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STREIFZÜGE/050: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 77, Winter 2019


Streifzüge Nummer 77, Winter 2019
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde


INHALTSVERZEICHNIS

Franz Schandl: Einlauf

Erich Ribolits: Habe Mut, dich deiner Sehnsucht nach Lust und Liebe zu besinnen! Das Ende der Utopie

Norbert Trenkle: Lizenz zum Klima-Killen.
Warum es keine "ökologische Marktwirtschaft" geben kann

Franz Schandl: Pro oder Anti?
Querschüsse zu den absolut unlustigen EU-Debatten

Ortwin Rosner: Gesamteuropäischer Großnationalismus.
Warum mir das Wort "Europa" schon bei den Ohren herauskommt

Nikolaus Dimmel: Soziales Europa? Ein Wintermärchen.
Über Kosten und Folgen der EU-Non-Social-Policy

Martin Mair: Willkommen im Arbeitslager Europa!

Tomasz Konicz: Das Ende des Westens

Lorenz Glatz: "Europa" als aktuelles Grundproblem (1)

Ilse Bindseil: Die 68er und links - Ein Rückblick

Peter Samol: Bestseller-Algorithmen

Franz Schandl: Von den Tugenden der geleiteten Freiheit.
Liberale Werte sollen wieder durch konservative ersetzt werden

Wir jedoch wollen leben!
Dezenter Aufruf zur Fütterung der Streifzüge

Kolumne
Immaterial World: Stefan Meretz

Rubrik 2000 abwärts
Maria Maria Wölflingseder (M.Wö.)

Rezension Julian Bierwirth (J.B.) zu Sascha Lobo: Realitätsschock. Zehn Lehren aus der Gegenwart

Petra Ziegler: Auslauf

*

Einlauf

von Franz Schandl

Die Frage, ob wir mehr oder weniger EU brauchen, ist so diesseitig wie wir nie sein können. Sie zeugt geradezu von schlichter Einfallslosigkeit. Es ist ein Kennzeichen unserer Gesellschaft, stets falsche Entscheidungsfragen zu stellen, um die Herrschaft der falschen Verhältnisse eindrucksvoll zu bestätigen. Das Relevante wird permanent zum Opfer der Erscheinungen, vor allem der kulturindustriell gefertigten und medial vermittelten. Da regiert die verordnete Einfalt und wer Zweifel anmeldet, ist schnell als Illiberaler, Populist, ja als Extremist, überführt. Wir sind dazu befreit, wovon wir befreit wurden.

Europa ist ein Fetisch. Wir benötigen jedoch anderes und verweigern uns diesem Diskurs, der keiner ist. Die vorliegende Nummer ist so auch einer gewissen Inkonsequenz geschuldet. Wenn alle davon reden, können auch wir nicht immer nur schweigen. So sprechen wir und hoffen, doch auch etwas zu sagen zu haben. Die Beiträge spiegeln das auf unterschiedliche Weise wider.

Auf europäischer Ebene muss man sich auf einiges gefasst machen. "Mir ist wichtig, dass es endlich mehr Hausverstand in EU gibt", sagt der Alt-, Jung- und Neukanzler der Republik dem Boulevardblatt Österreich am 12.5.2019. Wenn er nicht so süß wäre. Der amalgamierte Hausverstand tobt sich jetzt schon aus. Noch nie wurden so viele SUV verkauft wie zur Zeit. Und geflogen wurde auch noch nie so viel. Und die Transportwege der Waren werden dank Europäisierung und Globalisierung immer länger. Was ist der ökologische Einwand schon gegen die ökonomische Logik? Juhu Freihandel! Da wird der gesunde Menschenverstand regelrecht zum gemeinen. Aber Schwarz-Grün wird es gutmachen. Wetten. Österreich darf wieder mal den Prototypen ausliefern.

Wir bleiben dran ohne anzukleben.

*

Habe Mut, dich deiner Sehnsucht nach Lust und Liebe zu besinnen!
Das Ende der Utopie

von Erich Ribolits

Kritik, die heutzutage an Politik und Politikern vorgebracht wird, fokussiert im Kern nahezu immer die materiell bestimmten Lebensbedingungen der Menschen sowie ihre ungleichen Möglichkeiten, durch "Leistung" zu Wohlstand gelangen zu können. So wird häufig beklagt, dass Arbeitnehmer/innen ein "fairer" Anteil an den erreichten Produktivitätsfortschritten versagt wird, Frauen am Arbeitsmarkt in Bezug auf Entlohnung, Postenvergabe und Aufstiegsmöglichkeiten benachteiligt werden, sowie die Zugangs- und Erfolgschancen deprivierter Bevölkerungsgruppen im Bildungsbereich schlechter und damit ihre Möglichkeiten, gut dotierte Positionen zu erreichen, geringer seien. Bei all diesen und ähnlichen Themen geht es um die Tatsache, dass nicht für alle dieselben Chancen bestehen, ihre Leistungswilligkeit und Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und sich finanziell von anderen abzusetzen. Aber auch bei anderen Kritikfeldern an der gegebenen Politik stehen finanzielle Argumente und solche mangelnder sozialer Gerechtigkeit im Vordergrund. So zum Beispiel bei Fragen der Umweltpolitik oder beim Vorgehen der Politik hinsichtlich der Versuche von Menschen aus Kriegs- und Armutsregionen, in Ländern unterzukommen, wo das System der Verwertung menschlicher Arbeitskraft (noch) leidlich funktioniert: Welche kurz- oder langfristigen Folgen auf den Wohlstand schon länger Ansässiger haben getroffene Entscheidungen, wer ist davon mehr oder weniger betroffen und welche finanziellen Folgen sind überhaupt akzeptabel? Stets geht es um Geld, finanziell definierte Ungleichheit und sogenannte Leistungsgerechtigkeit.

Alles in allem bewegt sich Kritik an den vorhandenen gesellschaftlichen Umständen somit fast durchwegs im Rahmen von Vorstellungen eines gelungenen Lebens, die in den Prämissen genau dieser gesellschaftlichen Bedingungen begründet sind. Als gelungen gilt ein Leben, das durch Erfolg im Kampf aller gegen alle um eine möglichst weit vorne liegende Position in der gesellschaftlichen Rangreihe gekennzeichnet ist. Da der Konkurrenzkampf um materiell bestimmte Lebensumstände als unhinterfragbare Grundkategorie des Daseins - quasi als ein Naturgesetz - begriffen wird, kann sich Kritik letztendlich nur im Anrennen gegen verschiedene Kämpfer/innen benachteiligende Regeln desselben artikulieren. Der die gesellschaftliche Realität bis in den letzten Winkel bestimmende Existenzkampf soll durch Verändern der Rahmenbedingungen zum fairen Wettbewerb stilisiert werden, an dem alle unter gleichen Voraussetzungen teilhaben dürfen. Gefordert wird, dass die Obrigkeit - der Staat, seine Gliederungen und die ihm unterstellten Steuerungsinstanzen - das einander Niederringen der Menschen so regelt, dass zwischen ihnen formelle Chancengleichheit besteht. Ziel ist nicht das Überwinden des Zwangs, um einen attraktiven Platz in der Gesellschaft kämpfen zu müssen, sondern bloß mehr Fairness bei der Organisation dieses Kampfes. Gefordert wird letztendlich nur, dass der Not, das Leben in Konkurrenz zu anderen verdienen und Bedürfnisse nach Lust und Liebe dabei hintanstellen zu müssen, alle im gleichen Maß unterworfen sein sollen.

Herbert Marcuse charakterisierte diese Situation schon 1967 als ein "Ende der Utopie" (Marcuse 1967). In einem Vortrag meinte er damals, dass, aufgrund des zwischenzeitlich erreichten Stands der Produktivkräfte, die Möglichkeiten einer "menschlichen Gesellschaft und ihrer Umwelt, dass diese neuen Möglichkeiten nicht mehr als Fortsetzung der alten, nicht mehr im selben historischen Kontinuum vorgestellt werden können, dass sie vielmehr einen Bruch mit dem geschichtlichenKontinuum voraussetzen" (ebd.: 9). Mit dieser Aussage wollte Marcuse darauf hinweisen, dass die durch technologische Innovationen erreichten materiellen und intellektuellen Möglichkeiten ein Überschreiten der Grenzen erforderlich machen, die das herrschende Gesellschaftssystem dem Vermögen auferlegt, uns eine freie Gesellschaft vorzustellen. Wer bloß Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit einfordert, die durch systemimmanente Gegenkräfte zwar (noch) verhindert werden, im Rahmen der geltenden Ordnungsprinzipien jedoch durchaus verwirklichbar wären, bewegt sich nicht in utopischen Dimensionen. Auch die Forderung, dass die Verheißungen der aktuell gegebenen Gesellschaftsordnung - des bürgerlich-demokratischen Systems - doch (endlich) eingelöst werden mögen, weist in diesem Sinn nicht über die gegebene Ordnung hinaus. Es handelt sich dabei bloß um einen Versuch, innerhalb des vorhandenen Systems die Interessen jener durchzusetzen, die, obwohl die materiellen und intellektuellen Möglichkeiten für die Auf hebung ihrer Benachteiligung prinzipiell schon vorhanden sind, weiterhin übervorteilt werden. "Utopie ist [hingegen] ein historischer Begriff, er bezieht sich auf Projekte gesellschaftlicher Umgestaltung, die für unmöglich gehalten werden" (ebd.: 10) und sie beginnt somit erst dort, wo Sehnsüchte nach einem Zusammenleben ernstgenommen und angestrebt werden, die dem herrschenden System geschuldete Vorstellungsgrenzen von Freiheit überschreiten.

Marcuse führt aus, dass die materiellen und intellektuellen Kräfte für die Beseitigung von Armut und Elend und die Abschaffung entfremdeter Arbeit längst gegeben wären. Damit aus diesem Umstand aber eine tatsächlich "befreite Gesellschaft" erwachsen kann, wäre der Mut der Gesellschaftsmitglieder erforderlich, ihre verdrängte und als naiv und dumm charakterisierte Sehnsucht nach einem Zusammenleben wahr- und ernstzunehmen, die bisher geltende Vorstellungen von Freiheit transzendiert. Davon sind wir weit entfernt, denn - wie er ausführt - "als vitales, notwendiges Bedürfnis, besteht das Bedürfnis nach Freiheit in einem großen Teil der gleichgeschalteten Bevölkerung in den entwickelten Ländern des Kapitalismus nicht oder nicht mehr" (ebd.: 13). Und er folgert: Wenn eine derartige Sehnsucht nach Abschaffung der (entfremdeten) Arbeit - die ja die Grundlage der gegebenen Hegemonialstrukturen ist - nicht gegeben ist, "wenn im Gegenteil das Bedürfnis nach Fortsetzung der Arbeit besteht, selbst wenn diese gesellschaftlich nicht mehr notwendig ist; wenn das vitale Bedürfnis nach Freude, nach dem Glück mit guten Gewissen nicht besteht, sondern vielmehr das Bedürfnis, dass man alles nur verdienen muss [...], wenn diese vitalen Bedürfnisse nicht bestehen oder von den repressiven erstickt werden, was dann zu erwarten ist, ist nur, dass die neuen technischen Möglichkeiten in der Tat zu neuen Möglichkeiten der Repression der Herrschaft werden" (ebd.: 15).

Lust und Liebe statt Geld und Privatbesitz

Tatsächlich haben Vorstellungen eines Gemeinwesens, in dem das Zusammenleben der Menschen nicht formal, über Leistungsprinzip und Gleichheit vor dem Gesetz, sondern inhaltlich, über die Gemeinschaftlichkeit eines guten Lebens bestimmt ist, derzeit keine Konjunktur. Während gesellschaftskritische Ansätze noch bis ins 20. Jahrhundert ihre Kraft aus Visionen idealer Gemeinschaften geschöpft hatten, die in aller Regel ohne die Ansicht ausgekommen sind, dass individuelle Leistungen über materiell unterschiedliche soziale Positionen von Menschen bestimmen sollen, sind derartige Sozialutopien heute weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Im vor fast genau 500 Jahren erschienenen Initialtext für eine Reihe in den darauffolgenden Jahrhunderten entstandener Entwürfe "idealer Gemeinwesen", dem Buch "Utopia" von Thomas Morus, kommt ein Wettkampf um materiell definierte gesellschaftliche Positionen überhaupt nicht vor. Ein solcher ist auch nicht erforderlich, da Freiheit und Gleichheit nach Morus durch ökonomische Gleichstellung gesichert werden. Gleichheit der Bewohner/innen seines Inselstaates Utopia meint nicht bloß "Gleichheit vor dem Gesetz und gleiches Recht zur öffentlichen Rede, sondern, radikaler noch, gleichmäßige Verteilung des Besitz, die einen Verzicht auf Privateigentum impliziert" (Hetzel 2010: 268) - in Utopia gibt es weder Geld und Geldwirtschaft noch Privatbesitz! Morus begründet dieses Grundprinzip seines Gemeinwesens, in dem es um das glückliche Leben aller Bewohner/innen und nicht um das einzelner in Konkurrenz zu anderen geht, folgendermaßen: "[W]o es noch Privateigentum gibt, wo alle an alles das Geld als Maßstab anlegen, wird kaum jemals eine gerechte und glückliche Politik möglich sein, es sei denn, man will dort von Gerechtigkeit sprechen, wo gerade das Beste immer den Schlechtesten zufällt, oder von Glück, wo alles unter ganz wenige verteilt wird und wo es auch diesen nicht in jeder Beziehung gut geht, der Rest aber ein elendes Dasein führt." (Morus 2014: 29)

Die von Morus entworfene Vision eines Gemeinwesens steht damit in klarem Gegensatz zu den politischen Vorstellungen eines der bedeutendsten Vordenker der Aufklärung, John Locke, der mehr als ein Jahrhundert später seine Staatstheorie entwickelt hat. Im Gegensatz zu jener von Morus prägt diese allerdings bis heute äußerst nachhaltig unsere Auffassungen von Freiheit und Gleichheit und erscheint uns zwischenzeitlich schlichtweg als die vernünftigste Form das Zusammenleben zu regeln. Locke postuliert in seiner politischen Theorie, dass Menschen die Grundlage ihrer Freiheit und Gleichstellung mit anderen Freien schaffen, indem sie sich mittels Arbeit etwas von dem aneignen, was Gott den Menschen gemeinsam gegeben hat (vgl. Locke 1981: 21). Gesellschaftliche Freiheit und Gleichheit werden für ihn dementsprechend durch die Übereinkunft zwischen den Staatsbürger garantiert, per Arbeitsverausgabung Privateigentum erwerben und anhäufen zu dürfen. Die Ideen Lockes stellen die Grundlage für den, das Bewusstsein hierzulande lebender Menschen prägenden gesellschaftlichen Leistungsmythos dar - Reiche verdienen Achtung, insofern ihr Besitz auf tatsächlich erbrachter Leistung beruht. Dementsprechend wird - wie am Anfang dieses Textes schon angesprochen - der von Morus radikal abgelehnte, an Geld und Geldwirtschaft gekoppelte Besitzindividualismus selbst in kritischen Überlegungen zur herrschenden gesellschaftlichen Situation kaum je in Frage gestellt. Und dass die BewohnerUtopias "erstaunt, ja geradezu empört [waren] über das unsinnige Gebaren der Leute, die jene Reichen, denen sie nichts schuldig und denen sie nicht verpflichtet sind, aus keinem anderen Grunde, als weil sie reich sind, wie Götter anbeten [...]" (ebd.: 51), erscheint den meisten Menschen heute wohl eher irritierend.

Die in Utopia gegeben Unmöglichkeit, sich durch ein Mehr an Individualbesitz von anderen abgrenzen zu können, wird von Morus nicht ethisch-moralisch begründet. Ihm erscheint die Ächtung von Privateigentum schlichtweg unabdingbar um das von ihm entworfene Gemeinwesen zu ermöglichen, dessen oberste Maxime das glückliche Leben für alle ist. Nur weil diese Voraussetzung in Utopia erfüllt ist, hält er diesen Staat "nicht nur für den besten, sondern auch für den einzigen [...], der mit vollem Recht die Bezeichnung 'Gemeinwesen' beanspruchen darf. Wenn man nämlich anderswo von Gemeinwohl spricht, hat man überall nur sein persönliches Wohl im Auge; hier, in Utopia, dagegen, wo es kein Privateigentum gibt, kümmert man sich ernstlich nur um das Interesse der Allgemeinheit." Woanders - so führt er aus - können Individuen "trotz noch so großer Blüte des Staates" durchaus in Not geraten, wenn sie nicht permanent um ihren Vorteil kämpfen. Somit sind sie gezwungen, eher an sich und die Optimierung ihrer persönlichen Situation als an die Gemeinschaft zu denken. In Utopia dagegen, "wo alles allen gehört, ist jeder ohne Zweifel fest davon überzeugt, dass niemand etwas für seinen Privatbedarf vermissen wird, sofern nur dafür gesorgt wird, dass die staatlichen Speicher gefüllt sind. [...] Und obgleich niemand etwas besitzt, sind doch alle reich. Könnte es nämlich einen größeren Reichtum geben, als völlig frei von jeder Sorge, heiteren Sinns und ruhigen Herzens [...] und unbesorgt um den eigenen Lebensunterhalt" (Morus 2014: 84) zu leben?

Gemeinschaft statt Gesellschaft

Im Sinne des vorchristlichen Philosophen Epikur realisiert sich das gute Leben und das Glück in Utopia auf Grundlage der Prämissen, Gemeinschaftlichkeit und einer (Lebens-)Lust, die aus einem von (Existenz-)Sorgen befreiten Leben erwächst. Das an Lust orientierte Leben der Bewohner/innen Utopias steht nicht im Konflikt mit Gemeinschaftlichkeit, ganz im Gegenteil - Gemeinschaft und Lust bedingen und ergänzen einander. Morus postuliert, dass nur ein politisches Leben ein gutes Leben sein kann. Im Gegensatz zu heutigen, den Vorgaben Lockes folgenden Ansichten zeigt sich politisches Leben für Morus allerdings nicht primär im Unterworfen-Sein unter für alle gleichermaßen geltende Regeln und Gesetze, sondern in der Maxime absoluter Gemeinschaftlichkeit, die sich viele Jahre später in dem wiederfindet, was Hegel über die Liebe schreibt. Im Sinne von Hegel bedeutet Freiheit nicht, frei von einschränkenden Regeln zu sein, durch die das menschliche Zusammenleben auf rationaler Basis geordnet wird. Und Freiheit erfüllt sich für ihn auch nicht in der Möglichkeit der Durchsetzung egoistischer Wünsche und Interessen, sondern darin, die eigene Subjektivität und die aus ihr erwachsenden Wünsche zwar bejahen, sich aber dennoch den in Freundschaft oder Liebe zugeneigten Anderen hingeben zu können und deren Wünsche den eigenen gleichzusetzen. "In der Freundschaft und Liebe [...] ist man nicht einseitig in sich, sondern beschränkt sich gern in Beziehung auf ein Anderes, weiß sich aber in dieser Beschränkung, als sich selbst." (Hegel 1840: 42) Indem das Subjekt sich und das ihm innewohnende Bedürfnis nach Beziehung zu anderen Menschen bejaht und zum Ausdruck bringt, erkennt es die Fragilität seines autonomen Status und gewinnt sich genau dadurch auf höherer Ebene neu. Wird Freiheit solcherart als die "Fähigkeit zu lieben" begriffen, löst sich der scheinbare Widerspruch von Selbst- und Fremdliebe auf - die in der Lust gesuchte Selbstbestätigung und die in der Liebe erforderliche Selbstpreisgabe offenbaren sich als zwei Seiten desselben - als dialektisch verknüpfte Antipoden eines Lebens in Liebe.

In diesem Sinn haben Gesetz und (Gesellschafts-)Vertrag für das Zusammenleben der Utopier/innen auch nur untergeordnete Bedeutung. "In ihren Augen ist die Gemeinschaft der Natur so gut wie ein Bündnis und bindet die Menschen durch gegenseitiges Wohlwollen stärker und fester aneinander als durch Verträge, durch die Gesinnung stärker und fester als durch Worte." (Morus 2008: 87) Utopia ist keine Staatsform, in der Menschen auf Grundlage regelkonformen Verhaltens miteinander auskommen (müssen), sondern ein Gemeinwesen, das getragen ist von einer unserem heutigen Bewusstsein weitgehend vernunftwidrig erscheinenden Grundeinstellung der Gemeinschaftsangehörigen gegenüber Mitmenschen und natürlicher Umwelt. Morus beschreibt in Wahrheit gar keine Gesellschaft, in der das soziale Leben durch formale Regeln sichergestellt wird, sondern eine tatsächliche Gemeinschaft, in der qualitativ andere Prämissen gelten, nämlich Lust und Liebe. Damit offenbart sich der wahrhaft utopische Charakter seiner Vision menschlichen Zusammenlebens, der das utopische Moment alternativer Vernunftkonstruktionen deutlich überschreitet - das Ordnungsprinzip seines phantasierten Reiches ist "nichtvon dieser Welt", es ist im ou-to-pos, im (noch) Nicht-Ort beheimatet!

Es braucht wohl nicht ausdrücklich betont zu werden - ein derartiges nicht-hierarchisches, versöhntes Zusammenleben von Menschen mit ihrer sozialen und natürlichen Umwelt, wie es Morus entwirft, ist mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft heutiger Ausprägung genauso wenig vereinbar, wie es mit den zu seinen Lebzeiten gegebenen Gesellschaftsbedingungen war. Heute ist es nahezu unmöglich, sich dem gesellschaftlichen Postulat einer weitgehend an egoistischen Interessen ausgerichtete Lebensweise zu entziehen. Dennoch stimmt auch die auf diesen Umstand bezogene Textsequenz aus der Dreigroschenoper von Bert Brecht: "wir wären gut - anstatt so roh, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so", nur bedingt. Denn tatsächlich hört die systemische Gewalt nicht beim Zwang auf, sich den herrschenden Verhältnissen zu unterwerfen und ein Leben zu führen, das diesen entspricht. Die gesellschaftliche Ordnung nötigt Individuen nicht bloß zu einem systemgemäßen Verhalten, sie zwingt ihnen auch eine entsprechende Haltung auf. Um als vernünftiges Gesellschaftsmitglied anerkannt zu werden, gilt es, die herrschende Ordnung "zu integrieren". Es geht darum, die gesellschaftlichen Prämissen als "natürlich" anzuerkennen und sich nur innerhalb eines Verhaltensspektrums wohl zu fühlen, das mit diesen korreliert. Gesellschaftsmitglied sein, heißt niemals bloß, dem gesellschaftlichen System unterworfen zu sein, es heißt zugleich auch immer, Träger desselben zu sein. In einer Form, die an das bekannte "Stockholm Syndrom" erinnert, erwächst den Individuen aus den ihnen aufgezwungenen (Über-)Lebensbedingungen ein "Leitbild der Subjektivierung", "ein Kraftfeld, ein Sog, ein telos, nach dem die Individuen streben, ein Maßstab, an dem sie ihr Tun und Lassen beurteilen, ein tägliches Exerzitium, mit dem sie an sich arbeiten, und ein Wahrheitsgenerator, in dem sie sich selbst erkennen sollen" (Bröckling 2010: 282). Und nur wer diese Vorgaben adäquaten Bewusstseins ausreichend ausbildet und als loyaler Teilnehmer des hegemonialen Diskurses agiert, wird als vernünftiges Subjekt anerkannt.

Indem Subjekte durch das Verinnerlichen der Prämissen und Strukturen der herrschenden Ordnung entstehen, ist das allgemeine Bewusstsein bezüglich der Vorstellung, was Subjekte sind, was sie können, in welcher Weise sie sich selbst zu disziplinieren und zu formen haben und wo ihre diesbezüglichen Grenzen liegen, ein Korrelat der gegebenen Machtverhältnisse - ein Wandel der gesellschaftlichen Ordnung bedingt andere Subjekte. Mittels ihrer Bindung an das aktuell vernünftig Geltende sind Subjekte angebunden an die Machtverhältnisse und halten diese dadurch zugleich in der gegebenen Form aufrecht. Aus der Tatsache, dass Subjekte sowohl Wirkung als auch Voraussetzung der gesellschaftlichen Verhältnisse sind, erwächst allerdings auch ihr Freiheitspotential: Ihre Emanzipation von der herrschenden Ordnung beginnt mit dem Zweifel an sich selbst als eine Realisation der herrschenden Vernunft, verbunden mit dem Mut, die Anerkennung als angepasst-vernünftiges Gesellschaftselement zu riskieren.

Der pädagogische Zentralappell: Werde vernünftig!

Bildungstheoretisch begründete pädagogische Bemühungen im sogenannten aufgeklärten Zeitalter werden mit dem Ziel begründet, die Mündigkeit von Menschen fördern zu wollen. Mittels der Vermittlung von Wissen und der Befähigung, dieses sinnvoll verknüpfen zu können, soll es ihnen möglich werden, auf die, sich aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten ergebenden Anforderungen vernünftig reagieren zu können. Vernunft, und nicht bloßes, aus Glauben, unreflektierten Emotionen oder Gedankenlosigkeit gespeistes Dafürhalten sollen Haltungen und Verhalten von Menschen bestimmen. Sie sollen Subjekte werden, deren Lebensführung auf autonom gefällten, vernünftigen Entscheidungen beruht. Und sie sollen gegenüber Beeinflussungsversuchen weltanschaulicher, politischer oder sonstiger Verführer/innen, deren Macht auf dem Ausnützen der Unmündigkeit von Menschen beruht, immun werden. Letztendliches Ziel aller, dem Subtext "werde vernünftig" folgender pädagogischen Interventionen ist es, Menschen zu befähigen, die ihr Leben bestimmenden Umstände hinterfragen, und sich ihnen - falls sie diese als unvernünftig erkennen - selbstbewusst entgegenstellen und Perspektiven einer vernünftigeren Lebensgestaltung entwickeln zu können. Indem den Individuen auf diese Art zu Autonome und Kritikfähigkeit verholfen wird, soll verhindert werden, dass das Zusammenleben durch ungerechtfertigte Machtstrukturen, Hierarchien und Abhängigkeiten geprägt ist.

Sowohl die Idee, Individuen durch das Fördern ihrer Vernunft zu Autonomie zu befähigen, als auch das Ideal des demokratischen, auf der Mitbestimmung aller beruhenden Staatswesens, leiten sich aus dem Gedankengut der Aufklärung ab. Im Gefolge der in ersten Ansätzen in der Renaissance begonnenen Abkehr von derVorstellung eines schicksalhaften Ausgeliefertseins an die Vorsehung etablierte sich in der Auf klärung zunehmend die Vorstellung von einer dem Menschen innewohnenden souveränen Kraft der Selbstverwirklichung. Der Glaube an Gott als Substantialität der Wahrheit wurde genauso wie jede andere überzeitlich und ontologisch begründete Vernunftorientierung entsorgt. Stattdessen wurde das Subjekt als Souverän menschlichen Daseins inthronisiert. Es wurde postuliert, dass das Bewusstsein, ein der Welt autonom und vernünftig gegenüberstehendes Subjekt zu sein, im Menschen "von vornherein" angelegt ist und durch die herrschenden Machtverhältnisse zwar korrumpiert aber niemals völlig ausgelöscht werden kann. Das per se autonom und mit freiem Willen ausgestattet angenommene Subjekt nahm die Position ein, die in der vormodernen Metaphysik Gott innehatte, (vgl.: Klein 2005: 5). Damit wurde das Subjekt zu einer Instanz stilisiert, die aus sich selbst die Erkenntnis von Richtig und Falsch schöpfen kann. In diesem Sinn gilt es heute als ausgemacht, dass Subjekte irregeleitet und ihrer Souveränität zu einem gewissen Grad entfremdet werden können, es jedoch unmöglich ist, ihnen diese völlig zu rauben. Es ist zwar möglich, sie durch Fehlinformationen zu falschen Urteilen zu verleiten, wird ihnen korrektes Wissen zugänglich gemacht, können sie derartige Fehlurteile auf Basis ihrer Vernunftfähigkeit jedoch wieder korrigieren (vgl.: Ribolits 2015: 179ff).

Bildungsorientierte Pädagogik orientiert sich in all ihrem Bemühen am derart interpretierten Subjekt. Seitdem dieses zum omnipotenten Richter über Richtig und Falsch avanciert ist, heißt Gebildet-Sein, sich seines Status als souveräne Instanz durch fortschreitende Freisetzung der je eigenen Vernunft- und Autonomiepotentiale bewusst zu werden. Aufgabe der Pädagogik ist es demgemäß, den Wunsch nach Selbstbestimmung der sich ihrer selbst noch nicht ausreichend bewussten Subjekte zu wecken, indem sie diese zum Erwerb von Wissen sowie der Befähigung animiert, dieses in vernünftiger Form verknüpfen zu können.

Die Hoffnung, Freiheit durch die Emanzipation von "objektiven Wahrheiten" und das Setzen auf das autonome Subjekt und dessen Möglichkeit zu erlangen, das rechte Leben durch vernünftiges Abwägen von Wissen erkennen zu können, ist jedoch nicht aufgegangen. "[D]as Versprechen der Aufklärung, durch Ausübung der Vernunft die Freiheit zu gewinnen, [hat] sich in eine Herrschaft ebendieser Vernunft verkehrt [...], die immer mehr den Platz der Freiheit usurpiert". (Foucault 1996: 81) Mit der Inauguration des Subjekts als Statthalter der Vernunft hat sich deren Charakter nachhaltig verändert. Vernunft wurde ihres objektiven Gehalts einschließlich der damit verbundenen Möglichkeit beraubt, auf ihrer Grundlage ein versöhntes Verhältnis der Individuen zur Mitwelt argumentieren und entwickeln zu können. Vor der Stilisierung des Subjekts zum "Bezugspunkt allen Seins" hatte vernünftig Sein bedeutet, das Leben an Vorgaben einer der subjektiven Bewertung unzugänglichen Instanz auszurichten; die Frage nach dem guten Leben, musste ohne Rücksichtnahme auf subjektive Interessen beantwortet werden. Die danach geforderte und pädagogisch geförderte Vernunft ist dagegen untrennbar an das Subjekt und seine "Selbstinteressen" gekoppelt; in letzter Konsequenz gilt nun als vernünftig, wer zu erkennen und zu verfolgen imstande ist, was ihm nützt. Konsequenz eines derartigen Vernunftbegriffs ist, dass Vernunft zu einem Instrument der Berechnung individueller, beziehungsweise gruppenspezifischer Vor- und Nachteile regrediert ist. Vernunft hat sich von einer inhaltlich fassbaren Theorie des "guten Lebens" zu einer Kalkulationsgröße der Absicherung des (Über-)Lebens im Rahmen gesellschaftlicher Umstände gewandelt, deren Grundprinzipien mit Hilfe dieser (instrumentellen) Vernunft nicht hinterfragt werden können. Wenn kein außerhalb des Status quo befindlicher Bezugspunkt zur Beurteilung des Gegebenen vorhanden ist, kann sich Kritik nur in den Grenzen des Status quo bewegen.

Steht für die Frage, was ein "gutes Leben" sei, nur der Maßstab der instrumentellen Vernunft zur Verfügung, kann die Antwort nur das Erreichen einer vorteilhaften Position im Rahmen gegebener Möglichkeiten der Lebensgestaltung sein. Die Konsequenz daraus ist ein System menschlichen (Zusammen-)Lebens, in dem jeder alle anderen Menschen sowie die Natur - inklusive seiner eigenen - zum Mitteln der Durchsetzung seiner Interessen degradieren muss. Es ist dann eben vernünftig, alles "außerhalb seiner Selbst" als Ressource für ein als gelungen geltendes Leben zu betrachten. Letztendlich ist instrumentelle Vernunft nur ein Werkzeug der Strategie innerhalb des von ihr in Gang gesetzten und legitimierten allgemeinen Konkurrenzkampfes - ihre Bedeutung ist Cleverness. Aus einer derart verstandenen Vernunft kann keine Gegenkraft zu den gegebenen Machtverhältnissen erwachsen, ganz im Gegenteil, sie ist selbst Ausdruck der Macht, die sich im Konkurrenzdiktat äußert und eine auf den egoistischen Vorteil bedachte Lebensweise erzwingt. Entsprechend absurd ist die Erwartung, dass der pädagogische Appell zum (selbständigen) Gebrauch des je eigenen Verstandes zur Überwindung herrschender Machverhältnisse beitragen könnte. Das Entwickeln (utopischer) Vorstellungen guten Lebens, die die gegebenen Machtverhältnisse überwinden, ist ohne das Ablegen des Korsetts instrumenteller Vernunft schlichtweg nicht möglich. Utopie erfordert eine Bezugsgröße, die sich jenseits des geltenden Vernunfthorizonts befindet und allgemeine Plausibilität beanspruchen kann.

Lust und Liebe als Grundlage guten Lebens?

Die Frage ist nun, ob für das Finden einer derartigen, der empirischen Realität übergeordneten Bezugsgröße der "diesseitsfrohe Epikureismus, der [...] als äußerst unkirchlicher Himmel über Utopia [steht]" (Bloch 1967: 599), eine Hilfe darstellen kann. Kann das weiter vorne skizzierte, hedonistische Lebensprinzip der Utopier mit seiner Lust- und Gemeinschaftsorientierung jene transsubjektivistische Bezugsgröße abgeben, die eine Perspektive jenseits der herrschenden Machtverhältnisse eröffnen kann? Schließlich ist das Streben nach Lust und Nähe, im Sinne eines Verlangens nach Befriedigung körperlicher und psychischer Bedürfnisse, ein durchaus auch anderen - sogenannten "nicht vernunftbegabten" - Lebewesen innewohnender Impuls und bettet den Menschen damit in den Gesamtzusammenhang der Natur ein. Und tatsächlich hat auch kein gesellschaftliches System es jemals zustande gebracht, Menschen auf bloße, "von Begehren freie Funktionseinheiten" zu reduzieren. Allen in diese Richtung gehenden Ansätzen zum Trotz, bricht sich Lust und Liebe immer wieder Bahn. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass die Befriedigungsformen, die aus dem Impuls zur Lust in verschiedenen Zeiten erwachsen sind, in höchstem Maß mit historisch-gesellschaftlichen Bedingungen korrelierten. Insofern ist also durchaus Vorsicht geboten: Menschliches Begehren, Sehnsüchte, Emotionen, ja sogar sinnliche Körpersensation sind stets "Kinder der Zeit" und ihrer Umstände. Ein ursprüngliches, nicht gesellschaftlich formiertes Wesen des Menschen gibt es nicht. Auch die Form, in der Lust jeweils zur Geltung kommt, folgt keinem unschuldig-natürlichen Programm, sondern leitet sich stets aus den Menschen auferlegten Bedingungen des (Über-)Lebens ab.

In diesem Sinn betonten auch schon die Urheber und frühen Vertreter hedonistischer Lehren, die das gute Leben dort verwirklicht sehen, wo Freude, Lust und Genuss im Zentrum der Lebensgestaltung stehen, dass die von ihnen beworbene Lebensform nicht durch eine rücksichtslose und unreflektierte Befriedigung der Begierden nach (im fortgeschrittenen Kapitalismus durch die "Bedarfsweckungswirtschaft" animierter) Genüssen verwirklicht werden kann. Schon der erste bekannt gewordene Proponent des hedonistischen Lebensstils, der Philosoph Aristippos von Kyrene, forderte in diesem Sinn genauso wie Epikur, der die Idee rund ein Jahrhundert später weiterentwickelte, einen kritisch-reflexiven Umgang mit der Lust (vgl. Kanitscheider 2011: 22ff ). Epikur formuliert dementsprechend: "Die Lust beherrscht nicht, wer sich enthält, sondern wer sie genießt, sich aber nicht mitreißen lässt; wie auch Schiff und Pferd nicht beherrscht, wer sie nicht nutzt, sondern wer sie lenkt wohin er will." (Pfaller 2002: 251) Darüber hinaus hat insbesondere Epikur stets darauf hingewiesen, dass Lust erst in Verbindung mit dem Postulat der Freundschaft Grundlage des guten Lebens sein kann. Das von ihm propagierte "Leben in Freundschaft" weist dabei durchaus in dieselbe Richtung, wie die Maxime der Gemeinschaftlichkeit bei Morus. Aus der Perspektive hedonistischer Philosophie ist der Mensch erst dann zu Lust und Liebe fähig, wenn er die Beiträge seiner Mitwelt zur je eigenen Lebensfreude wahrund annehmen kann und erkennt, dass echte Lust ohne Zuwendung zu Anderen nicht möglich ist. In Momenten intensiven Lusterlebens wird die Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst durchlässig, kurzzeitig taucht der Mensch in das frühkindliche, vor dem Ausbilden des Subjektstatus gegebene Bewusstsein der Allidentität ein - er empfindet sich ein paar Augenblicke lang nicht als isolierte soziale Monade. Die existenzielle Erfahrung, dass tatsächliche Befriedigung der je eigenen Bedürfnisse nur durch die Einbettung der eigenen Lustimpulse in das der gesamten Natur innewohnende Luststreben möglich ist, lässt die Erkenntnis der Verbundenheit mit der sozialen und natürlichen Mitwelt erahnen. Wahre Lust ist unteilbar - entweder sie schließt alle(s) ein oder sie ist nicht.

Mit der aktuellen, auf Eigennutz und Konkurrenz beruhenden Gesellschaftsordnung ist ein sich in der Tradition Epikurs befindender Hedonismus somit nicht vereinbar. Weder verträgt er sich mit der psychischen Not von Menschen, als Abhängige der Warengesellschaft der Befriedigung oktroyierter "Bedürfnisse" hinterher hetzen zu müssen, noch mit der systemisch genährten Illusion, Lust ließe sich auf Kosten der Unlust anderer verwirklichen. Innerhalb der aktuell herrschenden "Rationalität des nur sich selbst rechenschaftspflichtigen Subjekts" ist wahre Lust nicht erreichbar - was bloß zur Geltung kommt, ist die Ware Lust. Wohin das Streben nach Lust im Rahmen einer zum Instrument des Eigennutzes degradierten Vernunft führen kann, wird auf drastische Weise in den Texten von Marquis de Sade dargestellt. Er malt in seinem Werk mit unerbittlicher Konsequenz aus, was es letztendlich heißt, "sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen". Nicht ohne Grund charakterisieren Adorno und Horkheimer de Sade und Nietzsche als "unerbittliche Vollender" (Adorno/Horkheimer 2000: 13) der Aufklärung. Die von de Sade beschriebenen Arrangements zur Maximierung egoistischer Sexualerregung reflektieren mit erschreckender Deutlichkeit die der instrumentellen Vernunft geschuldeten Strukturen der sozialen Ordnung. Für die Libertins in den Texten de Sades ist alles und jede/r bloßes Mittel zum Zweck ihrer bizarren Vergnügungen; Mitmenschen sind für sie nur Objekte der Demütigung. Überdeutlich wird diese Haltung, wenn in "120 Tagen von Sodom" einer der Protagonisten formuliert, dass für das Empfinden von Lust das "Vergnügen der Vergleichung [auschlaggebend ist], ein Vergnügen, das nur aus dem Anblick des Unglücks erwächst [...]. Nur wenn ich einen sehe, der nichts von dem genießt, was ich habe, und leidet, kann ich mir sagen, ich bin also glücklicher als er" (de Sade 1999: 20). Für Lust, Freude und Glück gibt es in der aufgeklärt-bürgerlichen Gesellschaft kein objektives Maß, sie sind nur als relative Größen begreif bar; Lust - oder was dafür gehalten wird - gewinnt ihre positiven Bedeutung nur aus der Relation zur Unlust anderer!

Pädagogische Förderung der Lust?

Im Lichte der bisherigen Argumentation macht es wenig Sinn, Menschen aufzufordern, Lust zur Bezugsgröße ihrer Lebensgestaltung zu machen. Der pädagogische Überzeugungsversuch, doch bitte einzusehen, dass eine Orientierung an Lust es ermöglichen kann, eine Ordnung jenseits der Überbietungsdynamik der gegebenen Gesellschaft zu erkennen, würde letztendlich doch wieder nur ein Appell an das Subjekt sein, zur Vernunft zu kommen. Vernünftig "auf dem Weg gebrachte" Lust ist aber in den Strukturen der Macht gefangen und kann bestenfalls ein Surrogat jener Lust abgeben, die das Fenster zum Schauen der Allidentität öffnet. Es ist nicht möglich, jemanden durch vernünftige Argumente davon zu überzeugen, dass ein spezielles Musikstück ihn in eine ausgezeichnete Stimmung versetzen, ein bestimmtes Bild bei ihm außerordentliche Gefühle auslösen, eine bestimmte Meditationstechnik seine Erleuchtung bewirken, oder ihm eine raffinierte Sexualpraktik zu außergewöhnlicher Erregung verhelfen wird. Genauso wenig bringt es, jemanden mit Hilfe vernünftiger Argumente ein lustvolles Leben nahebringen zu wollen. Lust hat etwas mit dem Mut zu tun, seinen Subjektstatus aufs Spiel zu setzen und sich "hinzugeben". Sich dem lustvollen Leben anzunähern, ist nichts was theoretisch vorweggenommen oder durch pädagogisch-didaktische Maßnahmenherbeigeführt werden kann, sondern ist nur durch Schritte des Vertrauens möglich. Zur Lust kann nicht pädagogisch geführt, sondern nur liebevoll verführt werden. Und der Verführung zur Lust kann nur nachgeben, wer sich auf "Erschütterungen seiner [...] Selbst und Seinsgewissheit" (Lüders 2007:142) einzulassen bereit ist und es wagt, die seine Anerkennung als souveränes Subjekt sicherstellende (instrumentelle) Vernunft vorübergehend loszulassen. Dafür ist es notwendig, die "kindliche" Sehnsucht nach einem "Leben in Verbundenheit" wiederzuentdecken, die wir - als Preis der Subjektivierung - gelernt haben, aus dem Horizont unserer Wünsche zu verdrängen.

Würde Pädagogik Heranwachsende und Erwachsene tatsächlich dabei unterstützen wollen, ihre Sehnsucht nach einem Leben, das "an Lust und Liebe" orientiert ist, zu entdecken und ernst zu nehmen, müsste sie sich im Sinne Horkheimers bemühen, "jenen verschütteten Dimensionen der Vernunft wieder ihr Recht zu verschaffen, die über deren instrumentelle Beschränkung hinausweisen [... und] den Intellekt aus der Abhängigkeit vom Vernunftformalismus zu befreien". (Garbrecht 1999: 37) Um eine derartige, nicht utilitaristisch verstandene Vernunftorientierung zu fördern, müsste Pädagogik sich als Anwalt jener Aspekte des Menschen begreifen, die sie im Zuge ihrer Anpassung an die gesellschaftliche Normalität in den Bereich der Unvernunft verdrängen mussten. Das heißt, Pädagogik müsste sich in letzter Konsequenz der ihr zugeschriebenen Funktion der Integration von Menschen in die gesellschaftliche Ordnung verweigern. Von der Pädagogik wird ja erwartet, dass sie Menschen durch mehr oder weniger offensive Formen der Beeinflussung dazu bringt, zu vernünftig geltenden Teilnehmer/innen des gesellschaftlichen Diskurses zu werden. Zwar wird die Frage, welche pädagogischen Interventionen adäquat und effektiv sind, durchaus unterschiedlich beantwortet und je nach gesellschaftspolitischer Ausrichtung werden auch die (systemimmanenten) Ziele, die durch pädagogische Interventionen erreicht werden sollen, anders definiert. Letztendlich wird pädagogisches Handeln allerdings von allen Seiten als Einwirken auf Subjekte mit dem Ziel des Verinnerlichens der herrschenden Vernunft begriffen. Das gilt durchaus auch für die aktuell rasch an Bedeutung gewinnende pädagogische Doktrin, nach der Individuen sich in Form sogenannten "selbstbestimmten Lernens" gewissermaßen die Scheuklappen der instrumentellen Vernunft selbst anlegen sollen. Die Instrumentalisierung von Menschen zu einem Mittel für fremde Zwecke wandelt sich dabei bloß von einer Fremd- in eine Selbstinstrumentalisierung - Menschen sollen sich ihrer Formierung nicht mehr nur unterwerfen, sie sollen diese selbst "proaktiv" vorantreiben.

Auch wenn sich, parallel zu Veränderungen der inneren Strukturen des bürgerlich-kapitalistischen Systems, die Methoden und Begründungen pädagogischen Handelns somit immer wieder wandeln - aktuell, aufgrund der durch Globalisierung und Digitaltechnologie modifizierten Erfordernissen der Verwertung von Arbeitskräften -, bleibt die Grundfunktion der Pädagogik, die in der Anpassung der Menschen an die Anforderungen des Systems besteht, aufrecht. Das bedeutet allerdings, dass Lust nicht bloß eine "ignorierte", sondern eine - aus durchaus eigennützigem Grund - "abgelehnte" Dimension der Pädagogik ist und letztendlich auch sein muss!


Literatur:

Adorno, Theodor W./ Horkheimer, Max (2000): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Fischer.

Bloch, Ernst (1968): Das Prinzip Hoffnung in 5 Teilen, Kap. 33-42, 5. Aufl., Suhrkamp Verlag.

Bröckling, Ulrich (2010): Jenseits des kapitalistischen Realismus: Anders anders sein, in: Neckel, Sighard (Hg.): Kapitalistischer Realismus: Von der Kunstaktion zur Gesellschaftskritik, Campus.

de Sade, Donatien Aiphonse François (1999): Die hundertzwanzig Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifungen, übers. von Karl v. Haverland, Orbis.

Foucault, Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Suhrkamp Verlag.

Garbrecht, Oliver (1999): Rationalitäts kritik der Moderne - Adorno und Heidegger, Herbert Utz Verlag.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1840): Werke, 8. Band, Verlag von Duncker und Humblot.

Hetzel, Andreas (2010): Das "Nicht" im "Nicht-Ort", Zum Verhältnis von Glück und radikaler Demokratie in Morus' Utopia, in: Arnswald, Ulrich/Schütt, Hans Peter (Hg.): Thomas Morus' Utopia und das Genre der Utopie in der Politischen Philosophie, KIT Scientific Publishing.

Horkheimer, Max (1951): Zum Begriff der Vernunft. Frankfurter Universitätsreden Heft 7, Vittorio Klostermann.

Kanitscheider, Bernulf (2011): Das hedonistische Manifest, S. Hirzel Verlag.

Klein, Peter (2005): Die Schizophrenie des modernen Individuums, in: Krisis, Kritik der Warengesellschaft (www.krisis.org).

Locke, John (1981): Über die Regierung (The Second Treatise of Government 1689)., Reclam.

Lüders, Jenny (2007): Ambivalente Selbstpraktiken. Eine Foucault'sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs, in: TranscriptMarcuse, Herbert (1967): Das Ende der Utopie, Verlag Peter von Maikowski.

Morus, Thomas (2008): Utopia. The Project Gutenberg. EBook of Utopia. (Online verfügbar: www.gutenberg.org)

Pfaller, Robert (2002): Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Suhrkamp Verlag.

Ribolits, Erich (2015): Warum Bildung bei der Überwindung der Machtverhältnisse nicht hilft, zu deren Erhalt aber ganz wesentlich beiträgt, in: Christof, Eveline/Ribolits, Erich: Bildung und Macht. Eine kritische Bestandsaufnahme, Löcker.

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Lizenz zum Klima-Killen

Warum es keine "ökologische Marktwirtschaft" geben kann

von Norbert Trenkle

1.

Von der CO2-Steuer zu sagen, sie erziele nicht die versprochenen Wirkungen, ist eine Verharmlosung. Aufs Ganze betrachtet, wird sie weder eine nennenswerte Reduktion der klimaschädlichen Emissionen bewirken, noch gar eine "ökologische Transformation" der Marktwirtschaft einleiten, sondern ist vielmehr ein Freibrief, den sich die Gesellschaft ausstellt, um genauso weitermachen zu können wie bisher. Um das zu verstehen, braucht es nicht viel Phantasie. Ein wenig Erfahrungswissen genügt. Selbst wenn die Steuer hier und dort gewisse Einspareffekte beim CO2-Ausstoß bewirken mag, ist doch völlig absehbar, dass diese durch einen gesteigerten Ressourcenverschleiß an anderer Stelle konterkariert werden. Dieser Mechanismus ist längst bekannt und wurde in der Postwachstums-Literatur breit diskutiert. So werden etwa relative Einsparungen beim Energieverbrauch (z.B. effizientere Motoren) durch eine Ausdehnung des absoluten Verbrauchs überkompensiert (z.B. größere Autos und höhere Stückzahlen). Das ist der sogenannte materielle Rebound-Effekt. Des Weiteren liefern politische Maßnahmen mit einem ökologischen Anstrich die Legitimation dafür, die bestehende Produktions- und Lebensweise aufrechtzuerhalten und das Wirtschaftswachstum weiter anzukurbeln; denn schließlich wurde ja vorgeblich bereits ein relevanter Beitrag zur Erhaltung von Natur und Umwelt geleistet. Man spricht hier von dem politischen Rebound-Effekt. Typisches Beispiel dafür war die Einführung der Abgaskatalysatoren in den 1980er-Jahren, welche die PKWs "umweltfreundlich" machen sollte, tatsächlich aber lediglich das Alibi dafür lieferte, den Autoverkehr weiter auszubauen (seitdem hat er sich in Deutschland verdoppelt). Und schließlich gibt es auch noch den psychologischen Rebound-Effekt, der darin besteht, den Konsumenten ein gutes Gewissen zu verschaffen, damit sie weiterhin ungehemmt den massenhaft produzierten Warenschrott kaufen.

Bedürfte es irgendwelcher Belege, dass die CO2-Steuer genau auf diese Weise wirken wird, die laufende Debatte liefert sie frei Haus. Alle politisch Verantwortlichen quer durch das gesamte Parteienspektrum überschlagen sich förmlich in der Anpreisung der erwarteten Einspareffekte, um dann sogleich hinterherzuschieben, die Steuer dürfe selbstverständlich die Gesellschaft nicht über Gebühr belasten. Am absurdesten sind die Vorschläge, die Einnahmen aus der neuen Steuer sogleich wieder an die Bevölkerung auszuschütten. Denn auch wenn dabei tatsächlich diejenigen belohnt würden, die einen etwas niedrigeren CO2-Fußabdruck als der Durchschnitt aufweisen, werden sie sicherlich das zusätzliche Einkommen sogleich wieder im Konsum anlegen, so dass der Ressourcenverbrauch nur an anderer Stelle anfällt. Den Vogel abgeschossen hat in dieser Hinsicht mal wieder die Ökopartei CSU in Gestalt ihres obersten Umweltaktivisten Markus Söder, der ohne jeden Sinn für unfreiwillige Komik vorgeschlagen hat, die Belastungen durch die CO2-Steuer sollten durch eine Erhöhung der Pendlerpauschale kompensiert werden. Wer also mit dem Auto zur Arbeit fährt, wird zunächst an der Tankstelle zur Kasse gebeten, um das Geld dann über die Steuererklärung wieder zurückzubekommen.

2.

Sollte die CO2-Steuer tatsächlich ökologisch einen nennenswerten Effekt haben, müsste sie hoch genug sein, um den Konsum aller energieintensiven Waren und Dienstleistungen massiv einzuschränken. Das beträfe dann allerdings fast die gesamte Palette des Konsums, angefangen beim Autoverkehr und der Heizung, über den Flugverkehr bis hin zu den meisten Industrie- und Agrarprodukten. Natürlich wird das nicht geschehen. Und zwar nicht einfach deshalb, weil die Interessenverbände der Industrie und der Wirtschaft das mit allen Mitteln zu verhindern suchen (das tun sie selbstverständlich), sondern weil keine relevante politische Partei sich an der inneren Logik eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems versündigen wird, das seinem Wesen nach auf dem Imperativ des endlosen ökonomischen Wachstums beruht. Dieser Wachstumszwang resultiert daraus, dass im marktwirtschaftlichen System die Produktion gesellschaftlichen Reichtums aufs Ganze gesehen nur einem einzigen Zweck unterliegt: dem Zweck, aus Geld mehr Geld zu machen. Das Geld ist aber Ausdruck einer historisch ganz spezifischen Form gesellschaftlichen Reichtums. Es repräsentiert abstrakten Reichtum, Reichtum, der sich gleichgültig verhält gegenüber den stofflich-konkreten Grundlagen und Bedingungen seiner Produktion. Was zählt, ist allein, dass der Mechanismus der Geldvermehrung, also die Akkumulation von Kapital, in Gang bleibt, denn an ihm hängt die gesamte Gesellschaft wie der Junkie an der Nadel.

Die Produktion abstrakten Reichtums hat jedoch immer auch eine konkret-stoffliche Seite. Es werden Güter produziert, Transporte getätigt, Maschinen in Gang gesetzt, Rohstoffe geschürft, Wälder gerodet, und dabei wird natürlich immer auch Arbeitskraft vernutzt. All dies ist aber immer nur Mittel für den eigentlichen Zweck der Produktion. Die stofflich-konkrete Welt ist also der Produktion des abstrakten Reichtums untergeordnet. Und hiermit sind wir auch schon beim Kern des Problems. Denn anders als in der stofflich-konkreten Welt gibt es in der Welt des abstrakten Reichtums keine Grenzen. In ihr regiert das Gesetz der endlosen Vermehrung. Hat eine Summe Kapital einen Gewinn abgeworfen, fungiert dieser in der nächsten Periode selbst als Kapital und muss seinerseits Gewinn erzeugen, der dann auch wieder investiert werden muss, und so weiter und so fort. Es liegt auf der Hand, dass diese Zwangsdynamik nicht kompatibel ist mit der natürlichen Begrenztheit der stofflich-konkreten Welt. Vielmehr läuft die Produktion abstrakten Reichtums zwangsläufig darauf hinaus, die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören. Je weiter sich die kapitalistische Produktionsweise auf dem gesamten Globus durchsetzt hat und je weiter sie expandiert, desto schneller schreitet auch diese Zerstörung voran. Denn der Hunger der abstrakten Reichtumsproduktion nach stofflichen Ressourcen wächst in exponentiellem Maßstab an. Das ist keine neue Einsicht. Schon im 19. Jahrhundert wiesen einige Autoren darauf hin - darunter auch ein gewisser Karl Marx. Und spätestens seit im Jahr 1972 der erste Bericht des Club of Rome erschien, ist die Erkenntnis, dass es "Grenzen des Wachstums" gibt, auch ins allgemeine Bewusstsein durchgedrungen.

Dass trotzdem immer so weiter gemacht wird, als sei das alles eine Fußnote der Geschichte, liegt nicht an der Unfähigkeit der Politik oder an ihrem Unwillen, die Erkenntnisse der Wissenschaft ernst zu nehmen, wie viele in der Fridays for Future-Bewegung meinen. Der Grund ist vielmehr das ungeheure Beharrungsvermögen einer gesellschaftlichen Produktions- und Lebensweise, die sich mittlerweile auf der gesamten Welt durchgesetzt hat und daher als alternativlos erscheint. Denn auch wenn die allermeisten Menschen über kein Kapital verfügen, sind sie doch genauso darauf angewiesen, dass der Akkumulationsprozess in Gang bleibt. Um unter den herrschenden Bedingungen zu überleben, müssen sie entweder ihre Arbeitskraft verkaufen oder hängen auf andere Weise von Geldflüssen ab, etwa in der Gestalt von Sozialleistungen, die aber auch aus dem Kreislauf des Kapitals gespeist werden müssen. Deshalb drehen sich auch die meisten Interessenkämpfe um die Verteilung von Geld und setzen den dahinterstehenden Mechanismus als selbstverständlich voraus. Das ist der tiefere Grund, weshalb das Wirtschaftswachstum den Status einer Religion genießt und nur von gesellschaftlichen Minderheiten ernsthaft in Frage gestellt wird. Und das liegt nicht daran, dass die Menschen mehrheitlich dumm oder borniert wären. Sie wissen einfach nur sehr genau, dass unter den herrschenden Bedingungen eine Schrumpfung der Wirtschaft nichts Gutes für sie bedeuten würde.

Ein konsequenter und zeitnaher Umbruch der energetischen Basis wäre ein so gravierender Einschnitt, dass er sich insbesondere in den kapitalistischen Zentren gar nicht ohne schwerste ökonomische, soziale und politische Verwerfungen durchsetzen ließe. Denn die massive Entwertung bestehender Industrieanlagen und Infrastrukturen würde einen wirtschaftlichen Schock auslösen und eine schwere Krise nach sich ziehen, deren Kosten zudem sehr ungleich verteilt wären. Sie träfe vor allem jene Regionen und Bevölkerungsteile, die in besonderem Maße von den fossilen Industrien und Strukturen abhängig sind. Hinzu kämen noch die gewaltigen Kosten auf der Konsumseite. Millionen von konventionellen PKWs würden faktisch entwertet, Wohnhäuser müssten massenhaft neue Heizungen erhalten und wärmegedämmt werden, während gleichzeitig die Preise für praktisch alle Lebensmittel und Konsumgüter in die Höhe schössen. Auch hiervon wären wieder vor allem Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen betroffen, die über keine finanziellen Spielräume verfügen.

3.

Wenn also die Gegner der CO2-Steuer diese als "unsozial" brandmarken, dann haben sie durchaus starke Argumente auf ihrer Seite. Natürlich sind das ganz überwiegend Leute, denen die "soziale Frage" sonst vollkommen egal ist und die sie hier nur aus durchsichtigen politischen und ideologischen Motiven instrumentalisieren. Dennoch verweisen sie auf ein durchaus ernst zu nehmendes Problem. Die ohnehin bestehenden sozialen und regionalen Disparitäten würden sich zweifellos deutlich vergrößern, und damit verschärften sich auch die gesellschaftlichen Verteilungskonflikte, wie jetzt schon an den Protesten der Gelbwesten deutlich wurde. Hinzu kommt noch, dass der Streit um die Klimapolitik längst schon ideologisch und identitätspolitisch aufgeladen ist und die Gesellschaft polarisiert. Die Leugnung oder totale Relativierung des Klimawandels gehört nicht zufällig zum Kernbestand der rechtspopulistischen Ideologie. Denn diese stellt wesentlich eine regressive Reaktionsform auf die Erfahrung dar, dass die westlich-weiße Vorherrschaft auf der Welt an ihre Grenzen stößt. Deshalb hasst die rechtspopulistische Gefolgschaft mit besonderer Inbrunst alle jene, die sie an den Verlust ihrer vermeintlich selbstverständlichen Privilegien erinnern. Neben den Flüchtlingen sind das nicht zuletzt die Klimaschützer*innen, die sich dagegen wenden, die Kosten des Lebensstils in den kapitalistischen Zentren auf die übrige Welt und die kommenden Generationen abzuwälzen.

Aus dieser angespannten politischen und gesellschaftlichen Situation erklärt sich, weshalb der politische Diskurs unter dem Druck der Fridays for Future-Bewegung die Forderung nach einer CO2-Steuer zwar aufgegriffen hat, aber nur, um sie sogleich wieder auf ein homöopathisches Maß herunter zu dimensionieren. Auch die Grünen machen da keine Ausnahme. Sie treten jetzt schon auf die Bremse und werden das erst recht tun, wenn sie wieder an die Regierung gelangen sollten. Gemessen an dem engen Spielraum politischen Handelns unter kapitalistischen Bedingungen ist das durchaus rational; denn eine Regierung, die anders handelte, würde eine unkontrollierbare gesellschaftliche Konfliktdynamik auslösen und binnen kürzester Zeit gestürzt. Das wissen im Grunde auch diejenigen, die sich für eine konsequent hohe CO2-Steuer einsetzen. Sie verdrängen es jedoch mit der Behauptung, diese sei durchaus mit Wachstum und der Schaffung neuer Arbeitsplätze kompatibel; es handle sich lediglich um ein Steuerungsinstrument, um die marktwirtschaftlichen Aktivitäten in eine neue Richtung zu lenken und auf "nachhaltige" Energieformen umzustellen. Angeblich soll es sogar möglich sein, mit solchen und ähnlichen Maßnahmen eine "ökologische Marktwirtschaft" durchzusetzen.

Im Prinzip teilen fast alle Ökonomen die Ansicht, dass sich Marktwirtschaft und Ökologie versöhnen ließen, wenn man es nur politisch geschickt anstelle. Gestritten wird lediglich darüber, welche Maßnahmen besser zum Ziel führten. Besonders angepriesen wird der Handel mit Emissionszertifikaten als Alternative oder Ergänzung zur CO2-Steuer. Doch zum einen gibt es diesen ja schon seit fast 15 Jahren auf EU-Ebene, wo er sich als ein ziemlicher Flop erwiesen hat, was ihre Anhänger natürlich immer nur auf die fehlerhafte Anwendung zurückführen. Zum anderen bewegt sich auch diese Maßnahme, selbst wenn sie einmal einigermaßen funktionieren sollte, in dem gleichen Dilemma wie die CO2-Steuer. Wäre der Preis für die Zertifikate hoch genug, um eine ernsthafte Wirkung auf den CO2-Ausstoß zu haben, würde er das "Wachstum", also die Dynamik der Kapitalakkumulation abwürgen. Und das darf natürlich nicht sein, weshalb es auch nicht verwundert, dass der Preis pro Tonne CO2 derzeit bei nur 25 Euro liegt. Und schließlich stellt sich ohnehin die Frage: Wenn die Regierungen in der Lage sind, den CO2-Ausstoß der Unternehmen zu kontrollieren, warum schreiben sie dann nicht gleich entsprechende Grenzwerte vor, statt diese über den absurden Umweg eines höchst undurchsichtigen Marktes herstellen zu wollen?

Wenn überhaupt, sind es innerhalb der kapitalistischen Logik immer nur solche direkten staatlichen Vorgaben, die eine gewisse Wirkung erzielen können. Dagegen bedeutet der Versuch, beim Preismechanismus anzusetzen, immer nur einen Umweg zu nehmen, der bestenfalls minimale Wirkungen und immer negative Nebenwirkungen erzeugt. Das gilt für die CO2-Steuer und die Emissionszertifikate genauso wie für die Vorstellung, die Produktionsweise ließe sich durch eine mit moralischem Druck bewirkte Veränderung des individuellen Konsumverhaltens verändern. Populär sind solche Ideen nur deshalb, weil sie sich in die hegemoniale Ideologie einfügen, wonach der Markt durch die Summe der Entscheidungen von angeblich souveränen Individuen und Unternehmen gesteuert werde. Tatsächlich liegt jedoch der Antriebsmechanismus der kapitalistischen Dynamik in der Akkumulation von Kapital und damit in der Sphäre der Produktion, während Kaufentscheidungen immer nachgelagert und von dieser Dynamik abhängig sind.

4.

Grundsätzlich ist die Vorstellung einer "ökologischen Marktwirtschaft" nichts anderes als eine Seifenblase. Zwar kann der Kapitalismus prinzipiell in vielfältiger Weise reguliert und "eingehegt" werden, auch wenn das im Zeitalter der Globalisierung immer schwieriger wird. (Ein "freier Markt" ohne Regulierung existiert nur in den Horror-Phantasien der Hardcore-Liberalen; es hat ihn nie gegeben und es kann ihn nie geben.) Aber die Grundlogik des Wachstumszwangs, die auf dem Selbstzweck der Kapitalakkumulation beruht, lässt sich nun einmal nicht wegregulieren, weil sie den Wesenskern des marktwirtschaftlichen Systems ausmacht. Selbst wenn es also tatsächlich gelänge, die energetische Basis kurzfristig umzustellen, würde das die Wucht der ökologischen Zerstörung bestenfalls ein wenig abbremsen und auf andere Gebiete verschieben. Schon jetzt werden quer durch die Bank so ziemlich alle Ressourcen knapp, das Trinkwasser und sogar der Sand als Grundstoff für die Bauindustrie. Und wenn tatsächlich der Individualverkehr auch nur größtenteils auf Elektromobilität umgestellt würde, würde das zu extremen Engpässen bei der "nachhaltigen Stromproduktion" führen und außerdem den ohnehin erbitterten Kampf um die knappen, aber notwendigen Rohstoffe wie Lithium und die "seltenen Erden" weiter anfachen. Alle diese Beispiele verweisen letztlich nur auf den unauflöslichen Grundwiderspruch, dass ein Produktions- und Wirtschaftssystem, das auf dem Imperativ der endlosen Kapitalakkumulation beruht, einfach nicht kompatibel ist mit der natürlichen Begrenztheit der Welt.

Befinden wir uns also in einer Sackgasse? Ist die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen unvermeidlich? Ja, aber nur, wenn wir die Logik des kapitalistischen Systems als unumstößlich akzeptieren. Wenn wir es jedoch wagen, sie grundsätzlich infrage zu stellen und praktisch zu durchbrechen, eröffnen sich neue Perspektiven. Die Alternative zur Marktwirtschaft kann dabei selbstverständlich nicht eine staatliche Planwirtschaft sein, wie wir sie aus den Zeiten des glücklicherweise verblichenen "Realsozialismus" kennen. Denn der war nichts anderes als ein autoritär strukturierter, staatlich organisierter Kapitalismus. Auch hier stand die Produktion des abstrakten Reichtums im Mittelpunkt, nur bildeten sich Preise, Löhne und Gewinne nicht auf dem Markt, sondern wurden von der staatlichen Planungsbehörde vorgegeben. Und auch hier war das Wirtschaftswachstum der Maßstab des Erfolgs, nur dass die staatlichen Strukturen einfach zu starr und behäbig waren, um mit dem Westen mithalten zu können, den sie eigentlich bloß im Ausmaß der Umweltzerstörung übertrafen.

Die Frage, die sich heute stellt, ist nicht die nach mehr oder weniger Staat oder Markt. Sie geht weit über diese falsche Alternative hinaus. Die notwendige gesellschaftliche Transformation hat einen viel grundsätzlicheren Charakter. Sie betrifft nicht nur "die Wirtschaft" und ihr Verhältnis zur "Ökologie", sondern zielt auf einen weiten, qualitativ bestimmten Begriff von gesellschaftlichem Reichtum. Dieser schließt zwar einerseits die Orientierung auf den stofflichen Reichtum ein, bedeutet also notwendig eine Aufhebung der abstrakten Reichtumsproduktion. Andererseits darf gesellschaftlicher Reichtum nicht auf die materielle Güterproduktion im engeren Sinne reduziert werden. Gesellschaftlicher Reichtum bedeutet auch und vor allem: Reichtum an sozialen Beziehungen, bedeutet die Möglichkeit, sich frei entscheiden zu können, in welcher Weise man gesellschaftlich tätig sein will. Es sind Städte, Ortschaften und Landschaften, in denen die Menschen sich wohlfühlen; es ist der Erhalt der natürlichen Umwelt und vieles anderes mehr.

Die Transformation der gesellschaftlichen Reichtumsform schließt aber auch eine grundlegende Transformation der gesellschaftlichen Beziehungsform mit ein. Es geht um ein völlig anderes Verhältnis der Menschen untereinander, zu ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang und zur natürlichen Umwelt. In der kapitalistischen Gesellschaft treten sich die Menschen als vereinzelte Einzelne gegenüber, die allesamt ihre partikularen Interessen gegeneinander verfolgen. Ihr Verhältnis ist das der allgemeinen Konkurrenz und der wechselseitigen Fremdheit; zugleich erscheint ihnen auch ihr gesellschaftlicher Zusammenhang als äußerlicher, fremder Gegenstand, zu dem sie sich instrumentell verhalten, so wie sie selbst ja nur Mittel im Dienste der abstrakten Reichtumsproduktion sind. Ausdruck davon ist die Verwandlung fast aller Beziehungen in Warenbeziehungen, was jeden und jede Einzelne dazu zwingt, sich ständig auf Marktfähigkeit und Verkäuflichkeit zu trimmen. Die Gleichgültigkeit der Menschen gegeneinander sowie gegenüber der Gesellschaft und den natürlichen Lebensgrundlagen ist also ein Strukturprinzip des Kapitalismus. Die Alternative dazu kann nur eine Gesellschaft sein, die auf den Prinzipien der freien Kooperation und der Selbstorganisation beruht und in der Individualität nicht auf Abgrenzung und Selbstbehauptung beruht, sondern die individuelle Entfaltung jedes und jeder Einzelnen die Voraussetzung für die individuelle Entfaltung aller anderen ist.

5.

Das mag utopisch klingen, doch im Grunde ist der Boden dafür längst schon bereitet. Denn die kapitalistische Gesellschaft hat nicht nur gewaltige Gefahren und Bedrohungen hervorgebracht, sondern auch Potentiale, die in die oben gezeigte Richtung weisen. Allerdings können diese Potentiale nur in bewusster Frontstellung gegen die marktwirtschaftliche Logik verwirklicht werden. Denn andernfalls werden sie nicht nur neutralisiert, sondern verwandeln sich sogar in Triebkräfte für die weitere Beschleunigung der kapitalistischen Dynamik und der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.

In besonderem Maße gilt das für die zunehmende Bedeutung der Produktivkraft Wissen für die Gesellschaft und die Reichtumsproduktion. Sinnvoll angewendet, würde sie es nicht nur ermöglichen, die für die Güterproduktion aufgewandte Zeit allgemein radikal zu reduzieren und trotzdem alle Menschen auf der Welt (und zwar wirklich alle) mehr als ausreichend mit stofflichem Reichtum zu versorgen. Sie birgt auch das Potential für eine ressourcenschonende und ökologisch verträgliche Produktion. Ein Beispiel: Durch eine umfassende Dezentralisierung der Produktionskreisläufe bei gleichzeitiger globaler Kooperation (freier Fluss des Wissens, Austausch der nicht regional verfügbaren Ressourcen etc.) würden nicht nur die Transportwege auf das nötige Mindestmaß verkürzt, sondern die Produktionszusammenhänge und Ressourcenflüsse wären auch viel überschaubarer und einer bewussten Steuerung leichter zugänglich.

Unter dem Diktat der kapitalistischen Rentabilitätslogik geschieht jedoch das genaue Gegenteil. So wurde, zum ersten, zwar die Arbeitszeit in den industriellen Kernsektoren extrem reduziert, aber nur um massenhaft Arbeitskräfte "überflüssig" zu machen und in prekäre Arbeitsverhältnisse abzudrängen, während die verbliebenen einem umso intensiveren Leistungsdruck ausgesetzt sind. Zweitens ist die Produktion nur in einem negativen Sinne "dezentralisiert" worden, insofern nämlich die verschiedenen Produktionsabschnitte nach Kostenkriterien über den gesamten Globus verteilt wurden, was nicht nur mit einer extremen Ausbeutung der Arbeitskräfte in der Peripherie einhergeht, sondern auch allein wegen des gewaltigen Transportaufwands unter ökologischen Gesichtspunkten katastrophal ist. Und drittens schließlich sind viele umweltfreundliche und dezentral anwendbare Technologien entweder verworfen worden, weil sie nicht "rentabel" waren, oder wurden gleich von interessierten Unternehmen entsorgt, um sich so vor der Konkurrenz zu schützen.

In ähnlicher Weise werden beispielsweise die Fähigkeiten zur Kooperation und zum selbstständigen Arbeiten, die in den modernen Unternehmen immer wichtiger geworden sind, ständig durch die allgegenwärtige Konkurrenz und den Leistungsdruck sowie den permanenten Zwang zur "Marktfähigkeit" konterkariert (was sich nicht zuletzt in einer starken Zunahme psychischer Leiden niederschlägt). Oder es ist die an sich vernünftige Idee, nicht alle möglichen Güter zu besitzen, sondern sie zu teilen und gemeinsam zu nutzen, innerhalb kürzester Zeit in ein neues Geschäftsfeld verwandelt worden, das den Grundgedanken der Sharing Economy in ihr glattes Gegenteil verwandelt hat. So hat beispielsweise Uber die ohnehin schon prekären Arbeitsbedingungen im Transportgewerbe noch einmal verschlechtert und im Übrigen nicht etwa zur Reduzierung, sondern zur Zunahme des Autoverkehrs in den Städten beigetragen, weil viele Leute sich lieber von einem Dienstleistungssklaven chauffieren lassen als die U-Bahn oder den Bus zu nutzen. Und schließlich ist auch das Internet längst schon in ein riesiges Geschäftsfeld für die Unterhaltungsindustrie, die Werbebranche und die unterschiedlichsten kriminellen Machenschaften sowie in ein gigantisches Überwachungsinstrument verwandelt worden, während die darin enthaltenen (und anfangs euphorisch gefeierten) Potentiale für eine global vernetzte Kooperation und den freien Fluss des Wissens nur noch in Nischen genutzt werden.

6.

Die Aufzählung ließe sich fast endlos fortsetzen. Sie verweist auf die ungeheure Flexibilität und Attraktionskraft der kapitalistischen Logik, der es immer wieder gelungen ist, widerstrebende Tendenzen und Impulse zu integrieren und für die Fortsetzung der eigenen Akkumulationsdynamik nutzbar zu machen. Allerdings gibt es immer auch Einzelne, Gruppen und Initiativen, die sich dieser Logik widersetzen, auch wenn diese in der Regel randständig bleiben und erst im Rahmen von starken sozialen Bewegungen an Bedeutung gewinnen können. Hinzu kommt noch ein Weiteres. Zwar verfügt das kapitalistische System über eine ungeheure Fähigkeit, die Grenzen seiner Existenz immer wieder hinauszuschieben, aber der Preis dafür ist eine Verschärfung des Krisenpotentials und der damit einhergehenden Zerstörungswucht. Das betrifft nicht nur den unauflöslichen Widerspruch zwischen dem Drang zur endlosen Kapitalakkumulation und der natürlichen Begrenztheit der Welt, der durch symbolische Maßnahmen wie eine CO2-Steuer oder andere Ersatzhandlungen wie die Moralisierung des Konsums so lange verdrängt wird, bis er ein Ausmaß erreicht, das tatsächlich die menschlichen Lebensbedingungen auf der Erde infrage stellt.

Auch auf der Ebene der ökonomischen Dynamik stößt der Kapitalismus mittlerweile an seine historischen Grenzen. Denn die umfassende und systematische Automatisierung und Digitalisierung der Produktion seit den 1980er-Jahren zog nicht nur eine enorme Erhöhung des Arbeits- und Leistungsdrucks nach sich, sondern hatte auch gewaltige Auswirkungen auf die Selbstzweckbewegung der Kapitalverwertung. Da diese wesentlich auf der Anwendung von Arbeitskraft in der Warenproduktion beruht, löste deren massenhafte Verdrängung zwangsläufig einen fundamentalen Krisenprozess aus, der bis heute anhält. Zwar hat auch hier wieder das kapitalistische System seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, die eigenen Widersprüche zu verdrängen; der Schwerpunkt der Kapitalakkumulation wurde auf die Ebene der Finanzmärkte verlagert, wo das fiktive Kapital, also der Vorgriff auf "zukünftigen Wert" in der Gestalt von Anleihen, Aktien und anderen Finanzmarktpapieren seit bald vierzig Jahren den Takt der Weltwirtschaft vorgibt. Doch auch wenn es so gelang, die historischen Grenzen der Kapitalakkumulation noch einmal zu verschieben, ist der Preis dafür doch eine Vervielfachung des Krisenpotentials, das sich in wiederkehrenden Finanzmarktkrisen entlädt. Da jeder dieser Krisenschübe aber mit schöner Regelmäßigkeit durch die "Produktion" von noch mehr fiktivem Kapital gelöst wird, also durch die Anhäufung von noch mehr Sprengstoff, fällt zwangsläufig jede nachfolgende Explosion umso heftiger aus. Schon jetzt zeichnet sich der nächste Crash an den Finanzmärkten ab, der die ökonomischen, sozialen und politischen Auswirkungen der Krise von 2008 bei Weitem in den Schatten stellen wird.

7.

Für sich genommen, ist also die Tatsache, dass die kapitalistische Dynamik in mehrfacher Hinsicht an ihre historischen Grenzen stößt, keine gute Nachricht. Denn das kapitalistische System bricht nicht einfach zusammen und verschwindet im Nichts, vielmehr entfaltet es in dem Versuch, seine eigene Existenz zu verlängern, noch einmal eine ungeheure Zerstörungsgewalt und hinterlässt, wenn es nicht daran gehindert wird, die Erde als verwüstetes Feld. Verhindern kann das nur eine globale Bewegung, die sich entschlossen gegen die kapitalistische Logik stellt und zugleich das Terrain für eine selbstorganisierte, kooperative Gesellschaft jenseits der abstrakten Reichtumsproduktion erkämpft.

Der Weg in eine solche Gesellschaft führt nicht über die Parlamente, aber auch nicht über die klassische Revolution der bürgerlichen Epoche nach dem Muster von 1789 oder 1917. Denn diese zielte immer schon darauf, den Gewaltapparat des Staates zu okkupieren, um ihn als Agentur für eine gesellschaftliche Transformation von oben zu nutzen, und reproduzierte damit nur das bestehende Herrschaftsverhältnis, statt es aufzuheben. Eine kooperative, selbstorganisierte Gesellschaft beruht jedoch auf dem Prinzip der freiwilligen Assoziation der gesellschaftlichen Individuen und kann daher nicht von oben verordnet, sondern nur von einer globalen Emanzipationsbewegung in einer konfliktreichen Auseinandersetzung mit der bestehenden Gesellschaft entwickelt werden. Die Spielräume dafür müssen aber erkämpft werden: durch die Aneignung der nötigen Ressourcen (Grund und Boden, Gebäude, Produktions- und Kommunikationsmittel etc.) für den Ausbau der eigenen Strukturen und durch das aktive Zurückdrängen der abstrakten Reichtumsproduktion und ihrer ebenso imperialen wie destruktiven Dynamik.

Entscheidend wird dabei natürlich auch der Kampf um die Deutungshoheit in der Gesellschaft sein. Die beiden Gegner sind klar definiert. Das ist einerseits die liberale Simulations- und Postpolitik, die unter der Berufung auf "Sachzwänge" das marktwirtschaftlich-kapitalistische System für alternativlos erklärt und allenfalls zu ein paar kosmetischen Korrekturen bereit ist. Und es ist andererseits die Neue Rechte, die sich als Gegenmodell zum Liberalismus profiliert, obwohl sie nur dessen regressives Spiegelbild darstellt und für eine autoritäre, rassistische und offen gewalttätige Zuspitzung der Krisendynamik steht. Dazwischen jedoch liegt ein breites und heterogenes Feld von Diskursen, Bewegungen und Initiativen, aus dem sich eine gesellschaftliche Gegenmacht bilden könnte, wenn eine neue Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation sichtbar und praktisch greif bar wird und eine synthetisierende Kraft entfaltet.

Die Fridays for Future-Bewegung birgt durchaus die Potentiale, zur Initialzündung einer solchen Gegenmacht zu werden. Sie hat ein Bewusstsein für die existentielle und weltweite Dimension der Krise, sie ist global vernetzt und nicht-hierarchisch organisiert, sie will die Gesellschaft praktisch verändern - und sie hat die wichtige Erfahrung gemacht, dass sie mit entschlossenem Druck von unten gesellschaftlich und politisch etwas bewegen kann. Ihre Schwäche besteht allerdings darin, dass sie mit ihrer Kritik und ihren Forderungen bisher noch ganz im Rahmen der herrschenden gesellschaftlichen Funktionsweise verbleibt und politisch vor allem die besonders konsequente Anwendung der CO2-Steuer und von ähnlichen politischen Instrumenten fordert sowie den Konsumverzicht propagiert. Damit bewegen sich die Protestierenden aber in einem Diskursfeld, in dem sie nur verlieren können, denn es ist ein Leichtes nachzuweisen, dass diese Forderungen mit der marktwirtschaftlichen Systemlogik nicht kompatibel sind. Will die Fridays for Future-Bewegung in der Offensive bleiben, muss sie daher dazu übergehen, diese Logik radikal infrage zu stellen. Tut sie es nicht, wird sie dabei zusehen müssen, wie ihr Protest gegen den Klimawandel in eine Lizenz zum Klimakillen verwandelt wird.

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Pro oder Anti?

Querschüsse zu den absolut unlustigen EU-Debatten

von Franz Schandl

Frage determiniert Antwort. Keine Meinungs- und Marktforschung, die nicht weiß, dass Fragen Antworten intendieren und andere eliminieren. Will man bestimmte Antworten erheischen, ist es nötig, adäquate Fragen zu formulieren. Das geschieht fortwährend. Will man auf dem Markt der Abstimmungen (der selbstverständlich ein Warenmarkt ist), ein definiertes Ergebnis erzielen, ist es angebracht, entsprechende Fragen zu ventilieren. Wer die Fragen diktiert, diktiert die Antworten.

Relevanter als Wer beantwortet die Fragen?, ist: Wer entscheidet die Fragen? Wer hat also die Kompetenz, Fragen kreieren zu dürfen? Diese können ja keineswegs "demokratisch" legitimiert werden. Wie wäre das auch umzusetzen? Antworten hängen ehern an Fragestellungen, jene perpetuieren diese. Es sind also geradewegs die Fragen, die sich oftmals die Antworten suchen, zumindest deren Varianz festlegen. Frage und Antwort gleichen Angebot und Nachfrage.

Das Publikum wird stets zur Antwort gebeten, nicht aber zur Frage. Fragen soll es abnehmen, aber nicht stellen. Dazu sind andere da. Kunden sind Konsumenten sind Nachfrager, sie wählen aus einem Sortiment von Waren. Kaufen sie mir das ab? ist die bezeichnende Alltagsfloskel, die genau diesen Umstand reflektiert. Mehr denn je ist das Meinen eine Form des Kaufens, keine des Kennens oder gar des Könnens. Dieses Meinen der sogenannten mündigen Bürger ist äußerst beschränkt, allein aufgrund der Lebensumstände der Leute, die deren Reflexionsmöglichkeiten systematisch einschränken.

Bevor Fragen zu beantworten sind, ist nach den Fragen zu fragen. Ansonsten sind Fragen Fangfragen und tatsächlich sind sie das oft auch. Bevor Fragen zu beantworten sind, sind die Fragestellungen zu erobern. Kritik hieße: Wir geben Antworten auf Fragen, die gar nicht erst gestellt werden. Das ist leichter gesagt als getan, aber unter dieser Bürde ist keine Emanzipation zu machen. Wer die Streifzüge genau rezipiert, wird leicht feststellen können, dass nicht nur die Antworten, sondern schon die Fragen, die wir vorschlagen, andere sind als die herkömmlichen. Wirkliche Opposition dekonstruiert den herrschenden Diskurs, verweigert sich seinen Implikationen oder macht diese zumindest kenntlich. Das probieren wir. Insofern sind wir auch aus der konventionellen Debatte gefallen. Das hat gehörige Nachteile, aber den einzigartigen Vorteil, nicht Teil der obligaten Kommunikation zu sein.

Mehr Europa? Weniger Europa?

"Bist Du für oder gegen die EU?", diese tolle Frage erschien mir immer (also seit Ende der Achtzigerjahre) als eine Zumutung, als ein Anschlag auf meinen, wie ich doch hoffe, wachen Geist. Ich verhielt mich in der Frage, wenn ich schon musste, taktisch, nie auf der Ebene der Bekenntnisse. Konnte mich also weder in einer Befürwortung noch in einer Ablehnung wiederfinden. Der glühende Europäer erscheint mir gleich dem glühenden Österreicher wie eine Entzündung. Ich glühte nicht, und ich will auch nicht glühen, weder für das dumpf backige Österreich noch für das großkotzige Projekt der Union, der Vereinigten Staaten von Europa oder einer Europäischen Republik. Als Patriot, und sei es als europäischer, stehe ich nicht zur Verfügung. Das kleine wie das große Vaterland hat meine Liebe nicht. Es gibt keinen Grund dafür.

Der europäische Patriotismus unterscheidet sich vom österreichischen nur darin, dass er mehr Raum hat und auch mehr Raum haben will, was einerseits Europa zur Festung Frontex macht, andererseits aber frank und frei für "unsere Interessen" weltweit militärisch und ökonomisch interveniert. Die Wahrheit der EU dokumentiert sich an ihrer Wirklichkeit im Mittelmeer und an den Schlachtfeldern des Ostens und Südens. Flüchtlinge sind die implizite Antwort dieses Treibens.

Wir stehen hier für die Überwindung, ja Abschaffung der Nationen, aber nicht dafür, dass in Europa eine transnationale nationale Supermacht etabliert wird. Davon halten wir schlicht nichts. Die Europa-Debatte ist nicht unsere, und wir sollten sie uns nicht aufzwingen lassen. So erledigt sich die Frage nach mehr oder weniger Europa gleich von selbst. Die Zukunft wird nicht an Europa entschieden, es geht nicht darum, in diesem Diskurs eine Position einzunehmen, sondern die Frage insgesamt zurückzuweisen. Mitfiebern ist unsere Sache nicht. Mehr als Querschüsse haben wir nicht zu bieten. Unsere Abneigung gilt nicht nur dem grassierenden Populismus, sondern ebenso dem herrschenden Liberalismus, dem es in den letzten Jahren allerdings gelungen ist, die Restlinke fast völlig zu absorbieren.

Europa retten?

Nur Europa kann uns retten? - Dieser Gedanke einer völlig und in doppeltem Wortsinn faul gewordenen Intelligenz ist bezeichnend für die Regression intellektueller Potenziale. Als Beispiel sei das Manifest zur Neugründung der EU von unten (Die Zeit, Nr. 19/2012) genannt. Unterschrieben ist dieses Pamphlet unter anderem von Jacques Delors, Joschka Fischer, Anthony Giddens, Jürgen Habermas, György Konrad, Adam Michnik, Robert Menasse, Herta Müller, Martin Pollack, Gesine Schwan, Javier Solana, Helmuth Schmidt. Eine illustre Runde, zweifellos.

Da wimmelt es nur so von "Bürgern" in einer "Bürgergesellschaft", selbst der absolute Trottelsatz (ausgesprochen zu einer Zeit, als die USA Vietnam in die Steinzeit bombardieren wollten), von John F. Kennedy: "Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, fragt, was ihr für euer Land tun könnt", darf da nicht fehlen. Es gilt jedenfalls, "ein Europa der tätigen Bürger zu schaffen".

Indes, was sollen die tätern, bei "Doing Europa"? Wird nicht bereits genug getätert? Der tätige Bürger ist der Attentäter des Kapitals. Denken wir nur an die grausame Leichenproduktion im Mittelmeer und auch an anderen Flüchtlingsrouten. Denken wir an das kriegerische Treiben der Union (insbesondere ihrer Kernstaaten) in Nordafrika, im Nahen Osten oder im ehemaligen Jugoslawien. Denken wir an den Horror des europäischen Arbeitsmarkts, an die flexible Auflösung von Arbeitsschutz und Kollektivvertrag im Zeichen der vier Freiheiten (Waren, Kapital, Dienstleistungen, Personen), und denken wir vor allem auch an das völlige Versagen betreffend die ökologischen Herausforderungen. Woher rührt der Kredit der Europäischen Union? Nur weil der Anti-EU-Reflex dumpf ist, sagt das noch nichts über die Qualität der EU aus. Nur weil viel Unsinn über die Union erzählt wird, heißt das noch lange nicht, dass diese Sinn macht. Wer sich mit der Pro-EU-Literatur auseinandersetzt, könnte schnell deren eigenen Stumpfsinn entdecken. Die dystopischen Aspekte wurden jedenfalls mehr in diesen Jahren, nicht weniger.

Es dominiert die Anrufung der gängigen, aber leeren Formeln. Phrasen, die immer wieder aufgesagt werden müssen und kraft der medialen Masse erdrückend wirken. Diese geistigen Leistungen sind Serienprodukte der Kulturindustrie. Fast Food in gehetzten Zeiten. Für den Liberalismus aller Lager ist die europäische Einigung zweifelsfrei "das Beste, was Europa in den vergangenen Jahrtausenden passiert ist" (Daniel Cohn-Bendit/Guy Verhofstadt: Für Europa!, München 2012, S. 34). Oder ganz salopp der Robert Menasse: "Die EU ist die coolste aller Höllen auf Erden." (Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Freiburg-Basel-Wien 2015, S. 73.) Und Yanis Varoufakis, dezidiert kein Radikaler, dafür aber eine hofierte und zugelassene Leitfigur der Linken, meint gar, es stünde aktuell nicht mehr an, als den Kapitalismus vor sich selbst zu retten. Und Europa gleich mit. Soviel Bescheidenheit ist uns nicht vergönnt.

Die linke Liebe zur EU rührt vor allem aus einer Niederlagge oder besser einer Kapitulation. Hier verlaufen die Endmoränen der erledigten Emanzipation von 1968. Die EU-Euphorie ist auch das matte Substitut für die enttäuschten Hoffnungen auf den Sozialismus. Der Auf bruch endete in der Anpassung an das liberale und auch neoliberale (sofern wir das überhaupt scheiden wollen!) Universum. Wer erinnert sich etwa noch an die völlig überzogene Anti-EG-Kampagne der österreichischen Grünen vor dem Beitritt, hochgefahren von Johannes Voggenhuber, der sich dann flugs in einen feurigen Propagandisten der EU transformierte?

Europa lieben?

Die Kanäle gehen über, und die Druckmaschinen laufen heiß. Man hat das Gefühl, dass die Intellektuellen des Kontinents inzwischen im Vorhof der Brüsseler Kommission den Kotau machen. Man singt den blauen Kanon im Sternenchor. Kritik findet nur noch als Simulation statt. Eine pro-europäische Publikation folgt der nächsten: Daniel Cohn-Bendit, Robert Menasse, Ulrike Guérot, Oskar Negt, Claus Offe, Heribert Prantl, Claus Leggewie, Richard Sennett, Hannes Androsch. "Wie hältst Du's mit Europa?" heißt auch das neueste Buch, der von Europa ausgehaltenen Ulrike Guérot, Gründerin des Think Tanks "European Democracy Lab" in Berlin und Leiterin des "Departments für Europapolitik und Demokratieforschung" an der Donau-Universität Krems. "Europa muss man einfach lieben!", lässt Heribert Prantl, Chefredakteur der Süddeutschen ausrichten. Muss man? Nein, man muss dezidiert nicht als zusätzliches Glühwürmchen für Freedom and Democracy aufleuchten, derweil ist es durchaus lukrativ an diesem Jahrmarkt wohldotierter Eitelkeit teilzunehmen. Seine Feste tagen in Permanenz. Kaum ist ein Symposium zu Ende, beginnt die nächste Konferenz. Soviel Reklame hatten wir noch nie.

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Die Hypnose des Patriotismus. Sieben Exzerpte

I. Ich hatte schon mehrmals Gelegenheit, den Gedanken auszusprechen, dass der Patriotismus für unsere Zeit ein unnatürliches, unvernünftiges, schädliches Gefühl sei, welches einen großen Teil der Übel verursache, unter denen die Menschheit leidet, und dass daher dieses Gefühl nicht genährt und groß gezogen werden müsste, wie es jetzt geschieht; sondern im Gegenteil unterdrückt und durch alle Mittel, die vernünftigen Menschen zugänglich sind, vernichtet werden sollte.
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Stellvertretend sei etwa Ulrike Liebert, eine den Grünen nahestehende Bremer Politikwissenschafterin, genannt. In ihrem unsäglichen Buch "Europa erneuern!" geht es einmal mehr darum, die Union von unten zu demokratisieren, sie soll eine "demokratische Bürgerunion" (S. 73) werden. Es geht "um die humanistischen europäischen Ideale von Menschen- und Bürgerrechten, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, Demokratie, Wohlstand und Weltoffenheit ..." (S. 13) Es geht um "den Aufbruch zu einer zukunftsfähigen, europäischen Demokratie." (S. 39) "Wir alle sehen uns ja als Demokraten und Europa als Hort der Demokratie." (Ebd.) "Demokratie heißt, dass die Bürgerinnen und Bürger frei sind, sich aktiv und passiv an Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen, an Volksinitiativen und -abstimmungen zu beteiligen." (Ebd.) Notwendig ist "ein supranationales Upgrade der Demokratie" (S. 44). Gefordert wird ein "demokratisches Transplantat ins Herz der Eurozone" (S. 65). Schließlich geht es um die "Verteidigung freiheitlicher Werte" (S. 74). Scheitert dies, dann gilt es einen "Werteverlust" (S. 13) zu beklagen. Etc., etc.

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II. Der Patriotismus ist das Gefühl einer ausschließlichen Liebe zu seinem Volke und als die Doktrin vom Heroismus des Aufopferns seiner Ruhe, seines Besitzes und sogar seines eigenen Lebens zum Schutz der Schwachen vor der Vergewaltigung und Vernichtung durch die Feinde - war die höchste Idee jener Zeit, als jedes Volk es für möglich und gerecht hielt, zum Nutzen seiner eigenen Macht und Wohlfahrt die Menschen eines anderen Volkes zu plündern und zu morden.
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Es ist alles so abgeschmackt. Keine zwei Sätze können da geschrieben werden, ohne zu beten. Der liberale Weihnachtsbaum ist aufgeputzt. Alle Girlanden glitzern. Es hat schon was Liturgisches. Hier schwadroniert die herrschende Sprache. "Bürger", "Demokratie", Werte", "Wir alle!". Wabernde Vokabeln gleichen Gallerten, an denen alle hängen zu bleiben haben. Solche Theorie wurde nicht upgegradet, sondern downgeloadet. Dokumente geistigen Dünnpfiffs sind zahlreich. Während Ulrike Liebert nebulös von einer "transnationalen Republik" (S. 73) spricht, spricht Marcus Koch in seinem Buch "Nation Europa! Warum aus der Europäischen Union die Europäische Nation werden muss" zumindest Klartext. Kleine Nationen sollen einer großen Nation weichen. Die uns bekannte Union ist eine Fortsetzung des Gehabten.

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III. Die kleinen bedrückten Völkerschaften, die der Macht der großen Staaten zum Opfer gefallen sind, die Polen, die Iren, die Tschechen, die Finnen, die Armenier sind, indem sie dem Patriotismus der Sieger reagieren, dermaßen von ihren Bedrückern durch dieses überlebte, unnütz gewordene, sinnlose und schädliche Gefühl des Patriotismus infiziert worden, dass sich ihre ganze Tätigkeit auf diesen Patriotismus konzentriert. Und sie, die sie selbst unter dem Patriotismus der mächtigen Völker zu leiden haben, sind bereit, den anderen Völkerschaften gegenüber, um dieses Patriotismus willen, dasselbe zu tun, was ihre Sieger an ihnen getan haben und tun.
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Aber die Aufrufe überschlagen sich. Sie hyperventilieren. Da finden selbst Gestalten wie Friedrich Merz und Jürgen Habermas zusammen, wenn es darum geht, Europa im Handelsblatt vom 21. Oktober 2018 zu preisen, so treten sie ein "für ein Europa, das unsere Art zu leben schützt und das Wohlstand für alle schafft". Ist jemand, der "unsere Art zu leben" schützen will, überhaupt noch zurechnungsfähig? "Wir fordern eine europäische Armee", lautet die militärische Schlussfolgerung. Soviel Erneuerung war selten.

Europa erneuern?

Europa ist ein Popanz seiner Gläubigen. Bar jeder Realität und Erkenntnis wird es als Sehnsuchtsort inszeniert. Sogar der Antifaschismus wird neuerdings der EU-Geschichte hinzugedichtet, so als wäre nicht umgekehrt der Antikommunismus die prägende und treibende Komponente der europäischen Einigung gewesen. Robert Menasse ist der Poet dieses Schauspiels. Auch nachdem er über ein Walter Hallstein unterschobenes Zitat ("Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee") fast gestolpert wäre, legt er brav nach. Europa gerät zu einer liberalen Operette. Eine Aufführung folgt der nächsten.

Die Europäische Union ist ein Projekt der westeuropäischen Eliten. Eine EU-freundliche Agenda wird heute in "aufgeklärten Kreisen" als Konsens verordnet, und wer dagegen verstößt, wird als Populist oder Nationalist denunziert. Die autoritäre Verpflichtung auf den Proeuropäismus ist nicht mehr auszuhalten. Der Proeuropäismus, wie wir ihn kennen, ist ein nationalistisches und imperialistisches Konzept. Das Gezeter um den Brexit verdeutlicht dagegen, wie die Union und ihre Staaten ticken und wie weit die Selbstzerstörungskräfte in der EU selbst an Raum gewinnen. Wären die Sitzungs- und Flugkilometer nicht so hoch dotiert, müsste man direkt Mitleid haben mit dem beteiligten Personal.

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IV. Die regierenden Klassen Deutschlands hatten den Patriotismus ihrer Volksmassen bis zu einer solchen Höhe entflammt, dass in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts dem Volke ein Gesetz vorgelegt wurde, demzufolge alle Menschen ohne Ausnahmen Soldaten werden mussten. Alle Söhne, Gatten und Väter wurden im Morden unterrichtet, mussten zu unterwürfigen Sklaven eines jeden höheren Vorgesetzten werden und unweigerlich zum Mord derer bereit sein, die zu morden ihnen befohlen wird. Solange Regierung und Heere existieren werden, ist das Auf hören der Rüstungen und Kriege nicht möglich.
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Die Spaltung zwischen pro- und antieuropäischen Kräften ist ein Pseudokonflikt. Wir sollten uns damit nicht auf halten. Strategisch ginge es vielmehr darum, die relevanten Fragen in den Mittelpunkt zu rücken und jene unseligen und verdummenden Pseudofragen in den Hintergrund zu drängen. Das schließt Unterstützung wie Zurückweisung konkreter Vorhaben und Maßnahmen nicht aus, aber das ist etwas anderes, als sich der herrschenden Fragestellung auszuliefern und gar ihre Diktate schön zu reden. Das ist nicht unser Terrain. Bei der Konfrontation zwischen dem nationalen Kapitalismus und dem internationalen Kapitalismus sind wir gegen den Kapitalismus.

Wenn die Europäische Union gefährdet ist, dann sollten wir sie weder verteidigen noch angreifen. Dafür ist keine Lebenszeit zu opfern. Wir treten weder für die EU ein, noch befürworten wir einen Austritt. In beidem sehen wir keine Perspektive. Wir stehen weder für noch gegen Europa, auch nicht für ein anderes Europa. Ivan Krastev, ein bulgarischer Liberaler und Autor des Buchs "Europadämmerung" (Suhrkamp, Berlin 2017) hat darauf hingewiesen, dass nach "einer YouGov-Umfrage in 14 Mitgliedsstaaten die größte Gruppe in Europa die sind, die glauben, dass weder die Union noch ihre nationale Regierung funktionieren" (Der Freitag, 21. März 2019). Das wäre zumindest ein Ansatz. Auf jeden Fall ist die öffentliche Meinung (bei aller Diffusität) hier weiter als die offizielle oder gar die veröffentlichte.

Europa reformieren?

Wenn wir Europa genau beobachten, dann herrscht hier nichts anderes als der bürgerliche Wahnsinn. Natürlich demokratisch und rechtsstaatlich domestiziert. Aber es ist der Körper des Kapitals, der sich und somit uns organisiert: Wert, Konkurrenz, Geschäft, Markt, Standort, Arbeit, Leistung, Geld. Wir können uns aussuchen, ob wir das alles wollen oder nicht. Aber sobald wir diesen Rahmen akzeptieren sind unsere Möglichkeiten äußerst beschränkt. Doch genau das ist der Fall, der neueste Schlager (und es ist kein Lachschlager!) wird das fortan forcierte schwarz-grüne Bekenntnis zur ökosozialen Marktwirtschaft sein, wo Umwelt und Wirtschaft ganz freundschaftlich zueinander finden werden. Diesmal aber ganz sicher. Die Arbeit am globalen Burnout wird fortgesetzt.

Unser Widerwille, sich auf die sachliche Diskussion einzulassen, ist groß. Hier mitzuplaudern kann nur in der Befangenheit enden. Schnell ist man im Käfig von Markt und Staat und bemalt die Gitterstäbe. Das ist vergebene und vergeudete Zeit, nicht nur angesichts der drohenden ökologischen Katastrophen. Es gilt gar nicht konstruktiv zu sein, sondern destruktiv: Das System samt all seinen Strukturen und Formprinzipien steht zu Disposition.

Unsachlich, jenseits und wertlos hat schon seine Logik. Wir gehören nicht zur Phalanx der Erneuerer und Reformer. Ob die EU reformierbar ist, interessiert uns nicht. Vokabeln wie "Erneuerung" und "Reform" sollte man besser unter Quarantäne stellen. Das sind, gelinde gesagt, Drohungen, die nicht als solche erscheinen. Es geht um Alternativen. Wir brauchen eine andere Welt, eine andere Sozietät, keine Fortsetzung des Kapitalismus, sei er nun demokratisch, populistisch oder offen autoritär.

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Gesamteuropäischer Grossnationalismus

Warum mir das Wort "Europa" schon bei den Ohren herauskommt

von Ortwin Rosner

Von "richtigen Europäern", "Pro-" und "Anti-Europäern",
"Europafeinden", "wahrhaftem Europäertum"
und dem gefährlichen Spiel der Sprache

Das Wort "Europa" hat heute einen wesentlich anderen Klang als es in meiner Kindheit der Fall war. Die Jüngeren unter uns wissen es wohl nicht mehr, aber damals, ja damals war es noch ein freier, ein ungezwungener Klang, den das Wort "Europa" hatte, damals, bevor die "Europäische Union" den Begriff für sich besetzte. Das waren noch Zeiten, als "Europa" noch nicht zum Kampf begriff vergoren war, der einem ständig um die Ohren gehauen wird, mit dem man politische Gegner niedermacht und mit dem man sich selbst beweihräuchert. Ja, das waren noch Zeiten, als einem noch nicht fortwährend Leitartikelschreiber und Politiker mit dem erhobenen Zeigefinger erklärt haben, wie man denken, fühlen, handeln und natürlich auch abstimmen und wählen müsse, um ein "richtiger Europäer" zu sein.

Europa: Die Instrumentalisierung eines Begriffs

Damals wäre auch niemand auf die Idee gekommen, jemandem das "Europäertum" abzuerkennen, wie das heutzutage schon dem einen oder anderen Politiker oder seinen Anhängern geschehen kann. Und es wurden nicht andauernd "Bekenntnisse zu Europa" von einem eingefordert. Das Wort "Europa" war noch nicht vergiftet. Es hatte noch nicht den autoritären, unduldsamen, ja terroristischen Ton, den es heute vermittelt. Das "Europäertum" war noch kein Imperativ. Der Begriff "Europa" war noch nicht politisch instrumentalisiert. Es wurde einem nicht ununterbrochen erklärt, dass man "pro-europäisch" sein müsse. Diese Forderung hätte schlicht keinen Sinn ergeben. Niemand hätte sie verstanden. Und es wurde einem auch nicht immer zu damit gedroht, dass man für "anti-europäisch" oder "europafeindlich" gehalten werden könnte, wenn man so oder so denke.

Ja, in gewissem Sinn waren diese Zeiten schön, in denen man noch ein unverkrampftes Verhältnis zu dem Wort "Europa" haben konnte. Ohne all die Ruten im Fenster. Ein Wort, das noch frei war von all den Vereinnahmungen, Verschwörungen und Feindbildern. Klar, es gab den "Westen", und dieser Begriff übernahm damals die ideologischen Funktionen. Wer den "Westen" in Frage stellte, der war ja schon so eine Art Vaterlandsverräter.

Heute hingegen kann man schnell wie ein solcher an den Pranger gestellt werden, wenn man das Projekt der "europäischen Einigung" in Frage stellt, zu dem man sich gefälligst als "aufrechter Europäer" zu bekennen habe. Lauter Schlagwörter und Kampf begriffe, die es früher nicht gab.

Europa als großnationalistisches Projekt

Historische Parallelen drängen sich auf, angesichts solcher Formulierungen, deren struktureller Rassismus unverkennbar ist. Parallelen, von denen die "aufrechten Europäer" freilich weniger gern etwas hören. Tatsächlich erinnert aber vieles hier an die Nationsbildung Deutschlands während des 19. Jahrhunderts. Viele Kleinstaaten mit ihren Eigeninteressen mussten dazu überredet werden, sich zu einem Großreich zusammenzuschließen.

Die Europäische Union ist darum auch keineswegs das Gegenstück zum Nationalismus, als das sie sich gerne verkauft. Im Gegenteil, sie ist ein solches Großreich und selber Träger von Nationalismus. Das ist unübersehbar. Derselbe Patriotismus, den die einzelnen Länder für sich so gerne einfordern, der wird auch hier ständig eingefordert, nur in Bezug auf ein größeres politisches Gebilde, das ist alles. Dieselben Gefühle und Bindungen, die man dem Nationalismus zuordnet, werden auch hier von einem verlangt, und zwar ständig.

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V. Alle Völker der sogenannten christlichen Welt sind durch den Patriotismus bis zu einem solchen Grade von Vertierung gebracht worden, dass nicht nur die Menschen, die durch die Verhältnisse gezwungen werden zu morden und gemordet zu werden, den Mord wünschen und sich über das Morden freuen; nein auch die Menschen, die ruhig in ihren Häusern wohnen, ja, alle Menschen Europas und Amerikas befinden sich, dank der schnellen und leichten Verkehrsmittel und dank der Presse bei jedem Kriege in der Lage der Zuschauer im römischen Zirkus, freuen sich wie diese über das Morden und rufen ebenso blutgierig wie diese ihr 'Pollice verso!'"
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Wo wäre aber der prinzipielle Unterschied, ob sich jemand zum "Deutschtum", zum "Österreichertum", zum "Slawentum", zu "Großbritannien" oder eben zum "Europäertum" zu bekennen hat?

Wenn also die Regierungen der einzelnen Länder mit Brüssel im Streit liegen, dann stehen hier weniger Nationalisten gegen Anti-Nationalisten, vielmehr handelt es sich hier bloß um zwei verschiedene Ausformungen des Nationalismus, die miteinander in Konkurrenz stehen und um die Vorherrschaft kämpfen, eine kleinräumige und eine großräumige.

Europa und seine Feindbilder

Für diese Diagnose spricht auch etwas anderes. Jede Nation, jeder Nationalismus braucht Feinde, um sich zu konsolidieren. Äußere, aber auch innere Feinde. Jede Nation braucht für ihre Identitätsbildung die Unterteilung in "wir" und "die anderen". Ganze Bücher sind über das Thema geschrieben worden, vorwiegend Analysen der rhetorischen Strategien der Rechtspopulisten.

Umso erstaunlicher ist der Umstand, dass dabei nicht bemerkt wurde, dass diese Unterteilung keineswegs ein Exklusivmerkmal der "anti-europäischen" Rechtspopulisten darstellt, sondern auch genauso für die Rhetorik der "Pro-Europäer" kennzeichnend ist.

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VI. Zu der Befreiung der Menschen von dem furchtbaren Übel der Rüstungen und Kriege, unter dem sie gegenwärtig zu leiden haben und das immer mehr und mehr wächst, sind nicht Konferenzen, nicht Traktate und Schiedsgerichte nötig, sondern die Vernichtung jener Gewalt, die sich Regierung nennt und von der die größten Leiden der Menschheit herrühren.

Zu der Vernichtung der Regierungen ist nur eines nötig: Die Menschen müssen begreifen, dass jenes Gefühl des Patriotismus, welches allein dieses Werkzeug der Vergewaltigung stützt, ein rohes, schädliches, schimpfliches und schlechtes Gefühl ist, vor allem aber ein unmoralisches.
Ende Texteinschub

Ja, manchmal hat man den Eindruck, dass es sich bei der Europäischen Union um ein politisches Gebilde handelt, das sich ideologisch überhaupt nur mehr dadurch am Leben erhalten kann, dass es ständig neue Feinbilder erschafft. Was wäre schließlich Europa ohne Putin? So viel wie der Pfarrer ohne die Sünde.

Jedes Mal jedoch, wenn einer auch nur leise die überbordende Schwarzweißmalerei in den Konflikten mit Russland in Frage stellt und dafür natürlich unverzüglich in aller Öffentlichkeit als "Putinversteher" gebrandmarkt wird, wird ein Stück Europa erschaffen. Denn so wie jeder richtige Nationalismus braucht auch der Europa-Nationalismus für sein ideologisches Überleben nicht nur die äußeren Feinde, sondern gleichfalls die inneren. Was wäre man beispielsweise ohne die Visegrád-Staaten, die man als die Bad Boys vorführen kann, um demgegenüber als "richtiger Europäer" zu posieren?

Der Schatten Europas: Die Rechtspopulisten

Von daher lässt sich auch die eigentümliche dialektische Beziehung zwischen Europa und seinen Rechtspopulisten verstehen. Europa und die Nationalisten waren nie absolute Gegensätze, vielmehr sind sie auf äußerst komplexe Weise aufeinander bezogen. Der Nationalismus folgt der Europäischen Union wie ihr verleugneter Schatten und enthüllt damit ihr eigenes Wesen eher, als dass er ihm entgegenstünde. Die Pro-Europäer tun sich so schwer, ein Mittel gegen die Nationalisten zu finden, weil sie ihnen zu ähnlich sind. Die Rechtspopulisten Europas können schließlich mit ihrem Nationalismus auf jenem Nationalismus auf bauen, der nach wie vor unbefragtes kollektives Gedankengut ist, auch bei jenen, die sich für Gegner des Nationalismus halten. Wer das Europäertum beschwört, der schreit eben schon "Wir gegen die anderen!", der schreit eben schon "Macht die Grenzen dicht!", und der schreit damit eben schon "Kurz!", "Strache!", "Orban!".

Das "Europäertum" ist darum kein Gegenrezept gegen die Populisten, sondern betreibt immer schon deren Geschäft - und vice versa. Es ist kein so weiter Schritt, wie man uns glauben lassen will, von der Schwafelrhetorik "echten Europäertums" zu der weihevollen Verherrlichung des Kreuzes an der Wand oder gar dem schicksalsträchtigen Lob auf eine "wahrhaft nationalsozialistische Gesinnung".

Anfang Texteinschub
VII. Jetzt gibt es Leute, die speziell dazu erzogen und vorbereitet werden, um andere Menschen zu töten und zu vergewaltigen, Menschen, denen das Recht zusteht, zu vergewaltigen und zu diesem Zwecke über eine wohlgeordnete Organisation verfügen.

Dann aber werden keine Menschen mehr erzogen werden, niemand wird das Recht zur Vergewaltigung zustehen, es wird keine Organisation der Vergewaltigung mehr geben, und, wie dieses den Menschen unserer Zeit eigentümlich ist, die Vergewaltigung und der Mord werden immer und bezüglich aller als etwas Schlechtes gelten.

Die Vernichtung der Regierungen wird nur die traditionelle unnütze Organisation der Vergewaltigung vernichten und jeder Vergewaltigung die Berechtigung absprechen.

aus: Leo Tolstoi, Patriotismus und Regierung (1900)
Ende Texteinschub

Letzteres mag ein drastischer Vergleich sein, aber der Totalitarismus beginnt -das haben so unterschiedliche Denker wie Karl Popper und Wilhelm Reich erkannt - sobald Kollektivbegriffe und abstrakte Gebilde (Nation, Vaterland, Rasse, Klasse, Weltrevolution) eine Art Vergöttlichung erfahren und von dort aus der Geschichte einen Sinn zu geben versucht wird. Nichts anderes aber drückt sich in den immer wiederkehrenden Slogans der Politiker und Journalisten aus, die stets ihre "Sorge um Europa" in den Mittelpunkt rücken. Nicht von einer Sorge um die wirklichen "Menschen in Europa" und überhaupt auf der Welt ist da wohlgemerkt die Rede, sondern "Europa" ist es, um das man sich sorgt. Haben die Menschen aber mit Europa ein Problem, sind sie nicht bereit, sich dem "europäischen Interesse" so zu unterwerfen, wie man das von ihnen erwartet - so wird so getan, als ob mit ihnen etwas falsch sei. Schließlich sei doch das, um das es hier gehe, "alternativlos", wie dann auch oft gesagt wird. Dass die Menschen dann lieber den Populisten in die Arme laufen, die Menschennähe zumindest besser vortäuschen, das verwundert noch?

Dehnbare Menschenrechte

Man mag dagegen viele Einwände vorbringen. Beispielsweise, dass Europa entschieden für die "Menschenrechte" eintrete, wie die Populisten und Nationalisten der Welt, Orban, Putin oder Trump das nicht tun, und dass schon darum auch der Vergleich mit irgendwelchen totalitären Regimen vollkommen unpassend sei.

Das Problem damit ist, dass der Begriff "Menschenrechte" in den letzten Jahrzehnten seinerseits von verschiedensten Seiten derart politisch ausgeschlachtet und instrumentalisiert worden ist, dass sogar Kriege in seinem Namen geführt wurden und man gar nicht mehr so sicher sein kann, was daran Maskerade und was Wahrheit ist.

Wie doppelbödig und dehnbar die Beziehung Europas zu den Menschen rechten sein kann, hat sich etwa, um hier nur ein Beispiel zu nennen, im Verhältnis zu China erwiesen. Einerseits wurde 1989 von westlichen Journalisten über ein Massaker am Tian'anmen Platz berichtet, das es übrigens dort nie gab - vermutlich wurden Tausende bei den Studentenaufständen in Peking getötet, jedoch eben gerade nicht am Tian'anmen Platz -, das aber zum Inbegriff der Menschenrechtsverletzungen in China wurde. Andererseits beschränkten sich in der Folge die Proteste europäischer Länder gegen die tatsächlich bedenkliche Menschenrechtssituation in China bloß auf symbolische Akte. 2007 etwa gab es ein Treffen von Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem Dalai Lama, weil ihr das ihre Beraterin, Beate Baumann, nahegelegt hatte. Sie meinte, das würde das Image ihrer Chefin heben. Inzwischen hat aber auch das ganz aufgehört. Der Grund ist einfach: Die Geschäfte mit China sind für Europa einfach einträglicher als ein Bestehen auf den Menschenrechten.

Hierin - und nicht etwa, wie es einer weit verbreiteten und zuletzt von dem Historiker Timothy Snyder in einem Standard-Interview vom 25. Juni 2018 vertretenen Auffassung zufolge heißt, darin, dass Putins Agenten die westlichen Medien und das Internet unterwandern - liegt auch der wahre Grund dafür, dass die europäische Einheitsfront gegen Putin bröckelt: Für die europäischen Großkonzerne sind einfach die wirtschaftlichen Beziehungen Europas zu Russland von zu großer Bedeutung. Schon darum kann sich Putin beruhigt zurücklehnen.

Das ändert freilich nichts an der anhaltenden Anti-Putin-Rhetorik europäischer Politiker und Journalisten. Denn für Europa selbst gilt genau das, was sie immer von Putins Russland sagen: Es braucht ständig Feindbilder, um sich stabil zu halten.

Der Vater aller Nationen

Das Wort "Europa" hat in den letzten Jahrzehnten einen Wandel erfahren, es hat eine propagandistische Bedeutung bekommen, ja, dieses Wort ist Kampf und Krieg geworden, Krieg, wie es dieses Wort vorher nie war, wenn es auch Krieg in Europa gab. Vorläufig ist es nur ein Krieg der Worte. Aber Kriege von Worten legen Brücken zu tatsächlichen Kriegen.

Vielleicht könnte man sich an diesem Punkt einmal bemühen, die narzisstische Position zu verlassen, und versuchen, die Außenperspektive einzunehmen. Möglicherweise gelangt man dann zu ein bisschen Verständnis dafür, warum man anderswo dem Projekt der "europäischen Einigung" Misstrauen entgegenbringt, entgegenbringen muss, und wenig Sympathie für seine Verwirklichung hegt.

Aus unserer narzisstischen Euro-Perspektive etwa ist Putin einfach ein Nationalist, der sich scheinbar grundlos, einfach weil er der Bösewicht ist, Europa, das die "Menschenrechte" vertritt, beispielsweise im Fall der Ukraine in den Weg stellt. Aber kommt einmal jemand auf die Idee, dass aus der Perspektive Russlands dasselbe Wort "Europa" bloß für eine benachbarte, beinhart und egoistisch ihre Interessen vertretende Großmacht steht, deren Expansionsbestrebungen man nicht zu Unrecht mit nicht weniger Skepsis betrachtet, ja betrachten muss, als aus unserer Sicht ein Wiedererstarken Russlands?

Blicken wir wieder zurück auf das Beispiel Deutschlands. Die deutschen Länder fanden erst durch den Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 zu einem Reich zusammen. Weniger das friedliche, organische Wachstum, wie es noch der Goethe-Zeitgenosse Johann Gottfried Herder erträumte, sondern vielmehr der Krieg erwies sich als Vater aller Nationen.

Vielleicht ist die Wahrheit im Fall der europäischen Supernation, dass auch sie erst so richtig entstehen kann, wenn man gemeinsam gegen jemanden Krieg führt. Vorläufig noch handelt es sich bloß um einen Krieg der Sanktionen gegen Russland. Und eine Art Krieg, oder jedenfalls einen verbissenen Abwehrkampf, führt Europa gerade zur Zeit ebenso immer deutlicher gegen unerwünschte, aus nicht-europäischen Ländern stammende Flüchtlinge und Migranten.

Gesamteuropäischer Nationalismus

Es ist nämlich nicht wahr, dass für den Widerstand gegen die Einwanderung nur rückständige kleinstaatlich-nationalistische Bestrebungen verantwortlich sind, auch wenn das gelegentlich so unterstellt wird. Wer Stellungnahmen, Kommentare und Postings dazu aufmerksam studiert, dem wird nicht entgehen, wie sehr dabei die Identifikation mit Europa, mit dem europäischen Kulturraum eine Rolle spielt, in dem die Einwanderer großteils nur als Störenfriede oder wirtschaftliche Schädlinge wahrgenommen werden - was freilich bloß die Kehrseite ihrer ebenso eurozentristischen Romantisierung als Träger multikulturalistischer Segnungen und ihrer Verklärung als Arbeitskräftepotential durch die Wirtschaftskammer darstellt.

Vor einigen Jahrzehnten noch hat man sich dasselbe von Tschechen, Polen und Ungarn gedacht - "Die sind ja nicht wie wir!" hat man gesagt -, nun aber fühlt man sich mit denen, was das betrifft, also die Bedrohung durch außereuropäische Einwanderer, im selben Boot sitzend. Man sieht also, wie wenig die gängigen Zuschreibungen mehr stimmen und wie verwirrend in Wahrheit alles ist. Hier, gerade in dem Diskurs, der von "europafeindlichen Rechtspopulisten" angeführt wird, formiert sich allmählich so etwas wie ein echter gesamteuropäischer Nationalismus. So könnte es also paradoxerweise deren Verdienst sein, wenn die "europäische Einigung" glückt.

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Redaktion der Streifzüge

Repariert nicht, was euch kaputt macht!

Gegen das bürgerliche Dasein - für das gute Leben!

1.

Durch die Politik können keine Alternativen geschaffen werden. Sie dient nicht der Entfaltung unserer Möglichkeiten und Fähigkeiten, sondern in ihr nehmen wir bloß die Interessen unserer Rollen in der bestehenden Ordnung wahr. Politik ist ein bürgerliches Programm. Sie ist stets eine auf Staat und Markt bezogene Haltung und Handlung. Sie moderiert die Gesellschaft, ihr Medium ist das Geld. Sie folgt ähnlichen Regeln wie der Markt. Hier wie dort steht Werbung im Mittelpunkt, hier wie dort geht es um Verwertung und ihre Bedingungen.

Das moderne bürgerliche Exemplar hat die Zwänge von Wert und Geld völlig aufgesogen, kann sich selbst ohne diese gar nicht mehr vorstellen. Es beherrscht sich wahrlich selbst, Herr und Knecht treffen sich im selben Körper. Demokratie meint nicht mehr als die Selbstbeherrschung der sozialen Rollenträger. Da wir sowohl gegen die Herrschaft als auch gegen das Volk sind, warum sollen wir ausgerechnet für die Volksherrschaft sein?

Für die Demokratie zu sein, das ist der totalitäre Konsens, das kollektive Bekenntnis unserer Zeit. Sie ist Berufungsinstanz und Lösungsmittel in einem. Demokratie wird als ultimatives Resultat der Geschichte verstanden, das nur noch verbessert werden kann, hinter dem aber nichts mehr kommen soll. Die Demokratie ist Teil des Regimes von Geld und Wert, Staat und Nation, Kapital und Arbeit. Das Wort ist leer, alles kann in diesen Fetisch hineingegeistert werden.

Das politische System gerät selbst mehr und mehr aus den Fugen. Dabei handelt es sich nicht bloß um eine Krise von Parteien und Politikern, sondern um eine Erosion des Politischen in all seinen Aspekten. Muss Politik sein? Aber woher denn und vor allem wohin denn? Keine Politik ist möglich! Antipolitik heißt, dass Menschen sich gegen ihre sozialen Zwangsrollen aktivieren.

2.

Kapital und Arbeit bilden keinen antagonistischen Gegensatz, sie sind vielmehr der Verwertungsblock der Kapitalakkumulation. Wer gegen das Kapital ist, muss gegen die Arbeit sein. Die praktizierte Arbeitsreligion ist ein autoaggressives und autodestruktives Szenario, in dem wir gefangen und befangen sind. Abrichtung zur Arbeit war und ist eines der erklärten Ziele der abendländischen Modernisierung.

Während das Gefängnis der Arbeit zusammenstürzt, steigert sich die Befangenheit in den Fanatismus. Es ist die Arbeit, die uns dumm macht und krank noch dazu. Die Fabriken, die Büros, die Verkaufshallen, die Baustellen, die Schulen, sie sind legale Institutionen der Zerstörung. Die Spuren der Arbeit, wir sehen sie täglich an den Gesichtern und Körpern.

Arbeit ist das zentrale Gerücht der Konvention. Sie gilt als Naturnotwendigkeit und ist doch nichts als kapitalistische Zurichtung menschlicher Tätigkeit. Tätig sein ist etwas anderes, wenn es nicht für Geld und Markt geschieht, sondern als Geschenk, Gabe, Beitrag, Schöpfung für uns, für das individuelle und kollektive Leben frei verbundener Menschen.

Ein beträchtlicher Teil aller Produkte und Leistungen dient ausschließlich der Geldvermehrung, zwingt zu unnötiger Plage, vergeudet unsere Zeit und gefährdet die natürlichen Grundlagen des Lebens. Manche Technologien sind nur noch als apokalyptisch zu begreifen.

3.

Geld ist unser aller Fetisch. Niemand, der es nicht haben will. Wir haben das zwar nie beschlossen, aber es ist so. Geld ist ein gesellschaftlicher Imperativ und kein modellierbares Werkzeug. Als eine Kraft, die uns ständig zum Berechnen, zum Ausgeben, zum Eintreiben, zum Sparen, zum Verschulden, zum Kreditieren zwingt, demütigt und beherrscht sie uns Stunde für Stunde. Geld ist ein Schadstoff sondergleichen. Der Zwang zum Kaufen und Verkaufen steht jeder Befreiung und Selbstbestimmung im Weg. Geld macht uns zu Konkurrenten, ja Feinden. Geld frisst Leben. Tauschen ist eine barbarische Form des Teilens.

Nicht nur, dass eine Unzahl von Berufen sich ausschließlich damit beschäftigt, ist absurd, auch alle anderen Kopf- und Handarbeiter sind permanent am Kalkulieren und Spekulieren. Wir sind abgerichtete Rechenautomaten. Geld schneidet uns von unseren Möglichkeiten ab, erlaubt nur, was sich marktwirtschaftlich rechnet. Wir wollen das Geld nicht flott-, sondern wegkriegen.

Ware und Geld sind nicht zu enteignen, sondern zu überwinden. Menschen, Wohnungen, Produktionsmittel, Natur und Umwelt, kurzum: nichts soll eine Ware sein! Wir müssen auf hören, Verhältnisse zu reproduzieren, die uns unglücklich machen.

Befreiung heißt, dass die Menschen sich ihre Produkte und Dienste zukommen lassen. Dass sie sich direkt aufeinander beziehen und nicht wie jetzt sich in ihren gesellschaftlichen Rollen und Interessen (als Kapitalisten, Arbeiter, Käufer, Staatsbürger, Rechtssubjekte, Mieter, Eigentümer etc.) konfrontieren. Bereits heute erleben wir geldfreie Sequenzen in der Liebe, in der Freundschaft, in der Sympathie, in der Hilfe. Da schenken wir uns etwas, schöpfen gemeinsam aus unseren existenziellen und kulturellen Energien, ohne dass Rechnungen präsentiert werden. Da spüren wir in einigen Momenten, dass es ohne Matrix ginge.

4.

Kritik ist mehr als radikale Analyse, sie verlangt die Umwälzung der Verhältnisse. Perspektive versucht zu benennen, wie menschliche Verhältnisse zu gestalten sind, die dieser Kritik nicht mehr bedürfen; die Vorstellung einer Gesellschaft, in der das individuelle und kollektive Leben neu erfunden werden kann und muss. Perspektive ohne Kritik ist blind, Kritik ohne Perspektive ist hilflos. Transformation ist Experiment auf dem Fundament der Kritik mit dem Horizont der Perspektive. "Repariert, was euch kaputt macht!", ist unsere Formel nicht.

Es geht um nichts weniger als um die Abschaffung der Herrschaft, egal ob diese sich in persönlicher Abhängigkeit oder in Sachzwängen äußert. Es geht nicht an, dass Menschen anderen Menschen unterworfen bzw. ihren Geschicken und Strukturen hilflos ausgeliefert sind. Selbstherrschaft wie Selbstbeherrschung sind unsere Sache nicht. Herrschaft ist mehr als Kapitalismus, aber der Kapitalismus ist das bisher entwickelteste, komplexeste und destruktivste System von Herrschaft. Unser Alltag ist so konditioniert, dass wir den Kapitalismus täglich reproduzieren, uns verhalten, als gäbe es keine Alternativen.

Wir sind blockiert, Geld und Wert verkleben unsere Gehirne und verstopfen unsere Gefühle. Die Marktwirtschaft funktioniert wie eine große Matrix. Sie zu negieren und zu überwinden ist unser Ziel. Ein gutes und erfülltes Leben setzt den Bruch mit Kapital und Herrschaft voraus. Es gibt keine Transformation der gesellschaftlichen Strukturen ohne Änderung unserer mentalen Basis und keine Änderung der mentalen Basis ohne die Überwindung der Strukturen.

5.

Wir protestieren nicht, darüber sind wir hinaus. Wir möchten nicht Demokratie und Politik neu erfinden. Wir kämpfen nicht für Gleichheit und Gerechtigkeit und wir berufen uns auf keinen freien Willen. Auch auf den Sozialstaat und den Rechtsstaat wollen wir nicht setzen. Und schon gar nicht möchten wir mit irgendwelchen Werten hausieren gehen. Die Frage, welche Werte wir brauchen, ist einfach zu beantworten: Keine!

Wir stehen für die restlose Entwertung der Werte, für den Bruch mit dem Repertoire der Hörigen, die gemeinhin Bürger genannt werden. Dieser Status ist zu verwerfen. Ideell haben wir das Herrschaftsverhältnis schon gekündigt. Der Aufstand, der uns da vorschwebt, gleicht einem paradigmatischen Sprung.

Wir müssen raus aus dem Käfig der bürgerlichen Form. Politik und Staat, Demokratie und Recht, Nation und Volk sind immanente Gestalten der Herrschaft. Für die Transformation steht keine Partei und keine Klasse, kein Subjekt und keine Bewegung zur Verfügung.

6.

Es geht um die Befreiung unserer Lebenszeit. Nur sie ermöglicht mehr Muße, mehr Lust, mehr Zufriedenheit. Gutes Leben heißt Zeit haben. Was wir brauchen, ist mehr Zeit für Liebe und Freundschaften, für die Kinder, Zeit zu reflektieren oder um faul zu sein, aber auch, um sich intensiv und exzessiv mit dem zu beschäftigen, was einem gefällt. Wir stehen für die allseitige Entfaltung der Genüsse.

Befreites Leben heißt länger und besser schlafen und vor allem auch öfter und intensiver miteinander schlafen. Im einzigen Leben geht es um das gute Leben, das Dasein ist den Lüsten anzunähern, die Notwendigkeiten sind zurückzudrängen und die Annehmlichkeiten zu erweitern. Das Spiel in all seinen Varianten verlangt Raum und Zeit. Das Leben muss auf hören das große Versäumnis zu sein.

Wir wollen nicht die sein, die zu sein wir gezwungen werden.

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Soziales Europa? Ein Wintermärchen

Über Kosten und Folgen der EU-Non-Social-Policy

von Nikolaus Dimmel

Nach der verquasten, mühseligen Debatte um ein liberales "Europäisches Sozialmodell", welches auf dem Sozialpolitik-Torso des Vertrags von Maastricht 1991, dem "Opting-out" der Briten und der jahrzehntelangen Obstruktion jedweder Vergemeinschaftung der Sozialpolitik durch dieselben auflagerte, gab Mario Draghi, Delegierter von Goldman Sachs und Präsident der Europäisches Zentralbank, 2012 mit gehöriger Verachtung gegenüber den Subalternen die Devise aus, dieses Modell sei tot. Allzu erfolgreich hatten sich die Kräfteverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital seit der Finanzkrise 2008 und der Renaissance des finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregimes zugunsten letzterer verschoben, als dass die EU sich noch der Mühe wie zuvor in den NAP-Inclusion-Perioden I + II hätte unterziehen müssen, so etwas wie soziale Integration oder Inklusion zumindest formal zum Gegenstand der von ihr administrierten hegemonialen Projekte zu machen. Philip Mirowski hat dazu das Motto geprägt: "Never let a serious crisis down to waste."

Markt diktiert Sozialpolitik

Ohnehin diente die Sozialpolitik der EU seit 1991 vordringlich dazu, mittels der Durchsetzung von Sozialdienstleistungsmärkten, Vergaberegimen und Beihilfeverboten die soziale Daseinsvorsorge dem Finanzkapital, jüngst etwa in Form der "Social Entrepreneurship Initiative" oder von "Social Impact Bonds" zu öffnen, um nun auch mit Obdachlosigkeit, Hunger, Gewalt oder psychischen Erkrankungen Profite generieren zu können. Außerhalb der Marktlogik ist diesen Leuten soziale Sicherheit kategorial nicht mehr denkbar.

Bereits 2012 zeichnete sich ab: der neoliberale Alptraum geht ungebremst weiter. Die politische Dienstklasse, nur kurz verblüfft von der sich ankündigenden Implosion von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, kündigte noch mehr Durchkapitalisierung, Vermarktlichung, Austerität, Wohlfahrtsstaatsabbau, Disziplinierung und soziale Kontrolle der Arbeitslosen und Armen, Privatisierungen und Zwänge zur Eigenvorsorge, sinkende Nettolöhne und eine sozialistische Vergemeinschaftung der Schulden der institutionellen Investoren, Zocker und Reichen an. Ihr Bemühen war von Erfolg gekrönt: Seit 2008 explodierte der Vermögens-Gini. In Österreich eignet das oberste Prozent 40,5 Prozent des gesamten Vermögens (534 Mrd. Euro) mit einem Durchschnitt von 14 Mio. Euro pro Haushalt. Weitere vier Prozent der Haushalte eignen 15,7 Prozent, weitere fünf Prozent 9,5 Prozent des Vermögens. Sohin entfallen auf das oberste Dezil 65,7 Prozent des Vermögens, während 40 Prozent 31,7 Prozent eignen. Die untersten 50 Prozent der Haushalte teilen sich vier Prozent des Vermögens. Allerdings weisen die untersten beiden Dezile ein Negativ-Vermögen in Form von Schulden auf. Zehn Prozent der Haushalte sind überschuldet, können also nicht einmal mehr laufende Zinsen begleichen.

Freilich, derlei Ungleichheit und Marktliberalität kostet: 2017 waren bei 222 Mio. Erwerbstätigen noch immer 112,9 Mio. Menschen bzw. 22,5 Prozent der Bevölkerung der EU von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht (2012: 24,9 Prozent). Zwar halbierte sich von 2013 bis 2019 die Arbeitslosigkeitsbelastung von 13 auf 6,2 Prozent; gegengleich stieg die Zahl der "Working Poor" auf acht Prozent (18 Mio.) und jene der Niedriglöhner auf 17 Prozent (38 Mio.). Ein Viertel der Beschäftigten ist prekär, die Hälfte atypisch beschäftigt. Die sozialen und politischen Kosten dieser EU-Non-Social-Policy sind astronomisch. Abgesehen davon, dass sich die Betroffenen mittels Wahlen nicht nur als politisches Subjekt, sondern auch als Volkswirtschaft konsequent abschaffen oder beschädigen. Die Kosten des Brexit belaufen sich je nach Land auf 1,2 bis 4,5 Prozent des BIP. Da geht selbst der politischen Dienstklasse des ideellen Gesamtkapitalisten ein Licht auf.

Nun hatte der Vertrag von Lissabon 2009 zwar das Drei-Säulen-Modell des Vertrags von Maastricht (TFEU) als Geburtsstunde einer institutionalisierten Politik neoliberaler Vergesellschaftung beseitigt, mangels linker Gegenmacht noch immer aber keine sozialpolitische Kompetenz jenseits der Arbeitsmarktpolitik, der horizontalen Sozialklausel in Art. 9 TFEU und der "Open Method of Coordination", also einem sozialpolitischen "Soft Law" entwickelt.

Eine EU-Gesetzgebungskompetenz im Bereich der sozialen Daseinsvorsorge findet sich sohin im Vertrag von Lissabon (AEUV) nicht, abgesehen von den Grundsätzen der "Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse" (Art. 14 AEUV), während die nicht-wirtschaftlichen (sozialen) Dienste weiterhin in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Sohin beschränkte sich die Sozialpolitik der EU gemäß Art. 151 bis 161 AEUV weiterhin auf die Arbeitsmarktpolitik und hierbei auf die Freizügigkeit der Arbeitskraft (Leistungsexport, beschränkte Berechtigung zur Inanspruchnahme bedarfsgeprüfter Leistungen im Falle der transnationalen Arbeitssuche). Die Europäische Sozialagenda 2010 wollte bloß flexiblere Beschäftigungsverhältnisse mit einem "modernisierten Sozialschutz" schaffen, verschwieg aber, wie dies bei gleichzeitiger Aufweichung der Kollektivvertragssysteme möglich sein sollte.

Lauwarme Phrasen und ...

Als Präsident Juncker 2017 daher die Säule sozialer Rechte ("European Social Pillar") als einen epochalen Modernisierungsschritt der sozialen Sicherung in Europa verkündete, war die Enttäuschung groß. Vom angekündigten großen Wurf blieben 20 Staatszielbestimmungen in blumiger Sprache, etwa ein undurchsetzbares "Recht auf faire Löhne und Arbeitsbedingungen", ein unbestimmtes "Recht auf Gesundheitsversorgung", Maßnahmen zur Verbesserung der "Work Life Balance", eine Orientierung an sozialer Inklusion sowie die Ankündigung einer Schließung des "Gender Pay Gap".

Neuerlich wurde damit deutlich, dass ein austeritätspolitisch imprägniertes Ver marktlichungskonzept den Einbau eines "Social Pillar" im Primärrecht nicht erlaubt. Denn der vielbesungene "Social Pillar" könnte nur dann Armut und Ausgrenzung bekämpfen, wenn er durchsetzbare, bedarfsdeckende, individuelle Rechte auf Geld-, Sach- und Dienstleistungen im Falle von Arbeitslosigkeit, Armut, Wohnungslosigkeit oder fehlender Bildungsbeteiligung einräumen würde. Derlei Rechte müssten europäisiert gleichartig durchsetzbar sein und sich an den EU-SILC-Schwellen orientieren. Er müsste im EU-Wirtschafts- und Arbeitsrecht nicht nur Unternehmensstrategien des Sozialdumping (Lohnunterbietungswettbewerbe im Standortwettbewerb) und die Schaffung kollektivvertragsfreier Zonen, sondern auch den Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten der Union unterbinden.

Eine Sozialpolitik-Säule müsste ferner, folgt man Stiglitz (2016), einen solidarischen finanziellen Stabilitätsmechanismus, Eurobonds, eine gemeinsame Einlagensicherung sowie, als ersten Schritt, eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung beinhalten. Sie müsste, Mazzucato (2014) folgend, inklusive Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen. Und sie müsste, Hudson (2016) folgend, nicht nur Eduard Heimanns Idee der Sozialpolitik als Reparaturanstalt eines autophagischen Kapitalverwertungsmechanismus Rechnung tragen, sondern schlicht den Keynesianischen Tod des Rentiers einleiten: "Don't even think about it."

Demgegenüber lesen sich die Papiere zum "European Pillar of Social Rights" (2017) wie ein lauwarmes Set von Phrasen symbolischer Politik. In diesem "Wasch-mich-aber-mach-mich-nicht-nass"-Zuschnitt bleiben die MaastrichtKriterien, dutzendfach einfachgesetzlich oder verfassungsrechtlich als "Schuldenbremsen" in den Mitgliedstaaten institutionalisiert, in Kraft und gelten weiterhin die Maximen der Austerität und Marktöffnung. Nonchalant kippen Kompetenzen zur Steuervereinheitlichung, zur Bekämpfung der Steuerflucht, zur Armutsbekämpfung oder Schaffung inklusiver Beschäftigung hinter den Machbarkeitshorizont. Auf absehbare Zeit gibt es keine uniformen Regeln zur Besteuerung von Vermögen, Schenkungen, Erbschaften und Stiftungen.

Ohnehin ist gegenwärtig keine politische Konstellation vorstellbar, welche eine Trajektorie hin zu einer EU-Politik sozialer Inklusion eröffnen würde, zumal Präsidentin Von der Leyen soeben deutlich vor Augen geführt hat, dass auch die nächste Kommission auf Strategien der Flexibilisierung und Atypisierung der Arbeit, Verwettbewerblichung und Vermarktlichung sozialer Dienste, nicht aber auf eine Strategie der Reduktion von Ungleichheit und regionalen Disparitäten setzt. Nach dem Feldzug der Troika in Griechenland liegt auf der Hand, dass die EU nicht an (sozialer) Demokratie, Souveränität, Rechts- und Wohlfahrtsstaatlichkeit interessiert ist, sobald die Interessen der Couponschneider berührt sind.

So werden auch weiterhin binnenstaatliche Verteilungskonflikte und transnationalisierte Standortwettbewerbe die Handlungsspielräume der Sozialpolitik beschneiden. Der "Open Method of Coordination", also der Entwicklung sozialpolitischer Arrangements durch ein von der EU-Kommission moderiertes wechselseitiges Lernen zwischen den Mitgliedstaaten, kommt als "Soft Law" weiterhin nur schwache regulatorische Wirkung zu. Die Kommission selbst bleibt darauf beschränkt, Empfehlungen auszusprechen; selbst indirekte Sanktionen bei "mangelnder Lernwilligkeit/-fähigkeit" bleiben aus.

Noch immer wird ein nicht-aktivierender Wohlfahrtsstaat im neoliberalen EU-Talk der umwegrentabilitätsorientierten Sozialpolitik (und eben nicht nur in den "Frames", Emotionen, bildhaften Simplifizierungen und inhaltsleeren Erregungen nationaler Sozialpolitik) letztlich als Wettbewerbshemmnis verstanden. Ganz der legendären Saldenmechanik der "Schwäbischen Hausfrau" (was ausgegeben wird, muss zu erst eingenommen werden) verpflichtet, wird zwar seitens der Kommission rhetorisch von einer "investiven Sozialpolitik" oder einem "Social Return on Investment" schwadroniert. Tatsächlich aber dient derlei nur als ideologische Rauchentwicklung, um zu kaschieren, dass damit im Grunde genommen eine Ökonomisierung und Vermarktlichung aller Leistungen der sozialen Daseinsvorsorge gemeint ist.

... Lippenbekenntnisse

Allenfalls als Lippenbekenntnis hat die Kommission wiedergegeben, dass sich ein Präventionsnutzen staatlicher Intervention nachweisen lässt, dass bedarfsorientierte Transferleistungen unmittelbar nachfragefähiges Einkommen mit einer Sparquote von Null verkörpern und dass die Kosten der "Non-Social-Policy" unter ceteris-paribus-Bedingungen (noch kann man die "Überflüssigen" der Gesellschaft nicht einfach entsorgen) höher liegen als jene der Prävention. Ein "Social Pillar" wurde daraus aber nicht. Im Gegenteil: Die ins Absurde hineinragende, refeudalisierte Ungleichheit ebenso wie der pervasive Terror der Vermarktlichung, der die Leute krank, dumm und offen für faschistische politische Lösungen macht, gilt ausdrücklich nicht als Probierstein der EU-Sozialpolitik.

Nicht Verteilung, sondern Marktchancen der Subalternen sollen die Angelegenheit in trockene Tücher bringen. Hartnäckig wird auch der Zusammenhang zwischen zunehmender Ungleichheit, Überakkumulation, Desinvestment und sinkenden Wachstumsraten nicht als sozialpolitisches Problem gesehen. Zwar fremdelt die Kommission angesichts erodierender Solidaritäten, sinkender Resilienzressourcen, steigender sozialdarwinistischer Reflexe und rechtsnationalistischer Insellösungen der Abschottung. Trotzdem sind die politischen Eliten unfähig zu erkennen, dass ihr marktfundamentalistisches, supranationales Projekt zerbricht. Gefangen in der Zwangsjacke des deutschen Ordoliberalismus und der Austerität erweist sich die EU unfähig, eine sozial inklusive, realwirtschaftlich orientierte und zudem allenfalls auch noch ökologisch nachhaltige Wachstumsstrategie zu entwickeln.

Eine Fiskalunion mit einheitlichen Finanzierungsmechanismen (Vermögens-, Erbschafts-, Schenkungssteuern), einer Unterbindung des antisozialen Standortwettbewerbs und vergemeinschafteten sozialen Netzen scheint ihr undenkbar. Erfolgreich hat der EuGH zudem die Grundfesten der Wohlfahrtsstaatlichkeit durch eine Extension der Investitionsfreiheit erschüttert und einer neoliberalen Wohlfahrtsfeindlichkeit den Weg geebnet. Die Visegrad-Staaten, ebenso völkisch-sozial wie nationalistisch, blockieren jeden Neuanlauf zur Reform des Primärrechts. Im Ergebnis bleibt ein Europäischer Wohlfahrtsstaat als sozialer Pfeiler in den Verträgen bloße Idee, denkbar zwar, aber fernab jeder Realisierung.


Literatur

European Commission (2017): European Pillar of Social Rights.

Hudson, M. (2016): Der Sektor, Stuttgart.

Mazzucato, M. (2014): Das Kapital des Staates, München.

Sitglitz, Joseph (2016): The Euro, London.

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Willkommen im Arbeitslager Europa!

von Martin Mair

Bereits bei ihrer Gründung 1993 weist die EU steigende Erwerbslosenzahlen auf. Auch wenn die Union in der Sozialpolitik keine Regelungskompetenz hat, so war doch im Laufe der Jahre in vielen Staaten eine ähnliche Entwicklung festzustellen: Statt den Staat in die Verantwortung für die ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen zu nehmen, für die Aufteilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung oder gar den Auf bau alternativer Beschäftigungsfelder zu forcieren, war in vielen Staaten ein Dogmenwechsel festzustellen. Bei der abrupten Einführung von Hartz IV zeigte sich das 2004 am deutlichsten. Die Blaupause für die Politik lieferte die "OECD Jobs Strategy", die 1997 von der dänischen Präsidentschaft unter dem Schlagwort der "Aktivierung" propagiert wurde.

Folgende Glaubenssätze stehen dahinter:

  • Lohnarbeit ist das beste Mittel gegen Armut.
  • Der Arbeitsmarkt ist unflexibel - Sozialsystem und Arbeitnehmerrechte sind ein Hindernis.
  • Wachstum fördert Beschäftigung - Beschäftigung fördert Wachstum. Aus der alten "aktiven Beschäftigungspolitik" der 80er Jahre wurde die "aktivierende Arbeitsmarktpolitik":
  • Grund für Arbeitslosigkeit sind nicht mehr fehlende Arbeitsplätze, sondern dass die Chancen des freien Marktes nicht genutzt würden.
  • Statt der Politik ist jeder einzelne Mensch als Marktteilnehmer selbst für sein Schicksal verantwortlich.
  • Statt der Solidarität aller (Arbeitszeitverkürzung), gilt die Eigenverantwortung im Wettbewerb als höchster Wert.
  • Aus dem "Recht auf Arbeit und soziale Sicherheit" wird die Pflicht sich durch Betreuer fördern und fordern zu lassen.
  • Statt bei Mangel an "Arbeitskräften" nach dem Pull-Prinzip Lohn zu erhöhen, herrscht das Push-Prinzip in Form von noch mehr Druck.
  • Statt Vermittlung in volle und regulär bezahlte Arbeit am "ersten Arbeitsmarkt" gilt bereits verbesserte Arbeitsmarktnähe, prekäre Leih- oder Teilzeitarbeit oder Arbeit am "zweiten Arbeitsmarkt" als Erfolg. "Integration" sei nur durch Erwerbsarbeit (Arbeitszwang) möglich. Arbeitslose sind keine eigenständigen politischen Akteure (keine Vertretung). Schon gar nicht darf das kapitalistische Wirtschaftssystem samt Wachstumszwang in Frage gestellt werden. Als Ausgleich wird "Decent Work" in Aussicht gestellt ("Soziale Säule"). Das neoliberale Aktivierungs- und Arbeitszwangregime der EU-Kommission zeigt sich u.a. in der
  • Verringerung der Bezugsdauer und Senkung der Bezugshöhe,
  • Verschärfung des Sanktionenregimes,
  • Verschlechterung der Kriterien für "zumutbare Jobs", prekäre Arbeit wird zumutbar,
  • Ausbau des "zweiten Arbeitsmarktes" mit reduzierten ArbeitnehmerInnenrechten ("Workfare"),
  • Auslagerung von Aufgaben an private, gewinnorientierte Agenturen. Damit es keine Ausweichmöglichkeit gibt, werden die Bereiche des "Sozialstaates" enger verzahnt:
  • Anbindung der Sozialhilfe an das verschärfte Regime der Arbeitsagentur,
  • Verschärfung des Zugangs zur Invaliditätspension, selbst Behinderte werden "fit 2 work" erklärt (GB),
  • Verschlechterungen bei der Alterspension, Erhöhung des Pensionsalters,
  • verstärkte Datenerhebung und automatischer Datenaustausch,
  • Förderung privater Sozialversicherungen (Pensionsvorsorge),
  • Verringerung von Freiräumen und Ausstiegsmöglichkeiten. Aus grundlegenden Menschenrechten werden individuelle Pflichten:
  • Aus "Jeder Mensch ist gleich an Rechten und Würde geboren und hat daher das Recht auf frei gewählte gute Arbeit" wird "der Mensch erlangt seine Würde erst durch die Arbeit. Arbeit um jeden Preis ist Bürgerpflicht".
  • Aus dem Recht auf Gesundheit und freie Behandlungswahl wird die Pflicht zum Erhalt der "Arbeitsfähigkeit" und Zwangsrehabilitation (Case-Management)
  • An der Arbeitslosigkeit ist der Arbeitslose schuld, Defizitorientierung ("Vermittlungshindernisse" = individuelle Schuldzuschreibung).
  • Einschränkung der Privatsphäre und des Selbstbestimmungsrechts,
  • Tendenz zum Ersatz festgelegter Rechte und Pflichten durch "Vereinbarungen" auf ungleicher Machtbasis,
  • höhere Hürden beim Rechtszugang.

Die fehlende Regelungskompetenz der EU wird 2000 als Teil der Lissabon-Strategie durch die "Open Method Coordination" ausgeglichen. Seither wuchern die Agenturen, Konferenzen, Untersuchungen und Berichte mit denen EU-Staaten gelobt oder gerügt werden. Im "Europäischen Semester" fordert die EU planwirtschaftlich höhere Erwerbsquoten speziell für marktabsente Gruppen wie Frauen, Ältere, Gesundheitlich angeschlagene und Migrantinnen.

Außerhalb der EU-Kernstaaten kommt die teure "Aktivierung" weniger zum Zug. Die Kommission machte 2016 eine "Öffentliche Konsultation betreffend der Dienstleistungen für Langzeitarbeitslose". Nur in Englisch.

Immer mehr Menschen werden so im Namen von Wirtschaftswachstum und Armutsbekämpfung auf den Arbeitsmarkt getrieben, möglichst alle Lebensbereiche, gerade die "unproduktiven", in schlecht bezahlte, prekäre Erwerbsarbeit umgewandelt. Auf Kosten der Versicherten und Steuerzahlenden subventionierte Arbeit wird Unternehmen billig wie Dreck nachgeworfen.

Alle Stakeholder sind am Gewinn versprechenden Geflecht der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik beteiligt und haben Lobbygruppen in Brüssel. Alle? Bis auf die Betroffenen selbst; die Erwerbsarbeitslosen. Ressourcen für eine EU-weite Vernetzung bekommen die Arbeitsloseninitiativen nicht. Die Hürden für Projektförderungen sind zu hoch. Stattdessen können sich Politiker einmal im Jahr ausgesuchte Vorzeigearme am vom "Europäischen Armutsnetzwerk" wohlorganisierten Treffen anhören. Alles fernab der Kontrolle durch das EU-Parlament. Die politische Verantwortung verschwindet im von den Lobbyistengruppen bearbeiteten Institutionengeflecht. Nicht einmal die Europäische Grundrechteagentur darf einen kritischen Blick auf den Stand der "Sozialen Menschenrechte" in der EU werfen. Wie wunderbar. Das Soziale ist das, was über bleibt, wenn überhaupt ...

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Das Ende des Westens

von Tomasz Konicz

Wie sieht ein kräftiges geopolitisches "Fuck you!" im Herbst des Jahres 2019 aus? Vielleicht so: Angesprochen auf die vielen Kämpfer des Islamischen Staates, die nach Trumps Verrat an den Kurden und dem Angriff der Türkei auf Rojava im Oktober 2019 fliehen konnten, ließ der US-Präsident eine beruhigende Botschaft vom Stapel. Diese Islamisten würden nicht in die Vereinigten Staaten, sondern nach Europa aufbrechen, wo sie herkämen. Kein Grund zur Sorge also. Diese Episode scheint den zerrütteten Zustand des "Westens", des einstmals dominanten geopolitischen Machtpols des spätkapitalistischen Weltsystems, treffend zu illustrieren. Eigentlich gibt es den Westen - als eine dauerhafte machtpolitische Allianz zwischen den USA und Europa - nicht mehr.

Die immer offener ausgetragene Konkurrenz zwischen Washington und Berlin, die längst die Momente der transatlantischen Kooperation überstrahlt, äußerte sich auch in der Reaktion auf die Initiative Berlins, eine transnationale Schutzzone in Nordsyrien einzurichten: Trump verweigerte eine diesbezügliche Kooperation, der Vorschlag der CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer verlief im Sand, während US-Truppen darangingen - nach ihrem Rückzug von der türkisch-syrischen Grenze, an der türkisch-islamistische Banden offen Massenmorde und ethnische Säuberungen begingen -, auf Weisung Trumps die Ölfelder Ostsyriens zu sichern.

Berlin gegen Washington

Dieser während der Krise in Nordsyrien evident gewordene Bruch zwischen den USA und Europa ist einerseits das Resultat einer langjährigen geopolitischen Entwicklung, bei der insbesondere Berlin bemüht war, sich sukzessive aus dem westlichen, US-dominierten Bündnissystem zu lösen, den deutschen Einfluss in Europa zu mehren, um eine hegemoniale Stellung zu erringen, und das gemäß Berliner Interessen umgeformte Deutsch-Europa als einen eigenständigen globalen Machtpol, als eine Weltmacht zu etablieren, bei der die europäischen Ressourcen und Machtmittel weitestgehend globalen deutschen Interessen dienen würden.

Die erste große offene Rebellion Berlins gegen die US-Hegemonie kann auf das Jahr 2003 datiert werden, als sich die Schröder-Regierung entschloss, gemeinsam mit Paris sich der US-amerikanischen Invasion des Irak zu verweigern. In dieser ersten großen transatlantischen Auseinandersetzung konnten die USA neben Großbritannien noch einen Großteil der östlichen Peripherie der Nato - vom damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld als "New Europe" tituliert - auf ihre Seite ziehen, sodass dem "Old Europe" um Berlin und Paris eine gesamteuropäische Frontstellung gegen Washington misslang.

Hiernach war das Moment der transatlantischen Konkurrenz selbst bei gemeinsamen Interventionen des "Westens" gegeben. Ein Paradebespiel ist das durch russische Geheimdienste publik gemachte "Fuck Europe!" der US-Diplomatin Victoria Nuland (faz.net 07.02.2014) während der Krise in der Ukraine, als der Westen durch die Unterstützung mitunter offen faschistischer Kräfte den Sturz der prorussischen Regierung betrieb - und das ökonomisch wie politisch zerrüttete Land in einen langwierigen Bürgerkrieg trieb. Die Intervention des Westens erfolgte auf einer schmalen gemeinsamen Interessengrundlage, die aber schon von starken Differenzen überlagert wurde, bei deren Entfaltung klar wurde, "wie uneins der Westen beim Thema Ukraine" sei, so die FAZ damals.

Es ging Washington und Berlin darum, die Ausbildung eines geopolitischen Konkurrenten, der vom Kreml damals gemeinsam mit der Ukraine forcierten Eurasischen Union, zu verhindern. An dem Scheitern dieses geopolitischen Konkurrenten hatten sowohl Washington als auch Berlin ein substanzielles Interesse: Berlin konnte sich einer nennenswerten geopolitischen Konkurrenz zu seinem rapide verarmenden Europa entledigen und die USA sind der Ausbildung eines eurasischen Bündnissystems entgegengetreten, das eine ernsthafte monetäre Konkurrenz zum US-Dollar hätte werden können. Die Diskrepanzen zwischen Berlin und Washington (die sich in Nulands "Fuck the EU" manifestierten) ergaben sich vor allem daraus, dass die USA bei der Intervention möglichst stark eskalieren wollten, um zusätzlich einen Keil zwischen Deutsch-Europa und Russland zu treiben, während Berlin die Herauslösung der Ukraine aus der russischen Einflusssphäre möglichst geräuschlos durchführen wollte. Diese destruktive, "negative" Krisenkonkurrenz zwischen Staaten, Bündnissystemen und Wirtschaftsräumen, die charakteristisch für den gegenwärtigen Krisenimperialismus ist, bildete dann auch den entscheidenden Faktor, der die Ukraine in den gegenwärtigen Bürgerkrieg trieb.

Während der Obama-Administration bemühte sich die amerikanische Geopolitik vergebens, dem drohenden Verlust der globalen Hegemonie mit einer "ozeanischen" Bündnispolitik entgegenzuwirken, bei der sowohl ein pazifisches als auch ein atlantisches Bündnissystem vermittels Freihandelsverträgen aufgebaut werden sollte, mit dem eine Eindämmung sowohl Russlands wie auch Chinas erreicht werden sollte. Letztendlich scheiterten die transatlantischen Verhandlungen an dem Widerstand Deutschlands. Die im Abstieg befindliche und hoch verschuldete Ex-Hegemonialmacht USA muss unbedingt weiterhin alles versuchen, um den US-Dollar als Weltwährung zu retten, weswegen sie die Etablierung eines einheitlichen eurasischen Wirtschaftsraumes - bis vor Kurzem gab es auch innerhalb der deutschen Funktionseliten eine hierfür plädierende Strömung - um jeden Preis zu verhindern trachtet. Die blutige Eskalation in der Ukraine bildete somit den besagten Keil, der eine diesbezügliche Annäherung zwischen Berlin und Moskau zumindest mittelfristig unmöglich machen sollte.

Deutsch-europäische Freihandelsdiplomatie

Nach dem Scheitern der amerikanischen "Umarmungsstrategie" unter Obama, bei der Europa im Rahmen des TTIP-Freihandelsabkommens dauerhaft in der geopolitischen Sphäre Washingtons eingebettet werden sollte, ging Merkel mit der Wahl des Populisten Trump ins Weiße Haus in die Offensive. In ihrer berühmten Bierzeltrede vom Mai 2017 formulierte sie den Führungsanspruch Berlins in einem machtpolitisch eigenständig agierenden Europa: "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. (...) Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen. Natürlich in Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika, in Freundschaft mit Großbritannien. (...) Aber wir müssen wissen, wir müssen selber für unsere Zukunft kämpfen, als Europäer, für unser Schicksal."

Diese offene Herausforderung der Hegemonie der USA ließ sich gegenüber der deutschen Öffentlichkeit als Akt vernünftiger, liberaler Emanzipation vom wirren Rechtspopulismus des US-Präsidenten verkaufen. Die Aufrechterhaltung des neoliberalen Freihandels wurde für die Politelite des Exportweltmeisters zu einem Mittel, um den Protektionismus des Donald Trump zu bekämpfen. Der Ankündigung folgten Taten, indem die Bundeskanzlerin eine diplomatische Offensive startete, um möglichst viele Freihandelsverträge und Abkommen zu sichern - etwa mit Mexiko oder mit Lateinamerika, mit der Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur. (Dieses stand beim Abschluss des Textes auf der Kippe.) Ende Mai 2017 weilte beispielsweise der indische Ministerpräsident Narendra Modi in Berlin, um gemeinsam mit Merkel die Möglichkeiten eines raschen Abschlusses eines Freihandelsabkommens auszuloten. Wenige Tage danach kam auch der chinesische Premier Li Keqiang nach Berlin, um Vorarbeiten für ein angestrebtes Investitionsabkommen zwischen Deutsch-Europa und China zu beginnen, das wiederum Vorbedingung eines Freihandelsabkommens sei. Beide Länder seien bereit, "zur Stabilität in der Welt beizutragen", hieß es in einer gemeinsamen Presseerklärung. Freihandelsverhandlungen zwischen der EU und Japan wurden Anfang 2019 zum Abschluss gebracht.

Das Problem an dieser deutsch-europäischen Freihandelsdiplomatie besteht darin, dass hier in der Tendenz Länder mit Exportüberschüssen, die sich vom US-Protektionismus bedroht sehen, Allianzen untereinander bilden. Dabei sind diese exportorientierten Nationen und Wirtschaftsräume gerade ökonomisch abhängig von den Defiziten der USA, die Trump zu beseitigen ankündigte. Hierbei nähert man sich den systemischen Ursachen des Zerfalls des Westens, der gerade in den eskalierenden inneren Widersprüchen des spätkapitalistischen Weltsystems zu verorten ist: In den zunehmenden "Ungleichgewichten" in den Handelsbilanzen, die inzwischen zu offenen Handelskriegen führen, spiegelt sich nämlich nur der objektive, systemische Zwang des Spätkapitalismus zu zunehmender Verschuldung.

Schuldenexplosion

Das Problem, das aus einem hohen, dauerhaften Außenhandelsüberschuss resultiert, beschrieb beispielsweise die Frankfurter Rundschau (08.02.2018) anlässlich der Veröffentlichung der Zahlen des deutschen Leistungsbilanzüberschusses von 257 Milliarden Euro für 2017 (Leistungsbilanz ist eine um Geldüberweisungen erweiterte Handelsbilanz): "Politisch brisant sind diese 257 Milliarden, da sie dem Betrag entsprechen, um den sich das Ausland 2017 neu bei Deutschland verschuldet hat. Sprich: Deutschland lebt auf Pump - der anderen Staaten. Das führt immer wieder zu Kritik zum Beispiel der US-Regierung, aber auch der EU-Kommission."

Deutschland exportiert somit letztendlich Schulden ins Ausland - ebenjene Schulden, über die sich die veröffentlichte Meinung der Bundesrepublik so gerne aufregt, um später die deutschen Exportüberschüsse zu bejubeln. Diese Politik, mittels Exportüberschüssen die volkswirtschaftlichen "Nachbarn" zu ruinieren, wird seit der Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts als Beggar-thy-Neighbor-Politik bezeichnet. Die Bundesrepublik "lebt" somit auf Kosten ihrer Handelspartner - und dies gilt für alle exportorientierten Volkswirtschaften mit einem hohen Handelsüberschuss. Präziser formuliert: Die Fassade einer heilen kapitalistischen Arbeitsgesellschaft in der Bundesrepublik wird durch die Deindustrialisierung und Verschuldung derjenigen Länder und Wirtschaftsräume aufrechterhalten, die ein Handelsdefizit mit der Bundesrepublik aufweisen.

Dies gilt auch für die Vereinigten Staaten, die 2017 ein Handelsdefizit von 64,2 Milliarden US-Dollar gegenüber dem Exportüberschussweltmeister Deutschland verzeichneten. Das Weiße Haus - das schon in der Ära Obama hinter verschlossenen Türen die deutschen Exportoffensiven kritisierte - hat somit schlicht und einfach diese gegebenen Zusammenhänge skandalisiert, die zuvor aus Rücksicht auf die neoliberale Ideologie tabuisiert waren.

Zwei Faktoren trugen dazu bei, dass die Bundesrepublik derzeit zum Weltmeister im Schuldenexport avancieren konnte, der jährlich Handelsüberschüsse von mehr als einer knappen Viertelbillion Euro erwirtschaftet (und folglich Auslandsschulden in ebensolchem Ausmaß generiert). Zum einen ist es der Euro in seiner historisch einmaligen Funktion als gemeinsame Währung sehr unterschiedlicher, miteinander in Konkurrenz stehender Volkswirtschaften; zum anderen ist es der durchschlagende Erfolg der Agenda 2010, der zu einem massiven Anstieg der deutschen Exporte beitrug. In Relation zu der Wirtschaftsstärke der Bundesrepublik ist der Euro immer strukturell unterbewertet, da sich in diesem Währungsraum auch Länder wie Portugal oder Griechenland wiederfinden, die den Wert dieser Währung tendenziell nach unten drücken. Der Euro nahm den Euroländern zudem die Möglichkeit, auf die ohnehin gegebenen Produktivitätsvorteile der deutschen Industrie mit Währungsabwertungen zu reagieren, wie es - etwa im Fall Italiens - jahrzehntelang üblich war.

Zentralmacht Europas

Dennoch ist diese Machtkonstellation, in der die Bundesrepublik vermittels Beggar-thy-Neighbor-Politik zu einer "Zentralmacht Europas" (SZ) avancierte kein reines Produkt deutschen Großmachtstrebens. Bei der Bundesrepublik handelt es sich vielmehr um einen Krisengewinner. Dieser langfristige, historische Krisenprozess, bei dem die zunehmenden Widersprüche des Kapitals dieses an die innere Schranke seiner Entfaltungsfähigkeit führen, motivierte auch die Agenda 2010. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts galt Deutschland aufgrund hoher Arbeitslosigkeit und konjunktureller Stagnation als der "kranke Mann Europas", der gerade durch Hartz IV und Schuldenexport wieder zu einer scheinbar heilen Arbeitsgesellschaft gesunden konnte - auf Kosten der Verwüstung eben der Wirtschaftsräume, die die deutschen Exportüberschüsse aufnehmen.

Die Bundesrepublik konnte mit ihrem Schuldenexport deswegen erfolgreich sein, weil dieser in einer Zeitperiode der Globalisierung realisiert wurde, in der keine anderen großen Volkswirtschaften diese Strategie verfolgten. Die den kapitalistischen Krisenprozess charakterisierende Verschuldungsdynamik ermöglichte es der Bundesrepublik, vermittels Exportüberschüssen von den konjunkturellen Effekten dieser gigantischen Defizitkonjunktur zu profitieren, ohne selber eine ähnlich extreme Verschuldungsdynamik hervorzubringen. Erst mit dem sich abzeichnenden Ende der Globalisierung und dem Aufstieg des Rechtspopulismus gerät diese deutsche Beggar-thy-Neighbor-Politik an ihre Grenzen. In a nutshell: Extreme Exportausrichtung samt Agendapolitik und Hartz IV stellen Reaktionen der deutschen Funktionseliten auf den objektiven Krisenprozess des kapitalistischen Weltsystems dar.

Somit trügt Trumps rechtspopulistischer Blick auf das Krisengeschehen, der so gerne überall simple, einfache "Wahrheiten" sehen will. Die besagten zunehmenden globalen Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen, bei denen exportorientierte Länder wie die Bundesrepublik durch Exportüberschüsse zur Deindustrialisierung und Verelendung in Importländern beitragen, die nun zum Mittel des Protektionismus greifen, sind Ausdruck einer objektiven, systemischen Krisentendenz: der zunehmenden Verschuldung des gesamten kapitalistischen Systems, das nur noch auf Pump läuft, quasi durch die Verfeuerung zukünftiger Kapitalverwertung im Hier und Jetzt.

Die Gesamtverschuldung der globalisierten "One World" steigt viel schneller als die Weltwirtschaftsleistung. Die hierdurch generierte, kreditfinanzierte Nachfrage ist notwendig, um eine kapitalistische Warenproduktion überhaupt noch funktionsfähig zu erhalten, die bereits zu produktiv für die kapitalistischen Produktionsverhältnisse geworden ist. Der Kapitalismus ist längst zu produktiv für sich selbst, was sich in Schuldenbergen und Spekulationsblasen manifestiert. Es verschulden sich aber nicht alle Volkswirtschaften und Staaten gleichmäßig. Exportorientierten Ländern wie der Bundesrepublik, Südkorea oder China stehen die Defizitländer gegenüber, die mit zunehmender Verschuldung die Handelsüberschüsse aufnahmen. Die subjektive Verdrängungskonkurrenz zwischen den Standorten exekutierte somit eine objektive Tendenz zunehmender, globalisierter Verschuldung des gesamten Systems.

Der Krisenprozess ist hingegen Ausdruck der dem Kapitalverhältnis innewohnenden Widersprüche: der Tendenz des Kapitals, sich durch konkurrenzvermittelte Rationalisierungen seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Arbeit in der Warenproduktion, zu entledigen. Globalisierung und globaler Schuldenturmbau stellten somit Systemreaktionen auf diese zunehmenden inneren Widersprüche des Kapitals dar. Und diese Krisenphase neigt sich nun ihrem Ende entgegen - gerade weil die USA als größte Defizitwirtschaft ihr gigantisches Handelsdefizit nicht mehr tragen wollen. Es sind die sozioökonomischen Folgen dieses Krisenprozesses in den USA, konkret die weitgehende Erosion der US-Mittelschicht und die damit einhergehende Pauperisierung breiter Bevölkerungskreise, die dem Rechtspopulismus genügend Auftrieb verschafften, um einen seiner Vertreter ins Weiße Haus zu spülen. Trump ist ein populistisches Krisenprodukt.

Finale der Globalisierung

Die Geschichtsepoche der Globalisierung und des Neoliberalismus - die letztendlich eine historische Krisenperiode bildete - neigt sich ihrem Ende entgegen. Vor dem Hintergrund der geschilderten Krisendynamik wird aber auch klar, dass der sich nun ankündigende Neonationalismus keine systemimmanente Perspektive mehr bieten kann. Der Motor der Globalisierung lief ja hauptsächlich dank dem Schmiermittel der amerikanischen Verschuldung in der eigenen Weltleitwährung, die Trump nun beenden will.

Das Eskalationspotenzial ist schwindelerregend: Es ließe sich etwa fragen, wieso die Konkurrenten der USA noch den US-Dollar als Weltleitwährung akzeptieren sollten, wenn Washington ihnen den Zugang zu seinem Markt verwehrte. Dies würde aber bedeuten, dass auch die USA sich nicht mehr frei verschulden könnten - und tatsächlich zu einer Art hochgerüstetem Griechenland sich wandelten. Der rechtspopulistische Protektionismus Trumps wird - sollte er nicht doch noch irgendwie gestoppt werden - folglich eine massive Krisenverschärfung mit sich bringen. Gerade in Ländern mit hohen Exportüberschüssen, die ja von der globalisierten Verschuldungsdynamik besonders profitierten. Die wirtschaftlichen Verwerfungen und Schockwellen, die eine hochgradig globalisierte Weltwirtschaft treffen würden, könnten diejenigen der 1930er-Jahre des 20. Jahrhunderts übersteigen.

Im Zerfall des neoliberal geprägten "Westens" kündigt sich somit auch ein Zeitalter autoritärer, nationalistischer Krisenverwaltung an, bei dem die Staaten - sofern sie nicht in Zerfall übergehen - mittels einer autoritären Formierung ihrer Machtapparate die sozialen Folgen des rasch um sich greifenden Elends in Schach zu halten versuchen werden. Zugleich kündigt sich ein ideologischer Umbruch an: Das neoliberale Zeitalter der Globalisierung weicht dem Neonationalismus, der von den Rechtspopulisten aller Länder propagiert wird.

Zugleich besiegelten Trumps Handelskriege auch das Ende der US-Hegemonie auf globaler Ebene. Die Vereinigten Staaten sind nicht mehr bereit, die ökonomischen Kosten ihrer Hegemonie zu tragen, die in der Aufrechterhaltung des gigantischen amerikanischen Handelsdefizits bestanden. Gerade die Möglichkeit, Überschussproduktion durch Handelsüberschüsse in die USA zu exportieren, bildete einen wichtigen Pfeiler der Hegemonialstellung Washingtons innerhalb des westlichen Bündnissystems. Dieser ökonomische Anreiz für Länder wie die BRD, im westlichen Bündnissystem zu verbleiben, ist nun weggefallen. Was bleibt, ist die militärische Machtfülle Washingtons wie auch der Versuch, mittels Handelskriegen das nationale Wirtschaftsinteresse durchzusetzen. Doch dies ist keine Hegemonie mehr, die ja auch ein gewisses Maß an Akzeptanz benötigt, sondern reine machtpolitische Dominanz, die nur durch Zwang aufrechterhalten werden kann.

Doch auch innerhalb der EU scheint eine stabile Hegemonie nicht mehr möglich zu sein. Parallel zum Hegemonieverlust und zur bloßen Dominanz der USA auf globaler Ebene kann Berlin auch in Europa keine Hegemonie mehr errichten, da hierfür im Spätkapitalismus dieselben Voraussetzungen gelten: die Fähigkeit und die Bereitschaft des Hegemons, mittels einer Verschuldungsdynamik das entsprechende politische Machtsystem sozioökonomisch zu stabilisieren. Die Auseinandersetzungen um die europäische Krisenpolitik nach Ausbruch der Eurokrise, in deren Verlauf Berlins Finanzmonster Schäuble dem Währungsraum seine drakonischen Spardiktate oktroyierte, sind gerade Ausdruck dieser systemischen Widersprüche.

Paris und Berlin

Die Auseinandersetzungen fanden nach der Wahl des französischen Präsidenten Macron vor allem zwischen Paris und Berlin statt. Macron wollte eine grundlegende Reform der Eurozone durchsetzen, die institutionelle Gegengewichte zu den deutschen Handelsüberschüssen einführen sollte. Den Kern des deutsch-französischen Konflikts bildet somit das exportorientierte "deutsche Wachstumsmodell", zu dem sich Macron laut FAZ Mitte 2019 "ungewöhnlich kritisch äußerte", da es sich "auf Kosten der Reformnachzügler in Südeuropa etabliert habe". Das deutsche Modell beruhe auf der Einbindung von Billiglohnländern in die Produktionsketten der deutschen Industrie, so Macron unter Verweis auf die "verlängerten Werkbänke" deutscher Konzerne in den osteuropäischen Ländern, was der französischen Vorstellung von einem "sozial nachhaltigen Wirtschaftsmodell für die EU" widerspräche. Macron lehnte es ausdrücklich ab, sich an dieses Modell anzupassen. Das exportorientierte deutsche Wachstum habe dazu geführt, die "Ungleichgewichte in der EU" zu verstärken.

Im Endeffekt kreisen die Spannungen zwischen Paris und Berlin um denselben Streitpunkt, der auch den Konflikt zwischen den USA, Europa und China anheizt: Es sind die "Ungleichgewichte" in den Handelsbilanzen, die Ausdruck der besagten krisenbedingt zunehmenden Verschuldungsdynamik des spätkapitalistischen Weltsystems sind.

Macrons Vorschläge zielten somit darauf ab, die europäischen Folgen dieser deutschen Überschüsse durch Gegenmaßnahmen zu minimieren - und sie wurden in Deutschland als Einstieg in eine "Transferunion" abgelehnt. Dabei hat die harte deutsche Sparpolitik, die Berlin nach Krisenausbruch europaweit durchsetzte, maßgeblich zur Stärkung der nationalistischen Fliehkräfte beigetragen, die "Europa" nun verstärkt destabilisieren. Der deutsche Wirtschaftsnationalismus, verkörpert durch den obersten Sparkommissar Schäuble, hat das "deutsche" Europa entlang der Interessen der deutschen Exportindustrie ausgerichtet - und zugleich den Nationalismus befördert, der nun in Ländern wie Italien Triumphe feiert. Die italienische Rechte ist im Konflikt mit der Berliner Austeritätspolitik groß geworden.

Militarisierung der EU-Außenpolitik

Ein "soziales" Europa ist gescheitert - doch wird sich eine europäische Militärmacht etablieren? Letztendlich bleibt nur die "europäische" Militärpolitik als das einzige Feld, auf dem es noch substantielle Interessensüberschneidungen zwischen Berlin und Paris gibt. Hier werden tatsächlich nennenswerte deutsch-französische Projekte realisiert - etwa das europäische Kampfjetsystem FCAS. Die Militarisierung der europäischen Außenpolitik bietet die Möglichkeit, die vorhandenen inneren Widersprüche durch äußere Expansion zumindest zeitweilig zu überspielen. Endlich können Berlin und Paris an einem europapolitischen Strang ziehen - die Differenzen in Sachen Sozial- und Wirtschaftspolitik sind längst nicht mehr überbrückbar. Die Militarisierung der EU ist die Fortsetzung der europäischen Integration mit anderen Mitteln.

Die luftige Rhetorik der Macron-Administration zu europäischen Sozialstandards, Investitionsprogrammen, Eurobonds und einem EU-Finanzminister ist spätestens seit 2019 der kraftmeierischen Betonung eines "Europa der Verteidigung" gewichen, wie es in einem gleichnamigen Papier des französischen Außenministeriums heißt, in dem Frankreich die Rolle zukomme, "seinen Partnern ehrgeizige Verteidigungspartnerschaften vorzuschlagen". Dieses aufgerüstete beziehungsweise aufzurüstende Europa solle selbstverständlich auch Beiträge zur "Beilegung internationaler Krisen" und zur "Verteidigung der europäischen Interessen" leisten. Während der Feierlichkeiten zum französischen Nationalfeiertag kündigte Macron 2019 gar die Schaffung eines "Weltraumkommandos" an. Bundeskanzlerin Merkel war ebenfalls angereist - und sprach von einer "großen Geste in Richtung der europäischen Verteidigungspolitik". Die Militärparade zum Nationalfeiertag in Paris, an der auch die deutsch-französische Brigade und europäische Streitkräfte teilnahmen, sei ein "Zeichen für eine starke deutsch-französische Zusammenarbeit".

Und dennoch schaffen es Berlin und Paris nicht, bei konkreten Krisen die EU als einen einheitlichen geopolitischen oder militärischen Akteur zu etablieren, da die weitere Militarisierung der EU an den besagten zunehmenden innereuropäischen Widersprüchen scheitert, die den von Finanzminister Schäuble in einen preußischen Kasernenhof verwandelten Währungsraum charakterisieren. Der deutsche Sparsadismus konterkariert somit die geopolitischen Ambitionen Berlins. So finden sich in konkreten Krisensituationen immer EU-Staaten, die der nationalistischen deutschen Linie folgen und ebenfalls auf eigene Faust handeln. Das war auch während der eingangs erwähnten Krise in Nordsyrien der Fall, als Ungarn sich einer Verurteilung der türkischen Invasion durch die EU widersetzte und die ethnischen Säuberungen in Rojava durch Erdogans Soldateska ausücklich begrüßte.

EU am Abgrund?

Bleibt die Frage zu klären, wieso die EU, die weitgehend ein Instrument deutscher Machtentfaltung ist, überhaupt noch besteht. Der Brexit sei eine Revolte gegen den von Deutschland geführten "europäischen Superstaat", formulierte ein Ökonom auf der Internetpräsenz des US-Senders CNBC - wieso findet er keine Nachahmer? Eine Antwort gab die Ökonomin und ehemalige "Wirtschaftsweise" Beatrice Weder di Mauro in einem Interview mit der Zeit (zeit online 25.01.2019), als sie feststellte, dass ohne Euro viele der derzeitigen Eurostaaten "nur Schwellenländer" wären. Diese "könnten sich nicht in ihrer eigenen Währung im Ausland verschulden, und ihr Wechselkurs wäre extrem volatil und krisenanfällig". Diese kaum verhohlene Drohung mit dem sozioökonomischen Absturz, die DeutschEuropa allen Friktionen zum Trotz noch zusammenhält, ist angesichts der Weltkrise des Kapitals, in der das System zunehmend auf Pump läuft und ganze Regionen ökonomisch abgehängt werden, kein Bluff.

Auch deswegen wollte Schäuble 2015 an Griechenland ein Exempel statuieren und es aus der Euro-Zone drängen. Zur Erinnerung: Der Euro wurde auf Drängen Frankreichs in Reaktion auf die deutsche Wiedervereinigung eingeführt, damit dem wiedererstarkten Berlin sein wichtigstes Machtmittel genommen würde: die Deutsche Mark. Der drohende Zerfall der Eurozone würde somit die ökonomische Dominanz Berlins noch wirkungsvoller machen. All die Länder, die sich "nicht in ihrer eigenen Währung" im Ausland verschulden könnten, wären von den Entscheidungen der deutschen Geldpolitik abhängig, ohne auch nur formelles Mitspracherecht in den Euro-Gremien zu haben. Es geht den Eurostaaten also darum, nicht abzusteigen, nicht als nächstes Opfer des Krisenprozesses vom sozioökonomischen Zusammenbruch erfasst zu werden.

Dieser Kampf um die Exklusion Griechenlands während der Eurokrise weist somit auch auf den neuartigen Charakter imperialistischer Herrschaft im 21. Jahrhundert. Der klassische Imperialismus, der seine Kulminationsphase in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte, unterwarf die Welt in einer langen historischen Periode der globalen Expansion des Kapitals, während der gegenwärtige Krisenimperialismus geopolitischer Ausdruck der inneren Krise des Kapitalverhältnisses ist; er prägt eine historische Periode der globalen Kontraktion des Kapitals, die immer größere Regionen sozioökonomisch "verbrannter Erde" in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems hinterlässt. Dieser systemische Paradigmenwechsel hat grundlegende Auswirkungen auf das konkrete militärische und geopolitische Vorgehen der imperialistischen Zentren in der kollabierten Peripherie: Der alte Ausbeutungs- und Ausplünderungsimperialismus wich zunehmend einem Ausgrenzungs- und Sicherheitsimperialismus.

Der Charakter des Imperialismus in der historischen Krisenphase der Kontraktion des Kapitalverhältnisses unterscheidet sich somit tatsächlich grundlegend von dem Imperialismus in der historischen Expansions- und Aufstiegsphase des kapitalistischen Weltsystems. Die Ausbeutung von Arbeitskräften des globalen Südens ist im Spätkapitalismus in das Gegenteil umgeschlagen - in die Exklusion von Arbeitskräften. Der Krisenimperialismus des 21. Jahrhunderts bemüht sich um die Abschottung der Zentren vor der "überflüssigen Menschheit", die das System in seiner Agonie produziert. Somit bildet die Absicherung der verbliebenen relativen "Wohlstandsinseln" ein zentrales Moment imperialistischer Strategien etwa der EU. Offensichtlich wurde dies auch während der Flüchtlingskrise in der EU, als Brüssel die Türkei mit Milliardensummen versorgte und ihr freie Hand bei ihrer massenmörderischen Repression der Kurden im Oktober 2019 gewährte, nur um Ankara dazu zu bewegen, den Flüchtlingsstrom nach Europa einzudämmen. Die Armee der ökonomisch "Überflüssigen" wird so zu einer geopolitischen Manövriermasse. Von den Charakteristika des "klassischen" Imperialismus aus der historischen Expansionszeit des Kapitals ist eigentlich nur noch der Drang nach der Kontrolle der Energieträger und Ressourcen der Peripherie beim gegenwärtigen Krisenimperialismus zu finden.

Deutsches Ebenbild

Die mit zunehmenden Tendenzen zur Abkapselung einhergehenden Handelskriege als Versuche, die Folgen des Krisenprozesses in andere Staaten und Wirtschaftsräume zu exportieren, bilden auch die ökonomische Grundlage der Konflikte zwischen dem instabilen Deutsch-Europa und den USA. Berlin hat sich vermittels seines drakonischen Sparregimes tatsächlich ein Europa nach deutschem Ebenbild geschaffen, das dieselbe "neomerkantilistische" Wirtschaftsstrategie gegenüber anderen Ländern und Währungsräumen verfolgt, wie sie zuvor die Bundesrepublik gegenüber der Eurozone praktizierte.

Letztendlich hat Berlin das europäische Spardiktat dazu benutzt, um eine Sanierung der Eurozone auf Kosten des außereuropäischen Auslands zu versuchen. Das deutsche Europa ist darauf abgerichtet, gegenüber den außereuropäischen Wirtschaftsräumen ähnlich hohe Leistungsbilanzüberschüsse zu erzielen, wie sie die BRD gegenüber der Eurozone bis zum Ausbruch der Eurokrise erzielte. Und genau diese von Berlin orchestrierte, gesamteuropäische Beggar-thy-Neighbor-Politik ließ den Konflikt mit den USA eskalieren. Die Eurozone sollte vermittels Lohnkahlschlag und Prekarisierung gigantische Handelsüberschüsse erzielen. Hartz IV für alle Europäer - während die europäischen Exportüberschüsse, verstärkt durch die Geldschwemme der EZB und massive Abwertung des Euro, immer neue Rekordwerte erreichen, wie der neurechte Wirtschaftsblog Zero Hedge, in dem sich viele Trump-Anhänger tummeln, schon 2015 klagte. Alles, was die Eurozone fertigbringe, bestehe darin, "Wachstum von anderen zu klauen", titelte das beliebte Nachrichtenportal in Anlehnung an die Analyse eines französischen Finanzhauses.

Die Eurozone "klaut" anderen Weltregionen ihr Wachstum, wie es zuvor die BRD gegenüber der Eurozone tat. Auch hierin spiegelt sich somit nur der globale Krisenprozess mit seinem Verschuldungszwang wider. Der Versuch, mittels eines europaweiten Spar- und Kahlschlagprogramms das deutsche Exportmodell auf europäischer Ebene zu kopieren, musste aufgrund des weitaus größeren volkswirtschaftlichen Gewichts Europas relativ schnell scheitern. Mehr noch: Angesichts dieser extremen Exportausrichtung Europas wird der Währungsraum vom kommenden Krisenschub besonders stark getroffen werden.

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Rezens

Sascha Lobo: Realitätsschock.
Zehn Lehren aus der Gegenwart.
Kiepenheuer & Witsch, 352 Seiten, ca. 19 Euro

Die Welt verändert sich. Nicht nur die herrschende Weltordnung, die gesamte Menschheit stellt das vor eine Reihe schwer zu bewältigender Herausforderungen. Lange hat sich das mitteleuropäische Massenbewusstsein jedoch gesperrt, das überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Sascha Lobo führt an zehn exemplarischen Bereichen vor, was gerade alles in Veränderung begriffen ist.

Er fasst die Ergebnisse einer Reihe Studien zusammen und macht deutlich, dass Politik und Gesellschaft jeweils sehr unzureichend auf die Herausforderungen der Gegenwart vorbereitet sind.

Dabei stellt er eher Fragen, als dass er Antworten gibt. Welche Herausforderungen bringen Klimawandel und Plastikberge mit sich? Wie wirken sich Digitalisierung und Künstliche Intelligenz auf die Arbeit aus? Alle diese Fragen stellen sich aus einer gesellschaftskritischen Perspektive noch einmal ganz anders: Welche Folgen haben die Neuerungen in der Arbeitswelt für die Kritik an der Arbeit? Wie fassen wir diese Neuerungen innerhalb der Kritik der politischen Ökonomie? Welchen Einfluss haben die Entwicklungen in China? Was bedeutet der vollständig überwachte und durchmessene Mensch für die politische Transformation nicht nur der Sicherheits-, sondern auch der Gesundheitsbranche?

Als überzeugter Liberaler geht Lobo davon aus, die Probleme innerhalb der kapitalistischen Demokratie lösen zu können. Auch wenn das illusorisch erscheint, verweist er doch auf viele Bereiche, in denen eine wertkritische Gesellschaftskritik von ihrer kategorialen Schärfe her noch im Industriezeitalter festhängt.

J.B.

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"Europa" als aktuelles Grundproblem (1)

von Lorenz Glatz

Zunächst einmal zu, ich möchte sagen: "Klein-Europa". Nach einer Union schaut die Europäische nicht mehr so wirklich aus. Streit ist in allen geschäftlichen und politischen Zusammenhängen sowieso normal, aber derzeit streitet sich die nach Deutschland größte Wirtschaftsmacht Großbritannien in einem so peinlichen wie peinsamen Prozess aus der EU heraus. Das ist umso bemerkenswerter, als es doch ziemliche Bemühung brauchte, um das United Kingdom gegen den Widerstand Frankreichs überhaupt hineinzubringen in die "europäische Einigung". Diese hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ab 1951 als Sechsergemeinschaft (Frankreich, Deutschland, Italien und die Benelux-Staaten) per Montanunion, Euratom und EWG als Wirtschaftsunion zunächst recht schwungvoll entwickelt. Kapital, Ware (einschließlich Arbeitskraft) und Dienstleistung wurden frei beweglich, unbehindert und weitgehend unkontrolliert von den weiter getrennten Staatsapparaten.

Wachstum im Abstieg

Als aber das (bis heute noch) Vereinigte Königreich 1973 der damaligen "Europäischen Gemeinschaft" (EG) (zusammen mit Irland und Dänemark) beitrat, war die Hoch-Zeit schon vorbei. Die "lange Welle" der Kapitalverwertung mittels des fordistischen "technologischen Paradigmas" näherte sich ihren Grenzen. Sie beruhte auf erdölbasierter Massenproduktion, vor allem der Profitabilität der Automobilisierung und der Industrialisierung kleinteiliger Herstellung samt der dazugehörigen Infrastruktur. Das durchschnittliche BIP-Wachstum je Einwohner in Westeuropa hatte von 1950 bis 1973 jährlich fünf Prozent betragen. Der Schnitt der Folgejahre bis 1994 ergab nur noch ein Drittel davon. Das hatte im europäisch-amerikanischen Zentrum des Weltsystems (ich nenne es hier einmal "Groß-Europa") und so auch in der EU gravierende Folgen.

Die Konflikte zwischen Arbeit (dem "variablen Kapital") und (dem "konstanten") Kapital verschärften sich. Die Positionen der Gewerkschaften der alten Industrien mit ihren großen Belegschaften wurden unhaltbar. Die Zentralisation des Kapitals durch Auf käufe und zunehmend transnationale Fusionen, durch die Privatisierung von öffentlichen Infrastrukturen, Dienstleistungen und Produktionsbetrieben stieg seit den 1980er Jahren steil an. Auf der Suche nach Kosteneinsparungen wurden Produktionen und Dienstleistungen in allen Bereichen ausgelagert und zersplittert. Die Verantwortung für die Profitabilität der Arbeit wurde zu einem wachsenden Teil von den Arbeitenden selbst übernommen, deren Zusammenhalt oft bis zur "Ich-AG" abschmilzt.

Zugleich werden seitdem durch die sich sprunghaft entwickelnde neue Informations- und Kommunikationstechnik massiv Abläufe automatisiert und der Preis der Ware Arbeitskraft gedrückt. Erstmals in der kapitalistischen Entwicklung dürfte hier dauerhaft mehr Arbeit eingespart als neue geschaffen werden - was nicht nur auf die Löhne (das variable Kapital) starken Druck ausübt, sondern durch das steigende konstante (nicht wie die Löhne variable) Kapital die Profite insgesamt belastet. Die Konkurrenz auf allen Märkten, der politische Machtkampf der Staaten und Blöcke bis hin zum Ruin, ja der Zerstörung ganzer Regionen und der Auflösung von Staaten verschärft sich.

Die Deregulierung der Finanzmärkte erlaubte die Schaffung neuer IT-basierter Finanzinstrumente zur Geldvermehrung durch schrankenlose Spekulation auf Gewinne, die in immer fernerer Zukunft zu erhoffen sind. Diese Art von Geldvermehrung schafft zwar ungeheure monetäre Ansprüche, diese drohen jedoch über kurz oder lang als "Blasen" zu platzen, d.h. entwertet zu werden, wenn sie nicht rechtzeitig "realisiert" werden. Diese spekulativen Geldmassen in Produktion und Verkauf umzusetzen, ist angesichts der Krise der Arbeit schwierig geworden, die Geldanlage in "Realien" wie Land und Immobilien ein vergleichsweise "sicherer Hafen". Dadurch wachsen zwar die Vermögen einiger weniger ins Unglaubliche, es entstehen aber durch die zwanghaft weitergehende Geldvermehrung erst recht wieder platzende Blasen, die in neuen Schüben Verarmung und Bereicherung fortsetzen. Und Zug um Zug wird monopolisiert, was für die Menschen unabdingbar ist. Land für ihre Nahrung und Behausung mutiert zu einem Anlagewert erster Güte, von dem ausgesperrt eins nicht mehr leben kann. Diesbezüglich sind die meisten Bewohner "reicher Länder" heute abhängiger als viele Menschen in "armen Regionen".

Die weitere Ausdehnung Klein-Europas, der "Europäischen Gemeinschaft", folgte jedoch vor allem den Notwendigkeiten jener forciert "fiktiven" Geldvermehrung auf der Suche nach für die Spekulation glaubwürdigen "Anlagefeldern". In der Süderweiterung der Achtzigerjahre entzog die EG zunächst das militärstrategisch wichtige, aber wirtschaftlich doch recht unergiebige Griechenland per Beitritt den sowjetischen Avancen zu intensiveren Wirtschaftsbeziehungen. Und es gelang ihr auch der Anschluss der (wie auch Griechenland) bis zur Mitte der Siebzigerjahre von Diktatorenklüngeln herabgewirtschafteten Länder Spanien und Portugal. Besser als Unterläufel dabei sein als durch die Niederlage in der Konkurrenz ganz abgestuft zu werden, war die durchaus rationale Überlegung der in diesen Ländern an die Staatsführung gelangten demokratischen oder zur Demokratie bekehrten Politiker und Wirtschaftsbosse.

Der Ostblock unter dem Kommando der UdSSR war das Schattenzentrum des "Weltsystems", das sich siebzig Jahre lang als Kampf der Systeme, allerdings auf derselben Grundlage von Staat, Geld und Arbeit, verstanden hatte. Sein Niedergang und Zerfall 1989 ermöglichte zunächst den Beitritt der zwischen den Machtblöcken navigierenden neutralen Länder Finnland, Schweden und Österreich. Letzteres war wirtschaftlich seit der Privatisierung der bis dahin dominanten verstaatlichten Industrie im Zuge der erwähnten Globalisierung zu einem Zulieferer der deutschen Industrie geworden. Seit dem sowjetischen Bankrott hatte es sich zugleich als ein sachkundiger Standort der westlichen Übernahme der osteuropäischen Wirtschaft etabliert. Jedenfalls schwenkten hier nach den Wirtschaftsverbänden und der Regierung auch der Gewerkschaftsbund zur "Sicherung der Arbeitsplätze" auf die Beitrittslinie ein.

Im neuen Jahrhundert kamen die durch EU-Programme vom gescheiterten "Staats-" zum überlebenden Anlagen suchenden "Privatkapitalismus" umgestellten Länder zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer hinzu, sowie Slowenien, die Mittelmeerinseln Zypern und Malta und zuletzt noch das wie Slowenien aus dem Jugoslawienkrieg hervorgegangene Kroatien. Damit scheint nun eher Schluss zu sein. Nicht einmal der Beitritt der Westbalkanländer ist mehr sicher, die Türkei ist abgeschmettert oder will vielleicht auch gar nicht mehr, die Kaukasus-Staaten und auch die Ukraine sind von der Tagesordnung abgesetzt. Wer sich's noch leisten kann, bleibt "Europa" fern, wie die Schweiz, Island und zweimal schon Norwegen, wer nicht, den will und kann sich "Europa" schon eher nicht mehr leisten. Die Grenzen "Klein-Europas" sind nicht einfach geographisch, sie bestimmen sich nach dem, was sich nach dem Kalkül des Kapitals und seiner streitenden Funktionäre an den Börsen, in den Banken, in den Konzernetagen und in den Regierungen rentieren könnte, wenn es zum selben Tisch zugelassen wird.

Drin bleiben?!

Die soziale Situation in ganz "Groß-Europa" hat eine ähnliche Form angenommen. Arm und reich driften auseinander. Das zeigt sich nicht nur im Straßenbild der großen Städte, selbst an den offiziellen Statistiken ist es abzulesen. Um unseren Kirchturm hierzulande sind demnach beispielsweise 40,5 Prozent des Vermögens in der Hand des obersten Prozents der Bewohner, während sich die untere Hälfte der Bevölkerung mit 2,5 Prozent bescheidet. Das sagt über den Konsum weniger aus als über die Machtverteilung, wie das Wort Vermögen ja schon klar macht. Bei den Einkommen ist die Entwicklung Österreichs in der EU (seit 1995) einigermaßen abgebildet: Von der obersten Spitze lässt sich nichts Genaues lesen. An der Grenze zum oberen Viertel stiegen die Einkommen inflationsbereinigt von 1997 bis 2017 noch um etwa 4 Prozent, das Medianeinkommen hielt sich mit 0,4 Prozent minus in etwa konstant, am oberen Ende des unteren Viertel hingegen hatte eins ein Sechstel seiner Kauf kraft schon verloren (Statistik Austria, AK Oberösterreich).

Die recht dramatischen Verschlechterungen im Pensionsrecht, sowohl der erforderlichen Beitrittsjahre als auch der Höhe der Bezüge, in der Krankenversicherung und sonstigen sozialen Absicherung, die spürbare Verschärfung der Arbeit und ihrer Bedingungen und die resignative Erwartung bei den Jungen, dass für sie im Alter nicht viel übrig sein wird von Versorgung, sind dabei ein nicht quantifiziertes, betäubendes Hintergrundrauschen.

Das Fiasko der chinesischen "Kulturrevolution" und das Verebben der Konsum- und Arbeitskritik der 1968er im Westen und das Versiegen ihres Antiautoritarismus im Neoliberalismus hält bis heute die Fantasie, das Denken und die Experimentierlust jenseits der erlernten Wirtschafts- und Lebensweise klein. (Das gilt wohl auch jenseits Groß-Europas.) Die Kapitaleigenschaft, die den lebenden und "toten" Dingen dadurch noch weit gesteigert aufgezwungen bleibt, steht nirgendwo ernsthaft in Frage. Alles auf, in und über unserem Planeten ist dem Zugriff der Geldvermehrung zugänglich zu machen, in Geld zu beziffern und hat für dessen Wachstum in irgendeiner Weise nützlich zu sein. Wer dazu beizutragen nicht gewillt oder in der Lage ist, wird überflüssig, steht am Rand von "draußen", wo "da wird sein Heulen und Zähneknirschen", wie die Bibel sagt.

Solche Angst gibt es jedoch nicht nur in den Unterschichten, sie durchzieht die Gesellschaft bis hinauf zu ihren Spitzen, verkürzt die Perspektiven selbst des Denkens, des Planens sowieso. Dem prekären Zustand des Systems entsprechend sind die einigermaßen nüchternen Agenten eher vorsichtig, skeptisch, oft schon zynisch. Führungsqualitäten bescheinigt einem so wohl kaum wer. In all der Ungewissheit und Labilität des Morgens entsteht daher in Politik und Wirtschaft viel Raum für Leute mit kurzem Horizont, waghalsige Spielertypen, gepflegte Rowdies, auch ungepflegte, Leute des Heute-so-und-morgen-Anders, wie es sich grad ergibt, ehrgeizige Abenteurer des Status quo oder Quereinsteiger, die "alles neu und anders" machen werden.

Die Lösungsillusionen Union und Nation gehen durcheinander in Klein-Europa, je nachdem, was einem gerade zum eigenen Vorteil zu gereichen scheint. Schottland soll raus aus dem UK, um in der EU zu bleiben, in Nordirland viel Ja zu UK und EU, UK aber ist auf dem Weg raus aus der EU, Katalonien weg von Spanien, aber pro EU mit dem Rest von jenem. Eine "europäische Republik" wird propagiert als "Friedensprojekt" und Rezept gegen Engstirnigkeit und Nationalismus - weil Großmächte so friedlich und antinational sind? Andere trommeln, die Mitgliedsländer müssten ihre Selbstbestimmung stärken - und mehr Rosinen aus dem Unionskuchen picken dürfen. In jedem Teich quakt und strampelt eins jeweils für das eine und das Gegenteil.

Alle aber wollen "drin" bleiben in der Welt, die das Groß-Europa des weißen Manns für sich geschaffen hat mit seiner Weltherrschaft dank Kanonen und dem Kapital (und jeder Menge Kriege untereinander). Ob mit der Union von Klein-Europa, wie immer es auch aussehen mag, ohne oder gegen sie: Eins will seinen Anteil an der Welt, so wie er ist, natürlich, wie nötig und versprochen, ökologisch angepasst, aber jedenfalls nicht (noch) kleiner. Und für eine nicht geringe Mehrheit hierzulande und in Kleinwie Groß-Europa gilt, dass sie von einer halbwegs gleichen Teilung der zu konsumierenden Ressourcen unter alle Menschen weniger von all dem Zeug zu erwarten hätten, als die heutige, auch sehr ungleiche Verteilung ihnen zugesteht.

Die zu ändern, hat man doch historisch Erfahrung mit Klassenkampf und Sozialpartnerschaft, auch wenn die Erfolge in den letzten Jahrzehnten nicht grade berauschend waren. Auch wenn im Vergleich zu den in ihren Herkunftsregionen herumgetriebenen Flüchtlingen nur wenige bis zu uns durchgekommen sind, so haben die doch alles, was sie noch hatten, daran gesetzt, um hier von uns zu partizipieren. Sitzt einem da als nicht gerade Reichem das Hemd nicht näher als der Rock?

(Fortsetzung folgt)

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Immaterial World

Vivihouse

von Stefan Meretz

Ich möchte das Commons-Projekt Vivihouse vorstellen, und alle, die in Wien unterwegs sind, hätten eigentlich schon vorbeigehen können, um es sich anzuschauen. Hätten - leider steht der zweite Prototyp noch nicht. Dazu gleich mehr.

Das Projekt Vivihouse baut Häuser, doch komplett anders, als wir es kennen. Es geht nicht nur um Häuser, die aus ökologisch-nachhaltigen Materialien aufgebaut werden, sondern die auch komplett wieder abgebaut werden können, um sie entweder woanders wieder aufzubauen oder umweltfreundlich zu recyclen. Die lehmverputzten und strohballengedämmten Holzhäuser sind nicht primär für den ländlichen Raum gedacht, sondern die modularen Bausätze eignen sich vor allem für den mehrgeschossigen Wohnungsbau in der Stadt. Und es handelt sich nicht nur um ein Do-it-yourself-, sondern vor allem um ein Do-it-together-Projekt - Interessierte sind regelmäßig zu Bauworkshops eingeladen.

Mit ihrem Ansatz stellt das Projekt neue Fragen. Muss Hausbau in den Händen einer kleinen Gruppe von Spezialist*innen liegen? Kann der Selbstbau Menschen ermächtigen, die Gestaltung ihrer Lebenswelt mehr in die eigenen Hände zu bekommen? Kann der Einsatz erneuerbarer Materialien wie Holz und Stroh das Betondenken (Sand ist eine schwindende Ressource, Zementherstellung ist CO2-intensiv) im Städtebau aufweichen und einen Beitrag zum Klimaschutz leisten?

Das Projekt wurde von einer Gruppe von Architekt*innen gegründet, die sich von den Commons inspirieren ließen und diese Erkenntnisse auf ihre Domäne übertrugen. Die Commons-Sommerschule und das Netzwerk des Commons-Instituts waren wichtige Orte für die Entfaltung der Ideen. So war klar, dass die Zugangshürden möglichst niedrig sein sollten, um die Kooperation von Profis und Laien zu befördern. Die Pläne werden unter einer freien Lizenz als Open Source zur Verfügung gestellt, damit andere Projekte daran anknüpfen können. Nicht zuletzt sollen die Kosten u.a. durch den Eigenbauanteil gering gehalten werden, um allen den Zugang zu qualitativ gutem Wohnraum zu ermöglichen - anstatt nur ein sozial-elitäres Projekt für Gutverdienende zu sein.

Das Projekt Vivihouse wurde von der Initiative for Convivial Practices initiiert und ist an der TU Wien angesiedelt. Es finanziert sich durch unterschiedliche Beiträge von öffentlicher Hand und privaten Firmen, die das ökologische Bauen voranbringen wollen. Das klingt gut, aber letztlich ist die Finanzbasis prekär. Springt ein Sponsor ab, was schon mehrfach geschah, gerät der Zeitplan oder gar die ganze Projektrealisierung durcheinander.

So konnte zwar in Pernitz südlich von Wien ein kleiner Prototyp realisiert werden, aber der Aufbau eines mehrgeschossigen Baus in Wien scheiterte, weil ein Immobilienkonzern seine avisierte Flächenbereitstellung samt Anschluss nicht einhielt. Die vorproduzierten 17 Wände und 7 Deckenelemente mussten nun aufwändig (ein Bauteil wiegt bis zu 2 Tonnen) aus der von einem weiteren Sponsor temporär zur Verfügung gestellten Bauhalle in eine kostenträchtig angemietete Lagerhalle zur Zwischenlagerung transportiert werden. Jetzt muss erst wieder eine geeignete Fläche gefunden werden, bevor das mehrgeschossige Vivihouse kommen kann. Die Stadt Wien könnte sich hier durchaus mehr engagieren, wurde das Projekt doch als Modellprojekt zur Internationalen Bauausstellung in Wien 2022 nominiert.

Eine Zwangspause bietet immer auch Gelegenheit zum Luftholen und zur Reflexion. Wenn das Projekt erfolgreich realisiert werden sollte, welche Wirkung könnte es haben? Wenn die Klimakrise sehr bald tiefgreifend alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst, wird auch das CO2-intensive Bauen in den Fokus einer Transformation gelangen. Nachwachsende Rohstoffe wie Holz und Stroh könnten allein von der Materialseite das städtische Bauen völlig verändern. Die Holzindustrie freut's, die Betonlobby wird allerdings alles daransetzen, den Wandel aufzuhalten.

Kann das Projekt thematisch benachbarte Commons-Initiativen ermächtigen, ihren Bereich auszuweiten? Könnten sie an Vivihouse andocken, Kooperationen eingehen, Netzwerke bilden und den Markt auskooperieren? Ein Wald-Commons, das seine Forste nicht monokulturell, sondern ökologisch-divers betreibt, könnte Holz liefern. Weitere Architektur-Commons könnten die Designs nutzen, um ihre eigenen Projekte vorzubringen - am besten in Kooperation mit zukünftigen Bewohner*innen, die an Planung und Bau beteiligt sind. Perspektivisch könnten daraus ganze Stadtteil-Commons entstehen, die ihr Quartier selbst gestalten.

Eine weitere spannende Frage ergibt sich aus dem Open-Source-Charakter von Vivihouse. Ein Haus tangiert mehrere rechtliche Domänen. Während Designs als kreative Wissensschöpfungen durch das Urheber*innenrecht exklusiviert ("geschützt") werden, greift bei technischen Erfindungen das Patentrecht. Wie könnten hier passende Lizenzen aussehen, die sowohl Wissen wie Hardwarelösungen für andere zugänglich halten? Wie könnten gleichzeitig Commons-Projekte ihre Finanzierungsgrundlage sichern, wenn es wesentlich potentere Privatbetriebe gibt, die Designs und Erfindungen auf dem freien Markt verwerten? Private Firmen, die sich an dem Projekt beteiligen, könnten hingegen ihre eigenen technischen Lösungen und damit ihr Geschäftsmodell in Gefahr sehen, wenn sie zum Open-Source-Topf beitragen, aus dem sich auch die Konkurrenz bedienen kann. Ist das schlecht oder vielleicht sogar gut, weil dann Commons-Projekte im Vorteil sind?

Es zeigt sich, dass monothematische Commons-Projekte gut darin sind, für ihre Domäne eine maßgeschneiderte Lösung zu finden, um sich in der Geldlogik zu bewegen und sich gleichzeitig ihr nicht unterzuordnen. Sobald es jedoch um große Projekte geht, die mehrere Bereiche umfassen, wird es extrem schwierig. Diese Beobachtung haben Simon Sutterlütti und ich in unserem Buch "Kapitalismus aufheben" zu der These verdichtet, dass wachsende Commons, die unterschiedliche Bereiche integrieren, zur Planwirtschaft tendieren, während lose Netzwerke aus autarken Commons eher wieder eine Tauschlogik herausbilden, die ihre Perfektion in der Marktwirtschaft findet. Ich würde mich freuen, wenn unsere These widerlegt wird, und vielleicht ist Vivihouse ein Projekt, mit dem das beispielhaft gelingen kann.

Online anschauen: vivihouse.cc

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Die 68er und links - Ein Rückblick

von Ilse Bindseil

Früher, sagen wir zwischen 1965 und 1975, wäre eine Position wie die von Philipp Demandt anlässlich der Entfernung eines sexistisch anstößigen Bildes aus einem Museum vertretene ("Erst hängen wir die Bilder ab, dann die Freiheit an den Nagel", FAZ-Interview 1.2.2018) eine linke Position gewesen. Nicht, weil der Direktor des Frankfurter Städel für Freiheit eintrat, sondern seiner inhaltlichen Aussage wegen: "Ob uns das heute gefällt oder nicht: Kunstwerke werden immer auch im Kontext des Begehrens geschaffen." Was er hier so entschieden wie vorsichtig formuliert, war seinerzeit Exklusivwissen der rebellischen Nachnazigeneration, die sich der Psychoanalyse wieder zugewandt und die als Verkörperung jüdischer Abartigkeit in die Emigration getriebene Freud'sche Lehre vom Trieb gewissermaßen repatriiert hatte. Es war dialektisch, und damit links, weil es die Gegensätze Trieb und Kunst in einen verbindlichen Zusammenhang brachte; das heißt von einem Trieb ausging, der für Gutes und Böses verantwortlich war.

War es damals links gegenüber der Spießermoral, die den lieben Gott für das Gute und den Teufel fürs Böse, für die Kunst die Inspiration und für die Perversion den Trieb, für alles einen Namen und eine eigene Ursache hat, so gilt es heute als Ausdruck machtgeschützter männlicher Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen Subjekt. Links dagegen, sofern die Bezeichnung aufrechterhalten wird, ist wie in ein anderes Paradigma gerutscht, das dichotomisch, nicht dialektisch strukturiert ist. Es gibt wieder eine anständige Sexualität und eine lasterhafte, und es würde sicherlich auch einen guten Trieb und einen bösen geben, wenn nicht der Begriff selbst, am liebsten würde ich sagen so triebhaft wäre, dass man ihn besser ganz lässt und durch den, am liebsten würde ich sagen harmlosen Begriff Macht ersetzt, der das Böse in einem im weitesten Sinn politischen Spektrum situiert, wo es schon immer zu Hause war. Offenbar gibt es auch eine von schmutzigen Bildern, schmutzigen Phantasien, schmutzigen Motivationen befreite Kunst, die gefestigt und gereinigt übrigbleibt, wenn man die Ersteren entfernt hat. Würde man aus der Vogelperspektive einen Blick auf die Ideologiegeschichte werfen, käme es einem so vor, als würde das Pendel zurzeit mit Macht zugunsten einer substantiell gemeinten Richtigkeit ausschlagen, die sich vom Liberalismus abgrenzt, ohne freilich den Sozialismus in den Blick zu bekommen.

Das ist eine für 68er höchst unangenehme Wahrnehmung, nicht nur, weil das Konzept der antiautoritären Freiheit ins Zwielicht geraten ist, sondern weil ihr problematisches Verhältnis zum Sozialismus unversehens wieder virulent wird. Hatte links etwa schon damals mit Sozialismus wenig zu tun, und ist eine linke Position heute deshalb so schwer zu formulieren?

Früher war links eine Gewissheit, ein fester Ort, für Nazi-Kinder ein rettender Hafen. Für Arbeiterkinder war links eine Tradition, für Intellektuelle eine Erdung. Unnötig, der Frage bis auf ihren letzten Grund zu gehen, was links ist. Zu viel war damit auch verknüpft, als dass es verantwortungsvoll gewesen wäre. Wichtiger, links zu sein und sich als Linke zu verhalten. Auch wenn man die Sache nicht bis in alle Verästelungen überblickte, ja gelegentlich voll danebenlag, so stand der Bezug zur Wirklichkeit, ein immer fordernder, nie gleichgültiger Bezug, doch außer Frage, und wo es Zweifel gab, halfen die Gegner nach, die zur Vereindeutigung von links nicht wenig beigetragen haben.

Heute ist links, um ein Wort von Walter Benjamin zu gebrauchen, vielfach "zerfällt". Das Dreierbündnis von Arbeit (Objektivität), Intelligenz (Subjektivität) und Ethik mutet willkürlich an. Zwar, was der Kalauer über das Alter sagt, growing old is compulsory; growing up is optional, gilt auch hier. Aber das Verhältnis von compulsory und optional hat sich verschoben. Nicht alles, was sich als Zusammenhang präsentiert, ist auch gewährleistet, und was optional ist, ist womöglich eher halluziniert als eine reale Perspektive. Optional, im unangenehmen Sinn von halluziniert, ist vor allem die traditionelle Rolle der Intelligenz als Aufklärerin einer tumben Menge, womöglich als Anführerin. Compulsory ist nicht zuletzt die Existenz der far-away-Sklavenarbeit, ohne dass sie sich im postmodernen Bewusstsein gehörig abbilden ließe, compulsory scheint überhaupt das Gesetz, dass sich der Kapitalismus über das Nichtkapitalistische, in Rosa Luxemburgs Begriff, über seine Ränder erhält. Abgekoppelt von Aufklärung und Gewalt: das ethische Gebot, Menschen zu retten. "Es gibt nichts Gutes außer: Man tut es." (Erich Kästner) Das ist eine andere Grundvoraussetzung als: "Man kann nichts Gutes tun, es sei denn, man ist links."

In den ersten Jahrzehnten nach dem Dritten Reich galt die letztere Voraussetzung. Wer nicht durch einen als natürlich empfundenen Gegensatz zum Nationalsozialismus geprägt worden war, musste diesen Gegensatz selbständig und in einer Weise herstellen, die vom Mainstream prompt als übertrieben empfunden wurde, so als würde eine durch den NS nicht ernstlich in Frage gestellte unpolitische Normalität und Mitte aufs Spiel gesetzt. Wer den Nationalsozialismus in den Fokus rückte und sich mit ihm, der bis weit in die Biographien hineinreichte, auseinandersetzte, sich explizit in die Tradition seiner Gegner und Opfer und damit gegen die Mitläuferideologie seiner familiären Vorbilder stellte, war links und wurde sogleich als links identifiziert.

Was bedeutete es unter diesen Umständen, links zu sein? Es bedeutete, den durch den NS zerstörten Bezug sowohl zur bürgerlich-liberalen Aufklärung als auch zur marxistischen Klassentheorie wiederherzustellen, und nicht von Anfang an stellten beide Projekte sich als unterschiedlich, gar antagonistisch dar. Die Grenze zur liberalen Diskussion musste erst herausgearbeitet werden, ohne dass links seinen Bezug zum Bürgerlichen, durch Habermas' Öffentlichkeitsdiskurs angestoßen, gänzlich losgeworden wäre; die breite Anwendbarkeit des Etiketts "linksliberal", nicht nur als Schimpfwort von links, auch als Selbstdefinition eines aufgeklärten Bürgertums, steht dafür. Nicht nur gewann links eine über seinen traditionellen Bereich hinausreichende Bedeutung, der Begriff verlor auch an Inhalt und Bestimmtheit, so dass man ebenso umgekehrt von einer Ausdehnung des Bürgerlichen bis weit in das Feld der Linken hinein sprechen kann. Antiautoritär war damals vielleicht der erste ernsthafte Konkurrent für links. Der Begriff markierte einerseits Unabhängigkeit von der traditionellen Zuordnung und behauptete gleichzeitig, ein natürlicher Ausdruck linken Bewusstseins zu sein, öffnete aber einen Spalt zwischen dem Lebensgefühl und der objektiven Zugehörigkeit, was ihn zu einer niemals ganz geklärten Angelegenheit machte, einem verführerischen Kompromiss oder einer scheinhaften Vermittlung.

Zielte die Totalitarismusdebatte der frühen Bundesrepublik, den Linken ein Graus, explizit auf die Übereinstimmung zwischen links und rechts, so wurde die Grenzziehung zwischen linksliberaler und linker Position erst mit der RAF Pflicht. Wer erkennbar oder vielmehr unverkennbar links sein wollte, hatte schließlich RAF werden müssen. Umgekehrt, wer dank seiner liberalen, auch antiautoritären Prägung nicht RAF werden wollte, war in kürzester Zeit nicht mehr links, sondern Realist und machte als solcher Karriere. Wer sich der Grenzziehung verweigerte, war in Kürze als Sympathisant markiert. Angesichts der heutigen Konjunktur rechter Parteien und Bewegungen, die bürgerliche Errungenschaften, Freiheit und Gewaltenteilung, aufs Korn nehmen, wird das Dilemma einer linken Position erneut deutlich. Bevor sie sich über sich selbst klar werden kann, hat sie sich in der Verteidigung der bürgerlichen Werte aufgerieben.

Dass die heutigen Schwierigkeiten, links zu sein, vor allem mit dem Zusammenbruch real- und staatssozialistischer Systeme zu tun haben, trifft auf den ersten Blick nur für die zu, die immer schon und originär links waren. Opfer der NS-Herrschaft, mühsam Überlebende, im Kalten Krieg ebenso rasch wieder verboten und ausgegrenzt wie im Dritten Reich bedroht und verfolgt, in der jungen BRD nahezu unsichtbar - so dass man selbst links sein konnte, ohne sich mit ihnen abzugeben -, sind sie auf keinen Fall die, die ab Mitte der 60er Jahre eine als links empfundene Bewegung prägten. Was für Letztere durch diesen Zusammenbruch zunichtegemacht wurde, hatte sich eher im Bereich der übersprunghaften Identifikation, einer mehr gefühlten als tatsächlichen Symbiose abgespielt. Die im realkommunistischen Zusammenhang hervorragende Rolle von Strategie und Taktik war für jemanden, der sich vor allem gegen die in der Bundesrepublik herrschende Strategie der Verdrängung engagierte, eine harte Nuss gewesen, ebenso unverdaulich wie die virulent werdende Frage von Überwachung und Gewalt und die überragende Rolle der Führung, anders ausgedrückt, Herrschaft. Gerade sie war für jemanden, der die ererbte autoritäre Gesinnung als Schuld empfand und den Untertan in sich bekämpfen wollte, eine Zumutung, die nur durch den Masochismus der bürgerlichen Selbstbezichtigung ertragen werden konnte, aber nicht auf ewig. So wurde der Zusammenbruch des Realsozialismus eher mit Erleichterung quittiert und ohne dass sogleich deutlich wurde, wie sehr die Möglichkeit, links zu definieren und zu sein, davon in Mitleidenschaft gezogen wurde. Vielmehr war es eher so, als hätte man sich einer Illusion entledigt, und die Realität wäre übriggeblieben, nur welche? Die heimliche Überzeugung, dass der Marxismus in den Rahmen der bürgerlichen Selbstaufklärung mehr als in den Rahmen proletarischer Selbstermächtigung gehört, dass man Marxist sein kann, ohne Kommunist sein zu müssen, womöglich besserer Marxist, wurde nicht widerlegt: sie schwand dahin. Marxismus wurde ein geistiger oder gestriger Standpunkt: als ökonomische Theorie so richtig, dass man ihn beinahe als bürgerlich bezeichnen konnte, politisch aber ohne Bedeutung. Angesichts der Konjunktur postmoderner Methoden, die die gesellschaftliche Widersprüchlichkeit nicht ableiteten, sondern von ihr ausgingen, die sie nicht platonisch nach Wesen und Erscheinung sortierten, sondern ihren Schein als ihr Wesen nahmen und sich vom Zwang zur Herleitung, zur Aufdeckung des Verborgenen und Entlarvung des Offensichtlichen damit befreiten, wurde der Marxismus im Westen zu einer reservatio mentalis. Er wurde eher behauptet als betätigt, eher festgehalten als bearbeitet. In hohem Maße auf die Realität angewiesen, an der er Anstoß nehmen, von der er sich abstoßen konnte, war er eher Kritik als Entwurf und merkwürdigerweise so gut wie nie Selbstkritik. Selbstauf hebung, für uns Kinder der Nachnazizeit mehr Utopie als Bedrohung, kam für die Hüter des Marxismus nicht infrage. So wurde er eine Sache für sich, etwas, was man tun oder lassen konnte. Die Betonung liegt auf lassen.

Trotzdem fehlt etwas, wenn Links fehlt. Es fehlt auch denen, die nicht in einer Familie von Sozis, Kommunisten gar, aufgewachsen sind und durch die gesellschaftliche Entwicklung um eine wie immer fragliche politische Heimat gebracht wurden. Betrachtet man die bürgerlichen Mittel der Verweigerung - als da sind individuelle Leistungsverweigerung, politischer Pazifismus und Hungerstreik, philosophische Skepsis und Stoa, das spirituelle Prinzip Erleuchtung statt Bereicherung, das ästhetische Prinzip Grenzüberschreitung und Provokation oder, praktisch, selbstgewählte Formen der Genügsamkeit -, so scheint das Nein hinreichend repräsentiert, ja durch das Prinzip der Selbstbegrenzung veredelt. Was also fehlt?

Es fehlt eine Position, die Anspruch erhebt auf die nicht hintergehbare Gesellschaftlichkeit der eigenen Person. Die war in der politischen Ökonomie ohne Abstriche, wenn auch hermetisch repräsentiert. Bereits in der kulturellen Selbstvergewisserung verschwammen aber idealistische und sozialistische Ideale und suggerierten eine Totalität, die in ihrer latenten Positivität und Spießigkeit verdächtig war, ein Ärgernis nicht zuletzt für aufbruchsbereite Bürgerkinder, die sich an ihre Herkunft noch erinnern konnten. Führte etwa jeder Gedanke ins Bürgerliche zurück? War das Proletariat, im geschichtsphilosophischen Kontext des Kommunistischen Manifests, nicht ein bürgerliches Schicksal, Geschichtsphilosophie womöglich immer bürgerlich? War nicht schon der Kampf gegen den Feudalismus ein Kampf um die aristokratischen Werte Stilsicherheit, Großzügigkeit, Tapferkeit gegen die Kleinbürgerei, ein - die neurechte Inanspruchnahme aristokratischer Grundwerte erinnert daran - Kampf des Bürgertums mit sich selbst? Wie steht es um die Möglichkeit, über sich hinauszudenken? Verhindert die Form nicht, was sie verspricht: dass die Idee über sich hinauswächst, nicht zuletzt die Idee des Universalismus?

Das Erste und Offensichtlichste, wenn von links die Rede ist, stellt die ökonomische Theorie heute Anforderungen, die ein Doppeltes umfassen: ein Verständnis des Kapitalismus sowohl als Tatsache, die man feststellen, als auch als Konstrukt, über das man nachdenken muss. Beide Anforderungen sind, wie es in Stellenausschreibungen heißt, "anspruchsvoll": je umfassender, auch abstrakter sie sind, desto elitärer der Appell, der von ihnen ausgeht, desto schlechter die Prognose für links. Wer soll den Kapitalismus in seiner doppelten Erscheinung als Inbegriff partikularen Interesses und als abstraktes Gesetz begreifen, wenn er der eigenen Theorie gegenüber blind bleibt? Wer soll es schaffen, dass er auf dem langen Weg vom Abstrakten zum Konkreten, dem Herleitungsweg, nicht ein einziges Mal "falsch abbiegt"? Den gesellschaftlichen Stoffwechsel nicht nur nach seinen bekannten, sondern auch nach seinen unbekannten Prinzipien begreifen wollen, heißt die Bedingtheit, auch die Spiegelbildlichkeit der eigenen Theorie einräumen. Dass dies nicht ohne weiteres als links gilt, ist dem Doppelcharakter von links als Theorie und Bewegung geschuldet. Linke Selbstreflexion schert sich um die Notwendigkeiten der Letzteren nicht; sie stellt auch links in Frage.

Es ist daher kein Wunder, wenn in der Wirklichkeit immer wieder Anhaltspunkte gesucht wurden, die die Orientierung erleichterten, zugleich Realität verbürgten. Herrschaftstheorien spiegeln die Suche nach solchen Haltepunkten wider, der Staat als Agent der Ökonomie, Verkörperung und Verschleierung dessen, "was die Welt im Innersten zusammenhält", ist ein erkennbarer Gegner. Gegen den Staat sein erfordert keine über jeden Zweifel erhabene Theorie, dafür eine grundsätzliche Einstellung und persönlichen Mut. Allerdings verliert der Gegner an Kontur in dem Maß, wie er von rechts in Frage gestellt wird und wie er ein Monopol nicht nur auf Herrschaft, sondern auch auf Partizipation und soziale Gestaltung geltend machen kann. Insofern er nicht nur ein Zerrbild des gesellschaftlichen Ganzen, sondern auch dessen Verkörperung beziehungsweise das eine in der Form des andern ist, bedeutet die Entscheidung für links auch Verzicht auf eine gesellschaftliche Praxis, die, wiewohl durch und durch schlecht, doch Allgemeinheit für sich in Anspruch nehmen kann. Dass prominente Linke aus der Studenten- und antiautoritären Bewegung sich in Staatsdienste begaben, hat unter anderem mit diesem Dilemma zu tun.

Wenn heute der Vorwurf des linken Antisemitismus erhoben wird, dann hat das mit der genannten Vereinfachung ebenso wie mit der vermissten Praxis zu tun. Wiewohl Inbegriff der Kontingenz, ist Antisemitismus ein leichterer Gegner als der Kapitalismus, weil das Schwierige seinem Wesen zugerechnet wird; es muss gehütet, nicht aufgelöst werden. Sich den Antisemitismus zum Gegner zu erwählen eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit einer Polarisierung, die die praktische Perspektive ersetzt. Dazu bietet er eine vereinfachte Form der Selbstkritik an, die das Böse, das sie als Fremdes identifiziert, begrifflich und praktisch aus sich herausschneidet. Dank der dem Antisemitismus innewohnenden traumatischen Qualität würde der Antisemitismusvorwurf das unbefangene Selbstbewusstsein, das linke Selbstvertrauen gleichwohl ernsthaft infrage stellen, gäbe es zu links nicht noch einen anderen Zugang als bloß den intellektuellen. Um die sachliche Seite des Kapitalismus zu begreifen, braucht es Theorie, um die Gewalt, die in der Sache steckt, abzulehnen, braucht es ein intaktes Bewusstsein seiner selbst. Auf der Basis dieses Selbstbewusstseins gerät der Satz "Links ist richtig" in Bewegung, er kehrt seine regulative Seite hervor: Was richtig ist, ist links. Gegenüber dem hergeleiteten linken Standpunkt hat der intuitive durchaus eine kritische Funktion. Mag die Herleitung noch so stimmig erscheinen - meist: je kurzschlüssiger sie ist -, wenn die Intuition sagt, das kann unmöglich links sein, dann stimmt es auch.

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2000 Zeichen abwärts

Bizarr

In der gegenwärtigen Debatte über Armut bzw. Wohlstand fällt dreierlei auf.

1. Die Behauptung von Wissenschaftlern, es ginge uns doch - weltweit - so gut wie noch nie, verbreitet sich auch im linksliberalen Milieu immer mehr. Angeblich seien der Lebensstandard, die Gerechtigkeit und das Gesundheitsniveau ständig im Steigen begriffen. Etwa der Existenzphilosoph und Grafikdesigner Stefan Sagmeister, der Politologe Klaus Schroeder, der Philosoph und Schriftsteller Johan Norberg, und allen voran der Psychologe Steven Pinker - sie alle vertreten eine "leidenschaftliche Antithese zum üblichen Kulturpessimismus". Anstatt "sozialhysterisch" zu sein sollten wir lieber das Positive in den Blickpunkt rücken. Die Arbeiterkammer scheint sich dies offenbar zu Herzen genommen zu haben. Sie kommt in ihrer großangelegten Untersuchung - dem "Wohlstandsbericht 2019" - zu einem recht positiven Ergebnis.

2. Manche mögen diesen Hurra-Optimismus dennoch nicht teilen. Vielerorts wird stattdessen der Begriff "Solidarität" wieder beschworen. Meist jedoch ohne Definition, ohne analytische Aussagekraft. So spiegelt sich darin nur ähnliche Hilflosigkeit wie im Buch von Heinz Bude "Solidarität - Die Zukunft einer großen Idee". Als ob dieser Begriff nicht vielfach missbraucht worden wäre - bereits damals in den 1970er Jahren, als er hoch im Kurs stand. Es fragt auch niemand, warum jene Schwachen, mit denen wir solidarisch sein sollen, schwach sind, wie und warum sie schwach gemacht wurden. "Warum" zu fragen, ist schlicht tabu.

3. Weil auch sozialen Einrichtungen und Armutsorganisationen tiefgreifende Gesellschaftskritik fehlt, sowie die Möglichkeit die Lage der Armen zu ändern, bleibt ihnen offenbar nur Trostpflaster zu verteilen. Hoch im Kurs stehen neuerdings Bemühungen, damit Arme nicht abwertend und schlecht behandelt werden. Auch sie hätten "ein Recht auf Anerkennung, Wertschätzung und Würde". Sie dürften nicht diskriminiert und ausgegrenzt werden. Der Slogan einer Einrichtung für Wohnungslose lautet: "Du bist wichtig!"

M. Wö.

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Bestseller-Algorithmen

von Peter Samol

Die Anwendung von Computer-Algorithmen erfasst immer neue Lebensbereiche. Mittlerweile sind davon auch Buchautoren und Buchautorinnen betroffen.


Jährlich gehen bei den Buchverlagen Tausende unverlangter Manuskripte ein. Dort haben die Lektoren und Lektorinnen pro Text oft nur wenige Sekunden Zeit, die Spreu vom Weizen zu trennen. Angesichts dieser Situation bietet die Berliner Firma "Qualification" Abhilfe an. Mit dem Programm "Lisa" (kurz für "Literaturscreening & Analytik") hat sie eine Software entwickelt, die innerhalb von Sekunden das Verkaufspotenzial eines Manuskripts erkennen soll (Mayer-Kuckuk 2019, 12). Es ist schon bei einer Reihe von Verlagen im Einsatz. "Lisa" ist ein neuronales Netz, das anhand von rund 10.000 Büchern gelernt hat, welche Eigenschaften zum Verkaufserfolg führen. Mehrere Verlage haben dafür ihre erfolgreichsten Bücher als Anschauungsmaterial zur Verfügung gestellt. Das Programm bekam den kompletten Text sowie die Verkaufszahl jedes einzelnen Buchs zur Verfügung gestellt. Die auf diese Weise trainierte "Lisa" gibt nun im Praxiseinsatz die Chance für den Verkaufserfolg eines eingereichten Manuskripts in Prozent an und macht außerdem Vorschläge für die Höhe der Startauflage (ebd.).

In ihrem Buch "Angriff der Algorithmen" beschreibt die Mathematikerin Cathy O'Neil, auf welche Weise Programme wie "Lisa" funktionieren und was für Folgen ihre breite Anwendung in der Gesellschaft hat. Algorithmen sind letztlich nichts anderes als in Computer-Code eingebettete menschliche Zwecke. Im Grunde sind sie nur dazu da, bestimmte Dinge zu differenzieren und Abläufe zu beschleunigen - das allerdings mit einer atemberaubenden Effizienz (O'Neil 2017, 160). Diese Effizienz wird mit Profit und Wachstum des jeweiligen Unternehmens belohnt, was die Konkurrenz dazu zwingt, ebenfalls solche Programme einzusetzen. Im Fall von "Lisa" geht es darum, jene entscheidenden maschinell erfassbaren Informationsschnipsel zu finden, die mit dem Verkaufserfolg von Büchern korrelieren (ebd., 164). Weil sich die Vorlieben der Leserinnen und Leser ändern können, lernt das Programm außerdem an aktuellen Veröffentlichungen und deren Verkaufszahlen weiter und passt sich dadurch immer wieder an den aktuellen Massengeschmack an (Mayer-Kuckuk 2019, 12).

Algorithmen sind intransparent. Aufgrund ihrer Komplexität könnten sie in ihrer Funktionsweise nur von einer relativ kleinen Gruppe von spezialisierten Programmierern und Programmiererinnen verstanden werden (O'Neil 2017, 39). In der Regel fallen sie ohnehin unter das Geschäftsgeheimnis von Firmen, so dass nur sehr wenige Menschen überhaupt Zugang zu ihnen haben (ebd., 44). Und sofern es sich um neuronale Netze - wie "Lisa" eins ist - handelt, hört die menschliche Kontrolle völlig auf. Neuronale Netze bestehen aus mehr als Tausend Schichten simulierten "Nervengewebes" und programmieren sich laufend selbst neu. "Neuronale Netze sind undurchschaubar wie Götter und ihre Funktionsweise ist nicht zu erkennen." (Ebd., 12). Welche Kriterien ein neuronale Netz entwickelt hat, behält es für sich. Autoren und Autorinnen, deren Manuskript abgelehnt wurde, erfahren daher nicht warum. Letztlich sind es mathematische Cut-Off-Werte, die alles abweisen, was jenseits von ihnen liegt (ebd., 182). Die dabei genutzten Daten basieren ihrem Wesen nach auf der Vergangenheit und damit auf der Annahme, dass die Muster der Vergangenheit sich in der Zukunft wiederholen werden (ebd., 57). Auf diese Weise wird die Vergangenheit in Code eingebettet, operationalisiert und als vermeintliches Zukunftswissen ausgegeben (ebd., 276). Faktisch wird lediglich reproduziert, was zuvor zum Erfolg geführt hat. Das verstärkt aktuelle Trends und laufende Entwicklungen. Für den Buchmarkt bedeutet das, dass es zu einer allgemeinen Angleichung der Inhalte und Stile kommen wird (Maxeiner 2019, 18).

Auch Autoren können Muster erkennen. Es wird ihnen künftig kaum etwas anderes übrig bleiben, als sich zunehmend darauf zu konzentrieren, den obskuren Kriterien der Algorithmen gerecht zu werden. Im Zusammenhang mit "Lisa" ist immerhin bekannt, dass es stark auf die Benutzung aktiver Verben achtet (Mayer-Kuckuk 2019, 12). Außerdem weiß man, dass Witze für Computerprogramme äußerst irritierend sind (O'Neil 2017, 178). Alles in allem werden Schriftstellerinnen künftig darauf gedrillt, einem vage durchschaubaren System von Kriterien gerecht zu werden. Im Zweifelsfall werden sie einfach die erfolgreichen Kollegen imitieren, um die Anforderungen des Selektions-Algorithmus zu erfüllen. So entstehen selbstbezügliche Schleifen, die sich selbst bestärken (ebd., 45). In der Folge wird es "immer mehr vom Immergleichen geben" (Maxeiner 2019, 18), Neuartiges zu schreiben wird systematisch entmutigt. Eine frische neue Autorin, die mit einer gewissen Sorte von Witz oder Ironie das Zeug haben könnte, eine völlig neue Stilrichtung zu kreieren, wird dagegen von einer sturen Software davon abgehalten werden, überhaupt etwas zu veröffentlichen. Originelle Literatur wird man künftig in Nischen suchen müssen und hoffen, dass es diese in Zukunft überhaupt noch geben wird.

Daten, Computer, Software und Co. werden nicht mehr aus unserem Leben verschwinden (O'Neil 2017, 296). Die Programme, Algorithmen, neuronalen Netze, etc. entwickeln sich ständig weiter und breiten sich zunehmend aus, ständig auf der Suche nach neuen Anwendungsmöglichkeiten (ebd., 275). Fast immer geht es darum, Arbeitsabläufe zu optimieren, Verkaufszahlen zu verbessern, Profite zu steigern, kurz: den Geboten des allgemeinen Verwertungsgeschehens zu folgen. Vor allem weil es effizient und kostengünstig ist, werden Menschen also immer stärker dazu gezwungen, den Kriterien von Maschinen gerecht zu werden. So wird alles immer weiter einer allgemeinen Berechenbarkeit untergeordnet und der Raum für autonomes Denken zunehmend enger.


Literatur

Maxeiner, Robert: Immer mehr vom Immergleichen (Leserbrief), in: Frankfurter Rundschau 06.03.2019.

Mayer-Kuckuk, Finn: Lisa, das Bestseller-Orakel, in: Frankfurter Rundschau 02.03.2019.

O'Neil, Cathy: Angriff der Algorithmen, München 2017.

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Von den Tugenden der geleiteten Freiheit

Liberale Werte sollen wieder durch konservative ersetzt werden

von Franz Schandl

Die Routine wird gestört, und das ist durchaus erfrischend. Wichtig ist, dass der Liberalismus in diesem Band nicht dekretiert wird, sondern diskutiert. Nicht einfach übergestülpt, sondern umgestülpt. Der Liberalismus wird als Problem begriffen und nicht nur als dessen Lösung. An diesem Vorhaben versucht sich der katholische US-amerikanische Politikwissenschafter Patrick J. Deneen.

Sich als liberal zu bekennen, ist heute universell geworden; derlei reicht inzwischen weit über den politischen Liberalismus im engeren Sinne hinaus. Kaum ein Terminus schillert so wie dieser. Der Liberalismus ist zu "einer alles durchdringenden unsichtbaren Ideologie" (S. 247) geworden, so Deneen. Freiheit besteht aktuell darin, "keine andere Wahl zu haben", viele fühlen sich "ausweglos gefangen" (29). "Das Versprechen der Freiheit läuft auf eine Knechtschaft der Unumgänglichkeiten hinaus, der wir uns nur mehr fügen können." (36) Es geht darum "den Fortschritt zu überleben" (52). Tatsächlich ist der Liberalismus von "der Misere seiner Erfolge belastet" (23). "Der Liberalismus ist gescheitert, weil er erfolgreich war." (247) Er siegte sich somit zu Tode. Zweifellos, liberale Freiheit soll heute als Freiheit schlechthin gelten. Liberalismus bedeutet aber nicht die Freiheit, sondern bloß eine Freiheit. Eine sehr eigene noch dazu. Auch der Liberalismus hat seine Grenzen, wo der Liberalismus seine Grenzen hat. Für Deneen steht die "Befreiung vom Liberalismus selbst" (38) an.

Anzumerken ist jedoch, dass die Kategorie "liberal" in den USA anders konnotiert ist als hierzulande. Bei Deneen wird der Terminus schier überdimensional ausgewuchtet. Keineswegs als staatsfeindlich sieht Deneen den Liberalismus. Dezidiert merkt er etwa an, dass Markt und Staat sich ergänzen, weniger widersprechen als zusammengehören (36f.). "Im Zentrum der liberalen Theorie und Praxis steht die herausragende Rolle des Staates als Erfüllungsgehilfe des Individualismus" (90), schreibt er. Diese Sichtung ist ungewöhnlich, aber nicht ganz falsch. Liberal, das sind dem Autor daher Marktradikale wie Staatsinterventionisten, aber auch Postmodernisten und Poststrukturalisten. Von Jean-Jacques Rousseau bis Karl Marx gehören da alle dazu. Der Kessel, in den sie geworfen und verrührt werden, ist groß, die behaupteten Kompatibilitäten gewagt. Auf jeden Fall gilt es aufzupassen, nicht terminologischen Fehldeutungen aufzusitzen.

Als die beiden Grundprinzipien des Liberalismus nennt der Autor den "anthropologischen Individualismus und die voluntaristische Konzeption der Wahlfreiheit" (62). Doch warum soll man Letztere nicht anstreben? Zur Ideologie wird sie doch erst, wenn man Freiheit als verwirklicht betrachtet, gar ein System als "die Freiheit" agiert, was bewusstlos wie bewusst in die Irre führt. Individuelle Ausprägungen sind zu schätzen, gefährlich wird es erst, wenn sie darauf reduziert werden, eine Ich-Marke für den Markt herauszubilden. Das Ich wäre dann weniger eine individuelle Herausforderung als ein kollektiver Zwang. Im Liberalismus hat das Einzelwesen sich ja primär als konkurrenzfähiges Marktsubjekt zu erweisen. Im pluralistischen Schein der Waren verflüchtigen sich die Entscheidungen in Angebot und Nachfrage. Selbstverständlich ist der Individualismus auch nicht anthropologisch, aber logisch in seiner auf klärerischen Setzung ist er allemal. Diese Orientierung zu verwerfen, wäre fatal.

Deneen bezichtigt die Liberalen, "die Vergangenheit als ein Repositorium von Unterdrückung" (159) zu betrachten. Aber ist sie das nicht? Falsch ist nur, dass Liberale gemeinhin annehmen, der Liberalismus sei die Befreiung von Unterdrückung schlechthin und nicht deren moderne Fortsetzung. Deneen wirft dem Liberalismus vor, dass er die menschliche Natur negiere und auch für die "Idee einer natürlichen Ordnung, der die Menschheit unterworfen ist" (60) nichts übrighabe. Auch hier wäre der Liberalismus zu verteidigen. Das Problem ist ja nicht, dass er die traditionellen Verhältnisse umgestoßen hat, das Problem ist, was er an ihre Stelle gesetzt hat.

Laut Deneen haben die klassischen Philosophen des Liberalismus, Hobbes und Locke, einen besonderen Naturzustand erst erfunden (88). Dem ist zwar zuzustimmen, doch das trifft nicht nur auf die beiden Philosophen zu, vielmehr ist es so, dass jeder behauptete Naturzustand eine ideelle Konstruktion darstellt. So nachvollziehbar der Autor das Natur-Gerede der Liberalen zurückweist, so sehr bedient er es selbst. Freilich könnte man auch bestreiten, dass es überhaupt so etwas wie eine menschliche Natur gibt, vielmehr gibt es menschliche Kulturen, die je nach ihrer Ausrichtung (welch Zufall!) ihre spezifische Kultur als Natur begreifen. Das trifft für den Liberalismus nicht weniger zu als auf den Konservativismus. Klar ist es Unsinn zu verkünden, dass die Menschen von Natur aus "eigennützige Geschöpfe" (61) sind. Aber nicht weniger unsinnig ist es zu erklären, dass sie es partout nicht sind. Vielmehr sind sie Geschöpfe ihrer jeweiligen sozialen Bedingungen.

Der katholische Gelehrte vertritt einen strikt antikosmopolitischen Standpunkt. Der Liberalismus streiche das "Streben nach Gemeinschaft" (91) durch. "Sein Zustand ist also Heimatlosigkeit" (115), heißt es. Deneen spricht sogar von "entwurzelten und geschichtslosen Lebensformen" (268). Das Vokabular von "gewachsenen Verhältnissen" (100), von "Tradition und Erbe" (ebd.), lässt schaudern. Abschnittsweise wird der Band zu einem antimodernistischen Kassiber. Gemeinschaft heißt: heiraten, Familie gründen, Kinder erziehen, in der Region bleiben. Das Credo wirbt für die Rückkehr informeller Herrschaft klassischer Autoritäten. Das gipfelt dann auch noch in einer entrückten Sexualmoral, die von "natürlichen Gegebenheiten" phantasiert und sich aus "biologischen Vorgaben" (172) ableitet. "Die Natur stellt keinen Standard mehr dar" (172), jammert er. Aber sollte sie? Und vor allem auch: Was ist Natur? Ein unveränderliches Etwas? Eine unverrückbare Schablone? "Das einzige, was man von der Natur des Menschen wirklich weiß, ist, dass sie sich ändert", schreibt Oscar Wilde.

"Der Liberalismus untergräbt die humanistische Bildung" (158), konstatiert Deneen. Das ist kaum von der Hand zu weisen. Welche Alternativen unserem Autor vorschweben, illustriert indes ein texanisches Beispiel, das er wie folgt resümiert: "Ziel einer solchen Ausbildung ist nicht das "kritische Denken", sondern die Erlangung einer von Tugend geleiteten Freiheit." (163) Zumindest weiß man, an welchem Gängelband eine so projektierte Freiheit hängen soll. Gott wird es schon richten. Ein upgedatetes Benediktinertum lässt grüßen. Es ist auch ein Binnenkonflikt: Ein katholisch motivierter Konservativismus macht gegen einen protestantisch inspirierten Liberalismus mobil. Wenig erfrischend ist also, woher dieser antiliberale Wind weht.

Die Beherrschbarkeit der Welt ist eine gefährliche Mär, ebenso allerdings die fatalistische Unterwerfung unter schicksalhafte Vorgaben. Letztere schimmern beim religiös engagierten Autor immer wieder deutlich durch. Hier tritt die gute alte Welt gegen die böse neue Zeit an. Bei aller Kritik des Liberalismus scheint Deneen nahezulegen, dass es vor ihm etwas wie ein in sich stimmiges Dasein gegeben hat, und erst der Liberalismus das Zerstörungswerk in Gang gesetzt habe. Auch wenn Dynamik und Dimension der Destruktion immens gesteigert werden konnten, ist diese einseitige Diagnose eine unhistorische und gefährliche Fehlannahme.

Unabhängig davon wie man Deneens Schlüsse beurteilt, bleibt das Buch in seiner Analyse einiges schuldig. Trotzdem ist es ein stringenter antiliberaler Katechismus, der zumindest glaubhaft versichert, dass nichts Besseres nachkommt. Alles Nachher, das bloß auf ein Vorher verweist, wirkt eigentlich absurd. Es geht nicht nur darum, den Fortschritt zu überleben, es geht auch darum, den Rückschritt zu überstehen.

Zu: Patrick J. Deneen
Warum der Liberalismus gescheitert ist
Aus dem Amerikanischen von Britta Schröder
Müry Salzmann Salzburg-Wien 2019

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Auslauf

von Petra Ziegler

Jobvernichtung

Die Fragen, die sich stellen, liegen eigentlich auf der Hand. Was brauchen wir? Wie kommen wir dazu? Und wie erfüllen wir unsere Bedürfnisse und Begehrlichkeiten - ohne die Umwelt in irreparablem Ausmaß zu schädigen, ohne nachkommenden Generationen den Planeten ausgeplündert, kontaminiert und völlig vermüllt zu übergeben, ohne uns einseitig zu Lasten Dritter auszuleben und ohne unser jeweiliges Gegenüber willkürlich zu Handlungen oder Unterlassungen zu nötigen? Oder sagen wir es anders: Wie koordinieren wir unsere sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Belange, unseren Alltag und zukünftige Projekte bewusst, das meint direkt und nicht über den Umweg einer mit Eigenlogik behafteten Form?

Eine Welt ohne Geld und ohne die damit verbundenen Zwänge würde vieles, was heute unverzichtbar erscheint, praktisch über Nacht überflüssig machen. Ganze Berufsgruppen, im Bereich Banken, Versicherungen, Marketing, Verkauf, Buchhaltung, Geldeintreibung, größere Teile des "organisierten Verbrechens" und der hoheitlichen Verwaltung gingen ihrer Funktion verlustig. Zeitaufwändige Kostenkalkulation, Antragsschreiben, die ewigen Betteleien ... - alles Vergangenheit. Auch wäre niemand mehr gezwungen sich in Wert zu setzen, die innere Rechnungsprüfung darf anderen Neigungen Platz machen.

Mit dem Wegfall aller rein monetären Notwendigkeiten geschuldeten Tätigkeiten fangen die Einsparungen freilich erst an: Neuerungen bei technischen Geräten machen dann nur noch im Fall tatsächlich verbesserter Qualität Sinn, ressourcenschonende Herstellung wäre das Ziel, schlaue update-Möglichkeiten, Reparierbarkeit und möglichst vollständige Wiederverwendbarkeit von Teilen und Material. Keine durch Moden, die alle halben Jahre wechseln, künstlich verkürzten Produktzyklen, Schluss mit der geplanten Obsoleszenz, keine überflüssigen Parallelentwicklungen, vielleicht irgendwann das ideale Sitzmöbel, von dem eins sich nicht mehr trennen möchte. Konsum aus Kompensationsgründen vermindert sich stark, keine Frustkäufe nach einer vergeudeten Woche im Büro, keine Schnäppchenjagden, kein Mengenrabatt, keine Massenproduktion aufgrund betriebswirtschaftlicher Effizienz etc. etc. Der berechtigte Einwand etwa, wer ohne Erwerbszwang noch bereit wäre, in irgendwelchen Minen zu malochen, zieht einen Rattenschwanz an Veränderungen nach sich. Das Ende der Wegwerfgesellschaft mit vermehrt echtem Recycling statt Downcycling und intelligenter "Reste-"Verwertung - insgesamt ein Rückgang der materiellen Bedürfnisse, jedenfalls in unseren Breiten. Forschungssynergien, aufbauend auf dem dann frei verfügbaren Wissen. Es darf getüftelt werden. Was ist die beste Idee, statt wer hat den größeren Werbeetat?

Nichts, womit bislang Geld gemacht wurde, bliebe unhinterfragt. Mobilität, Architektur, Ortsplanung - was für spannende Herausforderungen liegen darin, geht es nicht länger darum, mit Infrastrukturprojekten die Wirtschaft anzukurbeln oder irgendwelche Arbeitsplätze in der Region zu halten.

Und nicht zuletzt spart Umwege vermeiden "leere" Kilometer in gigantischem Ausmaß. Ein Drittel des Flugaufkommens fällt derzeit auf Geschäftsreisen, noch einmal knapp halb so groß wie der Personenverkehr insgesamt ist der Flugfrachtverkehr (laut übereinstimmenden Schätzungen der NASA und des Wuppertal-Institut droht eine Verdoppelung in den nächsten 15 Jahren), nicht zu vergessen Rohprodukte und Halbfertigwaren, die aus Kostengründen zum Waschen, Montieren oder irgendeinem Verarbeitungsschritt quer über die Kontinente und retour gekarrt, geflogen und verschifft werden.

Was dann noch bleibt an Notwendigkeiten, beansprucht tatsächlich nur noch einen Bruchteil unserer Aufmerksamkeit und Energie. Auf gerade einmal durchschnittlich fünf bis zehn Stunden pro Woche kommen verschiedenste Schätzungen, und sie scheinen eher noch zu hoch gegriffen. Freilich gilt es erst einmal zu reparieren, was nach jahrzehntelangem Zerstörungswerk noch zu retten ist. Fad dürfte es auch dann nicht werden ...

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Quelle:
Streifzüge Nr. 77, Winter 2019
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. April 2020

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