handlungen bleiben ihre Regeln wirksam, solange wir an dieser Praxis festhalten.

Im Kapitalismus, und dadurch zeichnet er sich aus, besitzt die "eigne gesellschaftliche Bewegung" für die Menschen "die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren" (Marx). Bürgerlich frei leisten wir Fetischdienst. Wir dienen einer Diktatur der Sachen!

Ein mitreißender Konflikt

Unser kreatives, wissenschaftliches, technisch-automatives, kurz, unser produktives Potential, versetzt uns längst in die Lage, in immer kürzerer Zeit die notwendigen Gebrauchsgüter und darüber hinaus die Grundlagen für ein denkbar feines Auskommen aller bereitzustellen. Allein die moderne warenproduzierende Gesellschaft bringt das Kunststück fertig, potentielle Errungenschaften gegen sich selbst zu wenden. Ganz offensichtlich verträgt sich die Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten nicht mit den Notwendigkeiten der Wertakkumulation. "Die Kategorie des Werts, in ihrem Gegensatz zu der des stofflichen Reichtums, bedeutet, dass die Arbeitszeit der Stoff ist, aus dem im Kapitalismus Reichtum und gesellschaftliche Verhältnisse gemacht sind. Sie bezieht sich auf eine Form gesellschaftlichen Lebens, in der die Menschen von ihrer eigenen Arbeit beherrscht werden und gezwungen sind, diese Herrschaft aufrechtzuerhalten. Die in dieser gesellschaftlichen Form begründeten Imperative erzwingen ein rasantes Anwachsen der technologischen Entwicklung und ein Muster notwendigen fortdauernden 'Wachstums': sie verewigen jedoch auch die Notwendigkeit unmittelbarer menschlicher Arbeit im Produktionsprozess, ungeachtet des Grads der technologischen Entwicklung und der Akkumulation stofflichen Reichtums." (Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, S. 455)

Nur im Kapitalismus, so Marx unmissverständlich, hat gesellschaftliche Arbeit doppelten Charakter, nur hier existiert der Wert als spezifisch gesellschaftliche Form menschlicher Tätigkeit. Ein Spezifikum mit für uns alle schmerzhaft spürbaren Folgen:

Das "ungeheure Missverhältnis zwischen der angewandten Arbeitszeit und ihrem Produkt" (Marx) lässt die Verwertungsmaschinerie zunehmend leerlaufen. Sichtbaren Ausdruck findet dieses Leerlaufen in den allgegenwärtigen Krisenerscheinungen. Während sich dem Alltagsverstand ein produktives, wertproduktives Einerlei präsentiert, fallen unter der Oberfläche stofflicher und wertförmiger Reichtum im Lauf der Produktivitätsentwicklung immer weiter auseinander. Die wachsenden Gütermengen repräsentieren eine sich tendenziell gegenläufig entwickelnde Wertmasse. Mit jedem Produktivitätssprung untergräbt der kapitalistische Selbstwiderspruch die Bedingungen der Wertschöpfung und damit die Grundlage der Arbeitsgesellschaft insgesamt. Diese Entwicklung ist unumkehrbar und sie aufzuhalten stößt absehbar und zunehmend an Grenzen. Aus sich heraus kann die Mesalliance zwischen Form und Inhalt zu keinem guten Ende kommen.

"Die Wert- und Warenform ist ein durch und durch imperiales Prinzip. Deren Geschichte bleibt, solange das Kapitalverhältnis auf seiner eigenen Grundlage prozessiert, stets eine Expansionsgeschichte. Ein immer weiter wachsender Teil des gesellschaftlichen Reichtums und der sozialen Beziehungen wird diesem Prinzip rigoros unterworfen. Die Wertform stößt sich nicht selber in den Orkus der Geschichte. Schon eine Eingrenzung des Herrschaftsbereichs der Wertform und erst recht natürlich deren De-Installation ist nur als antikapitalistische Praxis, als bewusstes Außerkraftsetzen der Prinzipien kapitalistischer Vermittlung vorstellbar. Das kann nur das Werk einer weltgesellschaftlichen Emanzipationsbewegung sein, die Formen direkter Gesellschaftlichkeit ausbildet und die die in Waren- und Geldmonaden aufgelöste ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit sukzessive durch eine freie Assoziation der Produzenten ersetzt."

Dagegen wird die auf Arbeitsverausgabung zurückgehende Wertsubstanz "durch die innere kapitalistische Widerspruchsdynamik selbst ausgezehrt, indem das Kapital die Produktivkraftentwicklung bis zu dem Punkt vorantreibt, an dem die Anwendung der Wissenschaft die unmittelbare, isolierte private Produktionsarbeit als Hauptproduktivkraft ablöst. Dieser Prozess, der sich hinter dem Rücken der Gesellschaftsmitglieder vollzieht, muss sich früher oder später in einer Abnahme der produzierten Wertmasse niederschlagen. Im Zeichen der Verwissenschaftlichung der Produktion endet die säkulare Expansionsbewegung, die die Entwicklung der Wertmasse von den Anfängen des Kapitalismus bis zum Ende des fordistischen Zeitalters gekennzeichnet hat, und schlägt in eine langfristige Kontraktionsbewegung um." In anderen Worten: "Wertform und Wertsubstanz geraten in einen Konflikt." (Ernst Lohoff: Auf Selbstzerstörung programmiert, krisis 2/2013) Eine Entzweiung die uns - ganz nebenbei, aber unweigerlich - zu zerreißen droht.

Keine Frage

Geht es um Geld oder Leben, und nichts weniger steht zur Disposition, gilt es höchst einseitig Partei zu ergreifen. "In einer historischen Situation, in der Staat und Markt nicht mehr in der Lage sind, eine hochvergesellschaftete Reproduktion für alle sicherzustellen und in der die Welt in ständig wachsende abgekoppelte Elendsregionen und wenige High-tech-Wohlstandsinseln zerfällt, können die Menschen sich entweder dem Strudel barbarischer Entgesellschaftung überlassen, oder sie müssen dazu übergehen, ihre Gesellschaftlichkeit ohne diese versagenden Medien unmittelbar herzustellen; und das heißt eben gesellschaftliche Selbstorganisation." (Ernst Lohoff: Krise und Befreiung - Befreiung in der Krise, krisis 18/1996)

Die bewusste Überwindung des gesellschaftlich Unbewussten geht mit dem Abschied von den uns so vertrauten Formen wie Ware, Geld, Arbeit einher. Nur wenn wir Wert und Warenform restlos entsorgen, können wir unseren gleichsam ferngesteuerten Zustand hinter uns lassen. Erst danach kann die "eigentliche" Geschichte der Menschen beginnen - ihre gesellschaftliche Selbst-Bewusstwerdung. Der Fetisch verliert seine Macht, sobald unser Tun, unsere Produkte und Zuwendungen, unmittelbar zum gesellschaftlichen Ganzen beitragen und nicht erst eine "von ihrer Realität verschiedne phantastische Gestalt" (Marx) annehmen müssen.

Formkritik ist also keine abgehoben abstrakt-theoretische Überlegung, sondern im Wortsinn radikale Kritik und Infragestellung der Verhältnisse im Jetzt und Heute. Mit der Ausgangsthese: Wie es ist,muss es nicht sein. Dieser Schritt kann auch nicht übersprungen werden, wollen wir nicht riskieren, mit unseren Vorstellungen einer post-kapitalistischen Gesellschaft ins Alte samt seinen Dynamiken zurückzufallen.

Abschied nehmen heißt es freilich auch von Politik-Illusion und Demokratiebekenntnis. Von all den Verschwörungstheorien mit irgendwelchen Strippenziehern im Hintergrund, von all den Gaunern und Gangstern, mit denen nur aufgeräumt werden müsste, oder den 99 Prozent, die doch ohnehin "das Richtige" wollen und tun.

Ohne Umweg

"Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. (...) Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann." (MEW 25:828)

Die Fragen, die sich stellen, liegen auf der Hand. Was brauchen wir? Wie kommen wir dazu? Und wie erfüllen wir unsere Bedürfnisse und Begehrlichkeiten - ohne die Umwelt in irreparablem Ausmaß zu schädigen, ohne nachkommenden Generationen den Planeten ausgeplündert, kontaminiert und vermüllt zu übergeben, ohne uns einseitig zu Lasten Dritter auszuleben und ohne unser jeweiliges Gegenüber willkürlich zu Handlungen oder Unterlassungen zu nötigen?

Oder anders: Wie koordinieren wir unsere sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Belange (Reproduktion, Verteilung, Ressourcenverbrauch etc.) bewusst, das meint direkt und nicht über den Umweg einer mit Eigenlogik behafteten abstrakten Form?

Deren auch nur gedankliche Eliminierung konfrontiert erst einmal mit einer Masse an Freisetzungen, die fast erschlagen könnte. Ganze Berufsgruppen, im Bereich Banken, Versicherungen, Marketing, Verkauf, Buchhaltung, Geldeintreibung, größere Teile des "organisierten Verbrechens" und der hoheitlichen Verwaltung gehen ihrer Funktion verlustig. Zeitaufwändige Kostenkalkulation, Fundraising, Antragsschreiben ... - alles Vergangenheit. Auch wäre niemand mehr gezwungen sich in Wert zu setzen, die innere Rechnungsprüfung darf anderen Neigungen Platz machen.

Mit dem Wegfall aller rein monetären Notwendigkeiten geschuldeten Tätigkeiten fangen die Einsparungen freilich erst an: Neuerungen bei technischen Geräten nur noch im Fall tatsächlich verbesserter Qualität, ressourcenschonende Herstellung statt betriebswirtschaftlicher Effizienz, schlaue update-Möglichkeiten usw. Generell längere Lebensdauer diverser den Alltag erleichternder Gerätschaften, keine durch Moden, die alle halben Jahre wechseln, künstlich verkürzten Produktzyklen, Schluss mit der geplanten Obsoleszenz, keine überflüssigen Parallelentwicklungen oder Produkte mit bloß andersfarbigen Aufklebern, vielleicht irgendwann das "ideale" Sitzmöbel, von dem eins sich nicht mehr trennen möchte. Konsum aus Kompensationsgründen vermindert sich, keine Frustkäufe, keine Schnäppchenjagden, kein Mengenrabatt, keine Massenproduktion aufgrund steigender Skalenerträge etc. etc. Rückgang der materiellen Bedürfnisse überhaupt, jedenfalls in unseren Breiten. Das Ende der Wegwerfgesellschaft mit vermehrt echtem Recycling statt Downcycling und intelligenter "Reste-"Verwertung - insgesamt paradiesische Zeiten für TüftlerInnen. Forschungssynergien, aufbauend auf dem dann frei verfügbaren Wissen. Fortan gilt: Was ist die beste Idee, statt wer hat den größeren Werbeetat?

Nichts, womit bislang Geld gemacht wurde, bleibt unhinterfragt. Der Einwand etwa, wer dann noch bereit wäre, in irgendwelchen Minen zu malochen, zieht einen Rattenschwanz an aus heutiger Sicht nur teilweise absehbaren Veränderungen nach sich. Mobilität, Architektur, Ortsplanung - was für fantastische Herausforderungen liegen darin, geht es nicht darum, die Wirtschaft anzukurbeln oder finanzielle Mittel in die Gemeindekassen zu spülen.

Und nicht zuletzt spart Umwege vermeiden "leere" Kilometer in gigantischem Ausmaß. Ein Drittel des Flugaufkommens fällt derzeit auf Geschäftsreisen, nocheinmal knapp halb so groß wie der Personenverkehr insgesamt ist der Flugfrachtverkehr (laut übereinstimmenden Schätzungen der NASA und des Wuppertal-Institut droht eine Verdoppelung in den nächsten 15 Jahren), nicht zu vergessen Rohprodukte und Halbfertigwaren, die aus Kostengründen zum Waschen, Montieren oder irgendeinem Verarbeitungsschritt quer über die Kontinente und retour gekarrt, geflogen und verschifft werden.

Was dann noch bleibt an Notwendigkeiten, beansprucht tatsächlich nur noch einen Bruchteil unserer Aufmerksamkeit und Energie. Auf gerade einmal durchschnittlich fünf bis zehn Stunden pro Woche kommen verschiedenste Schätzungen, und sie scheinen eher noch zu hoch gegriffen.

Miteinander entwickeln

Vermittlung über Geld und Markt schneidet uns von unseren Möglichkeiten ab, zwingt in einen Rationalismus, der einzig und allein der Vermehrung des Geldes um seiner selbst willen dient. Den "Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln" heißt dagegen, die eigenen Lebensbedingungen bewusst und gemäß freier Übereinkunft zu gestalten, anstatt dabei "von einer blinden Macht beherrscht zu werden".

Bereits heute verfügen wir über eine Vielzahl von Beispielen, wie Informationsaustausch und Koordinierung auch innerhalb sehr großer Netzwerke gelingen (etwa aus Open Source oder Peer-Commons-Projekten), die Herausforderung liegt eher darin, das Gewohnte zu verlernen. Oder auch, künftigen Generationen verständlich zu machen, warum einstmals, unabhängig von allem, was gewünscht, möglich und machbar war, erst einmal Geld aufgestellt werden musste, bevor Bedürfnisse befriedigt werden konnten. Der unablässige Tausch von Äquivalenten dürfte dann nur noch als barbarische Vorstufe des Teilens innerhalb einer vorgeschichtlichen Sozietät bestaunt werden.

Das menschliche Miteinander aus freien Stücken zu entwickeln bedeutet nicht zuletzt eine Schranke im Kopf loszuwerden. "Wie bringen wir also das Geld aus unseren Köpfen? Denn raus muss es. Mangel an Phantasie kann es ja nicht sein, der uns davon abhält. So gibt es ja kaum eine Absurdität, die wir uns nicht vorstellen können. Wir glauben Schauermärchen und sitzen den dümmsten Mythen auf. Wir nehmen kommerzielle Schrägheiten als bare Münze, wir folgen bereitwillig jeder abgedrehten Esoterik, der Zahlenmystik, den Horoskopen, den Latrinengerüchten oder gar den gefährlichen Mythen der Religionen. Uns kann man jeden Schwachsinn einreden, aber eine Welt ohne Geld zu denken, das kann nicht sein, das soll nicht sein, das darf nicht sein. Wir, die wir kein jenseitiges Diesseits auslassen, vermögen uns ein diesseitiges Jenseits nie und nimmer vorzustellen. Doch gerade dieser Schritt der Umschaltung setzt Emanzipation in Gang. Wir müssen lernen, uns und unsere Verhältnisse nicht über Geld zu synthetisieren." (Franz Schandl: Vom Schöpfen. Einwürfe jenseits des Bilderverbots, Streifzüge 45/2009)

Eine Assoziation freier Menschen muss ohne Formprinzip und immanente Logik auskommen, will sie ihr Miteinander aus freien Stücken gestalten. Menschliches Miteinander kann keinem Masterplan folgen, es muss der jeweiligen Situation entsprechend gestaltet und immer wieder neu erstritten und errungen werden. In ernsthafter Auseinandersetzung, in spielerischem Umgang, nach zu vereinbarenden Regeln oder den bloßen Zufälligkeiten folgend.

Wahrer Reichtum

Befreites Leben hat vor allem Zeit - für sich selbst, für das Miteinander. Zeit, die je eigenen Neigungen und Potentiale zu erkennen. Zeit für deren Verfeinerung, Ausdifferenzierung, Vervollkommnung oder einfach nur für die Freude am jeweiligen Tun. Zeit um sie anderen zu schenken, Anteil zu nehmen und Teil zu haben, um hinzusehen, nachzufragen und wahrzunehmen, für Dialog und Auseinandersetzung. Zeit, die individuellen und kollektiven Bedürfnisse und Begehrlichkeiten auszuloten, beizutragen, vorhandenen Mangel auszugleichen und gemeinsam aus dem Vollen zu schöpfen. "Reichtum ist verfügbare Zeit, und sonst nichts" so erkannte schon Marx, "der wahre Reichtum ist disposable time" für die Entwicklung der individuellen menschlichen Fähigkeiten und Talente als Selbstzweck.

Befreites Leben hat Gelegenheit für Muße, für geistige wie körperliche Aktivität, die nicht unter dem Zwang der Lebensnotwendigkeit steht, gleichgültig ist gegenüber dem Zeitaufwand; selbstbestimmt nicht selbstbeherrscht, gemäß eigenem Willen, ohne äußeren Zwang, weder von Dritten noch strukturell vorgegeben. Menschliche Verhältnisse sind solche, in denen die Notwendigkeiten einen Teil des Lebens bilden, ohne es einzunehmen.

Nicht ohne Hindernisse

Die kommenden Jahre und Jahrzehnte lassen kaum idyllische Verhältnisse erwarten, in denen zarte Pflänzchen vereinzelter selbstorganisierter Zusammenhänge langsam soweit heranwachsen, bis sie die kapitalistische Produktionsweise überwuchern. Eher geht das Zusammenbrechen der "auf dem Tauschwert ruhnden Produktion" (Marx) mit massiven sozialen Verwerfungen einher, die zumindest regional fallweise plötzlich und unerwartet eintreten dürften. Derartige Szenarien - mit allen regressiven, repressiven und gewaltförmigen Begleiterscheinungen - lassen sich aktuell, siehe etwa Griechenland oder die Ukraine, bereits nur wenig außerhalb der europäischen Zentren beobachten.

Anstatt penibel ausgearbeiteter Blaupausen einer postkapitalistischen Weltgesellschaft wären wohl eher Kenntnisse leicht vermittelbarer und übertragbarer Organisationsstrukturen, wie unter derartigen Bedingungen zumindest eine vorübergehende Notversorgung aufrecht erhalten werden kann, gefragt.

Darüber hinaus freilich gilt: Ohne den Versuch einer emanzipatorischen Aufhebung werden wir von der selbstzerstörerischen kapitalistischen Dynamik einfach mitgerissen.

Hemmungslos altruistisch

Nicht so-sein zu wollen, wie uns von den Bedingungen des Werts diktiert wird, das Leben nicht im Konkurrenzkampf zu verbringen, ja, überhaupt sich nicht abfinden zu wollen mit Verhältnissen, die die Menschen unterdrücken, ausbeuten, verblöden und in jeder erdenklichen Hinsicht einengen, setzt nicht die umfassende Kenntnis des Marxschen OEuvres, geschweige denn der Hegelschen Philosophie voraus (helfen kann freilich beides) - es genügt, sich die täglichen Sachzwänge vor Augen zu führen, die eigene leidvolle Erfahrung einzugestehen und über sie nachzudenken.

Es gibt keine Transformation der gesellschaftlichen Strukturen ohne Änderung der mentalen Basis und keine Änderung der mentalen Basis ohne die Überwindung der Strukturen. Zweifellos. Doch für den Ausbruch aus dem Käfig der bürgerlichen Form braucht es nicht erst den "anderen" Menschen. Wir verfügen über ausreichend geistiges, sinnliches, kreatives Vermögen. Vergeuden wir es nicht länger! Menschen mögen ebenso hemmungslos und unersättlich sein wie hingebungsvoll und fürsorglich. Kaum etwas ist da vorgegeben, die Schattierungen sind nahezu unendlich. Die Farbpalette des guten Lebens wird jedenfalls andere Töne hervorbringen als jene aus Zeiten, in denen Geld Leben frisst.

Befreiung beginnt, sobald wir unsere Unfreiheit an-erkennen. Erst wenn wir uns unsere Befangenheit in den Verhältnissen vergegenwärtigen, können wir erahnen, dass die engen Grenzen innerhalb der gesetzten Form nicht den Horizont unserer Möglichkeiten bilden.

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Apokalypse ohne Reich

von Günther Anders

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Die Apokalypse-Stummheit

von Günther Anders

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Die Apokalypse der Pädagogik

Eugène Ionescos komisches Drama La Leçon

von Robert Pfützner

Eugène Ionescos absurder Einakter La Leçon (deutsch: Die Unterrichtsstunde) hat zahlreiche literarische und psychologische Interpretationen angeregt. Er kann aber auch als - gar nicht so absurde - apokalyptische Darstellung eines pädagogischen Sachverhalts gelesen werden. Dies im doppelten Sinne. Fasst man den Begriff "Apokalypse" in seiner ursprünglichen Bedeutung, so vollbringt Ionesco eine Enthüllung; er zieht gleichsam den ideologischen Schleier von der Pädagogik; zeigt sie nackt und ursprünglich, roh. Das, was unter dem Schleier sichtbar wird, schockiert und stößt ab, erschreckt und mag im umgangssprachlichen Sinne 'apokalyptisch' erscheinen: Als das vermeintlich schreckliche Ende der Heilsversprechen der Pädagogik - ihr mörderischer Kern.

Die Vorstellung

Worum geht es in La Leçon? Das Stück handelt von einem alten Professor und seiner jungen Schülerin. Den Regieanweisungen entnehmen wir, dass es sich um ein lebhaftes, heiteres und temperamentvolles Mädchen handelt. Der Professor erscheint als höflich, schüchtern und sehr korrekt, doch leuchtet von Zeit zu Zeit "etwas Lüsternes in seinen Augen auf" (und im Folgenden: Ionesco 2009, 7). Weiter erfahren wir, welche Entwicklung das Drama nehmen wird: Des Mädchens "lächelnde Heiterkeit wandelt sich allmählich in Trübsinn und Missmut. Ihre Lebhaftigkeit verflüchtigt sich [...]. Gegen Ende des Dramas ist ihr Gesicht Ausdruck nervöser Depression." (6) Ganz anders die Entwicklung des Professors: "Seine Schüchternheit [verliert sich] unauffällig nach und nach; das lüsterne Flackern in seinen Augen wird zur verzehrenden Flamme. Während er zu Beginn der Handlung harmlos und unsicher scheint, gewinnt er nach und nach immer mehr an Selbstsicherheit, er wird nervös, aggressiv, befehlshaberisch." (7)

Diese Beschreibung der Entwicklung der beiden Hauptcharaktere des Stücks ist für unseren Zusammenhang wichtiger als sein inhaltlicher Verlauf, der einer Karikatur bildungsbürgerlicher Attitüden gleicht. Einige Punkte sollen zur Illustration der Situation dennoch genannt werden: Das Mädchen, pünktlich zum Unterricht erscheinend, wird vom Dienstmädchen, das noch eine Rolle spielen wird, zum Professor gebracht. Dieser lobt anfangs die geographischen und mathematischen Kenntnisse seiner Schülerin über die Maßen. Das ändert sich, sobald er zur Subtraktion voranschreitet; er wird ungeduldiger, je weniger die Schülerin seiner Rede zu folgen vermag. Im Feld der Linguistik angekommen, (das ganze Stück gleicht einem rasanten Ritt durch verschiedene Wissensfelder) ist die Schülerin endgültig verloren. Sie versucht sich immer wieder durch den Hinweis auf ihren schmerzenden Zahn dem Zugriff des von ihr zu Beginn so bewunderten Professors zu entziehen. Der hat seine Zurückhaltung völlig verloren und reitet in ekstatischer Erregung auf seinen sprachwissenschaftlichen Ausflüssen herum. Er weist seine Schülerin hart zurecht, als sie dem zur Qual werdenden Unterricht entfliehen will: "Ruhe! Oder ich gebe Ihnen eins auf den Schädel." (37) Kurze Zeit später unterlässt er auch das höfliche Sie, duzt das Mädchen, das er schließlich, da es zu sehr über die von ihm induzierten körperlichen Schmerzen klagt, mit den Worten "Schlampe... Geschieht dir recht... Das hat mir gutgetan..." (43) ersticht.

Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass hier lediglich das perverse Spiel eines verirrten, überstudierten Geistes karikiert wird. Doch unternehmen wir das Wagnis einer kleinen spekulativen, über diese Annahme hinausgehenden Interpretation. Werfen wir mit Ionesco einen Blick hinter den Vorhang pädagogischer Nebelkerzen. Was zeigt er uns hinter den Versprechungen auf Versittlichung, Mündigkeit, sozialen Aufstieg (das Motiv, welches das Mädchen zum Professor bringt) und Persönlichkeitsbildung, die so oft im Munde geführt werden, wenn von Pädagogik gesprochen wird?

Die Apokalypse der Pädagogik

Das Stück bietet eine Vielzahl an pädagogisch relevanten Interpretationsthemen und -perspektiven. Ich kann hier aber nur einen Fokus setzen: Die oben schon skizzierte Entwicklung der Charaktere. Zu Beginn wird die fleißige Schülerin ("Ich habe solche Lust, etwas zu lernen" [19]) vom Professor immer wieder gelobt, für ihre Antworten auf so lächerliche Fragen, wie die nach dem 1 + 1, oder für ihre absurde Bildungsbeflissenheit, "in allen Fächern" promovieren zu wollen (11). Schauen wir uns die Erziehungswirklichkeit an, finden wir korrespondierende Phänomene mit der Einschulung und der ersten Zeit in der Grundschule, wenn bei den meisten Kindern Freude auf das Lernen herrscht, bei den Lehrer_innen große Freundlichkeit und Unterstützungsbereitschaft gezeigt wird. (Der Eintritt in die Universität mag für manche Studierende mit ähnlichen Gefühlen konnotiert sein.)

Wie stülpt sich das Verhältnis aber geradezu um! Blicken wir ins Stück: Der Alte wird launisch, verstrickt sich in obskure Inhalte und verliert jede Sensibilität für die Bedürfnisse seiner Schülerin, deren immer quälender werdende Zahnschmerzen er mit "Wir werden wegen so einer Lappalie nicht aufhören" (28) abkanzelt. Als ihre Aufmerksamkeit schwindet, droht er mit der Variante einer bekannten Floskel: "Nicht ich will den Doktor machen... ich habe meinen, und das schon lange... auch meinen zweiten Doktor und mein supertotales Diplom... begreifen Sie denn nicht, dass ich nur Ihr Bestes will?" (39) Wie vertraut erscheint das, wenn wir wieder in die Schule schauen; die Freude und der Stolz der ersten Jahre schwinden dahin wie die Freundlichkeit der Lehrer_innen, wie der Professor im Stück, beginnen sie zu lamentieren, sie hätten ihr Abitur schon, und die Monotonie des Schulalltags sei nur zum Besten der Schüler_innen - als ob das jenen rechtfertigte! Nicht alle Schüler_innen erleiden in ihrem schulischen Werdegang derartige Qualen wie die Schülerin des Professors (wobei der Verdacht nicht ausgeräumt ist, dass sie die Schmerzen nur erfindet, um sich dem Unterricht zu entziehen), doch ist das Empfinden von Tristesse und Stumpfsinn nichts Ungewöhnliches. Gerade die Gewöhnung daran muss ja als ein Zweck der Schule angesehen werden.

Am Ende des Stückes stirbt die Schülerin: der Professor ersticht sie. Ist diese letzte Konsequenz des Pädagogischen eher bildlich zu nehmen (ich komme darauf zurück), lenkt uns der Umgang mit dem Tod des Mädchens wieder in wirklichere Gefilde: Das Dienstmädchen kümmert sich um die Entsorgung des Leichnams, der, wie offenbar wird, nur einer von vierzig ist; sie organisiert die Särge, Blumen, ruft den Pfarrer an, der den Ermordeten seinen Segen zu geben hat. Des Professors schuldbewusst-ängstliche Frage, was passiere, wenn jemand nachfrage, wischt sie kühl beiseite: "Machen Sie sich keine Sorgen. [...] Die Leute fragen auch nicht, die sind schon dran gewöhnt." (46) Der Vorhang fällt, als eine neue Schülerin das Haus betritt und vom Dienstmädchen zum Professor geführt wird. Hier werden wir auf die sich beständig wiederholende Tragödie der Erziehung verwiesen, die, weil der Professor (der/die Erziehende) nicht anders kann, das Dienstmädchen (der/die, der Erziehung zu Hilfszwecken beigeordnete, Psycholog(e)_in, Berater_in, Polizist_in) ihm hilft, und die Leute nicht nachfragen, ungehindert ihren Lauf nehmen kann.

Die pädagogische Apokalypse

Diese Sicht auf Erziehung ist nicht neu, schon Rousseau beginnt den Emile mit der Feststellung: "Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen." (1998, 9) Auch wenn diese romantische Absolutheit nicht geteilt werden muss (und Rousseau selbst ihr nicht ganz traute), kann sie doch auf die Situation in La Leçon angewandt werden: Das vermeintlich natürliche, gute Mädchen kommt zum Pädagogen, unter dessen Einwirkung es in kürzester Zeit jämmerlich eingeht. Der Fourierist Considerant bringt, passend für unser Exempel, das Ziel der Erziehung auf den Punkt: "Ja, es ist vorbei, ja [...] der Mensch ist ertödtet." (1847, 24) Analytisch klarer fasst Heydorn diesen Gedanken: "Die Natur des Menschen ist seine Geschichte. Das Kind ist die in die Geschichte ausgesetzte Natur." (1972, 93) Wir sehen im Stück nur zu gut, wie sich die Geschichte (Professor) der Natur (Schülerin) bemächtigt und sie letztlich zerstört.

Unabhängig von einer näheren Qualifizierung dessen, was das ist, was da "aus den Händen des Schöpfers kommt", gibt es das Phänomen, das der Erziehung vorausgesetzt ist: das Kind, der Mensch. Darauf will Erziehung einwirken, um eine als pädagogisch wertvoll erachtete Veränderung zu erreichen. Ob dieses Handeln als Pflegen, Bewahren, Beschützen, Zeigen etc. beschrieben wird, ist egal; immer geht es auch darum, etwas als schlecht Bewertetes zu vernichten. Andernfalls würde sich keine Legitimation für Erziehung ergeben. Um erziehen zu können, muss ein als erziehungsbedürftig definiertes Objekt vorhanden sein.

Die pädagogische Apokalypse, die durch Apokalypse der Pädagogik deutlich wird, scheint eine im Denken über Erziehung immer schon relevante gewesen zu sein, die doch nur selten auf ihre letzte Konsequenz hin zugespitzt bzw. mit der Formulierung von Alternativvorschlägen zu umgehen versucht wurde. Meine These ist, dass dieses Umgehen nicht möglich ist, sondern das tödliche Moment des Pädagogischen, der Versuch, das Andere, Fremde abzutöten, um etwas vermeintlich Wertvolleres (für die individuelle Entwicklung, den Nutzen der Gesellschaft, den Fortschritt usw.) an seine Stelle zu setzen, Kernbestandteil jeden pädagogischen Tuns ist.

"Erziehung ist Zucht, notwendige Unterwerfung, die wir durchlaufen müssen, Aneignung, um die wir nicht herumkommen." (Heydorn 1972, 120) Heydorn drückt hier die pädagogische Notwendigkeit der Unterwerfung unter das Gegebene aus, freilich nicht, ohne sich der dialektischen Funktion der Erziehung für die Genese von Bildung als "Verfügung des Menschen über sich selber, Befreitsein, das in der Aneignung schon enthalten ist, aus ihr schließlich hervortreten soll" (ebd.) bewusst zu sein. Mit Heydorn können wir womöglich sagen, dass die oben beschriebene Apokalypse nötig ist, um letztlich als Fernziel Bildung entstehen zu lassen: Die unterwerfende Aneignung des Bestehenden, um im Wissen um dieses sich davon befreien zu können, mindestens über es verfügen zu können. Hier scheint eine andere Möglichkeit der Interpretation des Stückes auf: Die Unfähigkeit der Schülerin, sich der Erziehung durch den Professor zu unterwerfen, und so durch Aneignung dessen, was er ihr darbringen will, den Weg zur Verfügung über dieses und sich selbst gehen zu können. Doch macht die Absurdität der Darstellung des Stoffes durch den alten Mann und seine letztendlich letale Verfügung über das Mädchen diese Variante der Interpretation gar zu zynisch. Es scheint, es gibt eine Grenze, die den Übertritt von vielleicht notwendiger Unterwerfung und apokalyptischem Untergang des Zöglings markiert. Diese Grenze im praktischen pädagogischen Tun zu erkennen und zu beachten mag vielleicht schwieriger sein, als theoretisch spekulierend sich ihr anzunähern. Immerhin, trotz (oder doch wegen?) ihrer beständigen Missachtung scheint Bildung nicht ganz unmöglich.

Schluss

Auch wenn gerade emanzipatorische Pädagogik oft und zu Recht vom Wert und der Freiheit des Kindes spricht, bleibt die Frage im Raum, ob nicht jedes noch so progressive, noch so emanzipatorisch sich nennende pädagogische Streben prinzipiell im Verdacht stehen muss, das fremd im Zögling daher Kommende zu vernichten und (was bei Ionesco fehlt) durch das Eigene, noch zu Realisierende, zu ersetzen. Diese These kann keine Grundlage praktischer Pädagogik sein, denn sie würde, unter der Voraussetzung des Postulats der Würde des einzelnen Menschen, jedes pädagogisch motivierte Handeln ethisch unmöglich machen. Der Verdacht aber muss als Warnung im Hintergrund jeder erzieherischen Praxis präsent sein, um im Medium der Reflexion den pädagogischen Eros zu zügeln. Die Frage der Notwendigkeit von Unterwerfung in der Erziehung, um zur Verfügung über sich selbst als Bildung zu gelangen, gilt es dabei weiter zu denken.



Literatur

Considerant, V. (1847): Theorie der natürlichen und anziehenden Erziehung, Nordhausen.

Heydorn, H.-J. (1972): Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs, in: Werke Band 4, Vaduz, S. 56-145.

Ionesco, E. (2009): Die Unterrichtsstunde. Komisches Drama in einem Akt, Stuttgart.

Rousseau, J.-J. (1998): Emil oder Über die Erziehung, Paderborn.

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Und ewig lockt die Apokalypse

Wieso sind Weltuntergangsspiele derzeit so unheimlich beliebt?

von Tomasz Konicz

Womit verbringen die Kids heutzutage eigentlich ihre Freizeit? Zum Beispiel mit dem ungemein populären Onlinecomputerspiel "Rust", das den Spielern - hier einem Redakteur der populären Newssite rockpapershotgun - folgende aufregenden Erlebnisse beschert: "Mit einem Stein bewaffnet versuchte ich gerade, einen Hirsch zu erlegen, als plötzlich eine Kugel an mir vorbei pfiff. Der Hirsch fiel tot zu Boden, und als ich mich umdrehte, sah ich zwei mit Gewehren bewaffnete Spieler in einiger Entfernung stehen. Einer rief mir über den Voice-Chat zu: 'Keine Angst, wir wollen dir nichts tun. Nimm den Hirsch, er gehört ganz dir.' Voller Dankbarkeit, als Anfänger nicht abermals beim ersten Blickkontakt erschossen zu werden, machte ich mich über den Hirschkadaver her. Ich war so in meine Arbeit vertieft, dass ich gar nicht bemerkte, wie einer der Schützen sich von hinten an mich heranschlich, in aller Seelenruhe meinen Hinterkopf anvisierte, und abdrückte. Ich konnte noch das Lachen der Witzbolde hören, als es für mich abermals 'Game Over' hieß."

Bei Rust, das sich wochenlang auf den Spitzenplätzen der bekannten Vertriebsplattformen für Games hielt, handelt es sich um ein postapokalyptisches Multiplayer-Game. Die obligatorische Zombieapokalypse hat die Zivilisation und einen Großteil der Menschheit ausgelöscht, die wenigen Überlebenden kämpfen gegen die Untoten und gegeneinander. Das Ziel von Rust, wie von vielen ähnlichen Spielen, die derzeit den Markt fluten, besteht schlicht darin, möglichst lange zu überleben - unter Aufwendung aller dem Spieler zur Verfügung stehenden Mittel. Ein nahezu identisches Konzept verfolgt das Onlinemultiplayer Game DayZ, das auch ähnlich populär ist: Die Spieler bewegen sich in einer digitalen postapokalyptischen "Offenen Welt", in der sie sich gegen Hunderte von Untoten und Dutzende von Konkurrenten durchsetzen müssen.

Diese aufwendigen Games bilden nur den bisherigen Höhepunkt einer seit etlichen Jahren anschwellenden Welle postapokalyptischer Spiele, mit der die in gigantische Dimensionen expandierende Computerspieleindustrie - die 2012 einen Umsatz von 78 Milliarden Dollar erreichte - den Markt überschwemmt. Spieler können inzwischen in Hunderten von Titeln immer wieder den Zusammenbruch der Zivilisation nachspielen und sich wahlweise mit Zombies, Mutanten oder Konkurrenten auf brutalstmögliche Art und Weise auseinandersetzen.

Die Anfänge des Spiels mit dem Weltuntergang lassen sich auf das Jahr 1985 datieren, als das mit noch archaischer Grafik ausgestattete Rollenspiel Wasteland publiziert wurde. Beliebt waren in den späten 90er Jahren auch die Rollenspiele Fallout und Fallout 2, doch fristete das postapokalyptische Setting in der Branche über lange Jahre eine Existenz am Rande. Den Durchbruch zum Mainstream der Spieleindustrie erlebte das Genre der Postapokalypse bezeichnenderweise während des Höhepunkts der Weltwirtschaftskrise 2008. Das 2008 erschienene Rollenspiel Fallout 3, das eine moderne 3D-Grafik aufwies, die mit ihrer düsteren Palette die Immersion des Spielers steigerte, verkaufte sich rund fünf Millionen mal binnen der ersten drei Monate.

Hiernach brach sich die Flut von Zombie- und Apokalypse-Games Bahn, die an diesen kommerziellen Erfolg anknüpfen konnten. Und tatsächlich ist der Bedarf an dem Eintauchen in düstere, deprimierend graue Trümmerlandschaften, in denen blutrünstige Gefechte mit ebenso schwarzgrau gehaltenen Gegnern absolviert werden müssen, immer noch ungebrochen. Mitunter konterkariert das Genre die grafischen Möglichkeiten der heutigen Computersysteme in merkwürdiger Weise: All die Rechenkapazität der aktuellen Grafikkarten wird hier nur dazu aufgewendet, ein möglichst trostloses Szenario, eine düster-graue, aus den Fugen geratene Welt möglichst realistisch darzustellen (wie etwa bei den Spielen der "Metro" Serie). Selbst das Blut der erlegten Gegner - zumeist die einzigen Farbtupfer im Spiel - wirkt hier oftmals fahl und blass. Dennoch setzen die Spieleproduzenten weiterhin Millionen von diesen Spielen um, sodass ein Ende der Zombie- und Weltuntergangswelle nicht zu erwarten ist. Als Beispiel sei hier nur The Last of us genannt, ein exklusiv für die Playstation 3 produziertes Spiel, bei dem man sich quer durch die postapokalyptischen USA durchschlagen muss, das den besten Verkaufsstart in der Geschichte dieses Videospielsystems hinlegte: 3,4 Millionen Exemplare innerhalb von drei Wochen.

Generell wird die Bedeutung der Spielebranche innerhalb der Kulturindustrie - sowohl beim wirtschaftlichen Gewicht wie auch beim ideologischen Einfluss - immer noch sträflich unterschätzt. Das Videospiel ist gerade dabei, den Film als führendes kulturindustrielles Medium abzulösen, was sich nicht nur in Umsätzen und Spielerzahlen äußert, sondern auch in der Veränderung der ideologischen und letztendlich auch postideologischen Wahrnehmungsmuster der Realität, die von diesem Medium forciert wird. Mit einem Gesamtumsatz von rund 78 Milliarden US-Dollar liegt die beständig expandierende Gamesbranche nur noch knapp hinter der stagnierenden Filmindustrie, die etwa 2010 einen Umsatz von 94 Milliarden (Kartenverkäufe und DVD-Absatz) erreichte. Noch wichtiger sind die demografischen Verschiebungen, da unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Anteil der Spieler wie der für Spiele aufgewendeten Zeit weitaus höher ist als unter älteren Semestern. Wozu die Branche inzwischen fähig ist, machte der Kassenschlager Grand Theft Auto V (GTA5) vergangenen Herbst klar. Von diesem mit einem absurden Budget von 256 Millionen US-Dollar produzierten Spiel, in dem eine Los Angeles nachempfundene Großstadtregion simuliert wird, berichtete das Wirtschaftsmagazin Forbes im vergangenen September: "Grand Theft Auto hat nicht nur eine Milliarde Einnahmen schneller realisiert als jedes andere Spiel zuvor (in nur drei Tagen!), es hat auch die größten Filmstarts aller Zeiten um 16 Tage geschlagen."

Solche mit gigantischem Aufwand hergestellten "Sandkastenspiele", die dem Spieler scheinbar größtmögliche Freiheiten lassen, kommen somit im Idealfall einer Lizenz zum Gelddrucken sehr nahe. Allein auf den Konsolenplattformen Xbox360 und PS3 wurden knapp 30 Millionen Exemplare abgesetzt. Wenn noch die blühende Raubkopiererei berücksichtigt wird, sind es inzwischen Hunderte von Millionen von Menschen, die in diese und ähnliche virtuelle Welten abtauchen. Somit stellt sich die Frage, welche ideologischen Verschiebungen dieser massenhafte Gebrauch des Mediums Computerspiel mit sich bringt. Wie verändert sich die Kulturindustrie unter dem Einfluss der immer perfekter dargestellten digitalen Welten, die dem Spieler bislang nicht gekannte Ausmaße von Immersion und Interaktion bieten?

Abbilder des Immergleichen

Auf den ersten Blick scheint die grundlegende Funktionsweise des kulturindustriellen Dauerbombardements auch für das Computerspiel zu gelten: Es findet die hinlänglich bekannte, öde Abbildung oder Dopplung der Oberfläche der Realität statt, wie sie für alle Produkte der Kulturindustrie charakteristisch ist. Schon immer bestand die Grundbewegung der Kulturindustrie in der ewigen "Wiederkehr des Immergleichen" (Adorno), in der tausendfachen Spieglung der Oberfläche der Realität durch die Massenmedien, die in immer neue Formen gekleidet wurde. Die Kulturindustrie gleicht somit einer sich unaufhörlich um ihre eigene Achse drehenden Medienmaschinerie, die immer neuen ästhetischen "Treibstoff" für die unentwegte Wiederholung ihres öden Mantras braucht, das allen Widerstand, jegliches Geschichtsbewusstsein, jegliche Gedanken an eine Alternative zum Kapitalismus längst abgetötet hat: "Es ist, wie es ist."

In GTA 5 kämpft sich der Spieler als ein buchstäblich eigenschaftsloser Kleinkrimineller die Hierarchien mafiöser Netzwerke im virtuellen Los Angeles empor, bis er schließlich den Laden gänzlich übernehmen kann. Hier scheinen Parallelen zu den unzähligen Gangsterfilmen auf - vom Paten, über Scarface, bis zu Casino oder Good Fellas -, in denen der kapitalistische Konkurrenzzwang anhand seiner ungehemmten Extremform in der Sphäre "illegaler" Geschäftsfelder widergespiegelt wird. Ähnlich verhält es sich auch mit der populären Kriegsspielserie Call of Duty (deren Ableger Modern Warfare 3 konnte die obligatorische Milliarde US-Dollar an Einnahmen binnen 16 Tagen generieren), die in ihrer fast schon peinlich infantilen und debilen imperialistischen Propaganda, in ihrer Fixierung auf hirnlose Charaktere, pausenlose Action und größtmögliche Explosionen einfach eine Kopie des entsprechenden Filmgenres darzustellen scheint, das uns solche Perlen der Filmgeschichte wie etwa die Rambo-Trilogie beschert hatte. Selbst diejenigen internetbasierenden Multiplayerspiele, die in einer Science-Fiction- oder Fantasywelt lokalisiert sein sollen, bilden im Endeffekt die Strukturen des Kapitalismus ab. Auch in einer Fantasywelt wie der von "World of Warcraft" oder Diablo 3 wird der Spieler etwa mit Auktionshäusern konfrontiert, in denen er virtuelle Gegenstände gegen Echtgeld eintauschen kann.

Ein weiteres Moment der klassischen Kulturindustrie findet sich im kommerziellen Videospiel ins Extrem getrieben wieder. Auch das spielerische Amüsement stellt eine "Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus" dar, wie es Adrono/Horkheimer formulierten: "Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von Neuem gewachsen zu sein." Das entscheidende Moment ist hier die tatsächlich gegebene Aktivität des Spielers, die im schroffen Gegensatz zu der Passivität der Konsumenten der klassischen kulturindustriellen Produkte wie Film, Radio und Illustrierte steht. Das Spiel prüft die Geschicklichkeit oder Kombinationsgabe des Spielers ab, es offeriert ihm zumeist auch virtuelle Karrierewege wie auch webgestützte Möglichkeiten, sich mit anderen Spielern zu messen. Spiele sind somit zu regelrechten Trainings- und Rankingprogrammen verkommen, in denen die kognitiven Fähigkeiten der Spieler abgefragt und gesteigert werden können. Die Perspektive zwischen Arbeit und Freizeit - zwei Lebensbereichen, die ohnehin immer stärker verschwimmen und ineinander übergehen - ändert sich somit kaum noch: Nach der Arbeit, die ja immer öfter vor dem Homeoffice- oder Bürobildschirm verrichtet wird, folgt die "Freizeit", in der die Leistungen vor der Glotze abgefragt werden. Nahezu alle Großprojekte der Branche verfügen inzwischen über einen webgestützten Mehrspielermodus, der das Konkurrenzstreben im Büroalltag nahtlos ins Wohnzimmer überträgt. Bei vielen AAA-Produktionen, wie etwa der Call of Duty Reihe, stellen die Mehrspielermodi inzwischen den Hauptteil des Programms dar, während die Einspielerkampagnen nur noch als nette Dreingabe betrachtet werden. Die mit Spielen verbrachte Freizeit im Spätkapitalismus ist so zu einer ununterbrochenen Leistungsschau verkommen, die gerade vermittels der Aktivität der Spieler, ihrer in Rankings erfassten Spielleistungen ermöglicht wird. Dieses permanente Ranking stellt die Fortsetzung des Arbeitsregimes in der Freizeit dar.

Affirmation der Barbarei

Die Aktivität des Spielers, die mehr oder minder ausgeprägte Möglichkeit, gestaltend in diese virtuellen Welten - die nichts weiter als Abbilder der Oberfläche spätkapitalistischer Realität darstellen - einzugreifen, stellt auch die Grundlage der neuartigen Momente dieses avanciertesten Mediums der Computerindustrie dar. Die von Film, Fernsehen und Rundfunk geprägte klassische Kulturindustrie hat den Konsumenten zur Passivität gegenüber dem falschen Ganzen dressiert, sie hat den Menschen - wie beschrieben - die Idee einer Alternative zur bestehenden Gesellschaftsunordnung ausgetrieben. Das von den Neoliberalen ab den 80ern ausgerufene Motto "There is no Alternative" (auch als TINA-Prinzip bezeichnet) konnte gerade auf der oben dargelegten Vorarbeit der Medienindustrie aufbauen. Diese Verneinung von Realisierungsmöglichkeiten von Alternativen - die vermittels der endlosen Spiegelung der Oberfläche eben dieser Realität in den Waren der Kulturindustrie perpetuiert wird - setzt aber noch die Existenz eines Rudiments an Widerständigkeit und Opposition zum falschen Ganzen voraus: Eine Ahnung davon, dass der gegebene Zustand der Welt eigentlich unerträglich ist, dass sie grundlegend verändert, transformiert werden muss. Erst wenn dieser Impuls weitestgehend abgetötet ist, kann das Spiel die Passivität in Aktivität zugunsten des in Barbarei umschlagenden Bestehenden wandeln.

Die Passivität der klassischen Medien der Kulturindustrie, die mit der ohnmächtigen Hinnahme des gegebenen Gesellschaftszustandes einhergeht, schlägt im kommerziellen Videospiel in die Aktivität um: in die aktive Bejahung der spätkapitalistischen Realität. Das Bewusstsein davon, dass das kollabierende Weltsystem einer Transformation und Alternative bedürfte, ist nach Jahrzehnten kulturindustriellen Dauerbombardements in der Breite der Bevölkerung der meisten Industrieländer schlicht abgetötet worden. Mittels seiner Einbettung in die virtuellen Welten, mittels seiner Interaktion in diesen immer perfekter gestalteten Spielen wird der Konsument zu einer aktiven Rolle gedrängt, in der er die Spielvorgaben als scheinbar gegebene Freiheiten wahrnimmt. Die Teilnahme am krisenbedingt zunehmenden Massenmord oder der brutalsten Krisenkonkurrenz kann so zu einem spielerischen Erfolgserlebnis modelliert werden. Die Resignation angesichts der sich entfaltenden Barbarei, die von der klassischen Kulturindustrie produziert wurde, weicht nun der um sich greifenden Begeisterung für die Barbarei, für die Unmenschlichkeit - die eben mit möglichst viel Fantasie praktiziert werden soll. Das resignative "Es ist, wie es ist" wandelt sich in ein begeistertes "Es ist geil, wie es ist".

Gerade in den erfolgreichen scheinbaren "Sandkastenspielen" der GTA-Serie wird diese massive Propagierung der Barbarei evident. Bei GTA V handelt es sich letztendlich um einen Massenmordsimulator, dessen Welt den Spieler dazu einlädt, mitunter sogar förmlich nötigt, möglichst viele virtuelle Spielfiguren auf möglichst brutale Art und Weise ins Jenseits zu befördern. Alles scheint in dieser virtuellen Welt auf größtmögliche Realitätsdarstellung abzuzielen - mit Ausnahme der nicht gegebenen Konsequenzen, wenn man einen Passanten, eine Prostituierte oder eine nette alte Oma einfach mal totschlägt. Es gibt keinen Punkteabzug, kein "Game Over" - aber auch keine Ironie, bei der es offensichtlich würde, dass das Spiel sich selbst nicht ernst nehmen würde. Es sind gerade die erfolgreichsten und aufwendigsten Spiele, die mittels einer Ästhetisierung der Barbarei den Spieler auch mit den schwersten Krisenverwerfungen versöhnen. Die Darstellung der Gewalt und die Perspektive, die der Spieler dabei immer wieder einnimmt, wirken inzwischen dank der grafischen Fähigkeiten weitaus interessanter als in der Realität. Das ästhetisch perfekt in Szene gesetzte Zerlegen der Gegner in Einzelteile, die durch die Luft fliegenden Gliedmaßen und Körperteile, kommen ohne alle die Konsequenzen daher, die diesen Vorgängen in der Realität anhaften: den Gestank von Verwesung und verbranntem Fleisch, die Fliegenschwärme, die posttraumatischen Störungen.

Mann nimmt hingegen fast immer die Perspektive hinter dem Abzug ein: Immer wieder wird der Spieler mit überwältigender Allmacht ausgestattet, mit Superkräften, die ganze Städte einäschern können, oder er geht - insbesondere bei Call of Duty - als Teil der westlichen Interventionsstreitmächte auf die Jagt nach Aufständischen in den Zusammenbruchsgebieten der "Dritten Welt", was zumeist als ein simples Abknallen von fliehenden Pixelhäuflein von irgendwelchen Hightech-Fluggeräten aus hinausläuft. Die Grundannahme eines jeden Spiels, das Vorhandensein einer Herausforderung, an der man auch scheitern könnte, ist bei solchen Sequenzen nicht mehr gegeben - es ist reiner Sadismus, der hier ausgelebt wird. Die Tendenz in der Spieleindustrie geht dahin, den Schwierigkeitsgrad der Einzelspielerkampagnen immer weiter abzusenken. Waren die ersten Spiele in den 80ern oder 90ern noch kaum zu bewältigen, so sind heutzutage hingegen kaum Spiele zu finden, die selbst vom ungeschicktesten Couch-Potato nicht durchgespielt werden könnten. Jeder Depp kann die massenmörderische Mafiakarriere in GTA 5 absolvieren, oder in Call of Duty Marschflugkörper auf Elendsmilizen abfeuern - und so erfahren, wie geil eine in Chaos und Barbarei versinkende Welt sein kann, wenn man nur hinter und nicht vor dem Maschinengewehr steht.

Die Darstellung der Gewalt in Computerspielen hat somit einen massiven Bedeutungswandel erfahren. In den Zeiten grobpixeliger Grafiken und einer subkulturellen Abgeschiedenheit des Computerspiels wirkte die Gewaltdarstellung noch als ein subversiver Tabubruch, der den verlogenen Mainstream mit einer verdrängten Realität konfrontierte: dass diese Gesellschaft auf Gewalt errichtet ist und Gewalt zu deren Aufrechterhaltung alltäglich aufgewendet werden muss. Mit dem Einzug der exzessiven und realistischen Gewaltdarstellung in den Mainstream wandelt sich aber das Verhältnis der Gesellschaft zu dieser hochästhetisierten Gewalt: Sie wird bejaht, die demokratisch verbrämten humanistischen Illusionen verschwinden, während die ganze Brutalität voll erfasst wird, die zur Aufrechterhaltung des krisengeplagten spätkapitalistischen Systems notwendig wird. Und genau diese Gewaltanwendung wird durch das kommerzielle Computerspiel bejaht. Die Ästhetisierung der Barbarei, die von der Branche mit einem Milliardenaufwand betrieben wird, steht in Wechselwirkung mit der zunehmenden Toleranz gegenüber der Barbarei in den Gesellschaften, die in Reaktion auf die Krisendynamik in einen Extremismus der Mitte verfallen.

Bandenkrieger

Die Spieleindustrie bildet somit den Höhepunkt und zugleich den Endpunkt der Entwicklung der Kulturindustrie, die nun in der totalen Affirmation des Gegebenen aufgeht. Der Anteil der "Verzerrung" der Realität nimmt in der spätkapitalistischen Kulturindustrie immer weiter ab. Die klassische Kulturindustrie negierte den unerträglichen Zustand der kapitalistischen Welt eigentlich nicht mehr, sie stellte - dies war ihre zentrale Lüge - nur Alternativen in Abrede. Nun wird, mit dem sich immer deutlicher abzeichnenden Zusammenbruch der Wertvergesellschaftung, vermittels der Computerspielindustrie die totale Barbarei, die rücksichtslose Identifizierung mit den Folgen dieser Krise propagiert. Durch sein "Mitmachen" in diesen virtuellen Welten, die immer genauer die krisenbedingte Barbarei duplizieren, wird der Spieler mit diesem - hochgradig ästhetisierten - Krisenzustand versöhnt und zu einer aktiven Rolle bei dessen Ausgestaltung ermuntert. Es geht nur noch darum, in der Krisenkonkurrenz austeilen zu können und nicht einstecken zu müssen. In seiner Agonie verbreitet die Kulturindustrie keine Lügen mehr über die Hölle auf Erden, die das Kapital geschaffen hat, diese wird einfach ästhetisiert und bejaht. Die modernen Games sind somit ein Symptom für den Tod der Ideologie: Es findet eine unverzerrte Widerspiegelung der Realität statt, die gerade zur größtmöglichen Barbarei in der kommenden Ära des Umbruchs erziehen soll. Nichts tötet jegliches Empathievermögen zuverlässiger ab als die millionenfach eingeübte Betätigung des Triggers in den unzähligen virtuellen Kriegen, die eigentlich nur die unzähligen realen Kriege spiegeln, auf die inzwischen schon die Jüngsten vorbereitet werden.

Wenn wir nun die eingangs erwähnten "postapokalyptischen" Multiplayergames wie Rust und DayZ nochmals betrachten, dann wird nun auch klar, dass es sich hier streng genommen um kein fiktives Szenario mehr handelt. Immer wieder erzählen Spieler davon, dass man bei diesen Spielen nur in Gruppen - im Spielerjargon "Klans" genannt - eine längerfristige Überlebenschance habe. Was sich auf den Servern dieser Spiele virtuell konstituiert, sind die realen Rackets, sind die Milizen und Banden, die bereits in weiten Teilen der Zusammenbruchsgebiete des kapitalistischen Weltmarkts herrschen. Es ist der "molekulare Bürgerkrieg" (Robert Kurz), der immer neue Weltregionen erfasst, in denen die kollabierende Wertvergesellschaftung von anomischer Bandenherrschaft abgelöst wurde, der bei dieser Art von Spiel trainiert wird. Die Metropolenkids spielen das nach, was ihre Altersgenossen in den Zusammenbruchsgebieten - in Syrien, Irak, Somalia, Kongo - bereits zu praktizieren genötigt sind. Das Spiel war schon immer auch eine Form des Trainings, mit dem sich Kinder und Heranwachsende fit machten für die Herausforderungen des Erwachsenenlebens. Da der Kapitalismus als die einzig mögliche Form menschlichen Zusammenlebens gilt, kann der sich immer deutlicher abzeichnende Kollaps des Kapitalverhältnisses - der von der Kulturindustrie in der Schwemme apokalyptischer Medienprodukte unbewusst verarbeitet wird - nur als ein Kollaps der Zivilisation dargestellt werden. Und selbst hier ist der Anteil der Lüge angesichts der gegenwärtigen Krisendynamik nur noch marginal, da das Weltsystem tatsächlich vollends in die Barbarei umschlagen wird, sollte das Kapital als totale Vergesellschaftungsform nicht von einer emanzipatorischen Gegenbewegung überwunden werden. Die allgegenwärtige Apokalypse im Computerspiel stellt somit die self-fulfilling prophecy eines allgemeinen Krieges aller gegen alle dar, auf die das Gesamtsystem seiner inneren Krisenlogik gemäß zusteuert - und die in der Peripherie des Weltsystems bereits Realität geworden ist.

Dabei muss aber abschließend bemerkt werden, dass das Spiel - auch das Computerspiel! - durchaus eine Ambivalenz aufweist, die es auch zu einem progressiven Medium machen könnte. Beim Spielen geht es nicht nur um das "Training", um die spielerische Einübung von Rollen, Fähigkeiten und Verhaltensmustern, die in der gesellschaftlichen Realität vorherrschen. Das Spiel war immer auch motiviert von der Sehnsucht nach "dem Anderen", nach einem Zustand, der dem Spieler in der Realität unerreichbar scheint. Genau so wie in den Nischen der Filmindustrie durchaus noch subversive Werke produziert werden, erscheinen auch kaum beachtete Spiele, die - wie etwa das Werk Space Giraffe des Altmeisters Jeff Minter - eben diese Sehnsucht nach dem Anderen bedienen und vermittels eines abstrakten, audiovisuellen Feuerwerks den Spieler buchstäblich zur Bewusstseinserweiterung einladen. Neben dem Stumpfsinn eines Call of Duty und dem routinierten Massenmord des molekularen Bürgerkrieges, den ein GTA perfekt in Szene setzt, finden sich selbstironische und subversive Meilensteine wie die Portal-Spiele oder der Independent-Klassiker Braid. Doch auch hier gilt die aus der Filmindustrie bekannte Gleichung: Es kommt auf die Multiplikatoren und die Reichweite der entsprechenden Produkte an. Auf ein selbstironisches Portal 2, in dem der Spieler letztendlich zu einem Versuchskaninchen zugerichtet wird, kommen hundert Massenmordsimulatoren. Die Ausnahme bekräftigt und festigt auch hier letztendlich den Regelvollzug der Branche.

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2000 Zeichen abwärts

Willkommen daheim

Es war ein ganz und gar schreckliches Erlebnis: komme nach Zugfahrt etwas erschöpft in Wien an und geh halt zur U, um nach Hause zu fahren. Hör ich schon, wie ich mit der Rolltreppe runterfahre ganz feine, herrliche Klänge. Sitzen da unten zwei Frauen und machen wunderbare Musik (Gitarre, Maultrommel und Gesang). Obwohl gerade eine U einfährt, steige ich nicht ein, bleibe stehen, um dieser Musik zu lauschen. Ich lehne mich gegenüber an die Wand, genieße, wie sich meine von der Müdigkeit getrübte Stimmung durch die schöne Musik hebt; und weitere Us fahren ohne mich weiter. Immer wieder bleiben Fahrgäste der Wiener Linien stehen, um den beiden eine Weile zuzuhören. Doch dann wird's grauslich: Die Ordnung betritt die Bühne! In grellgelben Plastikjacken mit silbernen Warnstreifen drauf. Dem Aussehen nach eine Frau und ein Mann. Als braver Bürger verlasse ich meine Loge, um mich direkt an den Ort des bürgerlichen Geschehens zu begeben. Einer der Umstehenden fragt gerade verständnislos, warum die da nicht spielen dürfen. "Andere Fahrgäste stört das." Ich wende darauf ein, dass ich schon lange da stehe und es eindeutig noch niemand gestört hat. "Hier ist das nicht erlaubt, wir müssen die Ordnung einhalten, wir machen nur unsere Arbeit, mit uns können Sie nicht reden, reden Sie mit dem Bürgermeister, wir müssen tun, was der Schef sagt." Béffel ist: Béffel - wir sind wieder da. Die haben nur so ausgesehen wie Frau und Mann, es waren Roboter.

A.B.

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Ende der Geschichte?

von Lars Distelhorst

Die Apokalypse wurde schon unzählige Male verkündet. So betrachtet ist sie ein alter Hut. Neu ist die spezifische Form voyeuristischer Katharsis, mit der sie in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten inszeniert wird. Sie wird nicht länger gefürchtet, als Machtinstrument benutzt oder in religiöse Systeme gebettet - sie wird ersehnt. Erst Ende des Jahres 1999 zerbrachen wir uns noch die Köpfe, was wohl die russischen Atomraketen anstellen könnten, wenn die veralteten Steuerungsrechner es nicht schaffen würden, auf 2000 umzuspringen, und 2012 fieberten wir dem von den Mayas prophezeiten Weltuntergang entgegen. Die Kino-Blockbuster der letzten fünfzehn Jahre gehen über diesen Flirt mit der eigenen Vernichtung noch weit hinaus, indem sie den kollektiven Tod als Spektakel inszenieren. Typische Exponenten sind Filme wie Deep Impact, Independence Day, Emmerichs 2012 oder nun der neue Godzilla. Interessant ist dabei vor allem die schleichende Veränderung des Plots. Schrappte die Menschheit in älteren Filmen wie Deep Impact, Armageddon oder Independence Day noch knapp an der Vernichtung vorbei, indem sich Einzelne heldenmütig für sie opferten, scheint dieses Opfer in vielen neueren Filmen entweder sinnlos oder keiner Mühe wert zu sein. So kann beispielsweise im Film Cloverfield nichts gegen den unwillkommenen Besucher aus dem All unternommen werden, gehen in Terminator 3 die Atomraketen wirklich hoch und ist die ökologische Katastrophe in 2012 durch nichts zu bekämpfen.

Zeit und Entfremdung

Damit stellt sich heute, kulturell betrachtet, eine neue Frage: Wie ist die aufkeimende Faszination für die eigene Vernichtung zu erklären? Walter Benjamin schrieb im Nachwort zu seinem Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit": "'Fiat ars - pereat mundus' sagt der Faschismus und erwartet die künstlerische Befriedigung der von der Technik veränderten Sinneswahrnehmung (...) vom Kriege. Das ist offenbar die Vollendung des l'art pour l'art. Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt."

Der Aufsatz entstand 1935 im Pariser Exil. Einerseits hatte Benjamin Erinnerungen an die Schrecken des Ersten Weltkrieges im Gedächtnis, andererseits sah er in den Massenaufmärschen der Nationalsozialisten und der militärischen Disziplinierung der Gesellschaft bereits den neuen Krieg am Horizont erscheinen. So verführerisch die These mit Blick auf den Nationalsozialismus ist, so erscheint sie, aus dem Abstand von 80 Jahren betrachtet, heute historisch fraglich. Was die Menschen am Krieg bejubelten, war weniger ihre Selbstvernichtung, vor der sie zum Ende des Krieges panische Angst zeigten und dann zu reuigen Demokraten konvertierten. Es war vielmehr die Aussicht, den Krieg zu gewinnen und den bislang theoretischen Anspruch, das Herrenvolk zu verkörpern, in die Praxis umzusetzen. Der Krieg konnte ästhetische Schönheit und zusammen mit ihr Genuss nur so lange entfalten, wie er als bereits gewonnen galt. Sobald die Wochenschau keine glaubhaften Erfolgsmeldungen mehr zu senden hatte, war die Freude am schönen Bild dahin. Die Selbstvernichtung wird erst im modernen Kapitalismus zum libidinös besetzten Spektakel, was der These Benjamins große Tragweite verleiht und uns nötigt, die Frage zu stellen, auf welche Form der Selbstentfremdung die allerorten inszenierte Apokalypse zurückgeht.

Ein wichtiger Hinweis liegt im Wesen der Apokalypse selbst. Sie ist der große Zusammenbruch, der laute Knall oder der Aufmarsch zum letzten Gefecht, der am Ende einer langen Geschichte steht und ihren Abschluss bildet. Sie verweist damit auf die Zeit und die Rolle menschlichen Handelns im Rahmen ihrer Gestaltung.

Was unsere Vorstellung von der Zeit bislang dominiert hat, war die Überzeugung, sie verlaufe als ein von der Vergangenheit über die Gegenwart in Richtung Zukunft weisender Fluss, der eine fortwährende Weiterentwicklung des menschlichen Zusammenlebens mit sich bringt. Die Geschichte schreitet voran, schneller, wenn die Menschen viele Freiheiten genießen, langsamer, je stärker sie ins Räderwerk gespannt sind - aber es geht vorwärts, und schließlich wird alles gut.

Ende statt Fortschritt

In seinem berühmten Aufsatz "The End of History" vertrat Francis Fukuyama eine dezidierte Gegenposition zu diesem linearen Zeitkonzept. Fukuyama argumentiert wie folgt: In der Sowjetunion hat Gorbatschow durch Glasnost und Perestroika eine Politik eingeleitet, die den Marxismus-Leninismus hinter sich lässt, der bis dahin als ideologische Rechtfertigung des Systems gedient hat; in China hat die westliche Konsumkultur Fuß gefasst, und die kommunistische Partei schwenkt auf einen zusehends liberaleren wirtschaftspolitischen Kurs ein; die Klassenfrage hat sich innerhalb des westlichen politischen Systems als lösbar erwiesen; der Faschismus hat sich durch die Verluste im Zweiten Weltkrieg ebenso ins politische Aus manövriert wie der im absoluten Debakel geendete Nationalsozialismus; und schließlich besitzen weder die Religion noch der Nationalismus heute noch genügend Anziehungskraft, um eine Herausforderung für die politischen Systeme des Westens darzustellen. Auf der Bühne bleibt nur der Liberalismus zurück, und sein Sieg ist uneingeschränkt: Weder kann ihm eine Ideologie noch gefährlich werden, noch geht er - wie viele seiner Gegner behaupten - mit Widersprüchen schwanger, die ihn über kurz oder lang zum Untergang verurteilen. Hegel und sein berühmter Interpret Kojève hatten Recht: Mit der Schlacht von Jena im Jahre 1806 und der Durchsetzung der zentralen Werte der Französischen Revolution und der Aufklärung ging die Geschichte in die Schlussgerade. Spätestens heute ist es klar: Die Geschichte ist vorbei!

Es gibt zwei Missverständnisse der Thesen Fukuyamas: Das erste besteht in der Annahme, Fukuyama habe die Behauptung aufgestellt, das Ende der Geschichte bestünde in der Durchsetzung liberaler Systeme überall auf der Welt, was langsam aber sicher in eine Ära des Friedens und der politischen Ausgeglichenheit führen würde. Ganz im Gegenteil betont er, nach wie vor würde es gewalttätige und kriegerische Auseinandersetzungen geben, nur gibt es eben keine Konflikte mehr, die den Liberalismus als Idee in Frage stellen. Wo Marx als Materialist behauptete, das gesellschaftliche Sein würde das Bewusstsein und die Welt der Ideen bestimmen, beharrt Fukuyama als Hegelianer auf dem Primat der Idee gegenüber der materiellen Welt. Das Ende der Geschichte bedeutet nach Fukuyama die endgültige Durchsetzung einer Idee, die konkurrenzlos geworden sei, da alle Alternativen versagt hätten oder langsam zu ihr konvertierten. Mit dem Ende von Konflikten habe dies nichts gemeinsam und ebenso wenig mit einer Welt, in der es sich besser leben ließe als in einer der vorherigen.

Triste Unendlichkeit

Und hier liegt das zweite Missverständnis. Wenn Fukuyama das Ende der Geschichte und den finalen Sieg des westlichen Liberalismus verkündet, sehen viele Menschen darin eine frohe Botschaft, weil wir nun endlich die leidige Systemkonkurrenz los sind, weil wir wissen, was wir politisch zu tun haben, und vor allem sicher sein können, das Richtige zu tun. Schwang in Vietnam noch das schlechte Gewissen mit, weil die Geschichte auch dem Kommunismus Recht hätte geben können, ist von solchen Vorbehalten in Afghanistan und dem Irak nicht mehr die Rede, weil wir endlich wissen, dass wir im Recht sind. Fukuyama sah dies deutlich anders.

"Das Ende der Geschichte wird eine sehr traurige Zeit sein. Der Kampf um Anerkennung, die Bereitschaft, sein Leben für ein abstraktes Ziel aufs Spiel zu setzen, der weltweite Kampf der Ideologien, der Mut, Kühnheit, Vorstellungskraft und Idealismus vorantrieb, wird durch ökonomische Kalkulation ersetzt werden, durch das endlose Lösen technischer Probleme, ökologischer Sorgen und die Befriedigung anspruchsvoller Konsumentenbedürfnisse." (Übersetzung: Lars Distelhorst)

Fukuyama ist keineswegs begeistert vom Ergebnis seiner Analyse und sonnt sich auch nicht im Triumph. Vielmehr kommt er der düsteren Position sehr nahe, die Jean Baudrillard vertrat, als er die provokante These aufstellte, das Jahr 2000 würde nicht stattfinden, weil die Zeit sich in immer kleinere Intervalle auflösen würde, zu endlosen Wiederholungen und Spaltungen verdammt, ohne je einen wirklichen Fortschritt zu machen, wie Achilleus in der Parabel vom Wettlauf mit der Schildkröte. Das Interessante an dieser Übereinstimmung ist die radikale Unterschiedlichkeit der beiden Denker. War Fukuyama, als er seinen Aufsatz schrieb, noch ein Vertreter des Neokonservatismus, einer der konservativsten US-amerikanischen Denkströmungen, galt Baudrillard als radikaler Kritiker der Postmoderne. Wenn zwei so verschiedene Geister in von unterschiedlichen Ausgangspunkten anhebenden Gedankengängen zu derart dicht beieinander liegenden Schlussfolgerungen gelangen, legt dies die Vermutung nahe, das diagnostizierte Problem könnte zutreffen.

Folgt man beiden, hat sich die Zeit gegenüber der zuvor beschriebenen linearen Zeitlichkeit wesentlich verändert. Verlief sie vorher in Form einer geraden, aufsteigenden Linie, nimmt sie nun die Form einer Asymptote an, die zwar Raum für Geschehnisse lässt, da sie nie den höchsten Punkt trifft, jedoch in unendlich langsamem Fortschreiten, unendlich langsamer Näherung an ein niemals gänzlich realisiertes Ziel den Platz zum Handeln nimmt und das menschliche Leben zu Wiederholung und Trivialität verdammt.

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2000 Zeichen abwärts

Toter Mann

U-Bahn Wien: Gleich beim Einsteigen höre ich ein unangenehmes Geschimpfe. Ein älterer Mann scheucht eine kleine, unscheinbare, verhutzelte Frau in schwarzem Gewand wie ein Tier vor sich her. "Schleich dich, Bettlergsindl. Raus da!", schreit er laut. Ich erwidere ihm spontan in heftigem Ton: "Die U-Bahn gehört nicht Ihnen. Die Frau darf genauso wie Sie damit fahren!" Da entlädt sich eine Salve von Schimpfwörtern auf mich. Darunter: "Sie blöder Trampel, Sie! Das ist die Bettlermafia. Die g'hört ausgerottet!" Die Frau, die er sogar körperlich bedrängt, kommt hilfesuchend auf mich zu, ein großes Bild vor sich hertragend und mir hinhaltend. Es zeigt einen toten Mann, bekleidet mit einem schönen roten Anzug in einem Sarg liegend. In klagendem Ton sagt die Frau: "Mann tot. Bitte Geld für Kinder!" Ich gebe ihr das Gewünschte. Der "freundliche Wiener" hat sich in der Zwischenzeit auf einen Platz gelümmelt, alle Viere von sich gestreckt und murmelt vor sich hin: "Trampel, blöder, Gsindel, elendigliches, Bettlermafia, Verbrecher!", bis er eingeschlafen ist. Ich blicke nochmals auf den Mann im Sarg, dessen kleine Frau für ihn und für ihre Familie unterwegs ist. Er ist für mich lebendiger geworden. Das goldene Wiener Herz hingegen hat da scheinbar aufgehört zu schlagen.

H.S.

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Ausgeträumt

Realistisch gesehen gibt es keine Chance für eine nachhaltige Entwicklung

von Karl Kollmann

Man muss - nach jahrzehntelangen frustrierenden Erfahrungen - das globale ökologische Versagen wohl auch einmal akzeptieren lernen, statt weiter leeren Hoffnungen nachzuhängen und (vermutlich) christlich kulturgeprägt doch noch an einen Ausweg aus der Öko-Krise zu glauben. Bei den erwähnten, leeren Hoffnungen, an die sich Menschen oft krallen, übersieht man möglicherweise auch neue und härtere Bedrohungen für das humanistische Verständnis, um das es ja in den Öko-Hoffnungen geht: dass der große, kleine Planet für alle tragfähig bleibt.

Manche (wenige) kritische Ökonomen und einige andere Sozial- wie auch Naturwissenschaftler suchen seit vielen Jahren nach Möglichkeiten und Lösungen, Nachhaltigkeit in diese von ungerecht verteilter Verschwendung überlastete Welt zu bringen (z.B. Welzer/Wigandt). Währenddessen ist der Begriff "Nachhaltigkeit" längst schon kommerziell vereinnahmt worden. Tragfähige, saubere Lösungen werden hingegen immer unwahrscheinlicher, trotzdem haben die meisten kritischen Köpfe ihre Suche noch nicht aufgegeben. Das Prinzip Hoffnung scheint anthropologisch beim Menschen bis zum Letzten zu gehen, und damit bleibt es bei den kritischen, nachhaltigkeitsorientierten Wissenschaftlern sozusagen auch lebenslang aufrecht.

Jedoch: die ökologischen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, psychischen und kulturellen Entwicklungsgänge sind inzwischen so verfahren und verstellt, dass auch mit viel Optimismus menschenwürdige Lösungen, Lösungen zum gesellschaftspolitisch und ökologisch Sinnvollen, zum Guten, unendlich weit entfernt und von der global dominanten kulturellen Struktur umfassend verstellt scheinen.

Im Folgenden sollen einige der heftigeren Sperren von gesellschaftlicher Veränderung skizziert, zuvor jedoch ein Blick auf Begrenzungen geworfen werden, die uns die Natur des Planeten Erde vorgibt.

Ökologische Krise

Wir sind heute nahe am ökologischen Notfallpunkt angelangt (Emmott). Ausgeprägte Suffizienz, also Konsumverzicht wäre in den westlichen Gesellschaften notwendig - tatsächlich findet das Gegenteil statt: trotz mehrjähriger Weltfinanzkrise gab es keine Entlastungen im Ressourcenverbrauch (Emmot; Randers). Mehr Wachstum bleibt auch das Dogma, das Konservative ebenso wie Linke und Grüne stetig wiederholen, so als hätte ein Gedanken-Virus Politiker und Ökonomen jedweder Richtung nachhaltig und unrettbar infiziert.

Es gibt heute keine relevanten gesellschaftlichen Akteure, die eine ökologisch tragfähige Lösung vertreten und eine Menschen selbstermächtigende politische Bildung vorantreiben würden (Kollmann 2012). Die herrschenden politischen Eliten, auch die NGOs, sind zu sehr in der postdemokratischen Struktur des Machterhalts und der Selbstreproduktion im System beschäftigt, um über Alibiaktionen hinaus wirksam in die Wirklichkeit einzugreifen oder ein breites klimapolitisches Anders-Handeln zu fördern.

Natürlich gibt es inzwischen einige ordnungspolitisch durchgesetzte Lösungen, wie etwa das Glühlampenverbot, die Effizienzsteigerung bei Haushaltsgeräten, ein umfassendes Mittun der Bevölkerung bei der Recyclingarbeit, die bekannten Appelle zum Abschalten der Standby-Funktionen und eine umfassende Förderung alternativer Energieproduktion. Aus etwas Distanz besehen sind das allerdings nur Alibi-Aktivitäten, auch die sogenannte "deutsche Energiewende" bleibt hier eine ziemlich begrenzte, schmalflächige Angelegenheit.

In den Medien und in der großen Politik, seien es die UNO-Gipfelkonferenzen, die EU-Politiksprache oder die nationalen Politikdarstellungen, ist Klimapolitik und insbesondere der Begriff "Nachhaltigkeit" auf der Agenda; Nachhaltigkeit ist in den letzten Jahren überhaupt zum Kassenschlager der PR-Abteilungen und PR-Agenturen geworden. Ebenso wie Umweltschutz und die Klimafrage in den Einstellungen der Menschen eine durchaus relevante Rolle spielen: die große Mehrheit ist ökoorientiert und klimaverständig, sie macht sich gedanklich durchaus Umweltsorgen. Trotz politischer Rhetorik und umweltfreundlicher Einstellungen der Menschen verändert sich jedoch sehr wenig, von den vorhin erwähnten alibihaften Verzierungen einmal abgesehen.

Dysfunktionalität der Politik

Politik ist heute - gerade auch im Westen - ein selbstreferenzielles System der politischen Eliten und der kapitalistischen Wirtschaft. Die repräsentative Demokratie funktioniert so nicht mehr (Koschnik). Die Verkopplung von politischen und wirtschaftlichen Interessen in einem durch Massenmedien eingerahmten postdemokratischen System (Crouch) ersetzt die verlorene langfristige Perspektive durch Worthülsen und Partikularinteressen, die als allgemeingültig, jedenfalls als legitim angesehen werden.

Sowohl das Rekrutierungssystem der Politik wie auch die Alltagspraxis politischer Auseinandersetzungen (Kollmann 2010 S. 79ff) nivellieren kritische Horizonte hin auf einen pragmatischen "common sense"-Alltag, auf Einfügung in die gegebenen Rahmen. Kritisches Denken wird langsam weggeschliffen. Und außerhalb des Mainstreams tobt derweilen der Kampf von Minderheiten gegen andere Minderheiten, als wäre das ein unabänderliches Schicksal von Außenseitern. (Hingst)

Für die überwiegende Mehrheit in Mitteleuropa ist das Misstrauen gegenüber den politischen Eliten inzwischen eine sozusagen "natürliche" Einstellung geworden. Diese Aversion wird heute bereits deutlich im Alltag spürbar, im Small Talk, in beiläufigen Gesprächen, auch in Leserbriefen und natürlich in den elektronisch virtuell und scheinbar abgeschirmten Postings und Blogs.

Selbst der ehem. Chef der Eurogruppe, Jean-Claude Juncker, beschrieb in einem raren Moment einmal recht freimütig das Politikverständnis der Eurokraten und generell der Delegierten der repräsentativen Demokratie: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt." (Ley)

Die nationalstaatlichen Linken (Mehrzahl) zeigen sich zu einer - selbst systemimmanenten - Kritik an den europäischen Zentralinstitutionen unfähig, unwillig oder zu dumm und schalten hier unbesehen mit den Konservativen (und den Industrieinteressen) gleich: Wer dieses Europa kritisiert, ist ein Antieuropäer, eine Art nationalstaatlicher Faschist. So, als wäre diese EU-Europaidee in Anbetracht der menschengemachten und institutionellen Veränderungen auf diesem Planeten langfristig von höchstem essenziellen Belang. Wie jedoch die gegenwärtigen realen Verhältnisse aussehen, das belegen seit mehr als einem dutzend Jahren der NSA-Abhörskandal, die Auslieferung der Daten (Flug, Bank etc.) der europäischen Bürger durch die EU und ihre Unwilligkeit, europäische Bürger zu schützen, sowie die Bemühungen der EU-Kommission, mit Kürzeln wie GATT, MAI, ACTA und TTIP sich selbst zu feiern.

Die Parteien bilden ein intransparentes Machtsystem und einen fügsamen Nachwuchs aus. Wer sich missliebig macht, weil er oder sie "zu kompliziert" ist, zu viele Fragen stellt oder hartnäckig abweichende Meinungen vertritt, wird gruppendynamisch an den Rand gedrängt oder fliegt raus. Es wird einfach nur die simple Sozialpsychologie des Alltags reproduziert. Das kann allerdings ziemlich schnell tödlich werden, wie das Milgram-Experiment und ähnliche Versuche gezeigt haben. Alltags-Faschismus, Stalinismus und autoritäre Systemformen stecken nach wie vor in den Gesellschaftsstrukturen drinnen.

Kommerzialisierung von Kultur, Bildung, Wissenschaft...

Politik und Wirtschaft haben sich darüber hinaus auch die oft eigensinnige Kunst und Kultur in eine Kulturindustrie und einen Kunstmarkt transformiert. Wer sich in den Nischen von Kunst und Kultur noch frei bewegen will, bewegt sich verstört zwischen Skylla und Charybdis.

Die akademischen Bildungsinstitutionen wurden durch den Politik- und Wirtschafts-Verbund in eine naturwissenschaftlich orientierte Ausbildungs- und staatlich geförderte Forschungsindustrie für die Wirtschaft umgewandelt. Auch über die grundlegende Bildungsform "Schule" wurde mittlerweile ein zwischennationaler Wettbewerbsschirm (PISA) gespannt, der die kleinen Individuen wie domestizierte Tiere standardisierten Leistungstests unterwirft.

Bildung aber hieße nicht das simple Reproduzieren von Wissen oder sein Anwenden (Kompetenzen heißt das heute) in variierten Situationen (etwa Fabriken oder Büros), sondern das Inbesitznehmen, das subjektive Verstehen der Wirklichkeit, in die man unverschuldet geworfen wurde.

Die Wissenschaften sind substanziell "drittmittel-finanziert" (Kohlenberg / Musharbash S. 13ff), und ein Großteil der Forschung entstammt der "Dual-Use"-Idee, also militärischer und ziviler Anwendung. Darüberhinaus mehren sich unter der "publish or perish"-Peitsche die Fehler und Fälschungen in den immer punktueller werdenden Studien (Schmitt/Schramm S. 33f).

... und Beratung

Parteipolitische ebenso wie administrative oder NGO- und dergleichen wissenschaftliche Aktivitäten werden mit "Public Relations" und mit einem industriell formierten Beraterumfeld ummantelt. Politische Absichten in Parteien etwa werden durch eine Beraterarmee selektiert und vorzensiert, die nur solche Dinge realisieren lässt, welche auf politische Korrektheit und Zielgruppengängigkeit orientiert sind; neue, ungewohnte oder schräge Ideen werden damit vorab ausgesondert. Die Wiederholung des Immergleichen setzt sich fort, kommerzielle Werbung und politische Reklame haben sich angeglichen.

Auch in Unternehmen, in der Administration und anderen Organisationen wird nahezu jede Äußerung PR-mäßig begleitet, und ungewohntere Aktivitäten werden zuerst mit zugekaufter rechtsanwaltlicher Expertise abgesichert. Je besser bezahlt handelnde Personen sind, desto aufwendiger stehlen sie sich mit zugekauften Beratungsdienstleistungen aus ihrer persönlichen Verantwortung.

Die Akteure haben keine eigenen, subjektiv entwickelten Zielvorstellungen, sie sind zu Masken geworden, die Stereotypen produzieren, es geht nur mehr um die übliche Zustimmung, den Marktanteil, mehr Macht und mehr Aufmerksamkeit. Drogenabhängige fallen einem dazu ein, Kaufsüchtige, Hardcore-Spieler - ein süchtiges Verhalten von robotergleich agierenden Artgenossen.

Hierzu kann man sich die Programme oder Arbeitsvorstellungen der politischen Parteien ansehen, oder man braucht nur nuancierte Äußerungen dazu rekapitulieren. Wenn Exponenten wie Helmut Schmidt oder Franz Vranitzky den Menschen mit Zukunftszielen einen Gang zum Arzt empfohlen haben, spricht das für den kompletten Verlust von Zukunftsvorstellungen und Gestaltungsfähigkeit in der Landschaft aktueller Politik.

Abschied von "Zukunft"...

Die kulturelle und gesellschaftspolitische "Ressource Zukunft" (Assmann S. 12) ist weitgehend abhanden gekommen. Langfristige gesellschaftliche Ziele existieren weder in den Programmen der politischen Parteien, Gewerkschaften oder NGOs, noch in Kultur und Kunst. Der Zusammenbruch der als Gegenbild zum Kapitalismus des Westens drohenden kommunistischen Staaten, diese sichtbare ideologische Beschlagnahme der Reste des Kommunismus durch die politischen Kräfte des Westens und der multinationalen Unternehmen mag tatsächlich eine Ursache für diese Entfernung von "Zukunft" aus der Gesellschaft gewesen sein. Hinzu kommen allerdings die Usurpation der Politik durch simpel-ökonomisches neoliberales Gedankengut (Thatcherismus), der Verlust jeglicher politischer Bildung und vor allem die breite Auffächerung des Konsumraums als wesentliches Lebensziel aller Menschen, der Medien und des Soziallebens.

Wenn das Glück der Menschen in den angebotenen Konsumgütern liegt und der Markt hier kein Ende findet, denn Pseudoinnovationen lassen sich rasch generieren, dann benötigen Gesellschaft und die Einzelnen auch keine anderen Vorstellungen von Zukunft mehr. Insbesondere dann nicht, wenn solche Ideen nur zu einer mühseligen Minderheitsangelegenheit werden. Wer benötigt in einer totalitären Konsumwelt noch humanistische Ideen und ähnliche Vorstellungen, die in dieser materiell orientierten Wirklichkeit ohnedies nur Trübsal bereiten?

... und humanistischen Werten

Die große Mehrheit der Bürger in den westlichen Republiken hat sich offenbar von der Idee und dem genuinen Wert eines privaten Lebens verabschiedet. Dass Gedanken und der ganz persönliche Lebensraum frei und geschützt bleiben sollten, hatte einmal einen engen Bezug zum Verständnis von Menschenwürde und zu humanistischen Werten, die in der Epoche der Aufklärung entwickelt wurden. Denkfähige, aufgeklärte Menschen wollen sich stets fremder, dumpfer Macht entziehen und selbstbestimmt ihr einziges und (subjektiv) einmaliges Leben führen.

Die Wertschätzung des privaten Lebens ist vorbei, bevor sie überhaupt in den Köpfen der Mehrheit umfassend angekommen ist. Dies belegt die matte Resonanz der Medienkonsumenten auf die seit Juni 2013 erfolgten Enthüllungen der NSA-Abhörpraktiken durch Edward Snowden. Während die sogenannten Qualitäts-Medien hier ihrem eigenen Verständnis kritischer Berichterstattung tatsächlich folgten (was sonst nicht der Regelfall ist), blieb hingegen die große Mehrheit der Politik-Eliten und der Bürger bei diesem Thema müde und erschlafft. Gewissermaßen gehorsam, bestenfalls defätistisch.

Das Abhören und Speichern von elektronischer Kommunikation ist nicht neu. "Echelon", also die umfassende Ausspähung der individuellen Kommunikation durch den Staatenverbund USA, Großbritannien und die Commonwealth-Länder Kanada, Australien, Neuseeland, war seit den 1990er Jahren bekannt. Die Überflutung öffentlicher Plätze mit Videoaufnahmegeräten und die prophylaktische Speicherung privater Daten hat auch seit Jahren Tradition im EU-Europa, ebenso der Datenhunger staatlicher Verwaltungen und der Unternehmen, dort mithilfe von Kundenkarten, Smart Meter und Data Mining.

Die große Mehrheit nimmt der Obrigkeit und den Unternehmen die flächendeckende Spionage nicht übel, da sie denkt, ohnedies nichts verbergen zu müssen, die Datenschutzfrage hatte sich für sie schon in den 1990er Jahren auf unbestellte Werbezusendungen reduziert (Kollmann 1999). Tatsächlich hat diese Mehrheit wenig zu verbergen, es fehlen ihr etwa Utopien, die sich als gefährliches Gedankengut erweisen könnten oder als subversives Denken. Die Wünsche der Mehrheiten bleiben auf das Konsumgüter-Angebot beschränkt, und das ist - solange Armut nicht gänzlich unverrückbar und flächendeckend festgezimmert scheint - für die Wirtschaft und ebenso für die mit ihr konspirierende Politik eine recht beruhigende Tatsache.

Transparenz und Offenheit. Leistung, Gier und Angst

Demokratie wird im Zeitalter der multistaatlichen Überwachung als Transparenz verstanden. Transparenz auch im Privaten ist heute zu einer gesellschaftlich anerkannten Angelegenheit geworden, sozusagen ein Modus des "Wir wollen alles über Dich wissen", wobei der Einzelne eigentlich nur seine kleine Identität finden will und sich deshalb auf Aufmerksamkeitssuche eingelassen hat (Stampfl S. 24ff). Wenn man von allen (gewöhnlichen Menschen, denn die Eliten werden sich schon zu schützen wissen) alles weiß, bringt das endlich den Weltfrieden, Gerechtigkeit und Toleranz in die Welt?

Da bleibt man nicht nur passiv, man darf sich durchaus auch wünschen, etwas an neuen sozialen Normen zu setzen, aber das war auch im Faschismus nicht anders, repressive Toleranz eben. Egal ob das nun gewohntes "Gendern" betrifft oder vegetarisches Essen, Rauchverbote, Fahrradfahrzwänge, Sitzpinkeln, eine übervorsichtige Kinderorientierung (Kindern Freunde sein statt sie zu erziehen), Tierrechte einfordern, oder selbst im Privaten das Bemühen stets den "politisch korrekten" Ausdruck zu finden.

Im Wesentlichen gerät diese Facebook- und Seitenblicke-Transparenz natürlich zu einer gehobenen Form von Selbstdarstellung, Eigenwerbung und Aufmerksamkeitsgenerierung. Allerdings ist, wenn es geltendes soziales Gebot ist, intimeren Einblick in sich zu gewähren, eine im Allgemeininteresse angeordnete Transparenz auch kaum mehr in Frage zu stellen. Alles steht unter dem Gebot, öffentlich zu sein und transparent zu werden.

Die Transparenzgesellschaft ist ebenso eine Lebenslang-lernen- wie eine Leistungs- und Aufmerksamkeitsgesellschaft (Byung-Chul Han), die den Einzelnen/die Einzelne zwingt, sich selbst permanent sozial richtig darzustellen, sich passend zu vermarkten und eben lebenslang für seine/ihre Selbstdarstellungsfähigkeiten zu lernen, in sie eigene Zeit und eigenes am Arbeitsmarkt verdientes Geld zu investieren. "Lebenslanges Lernen" nicht nur für die soziale Schauspielerei in der Facebook-Atmosphäre, sondern auch für die am Arbeitsmarkt verwertbaren Fertigkeiten und Fähigkeiten, ohne die eine/r sich keinen Lebensunterhalt verdienen kann. Eine neue Form von Sklavenhalter-Gesellschaft mit zwei großen Verpflichtungen: ordentlich zu arbeiten und ordentlich zu konsumieren, damit es allen gut geht.

"Lebenslanges Lernen" ist anders als in der modernen, expressiven Form zwar eine ohnedies schon immer gelebte Tatsache, denn Menschen lernen mit jedem Lebenstag dazu. Nunmehr aber ist es als Enteignung des Individuums zu verstehen: Nichts ist fix, alles ist im Wandel, die gesellschaftliche Umwelt verändert sich so rasch, dass man dauernd dazulernen bzw. umlernen muss, um nicht den Anschluss zu verlieren, aus dem Spiel zu sein.

Der für die Konstitution des Menschen zu rasche Wandel in Wirtschaft, Technik und Medien ist hoch problematisch. Der Imperativ erzwingt eine bedingungslose und selbstverständliche Anpassung und beraubt den Einzelnen der Freiheit, seine Welt selbst, autonom, eigensinnig zu gestalten - er versklavt. Lebenslanges Lernen steht im Kontext der Leistungsgesellschaft. Diese hatte Herbert Marcuse schon bei der Analyse des Eindimensionalen Menschen im Fokus: die kulturellen Versprechungen der US-amerikanischen Gesellschaft, dass, wer sich in dieser Leistungsgesellschaft im umfassenden sozialen und wirtschaftlichen Wettbewerb bewährt, es auch zu Geld, Sex, Macht und Aufmerksamkeit, jedenfalls zu den geltenden Kategorien des persönlichen und sozialen Erfolgs bringen werde.

So ein Leistungsprinzip ist grundsätzlich zwar demokratisch, nämlich unabhängig von sozialer Herkunft und Rasse, aber es ist nur ökonomisch und an Leistung orientiert: Wer am Gesellschaftsmarkt "performt" und alles aus sich herausholt, der gewinnt vermutlich auch. Diesem hegemonialen Kulturkern der nordamerikanischen Gesellschaft haben sich die europäischen Nachkriegsgesellschaften freiwillig unterworfen. Dieses Leistungsprinzip kann sich aber wohl nur dort etablieren, wo persönliche Gier eine wesentliche Konstante, ein verbreiteter Antrieb der Menschen ist. Auch die an den Rand Gedrängten möchten mitunter ein Teil haben von dem, was Marketing und Medienindustrie ununterbrochen reproduzieren. Notfalls durch Stehlen, Rauben, Töten, wofür man in den vielen elektronischen Spielen förmlich trainiert wird.

Persönliche Gier ist oft eine gern gesehene und belohnte Antriebsquelle, etwa am Erwerbsarbeitsplatz. Was jedoch als ungezügelter Hunger erscheint, ist häufig angetrieben von der Angst, gute "Gelegenheiten" zu versäumen, leer auszugehen, nicht dabei zu sein. Dahinter schimmert durch, dass dieses elend kurze Leben, das jederzeit sein Ende finden kann, auch ständig bedroht ist. Keiner hat eine Garantie, morgen die Welt so vorzufinden, wie sie heute war, oder dass der übergeschnappte Nachbar einen nicht erschießt. Die Verdrängung des drohenden Tods, des knappen Lebens, die wir heute mit dem Abschieben der Sterblichkeit an die Spitäler, mit dem alltäglichen Vergessen unserer begrenzten biologischen Verfasstheit geschafft zu haben scheinen, holt uns immer wieder zuverlässig ein: in der Angst, im Leben zu kurz gekommen zu sein, ein Schnäppchen nicht gefasst, die Möglichkeiten nicht ausgeschöpft, sich selbst zu wenig dargestellt und Schwächen anderer nicht zielgerichtet genug ausgenutzt zu haben.

Transparenz und Offenheit scheinen normativ, verbindlich geworden. Das lässt sich aufs Erste sicherlich auch positiv sehen: eine liberale Gesellschaft, die offener geworden ist, in der sich Individuen mit ihren individuellen Vorzügen und Fehlern begegnen, mag ein wohltuender Bruch mit der Verlogenheit und dem schauspielerhaften Verhalten früherer Zeiten sein. Es ähnelt jedoch Benthams Panoptikum, wo nunmehr allerdings alle Aufseher und Gefangene zugleich sind. Wirklich befreiend wären Transparenz und Offenheit nur in einer Sozialstruktur, in der die Subjekte in einer Art interesselosen Wohlgefallens, in Konvivialität (Illich) und damit in umfassendem Vertrauen, miteinander umgehen. Nur dort kann einer Schwäche zeigen, wo diese vom anderen nicht ausgenutzt wird.

Nach wie vor gilt jedoch: Transparenz mag in Erwerbsarbeitssituationen als nettes Additiv dienen, die Machtgefälle bleiben dort jedoch völlig unberührt davon. Für die lernfähigen Menschen, die das begriffen haben, erweist sich dann vermutlich die Konsumwelt als Trost, als Entschädigung für die harsch gebliebenen Strukturen.

Enttäuschende "Linke"

Ernüchternd ist die Entwicklung der früheren alternativen Strömungen in dieser Marktgesellschaft und ebenso die der politisch Linken. Etwa das immer aufs Neue wiederholte Bildungsprogramm der mitteleuropäischen links gefärbten Parteien; es ähnelt nach wie vor der alten real-kommunistischen Erziehungsstruktur: Ganztageskindergarten möglichst früh, Ganztages-Gesamtschule. Lebenslanges Lernen, volle Berufstätigkeit, möglichst schnell nach biographischen Unterbrechungen (Kinder) wieder mit Erwerbsarbeit Geld verdienen. Keinen Bruch in der Erwerbsarbeits-Biographie soll es geben, damit auch keine Individualität, sondern gemeinschaftliche Standards durch die ins Bildungssystem eingeschulten Pädagogen. Mietwohnungen statt Eigentum. Auch kleine Vermögen und Erbschaften (dank der kalten Progression nach kurzer Pause wieder) besteuern, aber nicht Betriebe, denn das wäre wirtschaftsfeindlich, kein Wort von einer Beschneidung aberwitzig hoher Einkommen durch wirklich progressive Steuern. Und das mit Erwerbsarbeit verdiente Geld soll im Konsum versenkt werden, jede Generation soll wieder von vorn anfangen, sich neu bewähren müssen. Und sonst den alten Keynes nachbeten. - Das ist seit fünfzig Jahren Kernstück linker Wirtschaftspolitik.

Lange schon ist keine Rede mehr von Arbeitszeitverkürzung, kürzerer Lebensarbeitszeit oder mehr Urlaub für alle. Und alles, was nach partizipativer Demokratie und Bürgerbeteiligung riecht, ist in dunkle Bunker weggesperrt.

Für den Bankrott der Ideenwelt der linken (und grünen) Parteien in den 1980er und 90er Jahren, standen Lichtgestalten wie Gerhard Schröder, Joschka Fischer oder Franz Vranitzky, die alles Unkonventionelle abzuwürgen wussten und ihr politisches "Standing" umstandslos und beflissen in Aufsichtsrats- und Beratungshonorare umzusetzen verstanden.

Wenn man sich an die aufkommende Umweltbewegung der 1970er Jahren erinnert, so waren nicht nur die Rechten gegen "Öko", sondern vor allem auch die "Linken", da sie sich um das Wirtschaftswachstum Sorgen machten, von dem sich die braven Arbeiter ja auch ein kleines Stückchen abschneiden können sollten. Darüberhinaus wollte man modern sein, und das hieß Technikbegeisterung bis hin zu Technik = Modernität um jeden Preis. Von einer Linken, die einmal eine ganz andere, eine befriedete, tolerante und individuell freizügige Welt realisieren wollte, ist da nicht viel geblieben.

"Transhumanismus"

Seit Jahrzehnten wird in der naturwissenschaftlichen Forschung und Technologieentwicklung an einer Erweiterung bzw. Ablösung bisherigen menschlichen Lebens und des Menschenbegriffs selbst gearbeitet. Biotechnologie, Transplantationsmedizin, Neurowissenschaften, Nanotechnologie, Robotik und Waffentechnik, künstliche Intelligenz, Augmented Reality-Entwicklungen (technisch erweiterte menschliche Wahrnehmung) und vieles andere sind diese neuen Forschungsfelder, die dafür mit Abermilliarden an Forschungsgeldern gefördert werden (Kollmann 2013).

Das Konzept, das hier zugrunde liegt und in Gesellschaft wie Medien wenig intensiv diskutiert wird, heißt "Transhumanismus" (Benedikter/Fathi). Dieser in einer Art von Geheimgesellschaft organisierten Denkrichtung geht es darum, die menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten durch Technikanwendungen, etwa durch Implantation technologischer Strukturen oder Zukopplung technischer Systeme zu steigern und auf eine neue Stufe zu heben. Der von der menschlichen Evolution und seiner Natur durch eigene Kraft freigemachte, technisch auf eine neue Entwicklungsstufe gestellte, gottgleich agierende Über-Mensch ist das Ziel. Das erinnert an Nietzsche und natürlich an faschistisches Denken. Für einen solchen technologisch erweiterten Über-Menschen ist Ökologie nur ein Hindernis auf dem Weg zum Weltenschöpfer, für den sich die transhumanistisch begeisterten Menschen in ihrem Technologiewahn halten.

Die an den vielen Projekten beteiligten Forscher wollen oder können mangels Weitsicht und Bildung vom Gesamtkontext ihrer Arbeit nichts wissen. Ebenso sind die PR-massierten Medien und deren Leser von den wunderbaren Möglichkeiten lebensverlängernder Medizin und Biotechnologie begeistert und sehen auch ihr Steuergeld halbwegs gut angelegt, wenn sie diesen Kontext überhaupt noch zustande bekommen.

Verwendete Technologie verändert die Wahrnehmung der Menschen. Wer z.B. nur mehr dem Navigationsgerät folgend Auto fährt, der verlernt, im Gelände oder mit Karte sich zurechtzufinden. Oder wer meint, mit ein paar Google-Klicks zu einer Frage bereits die ganze Welt in der Tasche zu haben, der kann sehr schnell in die Irre gehen. Und von einem künftigen Internet of Things (Kollmann 2009) werden User mehr gesteuert werden, als ihnen lieb ist, sich dabei allerdings überhaupt nicht auskennen, damit jedoch keinerlei Probleme haben und sich letztendlich der "Matrix" ausliefern. Aber die große Mehrheit der Naturwissenschaftler wie der Konsumenten freut sich darauf, "welche wunderbaren Entdeckungen uns erwarten" (Kaku S. 13).

Ein realistischer Schluss

In ein paar Jahren werden unsere ökoorientierten Kolleginnen und Kollegen weitere Beiträge und Bücher zu den Problemen einer Herstellung von Nachhaltigkeit geschrieben haben, und die politologisch orientierten werden ihre Erhebungen zum weiter geschwundenen Interesse an herkömmlicher Politik verfeinert haben. Viele werden weiterhin Hoffnungen in eine für grüne Zwecke nutzbare Technologie setzen, die eine grünere Wirtschaft in Gang bringen könnte. Und die transhumanistischen Projekte werden dann langsam in der Wirklichkeit angekommen sein. Ob Roboter programmgestützt töten dürfen, wird vermutlich diskutiert werden, und vielleicht wird es eine Lösung für zartbesaitete Menschen sein, dass man eben solche maschinelle Intelligenz stichprobenweise behördlich überwachen wird. Im Alltag wird "smarte" Technik uns Denken und Handeln abnehmen, wir werden den "Apps" folgen, da das bequemer ist und wir ohnedies keine alternativen Optionen finden (Stampfl S. 88ff), da auch das Gedächtnis und die persönliche Erfahrung an digitale Algorithmen delegiert wurden.

Der mit seinem Fakten-Buch "Zehn Milliarden" erwähnte Stephen Emmott fragt zum Abschluss einen seiner Mitarbeiter, was er machen würde, wenn er hier und heute nur mehr eine einzige Sache tun könnte. Der junge Kerl antwortet ihm: "Ich würde meinem Sohn beibringen, wie man mit einem Gewehr umgeht" (Emmott S. 204). Vielleicht damit er sich wehren kann, wenn junge Süd- oder Ost-Länder-Menschen sein teuer - nämlich mit viel Erwerbsarbeitsanpassung und Selbstverleugnung - gekauftes Reihenhaus stürmen, um endlich auch einmal etwas westlichen Luxus zu genießen. Etwa Essen, Duschen, Ausruhen. Er wird sich und seine mühsam geschaffene kleine heile Welt gegen unredliche und destruktive Zugriffe verteidigen und Frau und Kind schützen wollen.

Es könnte ziemlich blutig werden, jenseits der kulturellen Beredsamkeit von gelebter Multikulturalität, der alten Idee von Aufklärung und Humanität und der tatsächlich gelebten Fremdheit gegenüber anderen Menschen, eben Fremden. Und das Gewehr könnte ziemlich nutzlos sein, denn wer Hunger hat, vergisst schnell mögliche Skrupel. Ohne Ausweg versucht man einfach sich durchzuschlagen, schlägt, wenn es notwendig scheint, einfach zu und nimmt sich die benötigten Dinge.

Die neuen, letzten Balkankriege im selbstverliebt sich als so hochzivilisiert empfindenden Europa sind, ein paar hundert Kilometer entfernt etwa vom kontinentaleuropäischen Finanzzentrum Frankfurt, auch erst 15 Jahre her. Ja, es ist erschreckend. Und beschämend.



Literatur

Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013.

Roland Benedikter, Karim Fathi: Der Kampf um das menschliche Ich, in: telepolis 24.2.2013.

Colin Crouch: Post-democracy, Cambridge 2004.

Stephen Emmott: Zehn Milliarden, Berlin 2013.

Wolfgang Hingst: Der alte Streit aller gegen alle, in: Wiener Zeitung 6.12.2013.

Ivan Illich: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, Reinbek 1975.

Michio Kaku: Die Physik der Zukunft. Unser Leben in 100 Jahren, Reinbek 2013.

Kerstin Kohlenberg, Yassin Musharbash: Die gekaufte Wissenschaft, in: Die Zeit, Dossier, 1.8.2013.

Karl Kollmann: Das "Internet of Things", in: telepolis 27.07.2009.

Karl Kollmann: Benötigt die Verbraucherpolitik eine Verbrauchertheorie? in: Wirtschaft und Gesellschaft 1/2010, S. 79-93.

Karl Kollmann: Welche Akteure gibt es für echte Klimapolitik? in: Hauswirtschaft und Wissenschaft 3/2012.

Karl Kollmann: Der Tod ist ein Meister der Technologie, in: Geolitico, 12.10.2013.

Wolfgang J. Koschnik: Die entwickelten Demokratien der Welt stehen am Abgrund, telepolis 19.12.2013.

Michael Ley: Bis es kein Zurück mehr gibt, in: Die Presse, Spectrum, 03.11.2012.

Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Frankfurt am Main 1967.

Jorgen Randers: 2052. Der neue Bericht an den Club of Rome. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre, München 2012.

Stefan Schmitt, Stefanie Schramm: Rettet die Wissenschaft! Im Geschäft der Erkenntnisgewinnung läuft zuviel schief, in: Die Zeit 1/2014, 27.12.2013.

Nora S. Stampfl: Die berechnete Welt. Leben unter dem Einfluss von Algorithmen, Hannover 2013.

Harald Welzer, Klaus Wiegandt (Hg.): Wege aus der
Wachstumsgesellschaft
,
Frankfurt am Main 2013.

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Mit uns und der Welt ins Reine kommen

Verstreute Bemerkungen gegen apokalyptisches Fühlen, Denken und Handeln

von Lorenz Glatz

Vorstellungen von Zeit und Leben er-leben wir in unserem Alltag. Tag und Nacht, die Mondphasen, der Wechsel und die Wenden des Sonnenlaufs und der Jahreszeiten, das wiederkehrende Wachstum all dessen, wovon wir leben, aber auch die ständige Folge von Tod und Geburt in der lebendigen Natur einschließlich der Menschheit zeichnen uns ein Bild ewiger Wiederkehr. Diese kann sogar den einmaligen Lebenslauf eines menschlichen Individuums einschließen und tröstlich überhöhen - dann vielleicht, wenn hier ein Leben in Fülle Anfang und Ende verbindet, eines, in dem die unausweichlichen Schwierigkeiten und der unvermeidliche Kampf immer wieder zu Leichtigkeit und freundlicher Gemeinschaft zurückgefunden haben.

Möglich, dass das mit dieser Sicht korrespondierende Gefühl übergreifender, freier, unverzweckter Einheit miteinander und mit der Natur über Raum und Zeiten hinweg bis heute noch zugänglich ist. Wir kennen es vielleicht aus (Tag)Träumen, vielleicht auch von Augenblicken der Ekstase als ein "ozeanisches Gefühl" (Romain Rolland). Freilich entspricht die pathologische Deutung von derlei Gemütszuständen als misslungene Grenzziehung zwischen Ich und Außenwelt (Sigmund Freud) weit eher der seit langem unter den Menschen herrschenden Wirk-lichkeit und Wirk-samkeit.

Die verwirklichte solche Abgrenzung ist die der Herrschaft von Menschen über sich selbst, über ihresgleichen und über die Natur, eine Trennung zwischen dominantem Ich und bloßem Instrument, eine des Menschen von sich selbst, von anderen Menschen und von der Welt. Es ist ein konträrer, wenn auch in den Rollen instabiler und schwankender Zusammenhang von Benutzern und Benutzten. Die Vorstellung von Zugehörigkeit, ja Geborgenheit von allem in allem ist ins Reich der Kunst, der Schwärmerei, des Irrationalen, des Nicht-Praktikablen verwiesen.

Dass der erpresste Nutzen jedoch nicht einmal dem jeweils herrschaftlichen Personal guttun muss, bleibt im Dunklen. Und erst recht die Vorstellung, dass die Unterwerfung der Natur, wie sie schon in den Mythen vom Kampf und Sieg des Herakles gegen Löwen, Eber, Schlangen, Amazonen und andere Ungeheuer besungen wird, kein Segen für die Menschheit ist.

Die Frontstellungen jener Trennungen sind immer in Bewegung, sie sind Kampflinien, die durch jeden einzelnen, zwischen allen Menschen und zwischen ihnen und der Mitwelt verlaufen, sie entwickeln eine gesellschaftliche und individuelle Dynamik von Durchsetzung und Unterwerfung. Diese Dynamik sprengt über kurz oder lang jeden Zyklus, gebärdet sich als stete Entwicklung, als dauernder Fortschritt. Unterdrückung und Widerstand, Kampf um Sieg und Niederlage, Vergewaltigung von allem, was als Natur gilt, sind von Beginn an die Verlaufsform.

In unserer Ecke der Welt beklagte der griechische Dichter Hesiod in seiner persönlichen Verzweiflung schon vor 2700 Jahren die Menschheit seiner Gegenwart als ein "eisernes Geschlecht". Es sei eine Welt, in der zwischenmenschliche Bindungen, Verlässlichkeit und Aufrichtigkeit nichts gelten, nur Stärke und Erfolg zählen und der Schwache der Willkür des Stärkeren auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sei.

Das Institut Herrschaft kann nur stabilisiert werden, wenn herrschaftliche Macht als im Namen von "Gerechtigkeit" beschränkt und so als im Interesse aller Menschen ausgeübt darstellbar ist, wenn berechtigter Eingriff und Missbrauch unterschieden werden können. Zwar wird der subversive Gedanke, "Gerechtigkeit" sei schlicht das, was der bestehenden Herrschaftsordnung entspricht und nützt, schon in der Antike formuliert (Thrasymachos bei Platon). Und doch rufen nicht erst seit Hesiod und bis heute Menschen diese Instanz "Gerechtigkeit" und ihre himmlischen und hiesigen Hüter als ultima ratio an.

Herrschaft ist ...

Fast drei Jahrtausende nach dem alten Lehrgedicht könnte nach all den Mutationen der Ordnung von gesellschaftlicher Dominanz der Blick darauf frei werden, dass funktionierende Herrschaft vor allem ein System über- und unpersönlicher Strukturen und Einrichtungen ist, auf der Formierung aller Menschen fußt und die fortgesetzte Praxis dieser Ordnung einfach lebensfeindlich ist. Trotzdem wird bis heute die Herrschaft im Rahmen ihrer Gerechtigkeit kritisiert, im Sinn einer für die Einen besseren Ordnung desselben Typs, die als Freiheit usw. ausgegeben wird. Dabei ist es Umgang mit sich selbst, mit den anderen und mit der Natur - es kömmt drauf an, ihn zu verändern.

Auf dem Boden und im Horizont von Herrschaft lassen sich Gedanken und Vorstellungen von Erlösung, Rettung, Befreiung oder schlicht eines besseren Lebens nur als Rache und Bestrafung, als Ausweg zu Lasten der Anderen, der Bösen und Minderwertigen, kurz: als Gerechtigkeit formulieren. Es geht nicht um Entfaltung des Lebens, sondern darum, was sterben muss. Im abendländischen Europa ist dafür (weit mehr als im Osten) eine "apokalyptische" Tradition, die sich an das Buch der "Offenbarung des Johannes" der christlichen Bibel anschließt, zu einer verhängnisvollen Vorlage geworden.

Dort werden die Schandtaten der götzendienerischen und hurenden Mächtigen der Welt und aller ihrer Leute bis hinunter zu den Sklaven an den Heiligen und Gerechten, den christlichen Märtyrern, von den himmlischen Mächten und ihrem Gefolge gerächt. Schritt um Schritt werden Menschen, Tiere, Pflanzen und die Welt selbst von den Sternen oben bis zur Erde hinunter in dramatischer und grausamer Weise vernichtet. Die Seelen der Ermordeten fordern die Rache Gottes und feuern sie an, die Ältesten um seinen Thron lobpreisen ihn, "denn wahr und gerecht sind seine Gerichte". Die widergöttlichen Mächte und Monster samt ihrem Anhang werden in brennendem Schwefel in alle Ewigkeit gefoltert, die Auserwählten herrschen im Tausendjährigen Reich und wohnen schließlich nach Endsieg und Jüngstem Gericht mit allen Gerechten bei Gott als seine ihm dienenden Knechte auf einer neuen Erde in einem vom Himmel herabgeschwebten, geometrisch vollkommenen, aus Gold und Edelstein gebauten Jerusalem. Die Seligkeit (der Rache) der Einen schreit nach der gerechten Verdammnis der Anderen. Michelangelos gewaltiges Gemälde vom Jüngsten Gericht in der Sistina ist dafür ein eindrucksvolles Zeugnis.

Der hier vorgezeichnete endzeitliche Kampf gegen die Christenheit drangsalierende Ungläubige schlug um in die reale Welt. Schon bei den Übergriffen von nunmehr der römischen Staatsreligion angehörenden Christen gegen verstockte Heiden. Die Ermordung und Zerstückelung der betagten alexandrinischen Philosophin Hypatia im Jahr 415 ist ein blutiges Beispiel.

Einen grausigen Höhepunkt fand solche Praxis in den Kreuzzügen, vor allem im siegreichen ersten. Zigtausende Leibeigene, Ausgestoßene, Leute aus Hungergebieten, auch ganze Familien folgten dem Ruf der Prediger und Hetzer. Die Scharen des Volkskreuzzugs, die sich 1096 als "Wallfahrt in Waffen" auf den Weg machten, glaubten an ihre göttliche Sendung (Deus lo vult). Sie hofften auf die Vergebung aller Sünden, die sie schon begangen hatten und die sie noch begehen würden, als Lohn für ihren Einsatz für die Befreiung der heiligen Stätten von den gottlosen, mörderischen Heiden, die sie besetzt hielten. Sie verlangten von den Glaubensgenossen unterwegs Verpflegung und Unterstützung für die heilige Sache. Zögern und Weigern provozierte heiligen Zorn und Gewalt. In den Städten ihres Durchzugs kam es zu Pogromen und Massenmorden an den "gottlosen Juden" und auch an Christen, die sich für sie einsetzten. Selbst Bischöfe und Fürsten, die ihre jüdischen Untertanen zu schützen strebten, kamen in Gefahr. Jerusalem erreichten diese Horden allerdings nicht, die letzten wurden schließlich von den Seldschuken in Anatolien aufgerieben, getötet oder in die Sklaverei verkauft.

Das weitaus besser gerüstete Ritterheer, das dem Zug der Habenichtse folgte, kämpfte sich siegreich durch zur heiligen Stadt und schlachtete dort nach Erstürmung der Mauern im Blutrausch alle Männer, Frauen und Kinder, ob Muslime, Juden oder Christen, deren es habhaft werden konnte. (Caedite eos! Dominus enim novit, qui sunt eius, wird diese Vorgangsweise später im Kreuzzug gegen die Albigenser heißen.) Herren und Trossknechte plünderten, was nur greifbar war, sogar in den Gedärmen der Ermordeten suchten manche nach Preziosen - und eilten dann, von frommem Schauder und Freude ergriffen, zu Gebet und Gottesdienst in die befreite Grabeskirche des Erlösers. Nächstenliebe und die gemeinsame Gotteskindschaft aller Menschen waren suspendiert, die Mission gegen das Böse und seine Brut entschuldigte, ja berechtigte Täuschung, Gewalt und Mord an denen, die ihr Menschsein verwirkt hatten. Und ließ Platz für frommen und freundlichen Umgang mit den Guten.

Die bisher größte historische Katastrophe dieser Konstellation von Fühlen, Denken und Handeln haben Menschen hingenommen, gutgeheißen, angerichtet, auf deren Straßen wir noch gehen, in deren Häusern und Wohnungen viele von uns logieren, von denen die heute Erwachsenen nicht wenige als Verwandte und Bekannte respektiert, ja gemocht haben. Das "tausendjährige Reich" der Nazis ist eine wörtliche Entlehnung aus dem biblischen Buch. Der Gegensatz von Gläubigen und Ungläubigen hatte sich aber schon über die Konstruktion konkurrierender Nationen zum Kampf biologisch festgelegter Rassen von Herrenmenschen und Untermenschen und dämonischen Unmenschen ins Unausweichlich-Schicksalhafte verschärft.

Im Vernichtungskrieg gegen die slawischen Untermenschen, vor allem gegen die Sowjetunion, sollten diese Massen zur Rettung des Deutschtums "zertreten und abgestochen, abgeschlachtet werden" (Heinrich Himmler). Auch der millionenfache Massenmord an den jüdischen Menschen Europas im Stil und in der Organisationsform einer Vertilgung schädlicher Insekten und tollwütiger Tiere wurde als "Ruhmesblatt" der SS und der Polizei, der "rassischen Elite", zur Rettung des "edlen Blutes" gepriesen (wieder: Himmler) und von den beteiligten Helden auch so verstanden. Sie marschierten noch vor der industriellen Vergasung in den KZ hinter der Ostfront als disziplinierte Mörderbanden von Dorf zu Dorf und erschossen Aug in Aug mit ihren Opfern mehr als eine Million Babies, Kinder, Junge und Alte vor den Augen der noch auf den Tod Wartenden und mancherorts auch vor der zum Schauspiel angetretenen Bevölkerung samt Schulklassen. Bis das Treiben in Blut erstickt wurde, waren über 50 Millionen Menschen daran elendiglich verkommen.

... desaströs

Doch Strukturen sind zäh. Und elastisch. Die alte Ordnung der Herrschaft der Menschen über sich, die anderen und die Natur hat noch einmal einen Aufschwung genommen. In einer upgedateten Version forcierter, gegen alles andere als Geld blinder Verwertung der Welt und des menschlichen Lebens. Schon für den Sieg über die Barbarei wurden zuallerletzt noch Zehntausende in der Glut der ultimativen Menschheitsbombe geopfert. Die blieb uns erhalten und bedroht unser Leben mittlerweile auch in friedlicher Nutzung. Von den Starken wird demokratisch und humanitär gebombt, für die Menschenrechte gemetzelt. Massenhaft werden Verlierer produziert, die drinnen in der Festung mit Sozialarbeit, Polizei, Militär als einzelne, als Gruppen oder ganze Bevölkerungen notstandsverwaltet, die draußen als Sklaven genutzt, mit Almosen abgespeist, mit Mauern ferngehalten oder im Meer ersäuft, die Terroristen und schädlichen Diktatoren - wieder - mit "Kreuzzug" (Bush II) überzogen. Die Hobbes'schen Wölfe verbeißen sich einzeln wie in Rudeln heillos ineinander, auf einem Planeten, der durch menschliches Tun zumindest für uns Säugetiere unbewohnbar zu werden droht. - Ohne dass die Guten, die Sieger eben, dann ein himmlisches Jerusalem noch belohnen würde (das nach der Schilderung bei Johannes aber auch nur ein steriles Luxus-Lager für die Knechte Gottes wäre).

Im biblischen Buch Exodus steht, dass Gott "die Schuld der Väter an den Kindern, Enkeln und Urenkeln" ahndet. Die Geschichte dürfte jedoch weniger barmherzig sein: Die Taten der Ahnen prägen die Einstellungen, das Fühlen, Denken und Handeln ihrer Nachkommen so lange, bis diese sich dem stellen, was da in ihnen wirkt, und sich um-zu-stellen beginnen: Wir wollen nicht uns selber, nicht einander und erst recht nicht die Natur beherrschen. Wir wollen miteinander leben, mit Einsicht und Rücksicht, mit Empathie und Sympathie. Das erst hieße einen neuen Weg bahnen. Erst dann, wenn wir damit etwas anfangen mögen, können wir darauf hoffen, dass ein Leben in solchem Umgang uns "Huld erweist bis ins tausendste Glied".

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Ausstieg aus der Apokalypse

von Fabian Scheidler

Einer der markantesten Züge dessen, was wir die "westliche Zivilisation" nennen, ist ihre Apokalyptik. Ein Blick in die nächste Videothek genügt, um festzustellen, dass das Kino von der Idee der Weltzerstörung geradezu besessen ist. Apokalypsen endeten jedoch ursprünglich nicht mit dem Weltuntergang, sondern mit der Schaffung einer Neuen Welt, eines Himmlischen Jerusalems. Die Utopien der frühen Neuzeit - Thomas Morus' Utopia, der Sonnenstaat von Campanella, das Nova Atlantis von Bacon - waren ebenso apokalyptisch inspiriert wie die Bewegungen der Reformation und der Täufer. Im 20. Jahrhundert trugen die futuristischen Stadtentwürfe eines Le Corbusier oder das Projekt der Erschaffung eines Neuen Menschen in der frühen Sowjetunion - auch wenn ihre Schöpfer jeden religiösen Zusammenhang weit von sich gewiesen hätten - Züge eines apokalyptischen Programms, das mehr als 2000 Jahre alt ist. Die rechtwinkligen Straßenmuster moderner Finanzdistrikte und ihre Glasfassaden, in denen sich der Himmel spiegelt, erinnern nicht zufällig an die Beschreibung des Neuen Jerusalems in der Offenbarung des Johannes. Die Apokalyptik erweist sich in der Geschichte als ausgesprochen hartnäckig und in erstaunlicher Weise systemübergreifend. Sie ist im Christentum ebenso zuhause wie im atheistischen Fortschrittskult. Sie findet sich in den Hoffnungen auf einen Neubeginn der Menschheit im Kommunismus und in der Vision vom Triumph des Kapitalismus als "Ende der Geschichte", wie er Francis Fukuyama vorschwebte.

Doch nicht nur das Imaginäre ist apokalyptisch besetzt. Keine andere Zivilisation der Geschichte hat es bisher geschafft, mehrere reale Weltuntergangsoptionen zu produzieren, vom Atomkrieg bis zum globalen Umweltgau. Diese realen Szenarien sind auf eigenartige Weise an die imaginären gekoppelt: Es scheint fast so, als würde die jahrtausendelange Suche nach dem Neuen Jerusalem genau die Zerstörungspotentiale hervorbringen, die heute unsere Zukunft bedrohen. Denn die Kehrseite der Schönen Neuen Welt, die uns die entfesselte Produktion und Konsumption beschert, ist ein geplünderter, ausgebrannter Planet; die Kehrseite der Beherrschung der Atomkräfte - an die sich seit den 50er Jahren die kühnsten Utopien knüpften - ist die Möglichkeit eines allesvernichtenden Krieges. Was aber sind die Ursprünge der für unsere Zivilisation so eigentümlichen Suche nach einer ganz anderen, neuen Welt, die die alte, korrumpierte ersetzt? Und wie ist es möglich, dass radikal entgegengesetzte Gesellschaftsentwürfe gleichermaßen von der Apokalyptik inspiriert wurden?

Apokalypsen als Antwort auf das Trauma der Macht

Apokalypsen sind Visionen einer totalen Verzweiflung. Sie entstehen in den Verwüstungsspuren der Imperien, wo die Welt so tief korrumpiert erscheint, dass Rettung nur noch in der totalen Vernichtung und Neuschöpfung des Kosmos vorstellbar ist. Das apokalyptische Denken hat die Verwüstung immer schon hinter sich. Nicht zufällig entsteht die früheste apokalyptische Literatur an einem Ort und in einer Zeit, die von massiver ökonomischer und physischer Gewalt geprägt waren: Palästina in der Epoche, die auf die Eroberungskriege Alexanders des Großen folgte.

Die griechische Militärmaschinerie hatte ein System in den Nahen Osten gebracht, das David Graeber in seinem Buch Schulden. Die ersten 5000 Jahre als ein Dreieck von Geldwirtschaft, Krieg und Sklaverei beschrieben hat: Die Erfindung des Münzgeldes erlaubte es erstmals in der Geschichte, ein dauerhaftes Söldnerheer zu unterhalten; das Silber dafür wurde von Sklaven - die meisten davon Kriegsgefangene - in gewaltigen Bergwerken gefördert. Damit die Söldner für das Silber, mit dem sie bezahlt wurden, auch etwas kaufen konnten, musste die Gesellschaft einer radikalen Kommerzialisierung unterworfen werden. Das wichtigste Mittel dazu waren die Steuern: Bauern und Handwerker wurden durch die Umstellung des Steuerwesens von Naturalien auf Münzgeld gezwungen, für den Markt zu produzieren statt für die Selbstversorgung. Viele gerieten dadurch in einen Verschuldungskreislauf, der Landbesitz konzentrierte sich zunehmend in den Händen von Großgrundbesitzern. Der Widerstand gegen dieses System konnte wiederum mit den neu geschaffenen Söldnerheeren unterdrückt werden. Die Ausweitung von Markt- und Staatsmacht gingen Hand in Hand. Die Kehrseite dieser extremen Machterweiterung auf Seiten der Eliten waren ebenso extreme Ohnmachtserfahrungen auf Seiten der Bevölkerung, besonders an den Rändern des Empires - und genau dort entstand die apokalyptische Literatur.

Eine der ersten uns überlieferten Apokalypsen findet sich im biblischen Buch Daniel, entstanden um das Jahr 164 v. u. Z. unter der Herrschaft des Antiochos Epiphanes, der mit den Mitteln des neuen ökonomisch-militärischen Systems über den Nahen Osten herrschte. Das siebte Kapitel des Buches erzählt von einer Abfolge von vier Imperien, die durch verschiedene Tiere symbolisiert werden. Das vierte Tier war "anders als alle anderen, ganz furchtbar anzusehen, mit Zähnen aus Eisen und mit Klauen aus Bronze, das alles fraß und zermalmte und, was übrig blieb, mit den Füßen zertrat". Dieses letzte Tier - Antiochos - wird schließlich von einem Strafgericht, dessen Vorsitz eine göttliche Gestalt führt, dem Feuer übergeben und vernichtet.

Anders als in späteren Offenbarungen wird hier noch nicht das gesamte Universum der Vernichtung anheim gegeben, sondern nur der Übeltäter selbst. Doch auch schon bei Daniel wird in der Imagination die Erfahrung von Ohnmacht und Erniedrigung durch das Aufgebot gewaltiger himmlischer Heerscharen kompensiert. Die Allmacht des sie anführenden Gottes spiegelt die Macht irdischer Herrscher und überbietet sie. Und genau an diesem Punkt kippt die Apokalyptik von der Hoffnung auf Rettung und Wiedergutmachung in eine Spiegelung der traumatisierenden Erfahrung: Was man selbst erfuhr, wird nun am anderen vollstreckt, und zwar mit noch massiverer Gewalt. Die Apokalyptik bricht nicht mit dem Prinzip der Macht, sondern multipliziert es. Am Ende steht keine Befreiung, sondern ein neues Reich, das Reich des "Höchsten, dem alle Mächte dienen und gehorchen". Mit dem Wort gehorchen endet die Vision. Doch fügt der Autor noch hinzu: "Mich, Daniel, erschreckten meine Gedanken sehr, und ich erbleichte."

Die Vernichtung von Himmel und Erde

Ein solches Erschrecken und Erbleichen fehlt dagegen in dem mit Abstand einflussreichsten apokalyptischen Text: der Offenbarung des Johannes, geschrieben etwa um das Jahr 90 n. Chr. Der Autor ist mit der Logik der Vernichtung vollkommen im Einvernehmen. Zur Disposition stehen nicht nur ein paar Tyrannen und ihre Handlanger, sondern der gesamte Kosmos soll ausgelöscht und neu geschaffen werden.

Diese Radikalisierung der apokalyptischen Vision antwortete auf eine Radikalisierung der Herrschaft: Das Römische Imperium hatte das System aus Geldwirtschaft und Krieg perfektioniert und erzeugte damit, vor allem an den Rändern seines Herrschaftsgebietes, kollektive traumatische Ohnmachtserfahrungen. Exemplarisch dafür steht der vierjährige Vernichtungskrieg Roms gegen die Erhebung jüdischer Rebellen in Palästina, der im Jahr 70 mit der Zerstörung Jerusalems und des jüdischen Tempels endete. Die Zahl der Toten soll eine Million überstiegen haben, Tausende wurden gekreuzigt. Die alptraumhaften Ereignisse waren im kollektiven Gedächtnis der Zeitgenossen tief verankert. Die Bösartigkeit der Welt schien so überwältigend und die Ohnmacht so total, dass als Ausweg nur eine Vernichtung der gesamten Erde und eine vollständige Neuschöpfung durch himmlisches Eingreifen möglich erschien: "Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem von Gott her aus dem Himmel herabkommen."

Das Himmlische Jerusalem und der Schwefelsee

Das Neue Jerusalem ist kein Ort für alle Menschen. Es ist keine Utopie einer friedlichen, gerechten und versöhnten Welt, wie man sie in den Evangelien in der Rede vom "Himmelreich" oder bei den Propheten des Alten Testaments findet. Es ist ein Ort der radikalen Spaltung der Menschheit in Auserwählte und Verworfene. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die in das Buch des Lebens eingetragen sind: Für sie wird die Himmlische Stadt, das Neue Jerusalem erschaffen, "bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat". Auf der anderen Seite stehen die Aussortierten, Unbrauchbaren, Verworfenen: Wer nicht im Buch des Lebens verzeichnet ist, wird für alle Ewigkeit in einen See aus brennendem Schwefel geworfen.

Diese Vision ist bis heute - durch alle Säkularisierungen hindurch - prägend für die westliche Zivilisation geblieben. Mit der Entstehung einer kapitalistischen Weltwirtschaft seit dem 16. Jahrhundert erfuhr sie zugleich eine Renaissance und eine Umdeutung, vor allem durch die Lehren der Calvinisten und Puritaner, die in den kapitalistischen Zentren der Niederlande, Großbritanniens und später der USA sehr einflussreich wurden.

Nach den Lehren des Johannes Calvin aus Genf waren die Menschen von Gott noch vor der Erschaffung der Welt in Auserwählte und ewig Verdammte geschieden. An diesem vorbestimmten Schicksal könne kein Mensch etwas ändern, weder durch gute Taten noch durch Glauben. Allerdings könne er auch nie mit Sicherheit wissen, zu welcher Gruppe er gehört. Daher sei er auf Zeichen angewiesen - und das deutlichste Zeichen dafür, zu den Auserwählten zu gehören, ist laut Calvin unermüdlicher Arbeitseifer und wirtschaftlicher Erfolg.

In der calvinistischen Ideologie verbindet sich die apokalyptische Tradition mit dem kapitalistischen Projekt. Die Spaltung der Menschheit in Auserwählte und Verdammte, wie sie die Johannes-Offenbarung verkündet, wird auf das Wirtschaftsgeschehen projiziert, göttliche Ordnung und Marktlogik werden eins. Den Armen gehört nicht das Himmelreich, sie erscheinen vielmehr als von Gott Verworfene, die unrettbar der Hölle bestimmt sind, während die Reichen in die Rolle der Auserwählten schlüpfen. Keine irdische Macht ist für diese Segregation verantwortlich, sondern Gottes unhinterfragbarer Ratschluss vor Anbeginn der Zeit. Dass sich diese Lehre in den Zentren des wirtschaftlichen Umbruchs so rasant ausbreitete, lag zweifellos daran, dass sie einen wichtigen Zweck erfüllte: Sie legitimierte die soziale Spaltung und entzog sie der Debatte.

Die Puritaner trugen diese Lehre in die nordamerikanischen Kolonien. Erfüllt von der Vorstellung, das Ende der Zeiten sei nahe, war Amerika für sie der Ort, wo das Neue Jerusalem entstehen würde: die "City upon a Hill". Und wie das Neue Jerusalem so sollte auch Neu-England kein Ort für alle Menschen sein. Die dort lebenden Pequot etwa wurden innerhalb von wenigen Jahren fast vollständig ausgelöscht.

Die Siedler verbanden ihre apokalyptische Mission mit wirtschaftlichen Ambitionen. Die Kolonisierung wurde von Aktiengesellschaften - nach dem Muster der holländischen und englischen Ostindien-Kompanien - vorangetrieben, denen die englische Krone die Verfügungsgewalt über bestimmte Territorien verliehen hatte. Die ärmeren Kolonialisten verkauften sich an diese Kompanien für sieben Jahre als Leibeigene. Ihr Auftrag war es, in der Neuen Welt Profite für die Shareholder in London zu erwirtschaften, egal mit welchen Mitteln.

Die Verbindung von Eschatologie und ökonomischer Expansion verlieh dem Projekt eine utopische Aura, die über die harte Realität in den frühen Kolonien hinwegstrahlte. Die Himmlische Stadt würde nicht vom Himmel kommen, sondern sie konnte nun hergestellt werden. Die Kolonisierung Amerikas war der erste Schritt. Um die Neue Welt zu bauen, musste die alte, vorgefundene Welt zerstört werden. An ihre Stelle sollte eine Schöpfung aus der Hand des neuen Meisters der Erde treten: des weißen Mannes, der selbst Werkzeug eines weißen, männlichen, autoritären Gottes war.

Green Zones und die Unsichtbare Hand des Marktes

Die von Calvinisten und Puritanern in die Logik des Kapitalismus übersetzte Vorstellung einer radikalen Spaltung der Menschheit in Auserwählte und Verdammte ist heute von geradezu unheimlicher Aktualität. Himmlisches Jerusalem und Schwefelsee liegen in den modernen Global Cities häufig nah beieinander. Während die Auserwählten in gläsernen Türmen Zahlen, Buchstaben und Bilder über ihre Bildschirme laufen sehen, versinken wenige Straßenecken weiter die vom globalen Markt Verworfenen in Fäkalien- und Müllbergen, die von den Himmlischen produziert werden. Was Slumbewohner und Aufsteiger voneinander scheidet, sind Ziffern, die in der zeitgenössischen Variante des Lebensbuches verzeichnet sind: dem Konto. Wer nicht in das Buch der Bank eingetragen ist, für den ist im 21. Jahrhundert nur der Schwefelsee vorgesehen.

Auf dem Thron sitzt kein Gott mehr, sondern die Unsichtbare Hand des Marktes, die Gewinner- und Verliererlose verteilt. Sie spaltet den Raum in zwei radikal getrennte Sphären. Deren Bruchstellen sind an den Stacheldrahtzäunen, die Europa und die USA zu Festungen machen, ebenso zu sehen wie an den Mauern, die Israel und Palästina trennen. Auf der ganzen Welt entstehen Netzwerke von Gated Communities, von Green Zones, verbunden durch Hochsicherheitskorridore. Die Highways, auf denen die Erwählten in klimatisierten SUVs mit getönten Scheiben fahren, durchschneiden das Land der Verlierer, denen nur der Staub und der aus dem Fenster geworfene Müll bleibt. Das Himmlische Jerusalem unserer Zeit wird von Polizeirobotern und Drohnen gegen diejenigen, die dem Schwefelsee zu entkommen versuchen, geschützt.

Wie in der Offenbarung verläuft die Spaltung der Welt heute entlang einer Linie der Abstraktion: Die irdische, konkrete, naturgegebene Welt wird verworfen, sie mutiert zum Feuersee; vom Himmel dagegen kommt eine vollständig abstrakte, rechtwinklige Stadt, die "aus reinem Gold, wie aus reinem Glas ist" und mit einem goldenen Maßstab vermessen wird. Auf unheimliche Weise ist die Phantasie des Johannes heute in den Downtowns von São Paulo, Singapur, Dubai, Houston usw. Wirklichkeit geworden. An die Stelle Gottes sind die Ingenieure und Baumeister der modernen Welt getreten, die an einer zweiten, künstlichen Schöpfung arbeiten. In dieser Welt soll "der Tod nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal." Doch der Preis für dieses hybride Projekt ist die Zerstörung der ersten Schöpfung. Es ist eine bittere Pointe der Geschichte, dass die Vision totaler Macht über die Schöpfung ursprünglich einem Impuls der Revolte gegen die Macht entsprang.

Die andere Apokalyptik

Die dualistische, autoritäre Apokalyptik war jedoch nicht die einzige Spielart des radikalen Traums von einer Neuen Welt. Gegen den sich im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit erneut formierenden Geld-Krieg-Komplex, erhoben sich vom 13. bis 16. Jahrhundert massive soziale Bewegungen, die von der Vision einer egalitären Gesellschaft inspiriert waren. Ähnlich wie in der Antike ging mit dem Aufstieg von Geldwirtschaft und Militarisierung eine zunehmende Kommerzialisierung und soziale Polarisierung einher. Die kapitalistische Weltwirtschaft war im Entstehen begriffen - und mit ihr eine neue Welle der Apokalyptik. Je massiver sich die neuen ökonomischen und militärischen Mächte formierten, je größer die Ohnmacht der Bevölkerung war, desto lauter wurden die apokalyptischen Töne in den sozialen Bewegungen.

Die Reihe von solchen apokalyptisch inspirierten egalitären Bewegungen reicht von den Armutsbewegungen des 13. Jahrhunderts über die böhmischen Hussiten des 15. Jahrhunderts bis zu den deutschen Bauernkriegen und der Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts. Thomas Müntzer, der die Bauernbewegung in der Reformation - gegen Martin Luther - unterstützte, sah in den Auseinandersetzungen einen endzeitlichen Kampf, der in der Schlacht bei Frankenhausen (1525) gipfeln würde. Doch die mit Heugabeln und Dreschflegeln bewaffneten Bauern warteten dort vergeblich auf den Beistand des Heiligen Geistes: Mehr als 5000 von ihnen wurden in einem regelrechten Massaker von einer erdrückend überlegenen Armee niedergemacht, die selbst nicht einmal ein Dutzend Soldaten verlor.

Nicht einmal zehn Jahre später riefen in Münster die sogenannten Täufer eine Gütergemeinschaft nach dem Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde aus und verbrannten die Schuldenregister des Stadtarchivs. Während sich um die Stadt bereits die kaiserlich-bischöflichen Truppen zusammenzogen, schwangen sich apokalyptische Propheten als Führer der Bewegung auf und verkündigten das bevorstehende Erscheinen Christi. Der Heiland aber erschien nicht, stattdessen wurde die Stadt im Jahr 1535 von den übermächtigen Truppen erobert. Die Führer der Bewegung wurden öffentlich gefoltert und hingerichtet, ihre Leichen am Kirchturm aufgehängt und zur Schau gestellt, damit "sie allen unruhigen Geistern zur Warnung und zum Schrecken dienten, dass sie nicht etwas Ähnliches in Zukunft versuchten oder wagten".

Die apokalyptische Wendung der Bauernrevolte und das Ende des Münsteraner Täuferreichs zeigen die Tragik der egalitären Bewegungen, die angesichts ihrer Ohnmacht gegenüber dem erstarkten Geld-Militär-Komplex in apokalyptische Phantasmen entglitten - ähnlich wie bereits die antiken Apokalyptiker angesichts der Übermacht römischer Legionen.

In der Französischen Revolution tauchten einige Züge der egalitären Apokalyptik wieder auf; der Beginn einer neuen Zeitrechnung in Form des Revolutionskalenders steht symbolisch für diese Tradition. Auch einige Strömungen der sozialistischen und kommunistischen Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert trugen, bewusst oder unbewusst, die Erbschaft der egalitären Apokalyptik aus der frühen Neuzeit weiter. Die Vorstellung von einem vorgezeichneten historischen Prozess, der in einen ewigen Endzustand - den Kommunismus - mündet, ist z.B. eindeutig apokalyptischen Ursprungs.

Doch die sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte haben aus der Geschichte gelernt. Der berühmt gewordene zapatistische Slogan "Fragend gehen wir voran" etwa gibt die Vorstellung eines vorgezeichneten geschichtlichen Pfads, der in einen ebenso vorgezeichneten Endzustand mündet, auf. Der Glaube an eine revolutionäre Elite, die ein esoterisches Wissen über den Lauf der Geschichte besitzt, ist in den neueren sozialen Bewegungen ebenso verschwunden wie die Vorstellung, dass es einen Dies irae, einen endzeitlichen "Tag des Zorns" geben wird, an dem alles umgeworfen wird und eine neue Epoche beginnt. Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass ein Ausstieg aus der tödlichen Logik der Kapitalakkumulation nur als Prozess und nicht als Ereignis vorstellbar ist - und zwar als ein Prozess mit vollkommen offenem Ausgang.

Der Ausstieg aus dem apokalyptischen Denken bedeutet dabei keineswegs das Ende aller Utopien. Wie der Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein es formuliert hat, hängt in der derzeitigen instabilen Phase des Weltsystems die Zukunft von einer beinahe unendlichen Anzahl von Entscheidungen einer beinahe unendlichen Anzahl von Menschen ab. Ob daraus tatsächlich etwas Neues hervorgeht, wie dieses Neue aussehen wird, ob es besser oder - was durchaus möglich ist - schlechter als die Gegenwart sein wird, all das ist weder vorhersehbar noch planbar. Die gute Nachricht ist: Es kommt auf uns alle an. Wir müssen nicht auf ein Zeichen von oben warten, um uns auf den Weg zu machen.


Der Artikel basiert auf einem Kapitel des voraussichtlich im Frühjahr 2015 erscheinenden Buches "Zivilisationswende".

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Das Nichts nichtet nichts!

Verdichtete Vorabthesen zur reinen Apokalyptik singulärer Tode

von Franz Schandl

I. "Wann wohl kann ein Toter die Strahlen der Sonne sehen", heißt es im Gilgamesch-Epos. - Das Leben ist das Leben und ein Leben außerhalb des Lebens gibt es nicht. Nicht im Tod, nicht mit dem Tod, nicht durch den Tod und schon gar nicht nach dem Tod. Der Tod ist der Tod. Nicht mehr und nicht weniger. Auf diese Pointe soll er kapriziert werden.

II. Tod und Leben, das ist keine dialektische Einheit, das ist eine metaphysische Differenz. Der Tod ist Negation aber nicht Negation der Negation. Der Tod hat nichts Aufhebendes und nichts Transzendentales, er ist in der Tat die perfekte Nichtung singulärer Existenz. Der Tod ist der große Antagonist, nicht Scheide oder Stufe, sondern definitives Aus.

III. Der Tod ist weder Wesen noch Sein, weder Essenz noch Existenz. Letztlich kein Jenseits, weil selbst noch dessen Transexistenzialität positive Bestimmungen von Zeit, Ort und Umstand unterstellt. Der Tod ist die absolute Losigkeit. Er ist kein bloßes Ende, er ist ein endgültiger Schnitt. In ihm geht verloren, was nie mehr gewonnen werden kann: das jeweilige Exemplar.

IV. Bestimmung fällt in Unbestimmtheit. Der Tod ist wie Jean Améry sagte, das "nichtige Nicht". Er soll verstanden werden als das Nichtsein des Einzelnen. Und dieses Nichtsein kippt ins Nichtssein.

V. Es gibt kein Totsein. Der Tod gehört nicht- zum Sein, er gehört freilich auch nirgendwo anders hin. Der Tod ist keine Tür, durch die man schreitet und er ist kein Reich, das man betritt. Wer aus dem Leben scheidet, geht nicht in den Tod. Das eine mag ein Schritt sein, das andere keineswegs. Der Tod bezeugt Abschied ohne Ankunft.

VI. Der Tod ist nur durch das Leben zu bestimmen, aber er selbst ist keine Bestimmung des Lebens. Der Tod ist kein Resultat, keine Konsequenz, keine Erledigung, kein Ereignis. Er ist das Nichts, dem wir einen Namen gegeben haben. Mit dem Tod stehen wir vor einem Rätsel, das nie gelöst werden kann.

VII. Der Tod ist nicht sinnlich und schon gar nicht übersinnlich. Er entsinnlicht die Betroffenen völlig. Der Tod betrifft nicht die Toten. Ist eins betroffen, ist es geradewegs nicht mehr betroffen.

VIII. Über den Tod zu schreiben, das ist ein Ringen um Worte, wo diese doch allesamt Versagen, um Sätze, wo doch keiner hinreicht. Der Tod kann nicht übersetzt werden. Vorn Leben kann man sich Bilder machen, doch vom Tod ist jedes Bild falsch. Kein Wort, keine Vorstellung, kein Begriff findet an ihm Halt. Der Tod kann nicht gepflügt werden mit der Sprache des Lebens.

IX. Je mehr man hinsieht, desto weniger blickt zurück. Der Tod ist ein Spiegel, der nichts spiegelt, und wenn doch, dann nur die Projektionen diverser Anschauungen, deren Gemeinsamkeit darin liegt, den Tod auszudeuten, anzufüllen, schwer oder leicht zu machen.

X. Wenn das Leben nicht alles ist, was man hat, dann ist es weniger als alles. Das kann nur dazu führen, dass es als Durchgangsstadium des Leides und der Opfer betrachtet und missbraucht wird. Der Tod wird zur himmlischen Pforte und das jenseits zur eigentlichen Kraft, die das Irdische in den Schatten stellt. Folglich ist es auch logisch, nicht mehr alles auf das Leben zu setzen und alles dafür einzusetzen, was man hat. So wird das Leben zum Versäumnis.

XI. Wir sind nicht ins Leben geworfen, es wurde uns vielmehr geschenkt. Auf dass wir es nützen und es uns gut gehen lassen. Leben ist die Gegebenheit, die wahr- und angenommen werden sollte. Es ist Gabe ohne Wiedergabe. Geworfen sind wir nicht in das Leben durch die Geburt, sondern aus dem Leben durch den Tod.

XII. Aus der Gewissheit des Todes ist keine Bestimmung des Lebens zu konstruieren. Der Tod ist totale Negation, nicht Ziel einer Richtung, sondern Hinrichtung. Der Körper verweigert seinem Träger den Dienst. Damit ist es aus. Alles ist unmöglich geworden. Der Tod betrifft immer nur abgrenzbare Existenzen. Er ist zwar endgültig, aber nicht universell. Alles geht zu Ende, aber nicht alles kann zu Ende gehen. Der Tod ist stets partiell.

XIII. Leben ist nicht das Sein zum Tode, sondern das Nein zum Tode. Dieser ist zwar anzuerkennen, aber nie zu akzeptieren. Das Leben gewinnt, außer einmal, fortwährend. Der Tod gewinnt selbst dann nicht, wenn eins das Leben verliert. Was soll jener auch gewinnen? Durch den Tod gewinnt immer nur das Nichts, aber damit ist nichts gewonnen.

XIV. Leben ist nicht auf den Tod ausgerichtet, der Tod schafft es lediglich ab. Das Leben ist auf das Leben ausgerichtet, kein Sein zum Tode, sondern Sein zum Dasein. Der Tod ist nicht Seinsbestimmung, sondern Seinsschranke. Nicht Potenz, sondern Depotenzierung.

XV. Für das jeweilige ist das Leben das Gut schlechthin, nicht eines von vielen, sondern das, das alle Güter im Gut vereint. Unser Problem ist nun, dass zu wenig Leben im Leben ist, oder wie Brecht einst sagte: "Nicht tot sein heißt nicht: leben." Leben meint mehr als existenzielle Vorhandenheit.

XVI. Der Tod ist nicht das Ende des Lebens, denn wäre er das Ende von ihm, wäre er noch immer Teil von ihm, das er jedoch nicht ist. Das Lebensende ist geprägt vom Sterben, einem verendenden Leben. Der Tod ist nicht des Lebens. Im Tod ist niemand mehr zugegen.

XVII. Wir alle sterben und der Tod ist uns Schicksal, und doch hat noch niemand seinen Tod erlebt. Denn im Sterben erlebt man zwar das endende Leben, nicht aber den Tod, man spürt zwar seine Nähe, aber man kann ihm nie so nahe sein, dass man "Jetzt!" sagen kann. Fällt man in ihn, ist man aus sich gefallen.

XVIII. Der Tod ist ein Moment, das Leben ist eine Dauer. Der Tod trifft uns nur einmal. Gegenüber dem Leben ist jeder Tod Von einer geradezu lächerlichen Kürze, aber doch von ent-scheidender Größe.

XIX. Der Tod ist kein Trieb, weil sich in ihm keine Befriedigung ausdrückt. Befriedigt können nur Lebende werden. Es gibt keinen Todestrieb. Das Schicksal ist kein Ziel. Wenn der Körper seinen Träger negiert, ist das nicht Trieb, sondern Abtreibung. Trieb unterstellt, dass man etwas tun muss. Aber das Sterben ist kein Tun und auch kein Haben, sondern lediges Erleiden. Dieses Werden folgt keinem Drang, sondern einem Zwang.

XX. Sterben ist Leben, aber Leben nicht Sterben. Leben und Sterben sind also keineswegs eins. Im Gegenteil, das Leben ist gerade auf sich selbst bezogen, sein Ziel ist Fülle, nicht Ende. Sterben hingegen ist tatsächlich ein Leben, das eingeht, das nicht mehr auf dieses gerichtet ist, sondern auf den Verlust desselben. Im Sterben ist das Leben im Begriff sich zu verlieren. Durch den Tod verliert man sich selbst. Und mit sich selbst verliert man alles.

XXI. Das Sterben ist die entrückteste Phase des Lebens. Es sondert das Leben von sich selbst ab, sei es plötzlich oder allmählich. Das Leben verliert sich im Sterben. Jenes verneint sich in ihm. Leben verkommt im Sterben. Sterben ist Leben mit dem Telos seiner Nichtung. Sterben offenbart so die letzte Intensität des Lebens.

XXII. Was jedes erlebt, ist das Sterben. Aber das Sterben wiederum ist Leben, es kann in ihm nur mit ihm zu Ende gehen. Sterben ist also ein entsetztes Leben der absonderlichsten Art, da es eben vom Tod kündet, vom Ableben. Im Sterben erlebt eins sich ein letztes Mal.

XXIII. Die Wirklichkeit des Sterbens liegt im Tod, der wiederum keine Wirklichkeit hat, sondern Verwirkung ist. Der Tod ist nicht wirklich, er fallt vielmehr aus der Wirklichkeit raus, er ist die Entwirklichung jedes begrenzten Daseins. Der Tod hat somit keine Wirklichkeit, auch wenn das Sterben seine Wirkung nicht verfehlt.

XXIV. Der Tod ist das sich selbst auslöschende Faktum. Mit dem Tod richtet sich das Leben gegen das Leben, doch ist dieses hingerichtet, bleibt nichts übrig. Das Leben nicht, aber auch der Tod nicht. Niemand nimmt das Sterben als Gelegenheit wahr. Das Leben hingegen wird immer als solche wahrgenommen, selbst dann, wenn es in seiner Dürftigkeit nur der Reproduktion oder der Reputation dient.

XXV. "Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht," schreibt Wittgenstein. Der Tod tritt nicht im Leben auf oder ein, sondern das Leben tritt mit dem Tod ab. Unwiderruflich. Der Tod gehört nicht zum Sterben, mit ihm hört es vielmehr auf. Sie werden aber in unmittelbarem Zusammenhang genannt, weil das Sterben stets mit dem Tod endet, es ihm Vorangeht. Das Sterben kann gar nicht anders ausgehen. Der Tod beendet das Sterben.

XXVI. Das Sterben ist Teil des Lebens, der Tod nicht. Der Tod ist auch keine Stufe. Nicht Übergang, sondern Untergang. Am Tod ist nichts Transformatorisches. Form und Inhalt lösen sich auf. Das Verwesende ist kein Wesen, sondern unwesentliches Unwesen.

XXVII. Der Tod und das Sterben haben also nichts miteinander gemein. Solange man stirbt, ist man noch nicht tot, sobald man tot ist, stirbt man nicht mehr. Das Sterben kündet den Tod zwar an, aber dieser negiert es, weil es eben Leben ist, gleich mit. Der Tod ist die Negation des Sterbens wie des Lebens, nicht im Sinne einer Aufhebung, sondern im Sinne eines irreversiblen Schlussstriches.

XXVIII. Was wir im Tod fürchten, das ist der Verlust des Lebens. Angst macht das Leben, das sich da anschickt, aus zu werden. Man hat nicht Angst vor dem Tod, sondern Angst um das Leben. Zu gewinnen und zu verlieren ist allerdings nur das Leben, den Tod kann man weder gewinnen noch Verlieren. Im Tod haben wir nicht Angst vor etwas, sondern um etwas.

XXIX. Vor dem Tod ist etwas gewesen, nach dem Tod kann aber nichts mehr sein. Viele Religionen leugnen letztendlich den Tod, nicht selten erklären sie das, was da ihrer Ansicht nach kommen soll, zum eigentlichen Ziel. Erlösung im Tod ist sodann wichtiger als Lösung im Leben. Anstatt sich hier und jetzt mit dem Leben einzulassen, werden die Sehnsüchte und Bedürfnisse der Menschen durch das Vertrösten auf ein Jenseits kanalisiert. Das elementare "Das kann doch nicht alles gewesen sein", wird von einer Frage der Transformation zu einer der Theologie.

XXX. Religion ist Aufladung des Sinnlichen wie Antisinnlichen zum Übersinnlichen. Wirkliches und Unwirkliches sollen wir nicht wahrnehmen, so vergeistlichen wir es. Es gibt nichts Übersinnliches, es ist das Sinnliche selbst, das über alle seine scheinbaren Grenzen hinweg sich zu setzen vermag. Jeder Zauber ist sinnlich. Zauber meint geradezu die Entgrenzung des Sinnlichen von einem kruden Realismus.

XXXI. Wer den Tod leugnet, leugnet das Leben, wer den Tod anerkennt, bekennt hingegen des Lebens zentrale Bedeutung. Das Leben ist dann kein Vorspiel mehr für irgendetwas jenseits von ihm, es ist vielmehr das große Erlebnis, das es auszufüllen gilt. Wir sollten uns in jeder Hinsicht bewusst sein, dass die Relativierung des Todes die Relativierung des Lebens selbst ist. Die abstruseste Vorstellung ist wohl diese, dass der Tod kein Tod sei, dass man mit dem Tod alles andere als tot ist.

XXXII. Was im Leben nicht stattgefunden hat, wird nirgendwo stattfinden. Es gibt keinen Ort und keine Zeit außerhalb des Lebens. Mit dem Tod bezieht das Leben keine Position mehr, weil jener reine Negation ist. Das Leben hat, was der Tod nicht hat: Zeit und Ort. Der Tod ist kein Ort, auch kein Abort, ja nicht einmal ein Unort. Der Tod ist aber auch keine Zeit. Weder Vorzeit noch Nachzeit, weder Wartezeit noch Unzeit.

XXXIII. Der Tod betrifft die Hinterbliebenen, nicht die Toten. Tote gibt es nicht. Den Tod kann man nur vor sich, aber nicht hinter sich haben. Dahinter ist nichts. Im Tod verliert man nichts, weil man selber verloren geht ohne je wieder gefunden zu werden.

XXXIV. Wir sind nicht unser Körper, sondern wir sind in unserem Körper. Er ist es, an dem unser Leben versagt. Wenn er nicht mehr kann, ist unser ganzes Verlangen letztlich belanglos. So sind wir weit mehr als der Körper, doch wenn der nicht mehr will, sind wir nichts, da mag der Geist noch so rege und wach gewesen sein. Der Tod löscht ihn aus.

XXXV. Verwesendes Fleisch hat seine eigene Lebendigkeit, aber es ist nicht mehr die Lebendigkeit seines ehemaligen Trägers. Was uns angeht, ist es lebloser Stoff, den der Leichnam birgt. Der Prozess des Verfaulens ist kein Leben, geschweige denn ein Erlebnis. Es stinkt. Indes, so rieche ich nicht. Es ist eine sinnliche Täuschung. Durch den Tod hat der Körper sich von uns distanziert. Nicht wir verfaulen, sondern er verwest.

XXXVI. Was da verwest, das bin ich nicht. Das Gewese hat dem Leben durch den Tod bloß die Leiche enteignet. Was ich gewesen bin, kann nicht verfaulen. Das Verwesen ist ein Transformationsprozess eines Kadavers. Mit seinem ehemaligen Träger hat dieser nichts zu tun. Niemand ist seine Leiche. Der Tod ist keine Abwesenheit, er ist überhaupt keine Wesenheit.

XXXVII. Der Leichnam ist der unwesentliche Rest. Der verwesende Kadaver ist nichts anderes als totes Fleisch. Das Leben ist der Fall, die Leiche lediglich sein Abfall. Und der Tod ist hier das Fallen des Falles. Wir fallen durch ihn und mit ihm und in ihm und in ihn und...

XXXVIII. Dauerlos ist der Tod, nicht dauerhaft. Der Tod ist nicht etwas, das dauert. Nach dem Tod bin ich nicht im Zustand des Todes. Ich bin in keinem Zustand mehr. Der Tod offenbart keine Zuständigkeit über mich, sondern eine Unzuständigkeit von mir. Eins hat eine Lebenszeit, aber keine Todeszeit. Den Tod, den jedes vor sich hat, kann niemand hinter sich bringen. Im Tod ist also niemand hinüber, sondern hin.

XXXIX. Der Tod hat keine Bedeutung, er schafft alle Bedeutungen ab. Das Leben geht dem Tod voraus, aber der Tod geht dem Leben nicht hinterher. Der Tod ist keine Schwelle. Man kann nicht leugnen, dass jemand tot ist, aber man muss entschieden bestreiten, dass es Tote gibt. Es gibt keine Toten.

XL. Kein Mensch wird je die Erfahrung des Todes machen. Die Lebenden kennen ihn nicht und die Toten vermögen nichts mehr zu erkennen. Der Tod ist keine Erfahrung, die man machen kann, er ist vielmehr die Vernichtung aller Erfahrungen. Kein Ereignis, sondern die Eliminierung der Ereignisse, kein Erleben, sondern die Liquidierung der Erlebnisse. Alles, was man erlebt, erlebt man vor dem Tod. Den Tod erlebt man nicht.

XLI. "Es wird nichts sein als nichts," sagt Günther Anders im Angesicht seines nahenden Endes. Der Tod ist kein Zustand. Der Tod ist aber auch kein Ergebnis, kein Resultat, kein Fazit, keine Conclusio, er ist und bleibt dieses "nichtige Nicht".

XLII. Jeder Anfang kennt ein Ende und jedes Ende kennt einen Anfang. Doch nicht jedes Ende ist ein Anfang, der Tod jedenfalls ist kein Beginn. Im Tod fallt ein Dasein durch sein Nichtsein ins Nichtssein. Der Tod ist die Nichtung ins Nichts.

XLIII. Nicht der Tod vernichtet das Leben, sondern das Leben selbst vernichtet das Leben. Der Tod ist nichts anderes als dieser Moment der Vernichtung. Er bezeichnet den Augenblick, wo nichts mehr ist wie es vorher gewesen ist, weil nämlich nichts mehr ist. Ein Universum ist untergegangen. Der Tod ist Negation ohne Position, nicht das Gegenteil zum Leben, aber auch nicht Bestandteil, sondern dessen Entsetzen, hinter dem nichts sich verbirgt außer das Nichts.

XLIV. Im Tod treffen sich das Vernichtende und das Vernichtete im Nichts. Der Tod ist und hat keine eigene Qualität, er ist das leblose Nichts. Der Tod ist tot. Der Tod ist nicht abzuschaffen, weil er nicht geschaffen ist. Er ist sich kein Eigener.

XLV. Der Tod bedeutet nichts. Klein wie groß geschrieben: Nichts! In dieses Nichts kann man nicht fallen, nicht gestoßen werden und schon gar nicht in ihm verweilen. Der Tod ist kein Kontinuum, keine Zeit, kein Ort, keine Bewegung, kein Inhalt, keine Form, kein Grund, keine Weise. Er definiert sich nicht, letztlich auch nicht durch das Nichts, denn das Nichts definiert nichts.

XLVI. Aber nichtet nicht das Nichts? - Das Nichts nichtet nicht! Es ist stets das Dasein, das nichtet und auch sich nichtet. Das Nichts tut nichts, es schafft nichts und es schafft nichts ab. Das Nichts vermag nichts. Könnte es etwas vermögen, dann wäre es kein Nichts. Das Nicht nichtet, aber das Nichts nichtet nichts!

XLVII. Eine grundlegende Aufgabe der Philosophie ist nach wie vor nicht nur Sein und Nichtsein zu unterscheiden, sondern auch das Nichtsein und das Nichtssein, also das Nicht und das Nichts zu identifizieren wie zu differenzieren.

XLVIII. Heideggers Frage "Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?", ist doppelt unsinnig, denn Seiendes muss sein und außer Seiendem kann nichts sein. Das Nichts kann eben nicht sein, denn wenn es sein könnte, wäre es kein Nichts mehr. Wie das Dasein kein Nichts sein kann, so das Nichts kein Dasein.

XLIX. Der Tod, das ist die elementare Kante zwischen Nicht und Nichts. Das Nichts können wir uns aber nicht vorstellen, es übersteigt uns. Das unscheinbare Nicht hingegen gilt und wirkt als profane Zerstörung jedes Daseins. Unentwegt. Der Tod ist so auch eine Scheide zwischen dem Nicht-Mehr und dem Nichts-Mehr. Alle Vermögen den Tod zu identifizieren, vielleicht auch noch zu charakterisieren, aber niemand vermag ihn zu definieren.

L. Lebewesen sind etwas, die aus dem Nichts kommen, aber nicht vom Nichts gezeugt werden. Und auch wiederum im Nichts Verschwinden, aber nicht vom Nichts beseitigt werden. Das Dasein ist ein Zwischennichts, eine Spanne zwischen dem Nichts und dem Nichts. Das jeweils Seiende bricht das Nichts auf, indem es eine Periode Nicht zum Nichts sagt und sich auch bis zum Schluss, aber nicht mehr am Schluss behaupten kann. Darin liegt eine fruchtbare wie furchtbare Prominenz.

LI. Die kategorische Aussage des Leben lautet: Ich kann nicht nichtgewesen sein.

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Ich habe... Ich bin.
Eine Enthüllung

von Eva Maria Haas

Ich habe. - Ich beginne meinen Text mit "Ich habe." Was habe ich? Habe ich was? Was heißt das: "Ich habe"? Es sollte ein ganzer Satz werden. Dann war ich abgelenkt, und als ich wieder aufs Papier blickte, stand da "Ich habe". Der Rest hat sich in Nichts aufgelöst. Eigentlich will ich schreiben, was mich seit langer Zeit beschäftigt bezüglich Thema Geld. Ich hab mir vorgenommen, "Geld" für mich zu durchleuchten, zu entzaubern, zu verstehen, mich aus der Sklaverei zu befreien, aus der selbst gemachten. Aber all die Infos, die ich mir bisher zu diesem Thema schon geholt habe, waren und sind unbefriedigend. Erst im 54er Streifzug finde ich "meine" Ansätze, die ich bisher nicht in Worte fassen konnte. Intuitiv bin ich schon in diese Richtung unterwegs. Darüber zu lesen, macht mich froh und aufgeregt. Ich werde ungeduldig, will was tun. Möchte Menschen finden, die das mit mir träumen, planen, tun und feiern. Nicht die Lösung zu finden, ist mein Anspruch, jedoch einen Weg, was zu erarbeiten, zu beweisen, dass es möglich ist, ein komplexes Leben unter Einbeziehung aller Facetten, ja aller Völker ohne Geld zu führen, zu erleben.

Es fällt mir total schwer, Worte zu finden, die nicht abgedroschen sind und das aussagen, was ich meine. Es ist ja auch in mir noch ziemlich unklar, wie es gehen könnte. Wobei ich einfach weiß, dass es möglich ist. Irgendwann war der Gedanke da, dass ich eigentlich gar kein Geld bräuchte, wenn nicht andere es von mir wollten. Deshalb finde ich auch den Ansatz von Heidemarie Schwermer etwas hatschert. Auch wenn sie selbst ohne Geld lebt, partizipiert sie bei denen, die Geld haben in einer Lohnarbeit stehen oder auf irgendeine andere Weise Geld erwerben. Es ist nun mal so, dass einzelnen ein Leben ohne Geld nicht möglich ist, lässt man das System so, wie es ist.

Lange Zeit dachte ich, Tausch wäre das Optimale. Wir tauschen einfach unsere Fähigkeiten und Gegenstände. So entsteht kein Mangel. Bei diesem Gedanken merkte ich, dass sich irgendwas nicht ausgeht. Ich konnte es nicht greifen, Aber die Konstruktion ging irgendwo ins Leere. Bis zu einem bestimmten Punkt konnte ich mir diese heile Tauschwelt schön und stimmig ausmalen. Dann plötzlich stand ich an. Meine Gedanken sind abgedriftet in andere innere Welten. Mittlerweile ist mir die Gedankenhürde, der Stolperstein, der Hemmschuh, die Unterbrechung greifbar geworden: Wir erwarten für alles eine Gegenleistung! Auch und gerade beim Tausch: "Wenn du mir die Lampe reparierst, passe ich eine Stunde auf dein Kind auf." Wir dürfen und wollen gar nichts nehmen, ohne eine Gegenleistung bieten zu können. Und fühlen uns ausgenützt, wenn wir was geben (sei es ein materielles Ding oder ein immaterielles Gut) und keine Gegenleistung erhalten. Mit dieser Haltung ist auch der geldlose Tausch eine Währung. Wenn mir mein Nachbar die Wohnung ausmalt, was "gebührt" ihm dann? Was ist mir das Ausmalen "wert"? Was oder wie viel erwartet er dafür? Gleich ist mensch versucht eine Werte-Regelung zu finden: 1 x Ausmalen = 10 x Haare schneiden oder so...

Das fühlte sich ganz und gar nicht stimmig an. Somit fiel Tausch als Lösungsvariante zu Geld aus. Zwischendurch merkte ich, wie ein so ein kleines Gedänkelchen immer wieder leise um Gehör bat. Lange Zeit hörte ich nicht hin. So wuchs sich das Kleine schließlich aus und forderte Gehör: Alle bringen ihre Fähigkeiten ein, und so kann auch schon eine noch überschaubare Gruppe von Menschen in der Fülle leben, ohne auch nur eine Münze oder einen Schein in die Hand zu nehmen. Und so haben sich nach der "Tauschgedanken-Ära" Bilder bei mir eingenistet: Ich sehe Menschen, die sich zusammentun, um sich ein gemeinschaftliches Feld und Umfeld zu schaffen. Das geht übers Gärtnern zum Haus-Bauen, zum Möbel-Tischlern, Zimmern, Hämmern, Streichen, weiter Gärtnern, immer wieder Kochen, Stricken, Putzen, Waschen, Reparieren usw. Für keine dieser Tätigkeiten braucht es Geld. Es braucht lediglich Menschen, die die unterschiedlichsten Fähigkeiten mitbringen (darunter viele, die schlicht nicht käuflich und verkäuflich sind), und die einander das Benötigte im richtigen Moment zukommen lassen. Das kann wirklich gelingen.

Also: Ich bräuchte kein Geld. Und doch fand ich diesen Gedanken erstaunlich. Und so recht glaubte ich mir selbst nicht. Bin ich doch auch ein Kind des Kapitalismus. Natürlich funktioniere ich im Alltag wunderbar in dem gewohnten System. Der rebellische Gedanke ist aber wie ein Samenkorn in meinem Hirn, das aufgeht und heranwächst und sich durch nichts vertreiben lässt.

Und doch: da ist ein Quergedanke, der sich immer wieder meldet: Mit welchen Fähigkeiten bringe ich mich ein in einer vom Geld freien Gemeinschaft? Dieses Geld klebt an mir wie mit Kontaktkleber aufgepickt. Ich werde es nicht los. Es streckt seine vielen Arme krakenhaft aus in nahezu alle Bereiche meines Lebens. Meine erlernte Fähigkeit ist nun einmal, mit Geld umgehen zu können. Ich bin Buchhalterin.

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Folgenreicher Kinogang

von Severin Heilmann

Katastrophen interessieren mich nicht. Ihre unentwegten Spülgänge durch die mediale Kanalisation haben irgendwann meinen Sinn für das Großartige und Schreckliche daran zugeschlämmt. Dieses Allerlei an täglichem Unglück, wie es uns flutet und wie wir es gleich wieder runterlassen müssen, hat mich nie ergriffen. Wahrscheinlich hat das auch mit der eigenartigen Unverhältnismäßigkeit der Form zu ihrem Inhalt zu tun: Im Radio verliest der Sprecher die unvorstellbarsten Widerwärtigkeiten im selben sachlichen Tonfall, in welchem er uns gleich darauf mit den Wetteraussichten bekanntmacht. Er moderiert mir allweil das Unfassbare zu einer lauen, unbedenklichen Brühe portionierten Elends herunter. Das ist doch völlig reizlos! Nie steht irgendetwas ernstlich in Gefahr, nie ist die Lage aussichtslos. "Fürchte dich nicht, wir kriegen das schon wieder hin" - das ist die unverhohlene Frohbotschaft, die unterschwellig mitströmt, und froh wird tatsächlich, dessen unbeirrbarer Glaube an die gewaltigen Reparaturkünste irgendwelcher Expertenstäbe immer noch nicht angekränkelt ist.

Vor zwei, drei Jahren hat sich aber dann doch unerwartet diese sehr eigene Ergriffenheit eingestellt, die einem nur selten und meist in ungeschminkt totalitären Umständen begegnet, vielleicht in meiner Kindheit zuletzt oder in einem Traum. Diesmal im Kino: Ich schaue Lars von Triers Melancholia. Hier wird gar nichts wieder gut. Das steht gleich zu Beginn fest und erleichtert ungemein: Zur Tristan-Ouvertüre geht in endlos langen slow-motion-Sequenzen und in atemberaubender Schönheit die Welt gleich vorweg unter, dergestalt, dass sie Vom Titel gebenden Exoplaneten Melancholia einverleibt wird; zärtlich und liebevoll - ein kosmischer Kuss, Vereinigung, Untergang - nie zuvor ging mir diese Musik unter die Haut. Sie ist mehr als suggestive Untermalung, denn überhaupt gibt sich der Plot selbst als Tristan-Adaption zu erkennen, was aber eine eigene und wenn möglich: die eigene Erkundung der reichhaltigen und eigenwilligen symbolischen Ausstattung des Films keineswegs ersetzen mag.

Was mich jedoch eigentlich so erschüttert hat, war die Präzision der Entlarvung der alten formidablen Lüge, der Lüge schlechthin: dass alles gut wird und vor allem: dass es immer einen Weg dorthin gibt. So verkommen etwa die Machtgeplänkel der Hochzeitsgesellschaft vor dem Hintergrund der totalen Auslöschung immer mehr zur Farce, zum Jahrmarkt der Eitelkeiten; Claire, die rationale und realistische Schwester der Protagonistin Justine, verzweifelt an der letztendlichen Nichtigkeit ihrer, unserer lächerlichen Mittel-Zweck-Kalkulationen; jegliche Anstrengung, die im Hinblick auf eine Lösung unternommen wird, muss notwendig irregehen. Hingegen scheint Justine, die anfänglich in rätselhafte Depression versunkene Braut, immer gelassener, gelöster, präsenter und wacher zu werden, je näher Melancholia der Erde kommt.

Was sich im Film so plastisch darstellt, steht jedem von uns noch ganz unspektakulär bevor - alles zerfällt irgendwann. Die Frage die mich nicht mehr loslässt: Wie kann ich mit dieser Gewissheit umgehen? Wie kann ich, das Ende vor Augen, tief ins Leben einwurzeln (wollen)? Leben, als wär dieser Tag mein letzter oder einer von unendlich vielen? Die erleichternde Ratlosigkeit, mit der man am Ende (des Films) entlassen wird, gibt vielleicht einen Hinweis auf eine uneinbringlich bleibende Antwort: Der Augenblick ist alles, was wir haben, darin ist nichts, das einer Verbesserung bedurfte. Jedenfalls lebt es sich bedeutend leichter, hat man erst einmal die Apokalypse hinter sich. Selbst Adorno konnte im Tristan noch Tröstliches entdecken: "Indem es die Angst des hilflosen Menschen ausspricht, könnte es den Hilflosen, wie immer schwach und verstellt, Hilfe bedeuten, und aufs neue versprechen, was der uralte Einspruch der Musik versprach: Ohne Angst leben."

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Der kontemporäre Zustand der Welt

von Lukas Hengl

Liebes,
ich war gerade Vier, als die verspiegelten Parabole in den Erdumkreis gebracht wurden. Jetzt, vierzig Jahre später, weiß ich mit Gewissheit, dass die Sonne in meiner Lebenszeit nicht mehr direkt auf die Erde strahlen dürfen wird.

Ich bin einer von genau 4.004.423 Menschen, die momentan auf der Erde leben. In diesem eigenartigen Jahrhundert gibt es genaue Kenntnis darüber wie viele Menschen leben und wie viele sterben, um daraus zu schließen, wie viele geboren werden dürfen, ohne die verbliebene Lebensfläche zu überfordern. Falls es dich jemals geben sollte und du diesen Brief jetzt gerade lesen solltest, dann nur, weil irgendeine unvorhersehbare Katastrophe etwa vierundzwanzigtausend Menschen in den Tod gerissen hat und deine Mutter und ich dadurch weit genug auf der Geburtenwarteliste vorgerückt wären, um in unserer gebärfähigen Zeit ein Kind bekommen zu dürfen.

Oder der Meeresspiegel sank und gab Land frei, doch das ist eher nicht anzunehmen. Wieso auch? Tatsächlich steigt der Meeresspiegel noch immer an. Die Versuche, das Eis in den Weltraum zu verfrachten, sind gescheitert, auch alle anderen Bemühungen, die Erdtemperatur zu senken, sind missglückt oder ihre Effekte blieben weit unter den Erwartungen. Selbst der gewagte und unermesslich aufwendige Versuch, die Sonne mittels gigantischer halbdurchlässiger Spiegel, die in der Erdumlaufbahn wie eckige Monde mitkreisen, zu entkräften, brachte nur wenig. Die Kontinente versinken unaufhörlich im Meer.

Ich habe übrigens schon Teile der versunkenen Welt, der Städte unter dem leer gefischten Meer, mit eigenen Augen gesehen, es erinnerte mich an das Märchen von Dornröschen. Ich werde eine Kopie dieses Märchens an den Brief heften, eigentlich solltest du jetzt, wenn du diesen Brief umdrehst, sie dort vorfinden. Diese Städte, die wir mit U-Booten befahren, um dort Brauchbares zu sammeln, wirkten auf mich, als ob sie, durch die Katastrophen der Geschichte in ewigen Schlaf versetzt, nun ihrer Erweckung durch einen hoffnungsfrohen Kuss harrten.

Über die jüngere Vergangenheit kann und will ich Dir nicht viel erzählen, einiges müsstest Du aber durch Geschichtsbücher schon erfahren haben. Die letzten großen Kriege, welche jene vom Wasser zurückgedrängten, in immer kleineren Lebensräumen sich gegenseitig bekämpfenden und, als Nahrung knapp wurde, gar auffressenden Menschen (insofern dieser Begriff da noch zutraf) solange ausfochten, bis die wenigen Überlebenden, die dann immer noch zu viele waren, sich auf eine weltumspannende Geburtenkontrolle einigten und diesen Vollzug von Computer gesteuerten, nach demokratisch gewählten Vorgaben programmierten Drohnen durchführen ließen, waren wohl das grässlichste was dem Menschengeschlecht je widerfahren sollte. Insofern Du, und das wäre mein größter Wunsch, dich solchen Schrecken, wie dem Eingriff einer solchen Drohne in das Glück einer jungen Familie, die ohne Erlaubnis ein Kind in die Welt setzte, bisher entziehen konntest, so möchte ich dir Details solcher Art gerne ersparen, muss aber befürchten, dass du viel irrsinnigere Erlebnisse über dich ergehen lassen, oder wenigstens beobachten musstest; denn sofern heutigen Schätzungen geglaubt werden kann, müsste die Bewohnerzahl der schrumpfenden Kontinente mittlerweile zumindest um ein Zehntel verkleinert worden sein, um die Menschheit vor weiteren territorialen Konflikten und Hunger zu bewahren.

Nun mein Kind, ich wünsche Dir jedenfalls das Allerbeste und verbleibe hoffnungsvoll,

Dein Vater Sigismund

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Arbeit in der Science-Fiction

TEIL I

von Dieter Braeg

Als Isaac Marximov - pekuniär unterstützt von Larry Nivenengels - im London des vorigen Jahrhunderts folgenden Text veröffentlichte, der mit den Worten begann: "Es geht ein Gespenst um in Europa - das Gespenst des Sciencefictionismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Reich-Ranicki, französische Radikale und deutsche Polizisten. Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als sciencefiktisch verschrieen worden wäre...", begann ein Elend, dessen Ende nicht abzusehen ist.

Sie kennen Larry Nivenengels nicht? Das ist der Mann, der mit seiner Fabrikationsanlage für billige Unterhaltungsliteratur in Wuppertal megaviel Zaster verdiente und damit den armen Marximov unterstützte, der in London herumsaß, dort eine trockene Semmel befeuchtete, weil seinem Tun nicht Ruhm und Geld zuteil wurde. Vielmehr brachte ihm seine Tochter auch noch einen Schwiegersohn ins Haus, der ganz schreckliche Dinge zu Papier brachte, und auch von ihm will ich hier eine kleine Textkostprobe vorstellen. Nun zum Zitat des Herrn Paul Lafargue, dessen Texte vor allem in unserer heutigen Leistungsgesellschaft nicht gern gehört werden:

"Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen. Blinde, und beschränkte Menschen, haben sie weiser sein wollen als ihr Gott; schwache und unwürdige Geschöpfe, haben sie das, was ihr Gott verflucht hat, wiederum zu Ehren zu bringen gesucht."

Ich weiß, so sollte man sich dem Thema nicht nähern, es ist wirklich aus der falschen Richtung, aber ich suche nun schon einige Zeit die Arbeit in der Science-Fiction und ... finde sie leider nicht, oder viel zu selten.

Wer wie ich mit Science-Fiction groß wurde, braucht meist nicht lange, um sich die entscheidenden Fragen zu stellen.

1) Wo bleibt der Sex in dieser Literatur?

2) Wo bleibt die Arbeit oder die Beschreibung der Arbeit in der Science-Fiction?

Hat die Sexualität zum größten Teil inhaltlich die Qualität eines Ficks des Försters vom Silberwald mit der Großmutter aus dem Märchen "Rotkäppchen" der Gebrüder Grimm, ist es mit dem Thema Arbeit doch anders, da bietet die Science-Fiction ein wenig mehr, aber den Anspruch, den Begriff der "gesellschaftlichen Arbeit" in diese Literatur einzuführen, erfüllen die Autorinnen und Autoren nicht. Würde man die Realität der Utopien an ihren Arbeitsweltinhalten messen - es klingt schon verrückt da von Realität zu sprechen - man müsste die meisten verwerfen.

Aber die "Arbeit" ist auch in der gängigen Literatur nicht unbedingt ein gern beschriebenes Thema. Es wäre sicher lohnend zu klären, warum dies so ist. Böse Zungen behaupten einfach, dass die Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ihrem Leben schlechte Erfahrungen mit der Arbeit machten, oder gar keine ... es sei denn als Produzenten schlechter Literatur.

Lassen wir aber zunächst doch einige Beschreibungen der Arbeit aus Vergangenheit und Gegenwart auf uns wirken. Arbeit ist immer Mittelpunkt aller bisherigen Gesellschaften gewesen.

Hier der Bericht eines Arbeiters, der in den Schlachthöfen von Chicago in den Achtzigerjahren des vorvorigen Jahrhunderts arbeitete:

"Jede Abteilung hatte ihre eigenen Krankheiten, und die Arbeiter der einzelne Abteilungen wiesen sie am eigenen Leib auf. Da waren die Leute, die in den Pökelräumen arbeiteten. Kaum einer von ihnen war von Wunden und Schwären verschont. Man brauchte nur einen kleinen Kratzer zu haben und schon entstand eine Wunde, die den Tod bedeutete: die Gelenke wurden von den Pökelsäuren aufgefressen. Unter jenen die mit dem Messer arbeiteten gab es kaum einen, der einen heilen Daumen besaß, sie schnitten sich oft hinein, dass nur mehr ein Stumpf übrig blieb. Narbenhände ohne Nagel. Tuberkulosebrutstätten im Dampf und Gestank der Küchen. Schlachthausschlepper trugen 100 Kilo schwere Lasten in den Gefrierraum, ab vier Uhr früh. Fünf Jahre hielten selbst stärkste Männer diese Arbeit aus, dann waren sie arbeitsunfähig, von Rheuma zerstört. Wollzupfer verloren ihre Finger noch schneller als die Pökler, denn das Fell der Schafe wurde mit Säure bestrichen, damit die Wolle leichter abgehe. Die Säure fraß sich in die Hände. Arbeiter die an riesigen Fleischbottichen malochten, fielen in dem mit Dampf gefüllten Raum bisweilen in die Bottiche; wurden sie herausgefischt, war nicht mehr viel von ihnen übrig..."

Es gab natürlich auch ein "Bündnis für Arbeit" in Chicago und nicht nur dort, es wäre ein Lehrstück für die Gewerkschaftsführer am Beginn dieses Jahrhunderts. 1885 stand in der Chicagoer Tribune: "Der einfachste Plan ist, den Arbeitslosen und Bettlern anstatt Butter Arsenik aufs Brot zu streuen. Das bewirkt in kürzester Frist den Tod und ist anderen Bettlern eine Warnung, sich in respektvoller Entfernung zu halten."

Zurück zu den Arbeitswelten der Vergangenheit und Gegenwart. Wer sich da weiter informieren will, dem sei die Lektüre eines blauen Bandes angeraten - den zweiten Band der Marx/Engels Werke (geschrieben vom September 1844 bis Februar 1846).

"Die Lage der arbeitenden Klasse in England" beginnt Friedrich Engels mit folgenden Worten: "Arbeiter! Euch widme ich ein Werk, in dem ich den Versuch gemacht habe, meinen deutschen Landsleuten ein treues Bild eurer Lebensbedingungen, eurer Leiden und Kämpfe, eurer Hoffnungen und Perspektiven zu zeichnen."

Ich wünschte mir, es gäbe in der modernen Literatur ähnliche Werke, die sich so realistisch und genau mit der Arbeit beschäftigen. Dass die Science-Fiction in keinem Fall mit ähnlichem Lesestoff aufwarten kann, ist ein Ausdruck des Unvermögens dieser Literatur, Probleme zu beschreiben; sie beschränkt sich darauf, galaktische Imperien zu erschaffen, die dem Schöpfungswunder der Bibel gleichen. Wunder über Wunder entstehen da aus Lehm, ohne auch nur ein Tröpfchen Schweiß oder Gehirn-Schmalz zu vergeuden.

"Der Sekundenzeiger ist ein schneller Zeiger. Gegen Abend begreift der Arbeiter nur noch wenig. In seinem Kopf ist ein Dröhnen und gähnende Leere. Achthundertmal hat er die Hand mit der Exaktheit einer Presse gesenkt und gehoben. Diesmal hat die Hand sich verzögert, - und Blut beschmutzt die vortreffliche Presse. Schon gehorchen die Hände nicht mehr, sie machen unsichere Bewegungen und zittern, - die Säge streift die Hand."

Dies ist eine kurze Passage aus dem Buch "Das Leben der Autos" von Ilja Ehrenburg. Eine satirisch makabre Geschichte zum Siegeszug des Autos, geschrieben im Jahre 1929.

Lassen wir Günther Wallraff oder Max von der Grün, beide bekannte Vertreter der "Arbeitsweltliteratur", einmal nicht zu Wort kommen, wenn es um Arbeitsplatzschilderungen und Konflikte geht. Es ist erstaunlich, das sei hier bemerkt, wie sehr sich die Vertreter dieser Literatur, die vor allem im Arbeitskreis "Literatur der Arbeitswelt" organisiert waren, gegen einen Band "Science Fiction" zur Wehr setzten. Kriminalstories (Fischer Taschenbuch Nr. 2076 "Kriminalgeschichten" September 1976) wurden noch nach langen Diskussionen akzeptiert, ein Projekt, sich auch dem Thema Arbeit und Zukunft zu widmen, verschwand immer wieder in einem unergründlichen Zeitloch. Oder wurde per Diskussionstransmitter in einen galaktischen Inhaltslosnebel verbannt.

Paul Celan, der größte Lyriker des gerade Vergangenen Jahrhunderts, darf in dieser Sammlung von "Arbeitswelttexten" mit seiner Fertigungshalle nicht fehlen:

"FERTIGUNGSHALLE
Blendeffekte, im Dämmer,
- auf dir, denk,
ruhte die heilende Hand unterm
aufzuckenden Schein -
das Schutzwort
im Überdruckhelm
ein Zeichen im Satz
als Frischluftgerät.
Schweißung der Seelen, Kurzlicht.
In den Boxen:
Beatmung
des reimigen, schönen
Metallbalgs."

Nun möchte ich hier noch die leider vergessene Autorin Marianne Herzog zitieren, die in einigen Aufsehen erregenden Büchern die Arbeitswelt beschreibt:

"Das Karussell ist eine Scheibe mit zehn Ausbuchtungen, in die zehn Staubsauger gehängt werden. An jedem Karussell arbeiten zwei Frauen. Im Stehen montieren die Arbeiterinnen am Karussell, das sie außerdem noch drehen.

Hier ist die Arbeit am schwersten. Von hier aus gehen die fertigen Staubsauger aufs Band zur Kontrolle. Ruth hat aufgezeichnet, was eine Arbeiterin in einen Staubsauger montiert:

Dichtungsgummischnur einlegen
zwei Schalter und eine Klammer reinknipsen
Gummischlauch reinstecken
Gummiring überstülpen
Motor mit Verbindungskabel reinsetzen
Schaumgummiring drauflegen
Plastikhaube befestigen
Plastikdeckel mit Verbindungskabel verbinden
Lampe mit zwei Verbindungskabel reindrücken
Verbindungshalter mit einem Kabel festknipsen
Schalter anklammern
Deckel mit Rädern festschrauben
Papiertüte und Plastikkorb reinstecken
den hinteren Decken festschrauben
elf Schrauben einbohren.
Dann schieb ich den Staubsauger aufs Fließband.

Das sind 15 verschiedene Teile. Die müssen die Arbeiterinnen aber nicht nur einbauen, sondern auch noch quer durch die Halle an ihren Arbeitsplatz transportieren, und die Motoren und die Kannen sind sehr schwer. Quer durch die Halle laufen wäre ja eine gute Sache, bei unseren Akkordzeiten ist es aber nur Streß. Die Stückzahl pro Tag für zwei Frauen: 190 Stück!"

(Marianne Herzog "Von der Hand in den Mund", Rotbuch Verlag 1976)

Wer sich mit den Cyberspace Romanen oder gar mit einem "Internet-Roman" beschäftigt hat (besonders ärgerlich war da der Versuch von Cole Perriman mit dem Titel "Die Stunde des Clowns"), der sollte sich unbedingt den Roman "Jede Minute kostet 33 Franken" von Emil Zopfi gönnen. Es ist der beste Roman, den ich kenne, der sich mit der EDV-Arbeitswelt beschäftigt. Erschienen im Jahre 1977 im Schweizer Limmat Verlag. Der Leser kann eine ganze Nachtschicht eines EDV-Betriebes erleben. Spannend von der ersten bis zur letzten Zeile beweist Zopfi, dass ein Roman, der sich mit Arbeit beschäftigt, spannend, kritisch und unterhaltsam sein kann. Hier eine kurze Szene aus dem Anfang des Romans. Die Kapitelüberschriften sind jeweils die Zeiten der Arbeitsnacht:

"22.53

Kern erschrickt. 'GO' hat er auf der Konsole gelesen. Darunter die Meldung ** printer not ready

Glauser ist beim Printer. Etwas ist mit dem Papier nicht in Ordnung. Und nun bricht es plötzlich los.

Signallampen glimmen auf Hunderte gleichzeitig. Lösen sich dann in ein aufgeregt blinkendes Muster auf das stumpfe Front des Computers belebt. Maschinentakt - Und die Schreibmaschine hackt mit ihren Stahlfingern aufs Papier ein.

Magnetbandrollen laufen an. Das braune Band spult ruckweise ab, wellt sich und biegt sich in Vakuumkanäle hinein und schlängelt sich schließlich zwischen den Leseköpfen hindurch. Daten fließen ins System. Informationen. Geheimnisse. Zischende Pneumatikkolben treiben Lesekämme über die Oberfläche von hochtourig kreisenden Magnetplatten hinweg. Im Hintergrund setzt ein schwingendes, melodiös vibrierendes Pfeifgeräusch ein: Der Schnelldrucker, der Printer Nr. 3. Sein Hammerwerk schlägt Zeile um Zeile auf endlos gefaltetes Papier, füllt mit rasender Geschwindigkeit Seite um Seite: der Output. Das tote System ist plötzlich erwacht. Aufgeschreckt. Zur Maschine geworden. Und durch den ohrenbetäubenden Lärm glaubt Kern wieder jenes Geräusch zu vernehmen, das sich irgendwo in seinem Kopf drin festgefressen hat. Schwingendes Sirren von Zahnrädern, Ketten ... zischende Hydraulikkolben ... stechender Öldampf...Stille - Und der grauenhafte Schrei von Luigi. Eine Sekunde nur. Dann steht er wieder vor der Schreibmaschine und liest die Meldungen ab, die sie auf grün-weiss gestreiftes Papier hämmert -
**job moraves 1 output started 22.53.38

Allmählich beruhigt sich das System. Läuft sich ein. Man gewöhnt sich an den Lärm des Printers und an der Konsole tröpfeln nur noch vereinzelte Zeichen aufs Papier."

Was unterscheidet diesen Text, der Arbeit beschreibt, von einem Ausflug ins Weltall? Nichts! Die Zeitreise, andere Gesellschaftsformen, neue Planeten, Kriegsgefahren, Abenteuer - all das hat mit Zukunft zu tun. Die Arbeit? Sie bleibt kleben und entwickelt sich nicht weiter. Die Literatur der Zukunft, sie drückt sich vor der Arbeit oder beschreibt sie so, als wäre es abgelaufene, vergangene Geschichte. Produktionsprozesse werden nicht beschrieben oder wenn es in seltenen Fällen vorkommt, dann bleiben diese inhaltlich weit hinter jenen Beispielen zurück, die ich hier schon erwähnte und teilweise zitierte. Die Dramatik der Arbeit, wie sie etwa bei Emil Zopfis "Jede Minute kostet 33 Franken" erzählt, fehlt, bis auf wenige Ausnahmen, in der Science-Fiction völlig. Wenn überhaupt Tätigkeiten beschrieben werden, so sind es solche, die man mit dem Begriff Abenteuer umschreiben kann. Es wird spioniert, erforscht, erfunden, herumgebastelt, geblastert, erobert, gemordet...

Ist Arbeit ein Stoff im Leben, ohne den es kein Glück gibt, oder ist es ein Teil jener Unterdrückung, mit der die Besitzer der Macht seit Beginn der Geschichte der Menschheit ihr Wohlleben absichern?

*

Dead Men Working

Wie reizvoll

von Maria Wölflingseder

Eine treffende Diagnose der aktuellen kollektiven Verfassung lautet Reizüberflutung. Vielerlei Reize sind so anziehend oder so aufdringlich, dass wir uns ihnen kaum entziehen können. Von den Infoscreens in den U-Bahnstationen und in der Straßenbahn bis zu den Verlockungen, die Smart-Phone und TV bieten. Von der ständigen persönlichen Musik-Begleitung zu den unendlichen Reizen des Worldwidewebs. Von den Printmedien bis zur öffentlichen Dauerbeschallung. Sei es als Auto-, Flug- oder Baulärm, als Musik, Werbung und Geplapper eigener Supermarktradiosender oder lautstarkes Gedudel in den übrigen Geschäften und in der Gastronomie. Nicht nur der Informationshunger ist groß, auch der Hunger nach Geruch und Geschmack ist gekonnt geweckt worden. Je mehr zum Himmel stinkt - Abgase und reizende Ausgasungen von Kunststoffen, Farben und Lacken -, desto mehr steigt die Parfümierung mit synthetischen Stoffen: Von der Klimaanlage in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die Gerüche Ventilieren, bis zum Klopapier, vom Raumspray bis zum Autoduftbäumchen, vom Waschpulver bis zur Seife. Die olfaktorischen Erlebnisse werden immer intensiver, wenn auch nicht bekömmlicher. Und die künstlichen Geschmacksstoffe in vielen Nahrungsmitteln erfüllen durchaus den kommerziellen Zweck der Abhängigkeit.

Um trotz dieses Reizhypes inklusive der Folgen von geistiger und körperlicher Überbeanspruchung noch einen Tag-Nacht-, einen Anspannungs-Entspannungsrhythmus zu finden, werden Unmengen an stimulierenden sowie sedierenden Substanzen konsumiert. Höchste Gereiztheit herrscht in jedem Fall.

Nehmen wir die Erscheinungen der digitalen Flut an Informationsreizen ein bisschen genauer unter die Lupe. Historisch betrachtet, wurde die Arbeit vom Acker über das Fließband an den Computer verlagert. Mit der Möglichkeit, gigantische Datenmengen zu sammeln, zu speichern und zu verbreiten, wurde ein ebenso großes Suchtpotential geschaffen. Mittlerweile hat sich das digitale Suchtverhalten von der Arbeit bis in unsere intimsten Bereiche ausgebreitet.

Mitunter stellen zwar schon junge Menschen, denen der Computer buchstäblich in die Wiege gelegt wurde, das digitale Leben infrage. Manche wollen in den neuen Strick-, Häkel- und Nähgruppen gar eine Trendwende erkennen. Mir fallen jedoch vielmehr die in letzter Zeit vermehrt aus der Öffentlichkeit verschwundenen Blicke auf. Sie kleben nur mehr am Display. In den öffentlichen Verkehrsmitteln sowieso, aber auch zuhauf in Konzerten und im Theater. Bin ich krank, wenn ich mich dadurch beim Kunstgenuss gestört fühle? - Mein Freund]. wohnt in Salzburg am Mönchsberg. Mit traurigem Kopfschütteln erzählte er: "Ich bin neugierig, ob mich jemals wieder jemand nach dem Weg zur Festung fragen wird. Alle suchen ihn stur auf ihren Screens, anstatt in die Landschaft oder gar jemandem in die Augen zu blicken." - Das GPS im Auto lotst Nutzer mitunter gar in die Irre. Kürzlich las ich über die Gefahr, bei ständiger Verwendung digitaler Orientierungshilfen, sich ohne diese gar nicht mehr zurechtzufinden. Aber mittlerweile kann ja jede Reise "lückenlos" geplant werden, wie eine App verspricht: Man leite einfach alle Mails über Flug, Hotel, Mietwagen etc. an den Dienst und bekommt einen minutiösen Plan darüber, wann welcher Schritt wohin gemacht werden muss. Wird die Reise selbst gar bald durch eine digitale ersetzt?

Freundschaft, Sinnlichkeit und Sex haben sich ebenfalls stark in die Virtualität verlagert. "jeder Vierte schaut gerade Pornos!", so der Titel eines kleinen Artikels von Todor Ovtcharov, einem gebürtigen Bulgaren, in der Wiener Zeitschrift biber (Mai 2014, S. 70). Professionelle Pornos werden durch private ersetzt. Mit der gleichen Routine, mit der Selfies und das Frühstück ins Netz gestellt werden, wird der hauseigene Sex gepostet. Bulgarien steht weltweit an sechster Stelle, was das diesbezügliche Mitteilungsbedürfnis und die einschlägige Neugierde betrifft. Deutschsprachige Pornos waren in Bulgarien während der Pubertät des Autors extrem populär. Sprüche wie "ja, ja, das ist fantastisch!" wurden zur "Stadtfolklore". Wer glaubt, das seien Reize ohne Seele, schaue sich den Film "Her" von Spike Jonze an. Theodor Verliebt sich in sein OS, in sein Operating System namens Samantha. Obwohl seine Freundin mit 8316 weiteren Menschen und Betriebssystemen in engem Kontakt steht und mit 641 davon eine Liebesbeziehung hat, beteuert sie, dass dies ihre innige Liebe zu ihm in keiner Weise herabsetze. Am Schluss bleibt Theodor traurig zurück, weil sich Samantha in eine neue Virtuelle Existenz verabschiedet hat. Wovon Publikum und Kritik hellauf begeistert sind, ist für mich ziemlich langweilig.

Manche meinen, mit den Möglichkeiten der Digitalität höchste Authentizität vermitteln zu können. Aber wozu brauche ich in drei Minuten Radioweltnachrichten fünf O-Töne von Politikern und Experten und als Hintergrundsound Maschinengewehrgeknatter? Oder die ewige schillernde Berichterstattung über der Promis Cellulite, Hängepos und unendlich viel ähnlich Spannendes.

Da sich im Kapitalismus jeglicher Junk bestens bewährt und schnell verbreitet, tut er das im Netz umso effizienter. Dass jegliche Information - genauso wie alles andere - von der marktwirtschaftlichen Verwertbarkeit gesteuert wird, ist klar. Ein anderer Kontext hat sich bis dato erst minimal ausgewirkt. Vor allem Fragen nach dem Warum all der aufgeherrschten Zumutungen sind schlicht tabu. Das wichtigste Fragewort, warum, wurde bei der Programmierung der Computer klammheimlich unter den Tisch fallen gelassen. Sonst würde vielleicht das System abstürzen. Wie kann sich bei unentwegter Beschäftigung mit dieser Flut an (zu 97 Prozent Junk-) Infos noch solch Altmodisches wie Konzentration, Überlegtheit, Verbindlichkeit oder gar Nähe entwickeln? Ganz zu schweigen von Neugierde, Phantasie oder Geheimnissen. Quantität - die tägliche Überdosis an digitalen Daten, die jeder verschlingt - schlägt gehörig in Qualität um.

Oft wird die Quelle der kommunikativen Missverständnisse von Mails und SMS in ihrer bloß schriftlichen Form gesehen. Aber liegt es nicht vielmehr an der mangelnden Sorgfalt und an der Häufigkeit, mit der mitunter gar mit mehreren gleichzeitig digital geplaudert wird? Warum sollen Mails und SMS nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit und Hingabe geschrieben werden wie früher vertrauliche Briefe? Dann gäbe es sicher weniger Missdeutungen und mehr Freude.

*

Die souverän ernährte Stadt?

Potenziale und Grenzen des urbanen Gärtnerns (Teil I)

von Andreas Exner und Isabelle Schützenberger

Urbanes Gärtnern gewinnt seit einigen Jahren zunehmend auch in Wien an Bedeutung. Die Gärten sind dabei nicht auf die physischen Gartenorte zu reduzieren, sondern mindestens ebenso als diskursives Phänomen von Bedeutung. Eine Reihe von Zuschreibungen fällt ins Auge, wonach die Gärten sozialen Zusammenhalt fördern sollen oder Ansatzpunkte für eine Transformation des urbanen Raums darstellen. Nicht selten erscheinen sie wie ein Wundermittel für die Probleme der kapitalistischen Stadt, so schillernd sind die Hoffnungen, die in Büchern und Medienberichten damit verbunden werden. Wiederholt wird auch die Rolle von urbanen Gärten für Ernährungssouveränität betont. Sie sollen eine "demokratische" und "krisenfeste" Nahrungsmittelversorgung fördern.

Ist dies nicht ein reichlich hoch gegriffener Anspruch für ein Phänomen, das in der Regel nur wenige tausend Quadratmeter einnimmt? Können ein wenig Ruhe und ein paar Tomaten wirklich den Kapitalismus und sein Ernährungssystem aus den Angeln heben? Warum sollen gerade die neuen urbanen Gärten vollbringen, was schon den altbekannten Schrebergärten nicht gelungen ist? Und warum verbindet sich gerade mit den neuen Gärten dieses Ziel - während man im Schrebergarten in der Regel, von manchen Anfängen der Kleingartenbewegung einmal abgesehen, bekanntlich mit ein paar Blumen und ein wenig Gemüse ganz zufrieden ist?

Diesem bemerkenswerten Anspruch also, wonach die neuen urbanen Gärten einen Beitrag zur Ernährungssouveränität leisten, wollen wir in einer zweiteiligen Artikelfolge nachgehen und dafür Wien unter die Lupe nehmen. Dazu skizzieren wir zuerst die Perspektive von Ernährungssouveränität, beschreiben dann urbanes Gärtnern, bewerten es im Lichte dieser Perspektive und präsentieren schließlich einige Überlegungen zu dessen Weiterentwicklung. Wir wollen damit zu einer Antwort auf die Frage beitragen, was Ernährungssouveränität als eine Perspektive von in der Stadt lebenden Menschen bedeuten könnte, die das Urbane als politisches Territorium und physischen Raum mit seinen materiellen, symbolischen und konzeptionellen Aspekten (siehe Lefebvre 1991) ins Zentrum rückt.

Was ist Ernährungssouveränität?

Der Begriff der Ernährungssouveränität taucht zum ersten Mal beim World Food Summit 1996 auf. Im Schatten von Strukturanpassungsprogrammen an der kapitalistischen Peripherie und einer weltweiten wirtschaftlichen Liberalisierung seit den 1980er Jahren waren zu diesem Zeitpunkt neue Formen bäuerlichen Widerstands gegen das sich etablierende Freihandelsregime entstanden. Eine wichtige soziale Basis dafür waren autonomistische Bewegungen, die unter anderem der Rückbau staatlicher Subventionen mobilisierte (Martínez-Torres et Rosset 2010). Dieser Widerstand kristallierte 1993 in der Gründung von La Via Campesina, einer weltweiten Dachorganisation von Kleinbäuerinnen und -bauern, die den Begriff der Ernährungssouveränität entwickelte und prägte, der inzwischen weitere Kreise gezogen hat (Akram-Lodi 2013).

Die damit verbundene Zielrichtung war ursprünglich auf den Staat hin orientiert. Demnach wird damit "das Recht der Völker, Nationen und Staatengemeinschaften, ihre Ernährungs- und Agrarpolitik selbst zu bestimmen", bezeichnet. Dieses Verständnis wurde beim Nyéléni-Forum 2007 erweitert (Choplin et al. 2011: 98). Nun rückten auch stärker antikapitalistische Momente in den Vordergrund. So heißt es in der Erklärung des Forums sogar, Ernährungssouveränität setze "egalitäre, freie Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Völkern, ethnischen Gruppen und sozialen Klassen voraus" (a.a.O.: 104).

Ein solcher mit Ernährungssouveränität formulierter Anspruch kann nur durch eine breite gesellschaftliche Umwälzung eingelöst werden, die erst die notwendigen Grundlagen dafür schaffen würde. Gleichwohl lassen sich transformatorische Ansätze der Ernährungssouveränität von weniger radikalen unterscheiden, die sich auf den Übergang im Rahmen kapitalistischer Bedingungen konzentrieren, neben reformistischen Interpretationen zum Beispiel in der FAO (Akram-Lodi 2013).

Die vom Nyéléni-Forum 2007 formulierten sechs Prinzipien der Ernährungssouveränität reichen vom

  • "Vorrang für die Ernährung der Bevölkerung", der
  • "Wertschätzung der LebensmittelherstellerInnen" und der
  • "Etablierung von lokalen Produktionssystemen" bis zur
  • "Stärkung der lokalen Kontrolle", zum
  • "Aufbau von Wissen und Fertigkeiten" und zur
  • "Arbeit mit der Natur" (Choplin et al. 2011: 105ff).

Sie handeln im Kern von der Infragestellung der kapitalistischen Landwirtschaft, der Mechanismen sozial unkontrollierter Lebensmittelmärkte und einer autoritären Struktur von Agrar- und Lebensmittelpolitik. Freilich ist ihr Inhalt selbst nicht eindeutig festgelegt. Beispielsweise wird der "Vorrang für die Ernährung der Bevölkerung" zum einen als eine Kritik an der "Behauptung der Lebensmittelindustrie" verstanden, "dass Lebensmittel eine Ware wie jede andere sind" (wobei zumeist unklar bleibt, inwiefern Lebensmittel nun genau keine Ware wie jede andere sein sollen); zum anderen aber auch als eine grundlegende Infragestellung der Warenform als solcher.

Die Antwort, was unter Ernährungssouveränität genau zu verstehen ist, fällt folglich verschieden aus, unter anderem je nachdem, auf welcher Ebene sie gesucht wird. Werden etwa programmatische Erklärungen zum Anhaltspunkt genommen, so könnte man sich an einer politischen Konsensformulierung wie von La Via Campesina in Gestalt der oben genannten sechs Prinzipien orientieren. Zwar bezieht man sich auf diese Weise auf die Programmatik einer weltweit agierenden, wirkmächtigen Organisation, allerdings wird man der Debatte um Ernährungssouveränität damit allein noch nicht gerecht. Denn sie involviert erstens inzwischen mehr AkteurInnen als nur die unmittelbar Produzierenden und kann zweitens bloß zum Teil in allgemeingültigen, expliziten Leitsätzen eingefangen werden.

Ein mehr strategisch-politischer, dynamischer Zugang bestünde darin, das weitere AkteurInnennetz, das den Diskurs der Ernährungssouveränität entwickelt, und deren jeweilige konkrete Auseinandersetzungen in den Blick zu nehmen. Dabei zeigt sich, dass Ernährungssouveränität je nach Region recht unterschiedlich aufgefasst werden kann (für Russland Spoor et al. 2013, für die USA Clendenning et Dressler 2013). Und auch innerhalb einer Region bleibt das Verständnis heterogen. AkteurInnen von Bewegungen, die sich auf Landwirtschaft, Gartenbau und Lebensmittel konzentrieren, können sich in verschiedener Weise auf Ernährungssouveränität beziehen, wie am Beispiel der USA beschrieben worden ist (Clendenning et Dressler 2013). Dessen ungeachtet kann inhaltlich betrachtet eine ganze Reihe von Initiativen als Teil von Ernährungssouveränität begriffen werden, wenn darunter das Ziel eines alternativen Nahrungsmittelwesens verstanden wird (a.a.O.: 26). Ernährungssouveränität erscheint folglich zum einen als Instrument in sozialen Auseinandersetzungen, zum anderen jedoch als ein abstrakt-theoretisches Konzept, das die verbindenden Elemente verschiedener Initiativen sozusagen von außen betrachtet sichtbar macht.

Weder der formalistische noch der strategische Zugang aber bekommen das überschießende, inspirierende Moment der Ernährungssouveränität zu fassen, die keine utopische Perspektive darstellt, sich aber auch nicht in realen, konkreten Strategien erschöpft. Es artikuliert sich darin zuvorderst ein Unbehagen, das sich mal auf den Agrarsektor im engeren Sinn fokussiert, dann wiederum Lebensmittel und Landwirtschaft eher als strategisch herausgehobene Orte des Widerstands gegen die kapitalistische Produktionsweise insgesamt versteht. So gesehen ist Ernährungssouveränität "eine andere Art darüber nachzudenken, wie das weltweite Nahrungsmittelsystem organisiert werden könnte" (Akram-Lodi 2013: 4) - eine Funktion, die dem ansonsten nahestehenden Begriff der Ernährungssicherheit fehlt. Die "andere Art des Nachdenkens" über Ernährungsfragen geht vor allem davon aus, dass Nahrung ein Menschenrecht darstellt, sowohl auf Seiten der Bäuerinnen und Bauern als auch auf jener der Konsumierenden, und dass ihre Produktion und Verteilung von den Beteiligten selbst bestimmt erfolgen sollte. Man kann Ernährungssouveränität in dem Sinn als einen bestimmten Modus politischer Debatte auffassen.

Diese produktive Mehrdeutigkeit der Ernährungssouveränität zeigt sich schon im Begriff selbst, der mehr als Zentrum einer Reihe nicht unbedingt logisch konsistenter Assoziationen aufzufassen ist, der also Debatten entlang unterschiedlicher Vorstellungen von Demokratie, Selbstbestimmung und gutem Leben ermöglicht und als solcher nicht strikt theoretisch ausgelegt oder operationalisiert werden kann. Darin lassen sich traditionelle Orientierungen an nationalstaatlicher Souveränität, konkret in der Forderung einer nationalen, protektionistischen Agrarpolitik gegen die Vorgaben der WTO, genauso anschließen wie Ansätze, die mehr die Selbstermächtigung der unmittelbar Produzierenden durch ihre Fähigkeit zur Selbstversorgung in den Vordergrund stellen, die ja paradoxerweise den größten Teil der weltweit Hungernden ausmachen. Drittens kann sich Souveränität direkt auf die Verfügung über Ressourcen, allen voran Land, beziehen.

Von da aus besteht ein enger Konnex zu den weltweit zunehmenden Auseinandersetzungen um Land, aber auch eine Verbindung zu den Wortneuschöpfungen der Energie-, Land- und Saatgutsouveränität, die ähnliche Praxen der kollektiven Selbstermächtigung bezeichnen sollen (Acosta 2012, Franco et Borras 2012, Kloppenburg 2010).

Kehren wir zurück zu der Feststellung, dass sich Ernährungssouveränität - ungeachtet solcher Differenzierungen und teilweiser Widersprüche - gegen die kapitalistische Landwirtschaft, sozial unkontrollierte Lebensmittelmärkte und autoritäre Agrar- und Lebensmittelpolitiken richtet. So aufgefasst ist es durchaus plausibel, Ernährungssouveränität als Teil von Bewegungen zur Überwindung von sozialen Ungleichheiten und der damit verbundenen kapitalistischen Produktionsweise insgesamt zu verstehen. Denn Veränderungen des Kapitalismus bilden den Kontext von Veränderungen des Agrarsystems, und letztere schaffen die Bedingungen für erstere. Zwischen beiden besteht folglich ein enger Zusammenhang (Akram-Lodi 2013), der sich in der Mehrfachkrise von Klima, Energie, öffentlichen Dienstleistungen, politischer Legitimität und Ernährung zeigt (GBW 2011, Attac Österreich 2011). So betrachtet ist die Ernährungs- nicht von der Kapitalismusfrage zu trennen.

Umgekehrt könnte man Ernährungssouveränität sogar als einen strategischen Fokus für antikapitalistische Bewegungen im Allgemeinen verstehen, wenn man Nahrungsmittel als einen Knotenpunkt verschiedener Herrschaftsverhältnisse dieser Gesellschaftsform begreift, der einerseits das Alltagsleben einer Gesellschaft bestimmt, andererseits noch mit einer "moralischen Ökonomie" verbunden ist, woraus sich die weithin geteilte Skandalisierung von Hunger, industrieller Landwirtschaft und Qualitätsmängeln bei Lebensmitteln speist: "(...) Nahrung ist eine Modalität, in der Kapitalismus gelebt und in der alltäglichen Praxis greifbar gemacht wird" (Figueroa 2013: 3; vgl. Akram-Lodi 2013: 20, McMichael 2008).

Die drei Spaltungen des Kapitalismus

Versteht man Ernährungssouveränität in einem weiter gefassten Sinn, so handelt es sich dabei um eine Perspektive der Transformation der kapitalistisch geprägten Gesellschaftsform. Eine solche Transformation müsste drei zentrale Ebenen jeglicher Gesellschaft erfassen: das stoffliche Verhältnis zwischen Mensch und Natur, das Verhältnis der Menschen untereinander, und das kognitive und psychische Verhältnis der Menschen zur Natur. Alle drei Ebenen werden im Rahmen der kapitalistisch geprägten Gesellschaftsform von einer für sie charakteristischen Spaltung durchzogen. Während für die Reproduktion einer Gesellschaft die Pole dieser drei Verhältnisse aufeinander abgestimmt sein müssen, um Krisen und sozial bedingtes Leiden zu vermeiden, was ein hohes Maß der Integration und politischen Gestaltung erfordert, erscheinen sie im Kapitalismus als voneinander relativ unabhängig, getrennt, nur indirekt vermittelt. So erfolgt beispielsweise der gesellschaftliche Stoffwechsel nur vermittelt über Geld, Hunger reicht nicht aus um zu Nahrung zu kommen.

Diese Ebenen hat McClintock (2010) differenziert, um die potenzielle Rolle von urbanen Gärten für emanzipative Veränderungen zu analysieren. Wir wollen im Folgenden darauf Bezug nehmen, um die Frage systematischer diskutieren zu können, inwieweit urbane Gärten einen Beitrag zu Ernährungssouveränität leisten.

Die erste Ebene betrifft das ökologische Verhältnis, also das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur. Dieses Verhältnis ist von einer Spaltung im ökologischen Stoffwechsel gekennzeichnet, die in der unzureichenden Rezyklierung von Nährstoffen zum Ausdruck kommt. Es wird mehr entnommen, als dem Boden rückgeführt wird.

Zweitens handelt es sich um eine Spaltung zwischen den Produzierenden und den Produktionsmitteln, die das soziale Basisverhältnis der kapitalistischen Produktionsweise konstituiert, die Lohnarbeit. Menschen müssen sich als Ware Arbeitskraft verdingen, sich den Eigentümern der Produktionsmittel verkaufen, um zu ihren Konsummitteln zu gelangen. An ihrem historischen Anfang steht die Enteignung der Bäuerinnen und Bauern vom Land, die Entstehung des Proletariats.

Drittens reproduziert die kapitalistisch geprägte Gesellschaft eine Spaltung im kognitiven und psychischen Bezug zwischen dem Individuum und seiner Umwelt, was sich etwa als fehlende Beziehung zur Natur äußert. Menschen erleben sich als von der Natur radikal getrennt (McClintock 2010).

Alle drei Spaltungen stehen in engem historischem Zusammenhang mit der Trennung zwischen Stadt und Land im Sinn einer essenzialisierenden, scheinbar natürlich-zwangsläufigen Dichotomisierung. Tatsächlich führte erst die Enteignung der ländlichen Bevölkerung zum Anschwellen der Städte, was seinerseits die Voraussetzungen für die fortwährende Intensivierung von Herrschafts- und Produktionstechniken schuf. Dies leistete weiteren Enteignungen Vorschub, zum Beispiel durch die Mechanisierung, die auf einer Fossilisierung der Landwirtschaft beruhte. Zugleich erlaubte die daraus resultierende Intensivierung der Landwirtschaft eine Vergrößerung des relativen Mehrwerts und damit eine immer weiter expandierende Akkumulation des Kapitals, die Landwirtschaft und Lebensmittelsystem in der Folge ebenso immer weiter umgestaltet, wie es die Städte expandieren lässt.

Natur und Gesellschaft

Das urbane Wachstum treibt die ökologische Spaltung stetig voran. Die Städte fungieren als Nährstoffsenken, die dem Land die Bestandteile der natürlichen Bodenfruchtbarkeit entziehen. Dies kann nach Maßgabe der durch die Stadt freigesetzten, durchaus ambivalenten, weil ökologisch und sozial teilweise bedenklichen Produktivkräfte in gewissem Maße kompensiert werden, vor allem durch die Anwendung erdölbasierten, synthetischen Düngers. Das Beispiel des Phosphors zeigt allerdings, dass dies nicht alle Probleme der ökologischen Spaltung im kapitalistischen Rahmen löst, denn gerade die Phosphorverfügbarkeit droht zu einer ernstlichen Limitierung der Produktionspotenziale der Landwirtschaft bereits im ersten Viertel dieses Jahrhunderts zu werden (Zittel 2013a). Dazu kommt, dass im Zuge des Peak Oil und Gas, der Erschöpfung der billigen und beliebig steigerbaren Erdöl- und Erdgasförderung, voraussichtlich auch die fossile Basis der Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft erodieren wird (Zittel 2013b, Exner 2013a).

Produzierende und Produktionsmittel

Die zweite Art der Spaltung, die Mc Clintock beschreibt - jene zwischen Produzierenden und Produktionsmitteln - ist kein historisch abgeschlossener Prozess einer nur "ursprünglichen" Akkumulation, sondern muss immer wieder neu hergestellt werden. Dies verläuft unter Widerständen, es formieren sich Protestbewegungen und es kommt immer wieder auch zu Versuchen, genossenschaftliche Formen der Produktion, die auf selbstbestimmten Strukturen beruhen, zu organisieren. Auch führt die Kapitalisierung der Produktion paradoxerweise selbst nicht nur zu einem Anwachsen von Konkurrenz, sondern zugleich zu einer immer stärkeren Integration von wirtschaftlichen Sektoren und einer zunehmend kooperativen Orientierung der lebendigen Arbeit (worauf Begriffe wie jener der "emotionalen Intelligenz", der "affektiven Arbeit" oder der "Teamkompetenz" und des "sozialen Netzwerks" verweisen).

Derartige soziale Bewegungen und Unruhen beginnen insbesondere die Stadt als sozialen Raum eines immer wieder erneuerten Widerstands gegen das Kapital zu gebrauchen und zu entwickeln, wie die Beispiele der sozialen Umwälzungen im Gefolge der Ereignisse von 1968 ebenso wie der heute rasch zunehmenden riots weltweit zeigen, die beide in der Stadt zentriert sind. Soziale Bewegungen und Initiativen beginnen zudem, die Stadt als mögliche Verkörperung einer neuen Art der Vergesellschaftung zu begreifen, als eine Art kollektiven Gutes, das sich den Trennungen des Privateigentums teilweise entzieht. Die Stadt als solche ist aus dieser Perspektive ein Gemeinschaftsprodukt und eine allgemeine Reproduktions- und Produktionsgrundlage. Individuelle Beiträge zur Produktion des Gutes "Stadt" können nicht oder nur willkürlich festgemacht werden - was alle produzieren, sollte auch allen gehören, so lautet folglich eine Überlegung im Rahmen von Debatten um ein "Recht auf Stadt" oder die Bedeutung von Commons.

Natur und die Psyche des Individuums

Die kognitive und psychische Spaltung zwischen Individuum und Umwelt, die sich in der städtischen Lebensweise konzentriert, als dritte Art der Spaltung, führt zu wiederkehrenden ökologisch orientierten sozialen Bewegungen, die vor allem aus urbanen Milieus heraus erwachsen. Sie versuchen eine neue Art von Naturverhältnis zu entwickeln und zu etablieren. Dabei spielen die Mittel der Pädagogik und des Lernens in der Praxis eines veränderten Naturumgangs eine große Rolle.

Vor diesem Hintergrund wollen wir nun fragen, was Ernährungssouveränität im urbanen Raum bedeuten kann, und welche Praxen auf Entwicklungen in Richtung einer solche Perspektive deuten. Solche Überlegungen werden in letzter Zeit in Österreich unter den Vorzeichen der Ernährungssouveränität vermehrt diskutiert. Das gilt für das wachsende Interesse an Foodcoops ebenso wie für Debatten um urbanes Gärtnern. Daran anschließend wollen wir nun der Frage im Folgenden weiter nachgehen, was Ernährungssouveränität bedeutet, wenn sie nicht allein auf den Staat als Gesetzgeber bezogen gedacht wird, wenn eins nicht die Trennung zwischen Produzierenden und Konsumierenden durch den Lebensmittelmarkt voraussetzt (sondern diese hinterfragt), und wenn sie nicht auf das klassenpolitische Anliegen einer bestimmten Produzierendengruppe (die Kleinbäuerinnen und -bauern) verengt wird.

Diese Frage eröffnet zunächst einmal einen neuen Kreis von Diskussionen und Betrachtungsweisen, den wir hier nur anreißen. Gegenwärtige städtische Initiativen und soziale Bewegungen bieten freilich einige Anknüpfungspunkte dafür. Zum einen den politischen Aktivismus von Gruppen, die zu Ernährungssouveränität Positionen entwickeln und Aufklärung betreiben. Zum anderen aber Ansätze praktischer Transformation des Ernährungssystems, wie sie in Projekten von Community Supported Agriculture (CSA) (dazu Exner 2013b) zum Ausdruck kommt, aber, und das wird unser Fokus sein, auch in Beispielen urbanen Gärtnerns.

Urbanes Gärtnern: ein Königsweg zur Ernährungssouveränität für Städterinnen und Städter?

In Bezug auf urbane Räume erscheint das Gärtnern in der Stadt zunächst fast als eine Art von Königsweg der Ernährungssouveränität: Die Trennung zwischen Produzierenden und Konsumierenden wird hier ganz aufgehoben, Städterinnen und Städter erhalten die Möglichkeit, sich ihre Lebensmittelversorgung unmittelbar selbst zu gestalten und werden dadurch "unabhängig(er) von einer Versorgung durch den Markt oder andere Institutionen", wie Andrea Heistinger betont: "Diese Dimension der Gärten verweist auf Eigenständigkeit und Souveränität der Gärtnerinnen und Gärtner" (Heistinger 2011: 309). Ihr zufolge sind Gärten zudem unter Verwendung einfacher Mittel und Methoden "auf kleinstem Raum hochproduktiv" und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung von Ernährungssouveränität (a.a.O.).

Auch ein Großteil der Prinzipien der Ernährungssouveränität, wie sie am Nyéléni-Forum 2007 definiert wurden, scheint auf den ersten Blick in den Gärten Verwirklichung zu finden: Lebensmittel werden hier grundsätzlich nicht als Ware behandelt (1. Prinzip), lokale Produktionssysteme werden etabliert (3. Prinzip), die lokale Kontrolle über die Lebensmittelherstellung und die dafür notwendigen Ressourcen zunehmend gestärkt (4. Prinzip), der lokale Aufbau von entsprechendem Wissen und Fertigkeiten vorangetrieben (5. Prinzip) und schließlich auch die "Arbeit mit der Natur" (6. Prinzip) gefördert, da die Stadtgärten größtenteils nach den Prinzipien ökologischen Landbaus bewirtschaftet werden.

So scheint es nicht weiter verwunderlich, dass Aspekte der Ernährungssouveränität auch im Diskurs zu Urban Gardening eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Der Soziologin Christa Müller zufolge wird Gemüseanbau in den Stadtgärten im Fahrwasser der globalen Nahrungsmittel- und Ressourcenkrise(n) Ausgangspunkt politischen Handelns für jene, die den ungehinderten und ungenierten Zugriff auf die Ressourcen der Welt in Frage stellen und praktisch zeigen wollen, wie Lebensmittelproduktion besser funktionieren könnte. Zudem sind die neuen Gärten nach Müller auch Ausdruck postmoderner Ethiken: Gerade die jüngere Generation wolle nicht: mehr von neokolonialen Verhältnissen profitieren (z.B. eben auch in Hinblick auf ihre Lebensmittelversorgung) und greife daher auf verschiedenste Praktiken des Selbermachens zurück. Schließlich sieht Müller ein neues Selbstverständnis von Stadt und Urbanität in Entstehung begriffen, das sich anhand der urbanen Gärten zeigt - wobei das Verhältnis von Kultur und Natur neu verhandelt und "vergesellschaftet" werde. (Müller 2011: 22 ff.) H

Teil II erscheint in Streifzüge 62



Literatur

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Akram-Lodi, A. H. (2013): How to Build Food Sovereignty. Food Sovereignty: A Critical Dialogue, International Conference Yale University, Sept. 14-15, 2013, Conference Paper No. 15.

Attac Österreich (2011): Ernährungssouveränität, Positionspapier, Juli 2011.

Choplin, G.; Strickner, A.; Trouvé, A. (2011): Ernährungssouveränität. Für eine andere Agrar- und Lebensmittelpolitik in Europa, Mandelbaum-Verlag, Wien.

Clendenning, J.; Dressler, W. (2013): Between empty lots and open pots: understanding the rise of urban food movements in the USA. Food Sovereignty: A Critical Dialogue. International Conference Yale University, Sept. 14-15, 2013, Conference Paper No. 48, Lefebvre, H. (1991): The Production of Space, Blackwell Publishing.

Exner, A. (2013a): The new land grab at the frontiers of the fossil energy regime, in: Exner, A.; Zittel, W.; Fleissner, P.; Kranzl, L. (Hg., 2013): Land and Resource Scarcity. Capitalism, Struggle and Well-being in a World without Fossil Fuels, Routledge, London: 119-162.

Exner, A. (2013b): Wem gehört der Acker? Gemeinsame Produktionsmittel als notwendige Erweiterung von CSA: für eine Solidarische Landwirtschaft, in: Grundrisse 48.

Figueroa, M. (2013): Food Sovereignty in Everyday Life: A People-Centered Approach to Food Systems. Food Sovereignty: A Critical Dialogue. International Conference Yale University, Sept. 14-15, 2013, Conference Paper No. 44.

Franco, J.C.; Borras, S.M. (2012): A "Land Sovereignty Alternative"? Toward a Peoples' Counter-Enclosure. TNI Agrarian Justice Program, Discussion Paper.

GBW, Grüne Bildungswerkstatt Wien (2011): Die Zeit ist reif für Ernährungssouveränität!

Heistinger, A. (2011): Leben von Gärten. Warum urbane Gärten wichtig sind für Ernährungssouveränität, Eigenmacht und Sortenvielfalt, in: Müller, C. (Hg.): Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt, oekom-Verlag: 305-318.

Kloppenburg, J. (2010): Impeding Dispossession, Enabling Repossession: Biological Open Source and the Recovery of Seed Sovereignty, Journal of Agrarian Change (July 2010), 10 (3): 367-388.

Lefebvre, H. (1991): The Production of Space. Blackwell Publishing.

Martínez-Torres, M.E.; Rosset, P.M. (2010): La Vía Campesina: the birth and evolution of a transnational social movement, Journal of Peasant Studies, 37 (1): 149-175.

McClintock, N. (2010): Why farm the city? Theorizing urban agriculture through a lens of metabolic rift. Cambridge Journal of Regions, Economy and Society 2010, 3, 191-207.

McMichael, P. (2008): Peasants Make Their Own History, But Not Just As They Please... Journal of Agrarian Change, Vol. 8 Nos. 2 and 3, April and July 2008, 205-228.

Spoor, M.; Mamonova, N.; Visser, O.; Nikulin, A. (2013): Food Security in a Sovereign State and "Quiet Food Sovereignty" of an Insecure Population: The Case of Post-Soviet Russia. Food Sovereignty: A Critical Dialogue, International Conference Yale University, Sept. 14-15, 2013, Conference Paper No. 28.

Zittel, W. (2013a): The stuff of the green revolution: nitrogen, potassium and phosphate, in: Exner, A.; Zittel, W.; Fleissner, P.; Kranzl, L. (Hg., 2013): Land and Resource Scarcity. Capitalism, Struggle and Well-being in a World without Fossil Fuels. Routledge, London: 46-53.

Zittel, W. (2013b): The end of the black epoch: fossil fuel peaks, in: Exner, A.; Zittel, W.; Fleissner, P.; Kranzl, L. (Hg., 2013): Land and Resource Scarcity. Capitalism, Struggle and Well-being in a World without Fossil Fuels, Routledge, London: 30-45.

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Immaterial World

Das motivierte Leben

von Stefan Meretz

Ein gutes Leben ist eines, das wir voller Energie und Schöpfungskraft führen können, eines, das uns die Entfaltung unserer Individualität ermöglicht. Ein Leben voller Motivation. Doch wie geht ein "Leben Voller Motivation"? Ist Motivation eine Individualtechnik, die jede und jeder erlernen kann? Wie kann ich mich selbst motivieren? So oder ähnlich fragt es uns aus den Ratgeber-Büchern und bunten Blättern heraus, so grundfalsch und so ideologisch.

Traditionell wird Motivation als individueller Antrieb zur Erreichung von Zielen gefasst. In dieser Sicht steht das Individuum der von ihm getrennten Gesellschaft gegenüber, und bei der Frage, wo die Ziele herkommen, wird bestenfalls unterschieden zwischen "von innen" ("intrinsisch") und "von außen" ("extrinsisch"). Doch als gesellschaftliche Wesen leben Menschen nicht in zwei Welten, sondern die Trennung in "privat" und "öffentlich", in "individuell" und "gesellschaftlich" ist eine historische Besonderheit der Sphärenspaltung der bürgerlichen Gesellschaft. Vermeintlich bloß individuelle Antriebe sind tatsächlich stets gesellschaftlich vermittelt. Die gesellschaftliche Art und Weise der vorsorgenden Herstellung der Lebensbedingungen setzt die allgemeinen Ziele des Handelns, dessen Teilziele die individuellen Ziele sind.

Für einen angemesseneren Begriff der Motivation sind drei Ebenen der Vermittlung in den Blick zu nehmen. Auf der allgemeinsten Ebene geht es erstens um die Frage, ob und wie die gesellschaftliche Vorsorge und die eigene Existenzsicherung zusammenhängen. Zwar ist die Gesellschaft grundsätzlich nichts anderes als eine Vorsorge-Einrichtung zur Absicherung der je individuellen Existenz, doch die aktuelle gesellschaftliche Form schließt durchaus Menschen aus diesem Zusammenhang mehr oder minder aus.

Zweitens muss dieser Zusammenhang auch prinzipiell gedacht werden können, muss also in den gesellschaftlichen Denkformen enthalten sein. Das ist nicht so trivial, wie es sich anhören mag. Als historisch der gesellschaftliche Vorsorgemodus von der Abgabe des Zehnten bei herrschaftlich gewährtem Schutz zum Verkauf von Produkten und Arbeitskraft auf dem Markt wechselte, musste diese neue Form auch allgemein denkbar werden, sprich ideologisch gerechtfertigt und praktisch durchgesetzt werden.

Drittens muss diese prinzipielle Denk- und Machbarkeit auch individuell nachvollzogen werden. Die gesellschaftlichen Denkformen und ideologischen Angebote müssen durch jede und jeden hindurch, und mehr noch: Sie müssen aktiv im Handeln reproduziert werden. Das Kaufen und Verkaufen erscheint heute als das Selbstverständlichste von der Welt, kaum jemand kann Abweichendes denken und tun.

Fallen also Praxis und Denken zusammen und sind die individuellen Handlungen Teil des gesellschaftlichen Handelns, dann können sie auch motiviert ausgeführt werden. In den Boomzeiten des Kapitalismus Mitte des letzten Jahrhunderts zeigte sich dies etwa als Aufbruchs- und Aufbaustimmung.

Mit der Multi-Krise des Kapitalismus ist der beschriebene Vermittlungszusammenhang auf allen drei Ebenen prekär geworden. Der Kapitalismus verspricht heute nicht mehr, die gesellschaftliche Vorsorge leisten zu können. So verweisen die innere Auszehrung der Verwertung von Arbeit wie auch die Ressourcenkrisen ("Peak-Everything") auf prinzipielle Schranken der systemischen Selbsterhaltung des Kapitalismus. Es könnte auch alles zusammenbrechen - so ein verbreitetes Gefühl, das nicht trügt.

Die immanenten Probleme werden zwar auch gesehen, doch es gibt (fast) keine gesellschaftlichen Denkformen, die einen Ausweg versprechen. Die Standardantworten sind nicht haltbar: Mehr Wachstum zur Kompensation des Effekts der Auszehrung der Arbeit konterkariert die Notwendigkeit der Minimierung des Ressourcenverbrauchs, und tatsächlich reduzierter Ressourcenverbrauch ist nur während einer Krise beobachtbar, die für die Menschen gravierende soziale Folgen hat. Kurz: Der Kapitalismus hat für seine eigene langfristige Reproduktion keine Perspektive.

Dies hat individuell zur Folge, dass die Abspaltung des individuellen vom gesellschaftlichen Handeln noch weiter zugespitzt werden muss. Zwar gibt es gesellschaftlich kaum Hoffnung auf Besserung, aber individuell brauche ich etwa einen Job, um über die Runden zu kommen. Solche Tätigkeiten kann ich dann aber häufig nicht mehr motiviert ausführen, sondern muss mich dazu zwingen. Die Ratgeber-Literatur handelt also nicht vom Sich-selbst-Motivieren, sondern vom Sich-selbst-Zwingen - mit der perfiden Konsequenz, dass jeder Misserfolg des Selbstzwangs ausschließlich sich selbst anzulasten ist. Eine Falle mit nicht selten pathologischen Folgen.

Kann es dann überhaupt noch motiviertes Handeln geben? Anders gefragt: Wie können die drei Vermittlungsebenen der gesellschaftlich-individuellen Motivation wieder greifen? Dies ist dann möglich, wenn erstens eine gesellschaftliche Form die individuelle Vorsorge für alle Menschen auf Dauer gewährleistet, zweitens diese Gesellschaft auch allgemein denkbar wird und drittens diese prinzipielle Denkmöglichkeit auch individuell nachvollziehbar und zur Grundlage des individuellen Handeln gemacht werden kann. Die zugespitzte These lautet also: Motiviert kann sein, wer die freie Gesellschaft antizipieren kann und sich dafür einsetzt. Damit wird auch verständlich, warum jede Anti-Haltung so unattraktiv ist. Ein "so nicht" hat schlicht keine motivierende Kraft. Es ist zwar notwendig, fühlt sich aber nicht wirklich gut oder ausreichend an.

Wenn gesellschaftliche Ziele und individuelle Existenz auseinanderfallen und eine produktive Teilhabe damit motivational problematisch wird, dann kann es motivierend sein, eben jene gesellschaftlichen Ziele so zu verändern, dass eine neue Weise der gesellschaftlichen Vorsorge etabliert wird. Die Veränderung muss sowohl denkbar wie auch machbar sein, und sie muss heute beginnen. Dies geht gewiss nur ansatzweise, keimförmig (vgl. die letzte Ausgabe der Streifzüge), doch die Ziele der Veränderung bestimmen wir selbst. Die lebensbejahende Motivation eines guten Lebens erwächst aus dem Leben für ein gutes Leben.

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Know-how für den Umbau

Harald Welzer und die Stiftung FUTURZWEI

von Peter Klein

Aus der Masse der Publizisten und Wissenschaftler, die sich dafür verantwortlich fühlen, dass die Erwärmung der Erdatmosphäre in den kommenden Jahrzehnten nicht noch weiter zunimmt, die Polkappen nicht noch weiter abschmelzen, der Meeresspiegel nicht noch weiter ansteigt und die Weltmeere nicht noch weiter Versauern, sticht Harald Welzer dadurch hervor, dass er sich als politischer Aktivist versteht, der dem Anliegen des Klimaschutzes mit einer praktisch orientierten Bewegung zu Hilfe kommen will. 40 Jahre "Aufklärung über Umweltschutz, Klimaschutz, Nachhaltigkeit usw." hätten den immer noch weiter zunehmenden "Ressourcen- und Umweltverbrauch" nicht verhindert, schreibt Welzer in der Einleitung zum "Zukunftsalmanach 2013" (Welzer/Rammler, S. 21). Das sei ein deutliches Indiz dafür, dass wir uns von der offiziellen Politik, die durch vielerlei Rücksichten an die "fossilen Industrien" gebunden sei, in Sachen Umsteuern nicht allzu viel erwarten dürften. Wer einsichtig ist, kann und muss selbst damit anfangen, sein Leben zu ändern - in Opposition zum Mainstream der "Politikerpolitik".

Praktisch orientierte Aufklärung

Nach wie vor geht es Welzer um Aufklärung, aber um eine, die mit verbesserten psychologischen Methoden arbeitet. Welzer ist nämlich Sozialpsychologe, und deshalb weiß er, dass die Menschen sich in ihrem alltäglichen Verhalten nicht von historischen Perspektiven leiten lassen, auch nicht von Szenarien, die Wissenschaftler für das Klima in 30 oder 50 Jahren entworfen haben. Die Menschen leben vielmehr unter je gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen - Produktionsverhältnissen, sollte man vielleicht ergänzen -, und ihre täglichen Entscheidungen finden in diesem Rahmen statt, der ihnen qua Gewöhnung und Erfahrung auch die aktuell geltenden Wertmaßstäbe liefert, die Kriterien für richtig und falsch, für Erfolg oder Misserfolg.

Da das gute Leben heute allein an den Geldbeträgen zu hängen scheint, über die jemand verfügt, haben die Menschen der westlichen Konsumgesellschaft den Bezug zur Natur weitgehend verloren, die realen stofflichen Voraussetzungen des Lebens sind ihnen fremd geworden. Für Prozesse des Reifens und Sich-Entwickelns haben sie keine Zeit, keinen Sinn und keine Sprache. Die "Benutzeroberfläche der Konsumgesellschaft" (S. 24) suggeriert uns, dass für Geld Alles jederzeit und überall zur Verfügung steht. Welzer spricht von einer "Kultur der chronischen Verfügbarkeit von allem" (S. 16), die sich in der Erwartungshaltung des "Alles immer" niedergeschlagen habe. Sie ist das subjektive Pendant zum Wachstumsimperativ des Kapitalismus, dessen "Leitkultur des Verbrauchs und der Verschwendung" (S. 25) somit tiefe Wurzeln in der Mentalität der kapitalistisch vergesellschafteten Menschen geschlagen hat. "Konzepte von Wachstum, Mobilität, Fortschritt usw. haben sich in die kleinsten Nischen unserer Lebenswelt eingenistet und stellen einen festen Bestandteil unseres mentalen und emotionalen Haushalts dar." (S. 34)

Um dieser Mentalität möglichst alltagsnah entgegenzutreten, mit einer Bewegung, in der die Ideen für einen anderen, ressourcenschonenden Lebensstil praktisch umgesetzt und erfahrbar gemacht werden, hat Welzer die Stiftung FUTURZWEI ins Leben gerufen. Die Beispiele für energetisches Umdenken, die in dem 2012 erstmals erschienenen "Zukunftsalmanach" der Stiftung versammelt sind, sind dementsprechend so gewählt, dass sie zur Nachahmung geeignet sind und dazu auch einladen. "Propaganda der Tat" wurde das in früheren Zeiten genannt. Welzer und seinen Mitstreitern geht es darum, das Thema Klima- und Ressourcenschonung aus der Ecke der bloß negativen Nachrichten, in der uns berufsmäßige Warner und Mahner mit Bildern der bevorstehenden Apokalypse versorgen, herauszumanövrieren. Das ressourcenschonende Leben läuft auf ein Weniger hinaus: weniger Autos, weniger Fernreisen, weniger Stromverbrauch; aber dieses Weniger hat nichts mit Verzicht im Sinne verhärmter Askese zu tun. Die Stiftung Futurzwei stellt die Sache positiv dar. Sie will zum Mitmachen anstiften - zum Mitmachen bei einer "Kulturrevolution des Alltags", die uns lehrt, dass es "Formen von Gemeinschaftlichkeit" geben kann, "die Sinn und Bedeutung anders definieren als allein über Konsum" (S. 14), dass die ressourcenschonende Gestaltung des Lebens Spaß machen und einen Gewinn an Lebensqualität darstellen kann. "Es bedeutet ja nicht Verzicht, wenn man aufhört, sich seinen mentalen und physischen Bewegungsraum mit Produkten vollzustellen, die man nicht braucht, und wenn man aufhört, Sinnbedürfnisse durch Kaufen zu befriedigen." (S. 44)

Die Projekte und Initiativen, die in den 72 Beiträgen vorgestellt werden - vom Pilzezüchten auf Kaffeesatz über das urban gardening auf dem ehemaligen Flughafen Berlin Tempelhof, die von Umweltrebellen betriebenen Elektrizitätswerke Schönau, die ampel- und verkehrsschildfreie Kleinstadt Bohmte bis zur Kanaren-Insel El Hierro, die mit ihren 10.000 Einwohnern komplett auf Elektroautos umsteigt, die mit Solar- und Windstrom laufen sollen -, werden in diesem Sinne als "Geschichten des Gelingens" präsentiert.

Was an diesen Geschichten freilich befremdlich ist, jedenfalls für den Kapitalismuskritiker, ist der Umstand, dass darin neben einigen wenigen prekären Existenzen (z.B. Langzeitarbeitslose in einer Schweizer Kleinstadt, die mit einem Fahrrad-Lieferdienst für schwere Einkäufe den städtischen Autoverkehr reduzieren helfen) vor allem Unternehmen und einzelne Unternehmerpersönlichkeiten vorgestellt werden. Etwa der "grüne Unternehmer" Gunter Pauli, der mit "Zero Emission?"-Technologie "weltweit Millionen von Arbeitsplätzen" schaffen will (S. 257f), oder der ähnlich ambitionierte "Ex-Topmanager" Klaus Wiegandt, der unter der Überschrift "Der harte Hund" als Herausgeber einer Buchreihe zur Nachhaltigkeit gerühmt wird (S. 230). Bei den unkonventionellen Ideen, die der "Transformation von der ressourcenübernutzenden zur achtsamen Gesellschaft" (S. 33) dienen sollen, handelt es sich ganz überwiegend um "Geschäftsmodelle", bei denen das Gelingen nicht nur im Lösen technischer oder organisatorischer Probleme besteht, sondern auch in dem Nachweis, dass sie sich "rechnen". Die Zahl der Beschäftigten, die den Vorteil genießen, ihr Geld mit gutem Gewissen - der Erde und den nachfolgenden Generationen gegenüber - zu verdienen, wird in vielen der Beiträge akribisch genau vermerkt. Besonders erfolgreich ist hier die waldreiche Gemeinde Güssing im österreichischen Burgenland, die mit billiger Öko-Energie eine Reihe von Industriebetrieben anlocken konnte: "1500 neue Jobs sind entstanden, dazu ein Hotel für die vielen Touristen aus aller Welt, welche die erneuerbaren Energieanlagen besichtigen wollen. Güssings Steuereinnahmen haben sich mehr als verdreifacht, die Arbeitslosenrate sank um zwei Drittel." (S. 65) Angesichts solcher Beispiele ist die Versuchung groß, den reichlichen Gebrauch der Transformations-Vokabel in die Kategorie "Viel Lärm um nichts" einzuordnen - und den Zukunftsalmanach als eine weitere Version des altgrünen Projekts der "Versöhnung von Ökologie und (kapitalistischer) Ökonomie" beiseitezulegen.

Dialektik der ökologischen Aufklärung

Es gibt jedoch einige Überlegungen, die gegen eine derart schroffe Abkehr sprechen. Die Zukunft beginnt bekanntlich in der Gegenwart, und wer heute einen praktischen Schritt in die richtige Richtung tun will, muss dafür mit den vorhandenen Menschen vorliebnehmen, mit solchen eben, die im Rahmen der vorhandenen Produktionsverhältnisse sozialisiert worden sind. Änderungen in der historischen Großwetterlage haben sich seit jeher zunächst bei den führenden Schichten bemerkbar gemacht. Hier finden sich am ehesten jene Muße und jenes Wissen, die es Einzelnen, nämlich "den achtsamen und vorausschauenden Personen aus den wirtschaftlichen und akademischen Eliten" (Leggewie/Welzer, S. 148), möglich machen, über den Alltag hinauszuschauen und das gesellschaftliche System als Ganzes in den Blick zu nehmen. Dass sie dabei die eingespielten Begriffe Verwenden und die Zukunft sich nicht ohne ihresgleichen vorstellen können, sollte niemanden wundern. Nicht nur die Arbeitsplätze haben es den Bewahrern der Zukunft angetan. Die Verschleuderung der natürlichen Ressourcen verstößt selbstverständlich auch gegen die Kategorie der "Generationengerechtigkeit", und das partikulare Interesse der "fossilen Industrien" ist natürlich unvereinbar mit dem Gemeinwohl- und Demokratieverständnis der Verfasser. Die hausbackenen politischen Floskeln sprechen jedoch nicht gegen den Ernst des Anlasses. An der Ambivalenz, die jeder gesellschaftlichen Reform eignet, ändert sich dadurch nichts. Wie weit Reformen ein bestehendes System stabilisieren, wie weit sie es untergraben, lässt sich nur schwer Voraussagen.

Zum Verständnis der hier waltenden Dialektik mag ein Vergleich mit der Krise des Absolutismus im 18. Jahrhundert beitragen. Bekanntlich stand der französische Adel den Ideen der Aufklärung seinerzeit durchaus aufgeschlossen gegenüber. Adelige betätigten sich als Mäzene von Aufklärern und sie befanden sich, man denke an Namen wie D'Holbach oder D'Alembert, auch selbst in den Reihen der Aufklärer. Die Organisation der Gesellschaft sollte endlich auf Prinzipien der Vernunft, nicht mehr auf eine altertümliche Idee wie Gottes Gnade gegründet werden. Ein zwingendes Argument gegen das eigene Dasein als Adel musste man darin nicht sehen. Gerade die "Vernunft", die man entwickelte, schien ja zu zeigen, dass man die privilegierte Stellung im Staate zu Recht einnahm. Man konnte sich also auf den Abendgesellschaften köstlich amüsieren über die abergläubischen Vorstellungen von einem wundertätigen Gott, die im unwissenden Volk Verbreitet waren - aber eben mit dieser Haltung, die kein Geheimnis blieb, sägte man an dem Ast, auf dem man saß: denn der wundertätige Gott hatte ja die Welt so eingerichtet, dass es Hoch und Niedrig geben musste...

Eine ähnliche Dialektik scheint mir auch im Falle der neuen, ökologischen Aufklärung angelegt zu sein. Indem sie eine hoch-notwendige Diskussion über das menschliche Maß unserer Bedürfnisse anstoßen, tragen die Klima-Aktivisten womöglich zu einer für sie ganz unerwarteten Entwicklung bei. Immer mehr Menschen könnten auf den Gedanken kommen, dass die Lohnarbeit durchaus nicht das erste aller menschlichen Bedürfnisse ist - und den Verantwortungsbewussten Unternehmern könnten die frommen Arbeitsgläubigen, für die sie herrliche, ressourcenschonende Arbeitsplätze vorgesehen haben, im Verlaufe der Entwicklung abhanden kommen. Zumal wir es ja mit einer Situation zu tun haben, bei der nicht nur die Natur durch den Kapitalismus, sondern dieser unmittelbar selbst in die Krise geraten ist. Die Substanz, auf der das System beruht, wertschaffende Arbeit, geht ihm verloren - und es entsteht eine Not an Arbeitsplätzen, die förmlich danach verlangt, in eine Tugend verwandelt zu werden. Ein Grund, den Klimaschützern bei ihrem Aufklärungswerk in den Arm zu fallen, ist das nicht. Man sollte sie nach Kräften unterstützen.

Rehabilitation der Erfahrung

Das empfiehlt sich auch deshalb, weil ja die praktischen Versuche, die sie unternehmen, durchaus dafür geeignet sind, den Weg zu einer anderen, an den stofflichen Voraussetzungen unseres Lebens orientierten Produktionsweise zu bahnen. Eine Reihe von neuen Kenntnissen und Verhaltensweisen ist dafür nötig, die erst erworben und ausprobiert werden müssen. Mit den "ewigen Wahrheiten" der bürgerlichen Revolution, die in den Vergangenen 250 Jahren dazu dienten, den freien und gleichen Marktteilnehmer herzustellen, wird eine Bewegung, die es auf die Steigerung des "Bruttoglücksprodukts" abgesehen hat (Welzer/Rammler, S. 177), nicht auskommen. Wenn das Totschlag-Argument des "Markterfolges" wegfallt, wird das Element von Versuch und Irrtum weit mehr ins Gewicht fallen als gegenwärtig. Eine Welt, die sich auf den realen Reichtum einlässt: auf die Unterschiede in den individuellen Begabungen und Geschmäckern der Menschen, auf die Unterschiede in den regionalen Gegebenheiten und Möglichkeiten, wird keine Verwendung haben für universell gültige Konzepte oder Lebensmodelle. Hier gilt es, Erfahrungen zu machen, sie miteinander zu vergleichen und ausgiebig zu diskutieren - ergebnisoffen, wie es so schön heißt. Auf den Trümmern des Kantschen Kategorischen Imperativs, der alle Menschen über den Leisten der gleichen praktischen Vernunft des freien Warenbesitzers schlug, könnte der Empirismus, den das 18. Jahrhundert mit soviel - leider verfrühtem - Optimismus begrüßte, jene theoretische Reputation zurückgewinnen, die er als platter Tatsachen-Positivismus verloren hat. Welzers Plädoyer für eine "lernende Gesellschaft", in der "neue Praktiken des Produzierens, Wirtschaftens und sozialen Umgangs" erprobt werden (S. 43), enthält so gesehen durchaus ein strategisches Moment, das über die gleichschalterische Gewalt des Kapitalismus hinausweist.

Auch die technischen Innovationen, die vorgestellt werden, etwa für Allergiker geeignete Stofffasern aus Abfall-Milch (S. 65ff) oder transportable Container, die die Abwärme von Kraftwerken speichern können, um sie an anderer Stelle wieder abzugeben (S. 71ff), sind sicher über den Tag hinaus nützlich und verwendbar. Bei einem Luxushotel, das den (Öko-) Stromverbrauch per Computer an den realen Bedarf anpasst, mit Holzpellets heizt und im Sommer kühles Grundwasser für die Temperaturregulierung verwendet (S. 152ff), sind Zweifel an der Transformations-Eignung natürlich angebracht. Man fragt sich, womit die Herrschaften, die sich hier eine Übernachtung leisten können, ihr Geld verdienen, und wie umfangreich ihr "CO2-Fußabdruck" außerhalb des Hotels ausfällt. Aber ein Haus bleibt ein Haus, und wenn das Hotel einmal von Obdachlosen in Besitz genommen wird, werden sie die mit dem Hotel gemachten Erfahrungen beim Energiesparen in der einen oder anderen Weise nützen können. Wie ja überhaupt der ganze Kapitalismus historisch gesehen insofern "nützlich" ist, als er auch jene Produktivkräfte entwickelt hat, die heute dem Verwertungsmotiv entwendet und an menschliche Bedürfnisse angepasst werden müssen. Warum sollte man einer Initiative wie der von Welzers Zukunfts-Stiftung nicht zubilligen, dass sie bei diesem Umbau- und Anpassungsvorgang eine positive Rolle spielen kann?

Eine nachhaltige Bewegung

Bei allen Illusionen und teilweise haarsträubenden Vorstellungen über die Haltbarkeit und Reformierbarkeit des Kapitalismus, sorgt dessen Krise dafür, dass, was als moralisch-politische Bewegung begann, Zulauf erhält von denjenigen, die unmittelbar von ihrer existenziellen Situation zu einer bescheidenen, sparsamen und daher ressourcenschonenden Lebensführung gedrängt werden. Mit welchen strategischen Phantasien das urban gardening auch Verbunden sein mag - als Notbehelf, mit dem sich der gröbste Hunger stillen lässt, kommt es allemal in Frage. Die in dieser Hinsicht fortgeschrittenen Griechen und Spanier haben damit bereits einschlägige Erfahrungen gesammelt. Auch Welzer hat diese Option parat, wenn er schreibt, dass die "Kumulation" der Verschiedenen Krisenphänomene eine Situation herbeizuführen verspricht, in der "sich kleinteilige Überlebensgemeinschaften aus schierer Not organisieren müssen" (S. 30).

Ökologische Vernunft plus existenzielle Notwendigkeit: Die Bewegung, die sich daraus ergibt, sollte nicht so leicht als "bloß ideologisch" abgetan werden können, wie dies bei den linken Gruppen früherer Jahrzehnte der Fall war. Und sie dürfte, da sie im wesentlichen praktisch ist und auch auf die Organisation des Alltags übergreift, einen höheren Grad an Beständigkeit aufweisen. Gruppen, die nicht nur vom kritischen Bewusstsein, sondern auch von der kritischen Lebenssituation ihrer Mitglieder zusammengehalten werden, sollten stabiler sein als solche, die sich darauf beschränken, Bekenntnisse zu einer grundlegend anderen Gesellschaftsordnung abzulegen. Die Bewegung für nachhaltiges Konsumieren und Produzieren hat somit gute Chancen, auch ihrerseits nachhaltig zu werden.

Vor allem aber sollte sie für einen Standpunkt empfänglich sein, der den Kapitalismus nicht ausgerechnet darin kritisiert, dass er zu wenig Arbeitsplätze bereitstellt. Wer sich für die stofflichen Folgen seines Tuns interessiert, wird den Gedanken nicht abwegig finden, dass die Ökonomie nicht am Prinzip der Wertverwertung, sondern an wirklichen Bedürfnissen ausgerichtet sein sollte. Zu denen zählen aber auch Muße, Spiel und Beschaulichkeit, Zeit fürs Nachdenken und Zeit für die Liebe. Wer sich auf die natürlichen Ressourcen des menschlichen Lebens besinnt, sollte auch dazu imstande sein, auf die eigene Physis Acht zu geben und das blindwütige Funktionieren im Namen abstrakter Vorgaben, das ihm von Kindheit auf antrainiert wurde, zu hinterfragen.

Welzers Initiative ist zwar nicht gegen die Grundfesten des kapitalistischen Systems gerichtet, sehr wohl aber gegen wichtige Aspekte der kapitalistisch bestimmten Lebensweise. Bei allen theoretischen Defiziten, die diesem Vor allem praktisch angelegten Vorstoß zu einer "APO 2.0" natürlich anhaften, darf man doch zuversichtlich sein, dass Viele von den Menschen, die sich hier sammeln, für das weitere Vorantreiben der Kapitalismuskritik aufgeschlossen sind.

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Literatur

Harald Welzer/Stephan Rammler (Hrsg.): Der FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2013, Bonn 2013 (Erste Aufl. Frankfurt/M. 2012).

Claus Leggewie/Harald Welzer: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, Frankfurt/M. 2011 (Erste Aufl. 2009).

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Rezens

Birgit Vanderbeke:
Das lässt sich ändern.
Piper Verlag 2012,
160 S., ca. 9 Euro

Die theoretische Arbeit an Alternativen zu Geld, Markt und Kapitalismus ist nutzlos, wenn sie nicht zu einer Praxis ohne Geld, Markt und Kapitalismus führt.

Vanderbekes 150-Seiten-Roman ist ein Lustmacher auf ein anderes Leben. Sie erzählt die Geschichte eines ungewöhnlichen Paares: einer Akademikerin, die an die Kraft der Worte glaubt, und eines deutlich jüngeren Tischlers, der an gar nichts mehr glaubt, schon gar nicht an Worte - außer daran, dass mensch anfangen muss, etwas zu ändern, wenn er oder sie findet, dass mensch so nicht weiterleben kann.

Die Ärzte und Ton, Steine, Scherben ziehen sich mit ihren Liedtexten durch das ganze Buch und mit dem darin in Musik geronnenen Trotz kämpfen sich die beiden voran: Gegen den spießigen Muff ihrer Eltern, die Nasenrümpferei der linken Schickeria, die langsam nach rechts ins Lager der Etablierten driftet, die Bürokratie dieses Landes, die ewigen Geldsorgen, die Mühsal für jeden, der in dieser Umgebung zwei Kindern den Weg ins Leben ebnen will. Sie finden Verbündete, wecken Hoffnung bei vorher Hoffnungslosen und bauen schließlich weitab der Städte auf dem Lande an ihrem Traum von einem anderen Leben - dank eines, der aus dem wohlbezahlten Leben als Programmierer aussteigt, bestens vernetzt mit anderen, die sich aufmachen in eine Welt ohne Geld, Markt und Kapitalismus.

Sie sind draußen, bewusst und selbstbewusst - als Alternative zum "allgemeinen obszönen Dada der Gewalt". So wächst in "Ilmenstett", dem Ort des Romans, die Alternative zum "Drinnen". Wer Lust hat, an diesem wunderbar geschriebenen Abenteuer teilzuhaben: Lesen, nachmachen - nach dem Motto: Ich bin nicht faul, ich bin nicht dumm, etwas Mühe und Ärger wirft mich nicht um.

M.S.

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Rückkopplungen

Hi, Hype!

von Roger Behrens

Hi, ich bin 24, weiß, männlich, untere Mittelschicht, geboren ein Stück landeinwärts von der Küste des Staates Washington. Meine Eltern besaßen eine Stereo-Kompaktanlage in gemasertem Plastikfurnier, das wie Holz aussehen sollte, und ein Box-Set mit lauter aktuellen Mainstream-Radio-Hits der Siebziger, 'Good Vibrations' auf Ronco. Da waren solche Hits drauf wie 'Tie a Yellow Ribbon' von Tony Orlando & Dawn oder Jim Croces 'Time in a Bottle'. Nach jahrelangem Betteln kauften sie mir endlich ein Blechschlagzeug mit Papp-Becken hinten aus dem Sears-Katalog. Nach kaum einer Woche bohrte meine Schwester mit dem Schraubenzieher Löcher in die Becken. Ich weinte zu 'Seasons in the Sun'.

Meine Mutter konnte irgendein Stück von Chicago auf dem Klavier spielen, den Songtitel weiß ich nicht mehr, aber die Melodie vergesse ich nie. Meine Tante schenkte mir eine blaue hawaiianische Slide-Guitar und einen Verstärker zum siebten Geburtstag.

In diesen ersten prägenden Jahren hatte sie mir auch die ersten drei Beatles-LPS geschenkt, wofür ich ewig dankbar bin, weil ich weiß, dass meine musikalische Entwicklung wahrscheinlich zum Stillstand gekommen wäre, wenn mir noch ein weiteres Jahr lang die Carpenters und Olivia Newton-John eingetrichtert worden wären.

1976 kam ich dahinter, dass die Beatles sich schon '71 getrennt hatten. Meine Eltern ließen sich scheiden, und ich zog mit meinem Dad in einen Trailer Park in einer noch kleineren Holzfäller-Community. Seine Freunde überredeten meinen Dad, dem Columbia Record Club beizutreten, und ab da trafen beinahe wöchentlich Platten an meinem Trailer ein. Hatte bis 22 eine ganz schöne Sammlung angelegt." (Kurt Cobain, "Tagebücher", hg. u. übers. V. Clara Drechsler & Harald Hellmann, Köln 2002, S. 164)

Das ist eine kurze, amerikanische Biografie, jenseits der Great Society, am Abgrund, aber noch mit einem Funken Hoffnung, nicht abzustürzen, nicht heruntergerissen zu werden vom Sog des Versagens, der dieses Leben erfasst hat - ohne dass es irgendeine Schuld gibt, irgendein Zeichen dafür, etwas getan zu haben, das diesen Sog des Versagens rechtfertigen würde, ohne irgendeinen Hinweis auf Sinn, der die ganze Misere und Verzweiflung wenn nicht begründen, so doch wenigstens erklärbar machen könnte. Es ist eine amerikanische Biografie, die nun in den frühen 1990er Jahren angekommen ist. Amerikanisch, weil bereits der erste, einleitende Hinweis auf Geschlecht und Klassenlage - "männlich, untere Mittel-Schicht" - ein beschädigtes Leben ausweist: Männlich und Mittelschicht sind keine Attribute mehr, denen ein höherer sozialideologischer Wert beigemessen werden kann; in Amerika wird das ohne politisch gemeinten Unterton ausgesprochen. "Männlich, untere Mittelschicht" - das führt geradewegs, mit dem Vater (und dieser eben auch: "männlich, untere Mittelschicht") in den Trailer Park; die Mittelschicht, die in Europa noch in Eigenheim und Reihenhaus ihre Heimat hat, landet in den USA im Wohnwagen.

Oben im Norden, landeinwärts im Bundesstaat Washington, ist es kalt. Zur Arbeitskleidung der Holzfäller gehören robuste, wärmende Flanellhemden. Sie werden typisch für die Mode des Grunge, der nun nicht mehr nur einen bestimmten (eben "dreckigen") Sound der Rockmusik bezeichnet, sondern eine Subkultur: das war nach dem durchschlagenden Erfolg von Nirvanas Song "Smells like Teen Spirit" auf dem Album "Nevermind", 1991 bei den Labels Geffen Records und Sub Pop Veröffentlicht.

Aus Grunge wurde ein Hype, die Erfindung einer ganzen Lebensweise; Seattle war die Hauptstadt - obwohl dort niemand etwas von einem Seattle-Sound, eigener Grunge-Szene, einer subkulturellen Lebensweise wusste; es war auch irgendwie egal - und das gehörte gleichwohl schon wieder zum Grunge dazu: Doug Pray hat in seiner sehenswerten Dokumentation "Hype!" von 1996 die Erfindung dieses letzten subkulturellen Spektakels nachgezeichnet; einschließlich der hübschen Episode, wo Megan Jasper von Sub Pop Records 1992 bei einem Telefoninterview mit der New York Times einen Grunge-Slang erfindet, den es tatsächlich nie gegeben hat. Das Authentische des Grunge war von Anfang an: der wahrhaftige, echte, glaubwürdige Fake - aber nicht als Persiflage des Originals, nicht als dezidierte ("kritische") Position, sondern als reine Banalität: die gleichgültige Authentizität als authentische Gleichgültigkeit.

Eben das machte den Grunge dann doch noch signifikant: Eine Gleichgültigkeit, der das postmoderne Spiel mit Zitaten und Dekonstruktion noch viel zu bedeutungssuchend und -süchtig war. 1992 wurden auf einem Konzert mit mehreren Bands vom Sub Pop Label weiße T-Shirts verteilt, auf denen ohne jeden grafischen Aufwand hinten die Bandnamen standen und vorne das Label-Logo zu sehen war, sehr klein - kaum lesbar stand da: "100 % Flanell"; das war keine Ironie, höchstens ein bisschen witzig. Grunge stand jenseits des damals gepflegten Diskurses über Moderne versus Postmoderne, weil es längst nicht mehr um Stil ging, sondern bestenfalls um Ausdruck. Pop als Stil (Lifestyle) war immer an die - mitunter verzweifelte - Sehnsucht nach Identität im emphatischen Sinne gekoppelt, "Werde, der Du bist", war das Leitmotiv. Pop als Ausdruck kündigt dieses Identitätsmodell auf: "Was ich bin, will ich nicht werden - und was ich werden will, interessiert mich nicht!"

"Load up on guns and bring your friends / It's fun to lose and to pretend / She's over-bored and self-assured / Oh no, I know a dirty word", singt Kurt Cobain zu Beginn von "Smells like Teen Spirit". Am Ende wird nur noch "a denial" wiederholt: eine Ablehnung, eine Verleugnung, eine Verweigerung etc.

In Cobains Leben hat es Entwicklung nur als "musikalische Entwicklung" gegeben; ein Ende der Geschichte drohte ihm als "ein weiteres Jahr die Carpenters und Olivia Newton-John". Dann kamen die Beatles, die sich aber zu diesem Zeitpunkt schon längst aufgelöst hatten. Geschichte besteht fortan aus unabgegoltener Vergangenheit, aus Fragmenten, die selbst keine Geschichte haben, jedenfalls nicht aus Linearität und Kontinuität.

Der 1967 geborene Kurt Cobain erschoss sich Anfang April 1994 mit einer Schrottflinte. Die Musikzeitschrift Spex titelte damals: "Der erste MTV-Tote!" Sieben Monate nach Cobains Tod erscheint das 1993 aufgenommene Nirvana-Live-Album "MTV Unplugged in New York", ein Verkaufserfolg, mit dem der Grunge-Hype nun als Nirvana-Mythos fortgesetzt wird.

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Auslauf

Tollwütiges Wesen

von Franz Schandl

Die Wirtschaft ist ein tollwütiges Wesen. Auf dem Markt geht es nicht um Versorgung, sondern um Geschäfte. Es herrscht Konkurrenz und Disziplin, Autorität und Kommando, Feindschaft und Misstrauen, Eroberung und Zerstörung, Ausbeutung und Drangsalierung. Medium ist das Geld, ein freies Mittel, das die einen frei macht und die anderen frei setzt. Auf jeden Fall hält es alle Gesellschaftsmitglieder derart auf Trab, dass ihnen nur die Unterwerfung als praktizierbare Möglichkeit erscheint. Da das Kapital in seinen Entscheidungen immer flinker werden muss, soll auch der Zugriff auf die Lebenszeit der Beschäftigten kein beschränkter sein, sondern ein rigoroser. Alle gesetzlichen Normierungen sind da ein Gräuel, "Arbeitsbereitschaft total" ist angesagt.

Nun wollen die Unternehmer die tägliche Normalarbeitszeit von zehn auf bis zwölf Stunden ausdehnen. Ganz banal geht es auch darum, Überstunden als Regelstunden entlohnen zu können, um Kosten zu sparen. Die Gewerkschaft ist nicht prinzipiell dagegen, sie stellt bloß Bedingungen. ÖGB-Präsident Erich Foglar will dem Zwölf-Stundentag nur dann seine Zustimmung geben, wenn er mit einer sechsten Urlaubswoche für mehr als 25 Dienstjahre junktimiert wird. Einmal mehr werden die aussterbenden Regelarbeitsplatzbesitzer gegen alle Atypischen, gegen die Prekarisierten und Deklassierten ausgespielt. Wer kriegt in mittlerer Zukunft noch 25 Jahre unselbständiger Erwerbsarbeit zusammen? Eine generelle Verschlechterung wird eingetauscht gegen eine parzielle Verbesserung.

Schon vor zehn Jahren konnte man auf den Wirtschaftsseiten des Standard lesen: "Vom Arbeitnehmer wird totale Flexibilität erwartet, von der Arbeitszeit über den Arbeitsort bis hin zur Beschäftigungsform." "Der traditionelle Arbeitsvertrag der Industriegesellschaft war dadurch gekennzeichnet, dass der Arbeitnehmer dem Unternehmen den Einsatz seiner Arbeitskraft zur Verfügung stellt und das Unternehmen ihm ein sicheres Arbeitseinkommen zahlt und ihm dadurch das Risiko der Vermarktung des Produktionsergebnisses abnimmt." Damit ist nun Schluss. Der gesellschaftliche Bruch mit dem Kollektivvertrag liest sich so: "Arbeitsverträge werden zunehmend in Form von Werkverträgen oder freien Dienstverträgen individualisiert, stellen verstärkt auf das vom Einzelnen erzielte Ergebnis ab. Zudem ist Arbeit nicht mehr eine räumlich oder zeitlich vordefinierte Erwerbstätigkeit."

So ist es. Ort, Zeit, Verwendung, das alles möchte das Kapital in freier, also autoritärer Herrschaft selbst bestimmen. Und zwar ohne Widerspruch. Motto: Brauch ich dich, nutz ich dich, nutzt du mir nichts, brauch ich dich nicht. Selbstbestimmung meint Marktbestimmung. Gleich einem Zug kapitalistischer Lemminge haben wir ihm zu folgen. So können es sich die Flexibilisierten nicht selber richten, sondern werden abgerichtet entlang ökonomischer Bedürfnisse. Es gilt sich den sogenannten Sachzwängen unterzuordnen. Ob sechzehn Stunden Sklavenarbeit, zwölf Stunden Regelarbeit, acht Stunden Normalarbeit, vier Stunden Kurzarbeit oder null Stunden Arbeitslosigkeit anstehen, das entscheidet das Kapital nach seinen jeweiligen Konjunkturen. Was sich anbietet, hat angenommen zu werden. Wer nicht will, fliegt raus. Wer nicht serviert, wird abserviert.

Ja zur individuellen Flexibilität heißt Nein zur ökonomischen Flexibilisierung! Angebracht ist ein lautes Ja zur Zeitsouveränität, was bedeutet: Menschen disponieren ihr Leben nach ihren Bedürfnissen und nicht irgendwelchen Gesetzen der Wirtschaft. Von gutem Leben ist nur dann zu sprechen, wenn sich die Leute selbst gehören, nicht wenn sie der Wirtschaft hörig und willens sind. Aber genau das ist der Fall, ein Fall freilich, der nicht einmal auffallen will.

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AutorInnen

Günther Anders, 1902-1992. Philosoph. Emigrierte über Paris in die USA, lebte ab 1950 in Wien. In der Anti-Atombewegung engagiert und gegen den Vietnamkrieg. Zahlreiche philosophische und journalistische Publikationen.

Roger Behrens, u.a. Streifzüge-Kolumnist.

Albert Birson, 1953 auf dem oberösterreichischem Land, neben der Kirche aufgewachsen, mag Regierungen und sonstige Obigkeiten nicht. Lebt in Wien.

Dieter Braeg, 1940. Vom Hilfsarbeiter zum (stellv.) Betriebsratsvorsitzenden. Parteimitglied bei "Die Linke". Autor von Wilder Streik - das ist Revolution.

Lars Distelhorst, Studium der Politik-Wissenschaft, Promotion am Otto Suhr Institut der FU Berlin. Er lehrt Soziologie und Soziale Arbeit an der Hoffbauer Berufsakademie in Potsdam.

Andreas Exner, 1973. Studium der Ökologie. Gesellschaftskritischer Publizist, u.a. bei social-innovation.org aktiv.

Eva Haas, 1956. Nach beruflichen Irrwegen Ausbildung zur psychosozialen Gesundheitstrainierin, nun pensioniert. Träumt die Utopie einer geldfreien Gesellschaft.

Lukas Hengl, betreibt seit 33 Jahren ein Selbst. Als Barkeeper, Yogalehrer, Künstler und Kunstvermittler tätig.

Peter Klein, 1947. Lebt in Nürnberg; seit 1970 politisch aktiv. Autor von Die Illusion von 1917. Verheiratet, eine Tochter. "Traforat" der Streifzüge.

Karl Kollmann, lange in der Verbraucherpolitik tätig, geht nun gesellschaftspolitischen, konsum- und technikökonomischen Fragen nach. Lebt und arbeitet in der Südbahngegend.

Thomasz Konicz, 1973. Studierte u.a. Geschichte, Soziologie, Philosophie. Freierjournalist mit Schwerpunkt Osteuropa.

Stefan Meretz, u.a. Streifzüge-Kolumnist.

Robert Pfützner, Studium u.a. Geographie und Erziehungswissenschaft, bis 2013 Schulleiter der Deutschen Schule Bukarest, Lehrbeauftragter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Lehrer an der Freien Schule Pankow.

Fabian Scheidler, 1968. Studium der Theaterregie, lebt als Autor, Dramaturg, Fotokünstler und Journalist in Berlin. 2009 Gründung von Kontext TV. www.counter-images.de

Isabelle Schützenberger, 1990. Studium Intern. Entwicklung, Umwelt- und Bioressourcenmanagement, Diplomarbeit: Vom Gemeinschaften in Gemeinschaftsgärten (Univ. Wien 2014).

Hedwig Seyr, lebt in Wien und in Bratislava, wo sie siebzehn Jahre Deutsch unterrichtet hat.

Manfred Sohn, 1955. Studium der Sozialwissenschaften, Vorsitzender des Landesverbandes Niedersachsen der Partei "Die Linke", bis 2013 im Niedersächsischen Landtag.

Sowie: Lorenz Glatz, Severin Heilmann, Franz Schandl, Maria Wölflingseder, Petra Ziegler

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IMPRESSUM

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1 Jahr 21 Euro, 2 Jahre 39 Euro, 3 Jahre 54 Euro.
Probenummer gratis

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Quelle:
Streifzüge Nr. 61, Sommer 2014
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
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http://www.streifzuege.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. August 2014