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VORWÄRTS/742: Der andere Krieg


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 23/24 2011 vom 24. Juni 2011

Der andere Krieg

Von Michi Stegmaier


Sie kommen aus Somalia, Eritrea, der Elfenbeinküste oder dem sudanesischen Darfur. Unter ihnen hat es viele Frauen und Kinder. Sie sind geflohen vor Bürgerkrieg und Gewalt und haben es irgendwie durch die Sahara nach Libyen geschafft. Dort bekamen sie den Terror von Gaddafis Schergen zu spüren: Man hinderte die Flüchtlinge an einer Weiterreise, ganz im Sinne Europas. Dann kam der Krieg nach Libyen.


Viele sind seither gestorben, wurden als vermeintliche Söldner gelyncht und zu Tode geprügelt. Einige verstecken sich seit Monaten. Andere sind weiter nach Tunesien geflohen, wo sie in verschiedenen Flüchtlingscamps untergebracht werden. Die Mutigsten setzen alles auf eine Karte und riskieren trotz aller Gefahren und Widrigkeiten die gefährliche Überfahrt nach Europa. Es ist die Verzweiflung und Ohnmacht, welche die Menschen ihr Leben riskieren und alles auf eine Karte setzen lässt. Viele versuchen nach Lampedusa durchzubrechen, oft bezahlen sie ihren Wagemut mit dem Tod. Unabhängige Menschenrechtsorganisationen gehen mittlerweile davon aus, dass seit Beginn der Kämpfe in Libyen rund 1.600 Menschen im Mittelmeer ums Leben kamen. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Wahrscheinlich sind seit Beginn des "arabischen Frühlings" weitaus mehr Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen, als von greisen Despoten niedergemetzelt wurden. Es ist eine humanitäre Tragödie, welche sich direkt vor unseren Augen abspielt.


Den Toten Gerechtigkeit

Im Mai sank vor der libyschen Küste ein Flüchtlingsboot mit über 600 Menschen, nur wenige wurden gerettet. Im März trieb ein Flüchtlingsboot manövrierunfähig wochenlang auf hoher See und 61 Menschen starben qualvoll. Obwohl die in Seenot geratenen Boat-People mehrfach via Satellitentelefon die tunesischen, maltesischen und italienischen Behörden über ihre Notlage informierten, kam keine Hilfe. Überlebende berichten sogar von einem Flugzeugträger, der an den Boat-People vorbeifuhr. Und das ist alles andere als ein tragischer Einzelfall. So fand in Frankfurt am Main am 19. Juni 2011, von "Pro Asyl" und Hinterbliebenen organisiert, eine öffentliche Gedenkveranstaltung statt. Sie erinnert an ein anderes Unglück: Im August 2009 starben 77 Männer, Frauen und Kinder aus Eritrea, Äthiopien und Nigeria im Kanal von Sizilien. Drei Wochen lang dauerte ihr Martyrium auf hoher See. Viele Schiffe fuhren am manövrierunfähigen Boot vorbei - doch eine Rettung blieb aus. Nur fünf der Bootsflüchtlinge überlebten. Viele der Toten hatten Angehörige in Europa. Anlässlich der Gedenkveranstaltung fordern die Hinterbliebenen Aufklärung und Gerechtigkeit für den Tod ihrer Liebsten. Sie klagen die maltesischen und italienischen Behörden und die europäische Grenzagentur "Frontex" an, ihre Lieben nicht gerettet zu haben.


Ab nach Den Haag

Eigentlich ist es mehr als klar. Es hätte nur eine angemessene Reaktion gegeben und das wäre die sofortige Evakuierung der festsitzenden GastarbeiterInnen und Flüchtlinge aus Libyen gewesen. Und man muss jetzt kein Völkerrechtler sein, um zu erkennen, dass im Prinzip jeder derzeit amtierende Präsident und jede Präsidentin, der Schweizer Bundesrat und das ganze EU-Parlament eigentlich längst wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" vor das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gehören. Was vor den Toren Europas passiert, ist nichts anderes als Wohlstandssicherung mit militärischen Mitteln. Der Krieg Reich gegen Arm, er hat längst begonnen.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24 2011 - 67. Jahrgang - 24. Juni 2011, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2011