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VORWÄRTS/695: Uns bleibt das kritische Denken


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 45/46/2010 vom 3. Dezember 2010

INLAND
Uns bleibt das kritische Denken


sit. Der Sieg der SVP mit ihrer Ausschaffungsinitiative ist ein Ereignis, das zeigt, in welchem Zustand die Gesellschaft ist und wohin sie sich am bewegen ist. Wir stellen fest, dass Fremdenfeindlichkeit und Sozialabbau Hand in Hand gehen und durchaus einen guten Dienst leisten. Uns bleibt eine Wahl, doch für wie lange noch?


"Wann ist der Punkt gekommen, an dem einem die Sache klar werden sollte?" Diese Frage stellte ich an der Redaktionssitzung vor dem Abstimmungssonntag. Ab wann war es klar, wohin die mörderische und verbrecherische Reise der Nazis in Deutschland führte? Dann, als die ersten SA-Trupps für ihre Ordnung auf den Strassen sorgten? An der Reichskristallnacht, als die Synagogen lichterloh brannten? Als Hitler Kanzler wurde? Als die Wehrmacht in Polen einmarschierte? Sicher, das Ganze war ein schleichender Prozess. Das Nazigift, welches das Denken ausschaltete, Angst und Hass schürte, gelang Tröpfchen um Tröpfchen in die Köpfe der Menschen. Und trotzdem gab es Ereignisse, wie eben die Reichskristallnacht, die zusammenhängend betrachtet deutlich machten, wohin sich Deutschland am entwickeln war.


Mehr aus Verzweiflung?

"Dieser Punkt ist schon lange da", sagt die junge Kollegin, die zum ersten Mal in der Redaktionssitzung ist: "Es gibt ja keinen Widerstand mehr". In der Tat ist der Widerstand ein wichtiger Indikator, um den Zustand und die Entwicklung einer Gesellschaft zu erkennen. Und dieser Widerstand wird immer kleiner und marginaler. So war der Widerstand gegen die Minarett-Initiative um einiges präsenter - in der Presse und auf der Strasse. Und als im 2006 über die Verschärfung des Asyl- und Ausländergesetz abgestimmt wurde, gab es eine richtige Bewegung dagegen. Der Kampf begann am Flüchtlingstag mit einer guten Demo in Bern. Migrantische Organisationen führten einen Fussmarsch von St. Gallen nach Bern durch. In direktem Kontakt mit der Bevölkerung zeigten sie auf, welchen Beitrag sie zum Aufbau und zum Funktionieren der Schweiz tagtäglich leisten und welch gravierende Auswirkungen eine Annahme des Ausländer- und Asylgesetzes hätte. Die SP, als grösste Partei im linken Spektrum, war geschlossen gegen die Verschärfungen. Und heute, vier Jahre später? Nichts von all dem. Resignation? Ist der Widerstand gebrochen? Ist die Hoffnung wirklich erst am Sonntag, 28. November 2010, gestorben? Oder ist sie schon lange mausetot und wir merken es nur nicht, wollen es nicht merken, weil wir es nicht wahr haben wollen? Wir kämpfen weiter, mehr aus Verzweiflung, da uns sonst nur die Kugel bleibt, die wir uns heulend durch den Kopf knallen können.


Der Nährboden für Fremdenfeindlichkeit

So hoffnungslos? Nicht ganz, uns bleibt das kritische Denken. Betrachten wir den erneuten Sieg der SVP als eines dieser Ereignisse, das uns - lieber spät als nie - die Augen öffnen sollte. Stellen wir diesen Erfolg in den Kontext mit der Verschärfung des Asyl- und Ausländerrechts, mit der Minarett-Initiative und der jeweils dazugehörenden Propaganda der SVP. Weiter mit dem Gegenvorschlag zur Ausschaffungsinitiative der Mitteparteien und der Politik betreffend den illegalisierten Sans Papiers, und wir erkennen mit grosser Leichtigkeit die offene, fremdenfeindliche Entwicklung in der Schweiz. Doch wem dient diese Sündenbockpolitik? Sie muss mit einer analog laufenden gesellschaftlichen Entwicklung in Verbindung gebracht werden. Eine Entwicklung, die durch die Globalisierung bei vielen Menschen berechtigte Existenzängste auslöst. Am besten erklärbar anhand eines aktuellen Beispiels: Anfang Oktober beschliesst in Paris die Leitung des Weltkonzerns Alstom, dass 4000 Beschäftigte ihre Stelle verlieren, alleine in der Schweiz sind es deren 750. Die Betroffenen, die Gewerkschaften und die politischen Behörden erfahren davon durch die Medien und stehen diesem Entscheid mehr oder minder machtlos gegenüber. Die globalisierte Unsicherheit und Angst wird weiter durch den Sozialabbau gefüttert, der unter dem Mantel der Krise kräftig vorangetrieben wird. Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung werden massiv gekürzt. Den Betroffenen bleibt nur noch der Gang zum Sozialamt. Gleiches "Schicksal" droht den IV-BezügerInnen mit der 6.IV-Revision, die Mitte Dezember im Nationalrat diskutiert wird und Einsparungen von rund 1,2 Milliarden pro Jahr vorsieht. Und fast noch schlimmer: Die Revision sieht einen historischen Tabubruch vor, nämlich die Streichung und Kürzung bestehender Renten. Immer mehr Menschen leben in der Schweiz unter der Armutsgrenze. Immer mehr ArbeitnehmerInnen sind gezwungen, mehrere Jobs anzunehmen, um bis ans Monatsende durch zu kommen. Bildung wird zur Luxusware, während für schulisch schwache Jugendliche Lehrstellen und Bildungsangebote fehlen. Unsicherheit und Angst sind der beste Nährboden für Fremdenfeindlichkeit.


Wut und Frust lenken

Doch wem dient Fremdenfeindlichkeit? Die Antwort liefert unter anderem der Basler Soziologieprofessor Ueli Mäder in der neuen Studie "Wie Reiche denken und lenken", die Mitte Oktober veröffentlicht wurde. In der Schweiz haben weniger als drei Prozent der privaten Steuerpflichtigen gleich viel steuerbares Nettovermögen wie die restlichen 97 Prozent! In den letzten zwanzig Jahren sind die Vermögen der 300 Reichsten von 86 auf 449 Milliarden Franken angestiegen. Jeder zehnte Milliardär der Welt wohnt in der Schweiz. Der Hauptgrund sind die Erbschaften: 10 Prozent der Erben bekommen 75 Prozent der gesamten Erbsumme von geschätzten 40 Milliarden Franken im Jahr 2010.

Kurz: Fremdenfeindlichkeit dient den Reichen zum Lenken. Die Wut und der Frust sollen sich nicht gegen die wenigen Profiteure der Globalisierung richten, sondern gegen jene, die zum Sündenbock des Bösen und des Übels abgestempelt werden. Fremdenfeindlichkeit war und ist ein gutes und bewährtes Instrument, um die Sichtweise auf die gesellschaftliche Entwicklung zu entstellen.

Und nun? Solange das kritische Denken vorhanden ist, lebt der Widerstand. Diesen zu stärken, heisst heute unter anderem: Erstens die Organisation des Widerstands mit den Direktbetroffen des Sozialabbaus und der fremdenfeindlichen Hetze. Zweitens der kompromisslose Widerstand in den Parlamenten gegen jede Form des Sozialabbaus und gegen jeden fremdenfeindlichen Vorstoss. Und drittens, die Systemfrage stellen, der Kampf für eine gerechte Welt. Denn auf dem Wegweiser des Widerstands steht: "Sozialismus oder Barbarei!" Wir haben nach wie vor die Wahl. Für wie lange noch, wird uns die Geschichte zeigen.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 45/46/2010 - 66. Jahrgang - 3. Dezember 2010, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2010