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VORWÄRTS/781: Occupy das Schlafzimmer?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 45/46/2011 vom 23. Dezember 2011

Occupy das Schlafzimmer?

von Siro Torresan


Zwei Monate nach dem "Occupy-Paradeplatz" erinnert auf dem Bankenplatz im Herzen der Limmatstadt nichts mehr an die Bewegung. Das Camp am Stauffacherplatz ist verlassen. Nur gerade ein rosarotes Pappschwein und Willkommensplakate in verschiedenen Sprachen sind zu sehen und erinnern daran, dass "wir 99 Prozent" sind.
Ist die Bewegung tot? "Nein", behauptet ein Aktivist in einem Interview im "Tagesanzeiger" vom 15. Dezember. Er verweist dabei auf die im Dezember täglich stattfindenden Aktivitäten. Das stimmt, bloss scheinen nur die eingefleischten AktivistInnen davon Kenntnis zu haben, denn ausserhalb dieses Kreises hört oder liest man nichts davon. Nachlesen kann man auf der Homepage dafür, dass die Bewegung sich "dezentralisiert" hat. Ein seltsamer Entscheid für eine Bewegung, die bisher weltweit in zentralen Aktionen, wie es Besetzungen nun mal sind, ihren Kampf und ihre Stärke sieht.

Das Camp am Stauffacher wurde wegen den Problemen mit jenen Menschen aufgegeben, die unter dem Sammelbegriff "Randständige" zusammengefasst werden. Sie "wohnten und assen und tranken da, obwohl diese Leute mit der Bewegung gar nichts am Hut hatten", erklärt ein Occupy-Sprecher. Dies führte dazu, dass man "die AktivistInnen immer mehr als versoffenen Haufen wahrgenommen hat. Und das wollen wir nicht!", hält der Aktivist fest. Der Bewegung diesbezüglich etwas vorzuwerfen, wäre vermessen. Trotzdem liefert der Entscheid Stoff zum Nachdenken: Erstens, weil es die tiefe Kluft zwischen Traum und Realität schonungslos offenlegt; hier die friedliche, bunte, heile Welt der Bewegung, dort die brutale, reale Lebenssituation jener Menschen, die im kapitalistischen System als "Abfallprodukte" gelten. Davonlaufen ist nicht die Lösung, auch wenn der Widerspruch zwischen Traum und Realität schwierig zu lösen ist.

Und zweitens, weil eine Bewegung erst dann ein Potential zu realen Veränderung entwickeln kann, wenn sie die Direktbetroffenen ansprechen und mobilisieren kann. Und dass Obdachlose und Sozialhilfefälle direkt von den Missständen des Systems betroffen sind, kann kaum jemand bezweifeln. Falls doch sei daran erinnert, dass niemand bei Minustemperaturen freiwillig auf einer Parkbank mit nassen Kartons als Matratze und einer alten, miefigen Decke voller Löcher schläft.


Wie weiter?

Auf der Homepage der Bewegung sind ihre aktuellen Probleme mehr oder weniger offen ersichtlich. Man spricht unter anderem von den "grossen Veränderungen" innerhalb von zwei Monaten, die dazu geführt haben, dass sie sich schliesslich ins "Private zurückgezogen" hat. Wie zurzeit die Stimmung ist, zeigt wohl am besten ein auf der Homepage publizierter "Tagebucheintrag" eines Aktivisten. Er spricht von der "Winterruhe (nicht Schlaf)". Doch ob Ruhe oder Schlaf, beides bedeutet einen Unterbruch der Aktivitäten. Er hält fest: "Die Samstagsversammlungen oder Besetzung sind zusammengeschrumpft und die etwa gleichen 30 bis 40 Leute versammeln sich". Weiter schreibt der Aktivist, dass die "Kollektive Intelligenz in den Vollversammlungen vermehrt ins Unbewusste abgleitet: die VVs sind vermehrt zäh und eher seltener konstruktiv geführt worden". Und er begrüsst, dass "die 2. oder 3. Welle oder Generation sich vermehrt einbringt und auch klare Strukturen fordert".

Die harte Realität des politischen Widerstands in der kapitalistischen Welt, der aus mühsamer Knochenarbeit besteht, hat die Bewegung eingeholt. Die anfängliche fröhliche Begeisterung ist dahin. Wie weiter? Diese Frage schreit nun nach Antworten. Eine wegweisende Antwort wird die nächste geplante Aktion unter dem Motto "Occupy WEF" liefern. Man darf gespannt sein.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 45/46/2011 - 67. Jahrgang - 23. Dezember 2011, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Januar 2012