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VORWÄRTS/824: Ertugrul Kürkçü - Vom bewaffneten Revolutionär zum Parlamentarier


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 19/20/2012 vom 11. Mai 2012

Hintergrund
Ertugrul Kürkçü - Vom bewaffneten Revolutionär zum Parlamentarier

Von Andreas Dietschi/huz.



"Politische Gewalt muss historisch legitimiert sein"

Der Genosse Ertugrul Kürkçü (64), Journalist, Schriftsteller und Abgeordneter im türkischen Parlament, gehört zu den wichtigsten Vertretern der revolutionären Linken seines Landes. Bei der Vereidigung im Parlament trug er zehn rote Nelken, um den GenossInnen zu gedenken, die 1972 in politischen Kämpfen neben ihm gefallen sind. Der vorwärts sprach mit Kürkçü nach einer Veranstaltung in Basel.


Ganz generell gefragt: Welche Hoffnungen hast du bezüglich der Linken in der heutigen Welt?

Am besten sieht die Situation derzeit in Lateinamerika aus. Dort ist die politische und ökonomische Situation ähnlich wie die in der Türkei. Deren Art, mit sozialen, politischen und kulturellen Widersprüchen umzugehen, ist für uns daher sehr inspirierend. Weiter finde ich auch die Situation in Südeuropa - Griechenland, Spanien und Italien - interessant, da die Bewegungen dort vom Widerstand in Nordafrika etwa Algerien oder Ägypten - beeinflusst wird. Es gibt noch einen aktiven Widerstand gegen die kapitalistische Hegemonie oder gegen den Imperialismus. Im Moment gilt es, die öffentliche Meinung in ganz Europa zu beeinflussen, auch wenn die Revolution nicht unmittelbar bevorsteht. Vieles deutet darauf hin, dass die Tendenz generell nach links zeigt.

In der Schweiz glauben nur Wenige an die Existenz sozialer Klassen oder die Notwendigkeit radikal linker Politik. Wie ist sie hier trotzdem möglich?

Vor drei Jahren habe ich mich mit ein paar Ihrer GenossInnen der Partei der Arbeit getroffen und war beeindruckt von deren politischen Positionen. Sie legten viel Wert auf die Frage der MigrantInnen und auf eine internationalistische Politik. Generell bin ich mir aber bewusst, dass Klassenkämpfe in der Schweiz nicht zum politischen Alltag gehören. Das heisst aber nicht, dass es keine Widersprüche und Klassendifferenzen gibt - sie treten nur noch immer weniger hart hervor als in der Türkei oder in Griechenland. Das hat mit der Stellung der Schweiz im europäischen kapitalistischen System zu tun. Da die Schweiz aber keine Insel ist, wird sie früher oder später von grösseren Spannungen zwischen den Klassen betroffen sein. Sozialistische Politik muss aber nicht in einer simplen Propaganda für den Sozialismus bestehen. Widerstand gegen die kapitalistische Hegemonie kann sich auch in Arbeitskämpfen, dem Widerstand gegen die Besetzung des urbanen Bodens durch das Kapital, dem Einsatz für die Umwelt oder dem Kampf für die Rechte der Frauen zeigen.

Du wurdest gerade ins Türkische Parlament gewählt. Wieso hast du dich dafür entschieden?

In der Türkei haben revolutionäre Gruppen immer versucht, auch ins Parlament zu kommen. In Koalition mit der kurdischen Bewegung betreiben wir schon seit 1991 parlamentarische Politik. Nur weil man von ausserhalb kommt, heisst das nicht, dass man gegen das Parlament ist. Wir politisieren auf allen Ebenen. Weil sich diese Bereiche nicht widersprechen, ist der Eintritt ins Parlament für mich auch kein Wechsel meiner politischen Strategie. Das wichtigste ist jedoch, an der Basis gut organisiert zu sein und immer wieder Rechenschaft über die eigene Politik abzulegen. Sonst wird man sofort zu einem völlig bourgeoisen Politiker. Ohne ausserparlamentarische Politik ist das Parlament wie ein Vakuum.

Wie sieht es mit Exekutivämtern aus?

Exekutivpolitiker und gleichzeitig sozialistischer Revolutionär zu sein, ist grundsätzlich ein Widerspruch. Die Exekutive kontrolliert die Polizei und das Militär, die physische Gewalt zum Schutz des Systems einsetzen. Mit grossem Rückhalt einer starken Basis kann es aber sinnvoll sein, auf kommunaler Ebene um Exekutivämter zu werben. Weiter braucht es dann eine Strategie, wie man sich in möglichen Konflikten mit der Zentralregierung verhält. Genau das ist heute die Situation kurdischer Lokalregierungen in der Türkei. Sie werden von der Regierung aber geduldet, weil sie fürchtet, dass der Widerstand grösser wird, wenn sie die Kurden von den Ämtern entfernt.

Du warst 14 Jahre im Gefängnis. Wie hat dich diese Zeit verändert?

Von 1974 bis 1979 war ich im Militärgefängnis politisch isoliert. Ich habe dort viel gelesen, über meine politische Position nachgedacht und Texte übersetzt. Aufgrund der ruhigen politischen Lage waren sogar marxistische Schriften erlaubt. Dann kam ich in ein Zivilgefängnis, in dem ich während fast zweier Jahre wieder intensiven Kontakt mit meinen GenossInnen pflegen konnte. Viele von ihnen hatten ihre Einstellung aber geändert und sie waren auf den Militärputsch von 1980 nicht vorbereitet, den ich deutlich kommen sah. Noch vor dem Putsch versuchten wir, einen Tunnel aus dem Gefängnis zu graben, wir wurden aber entdeckt.

Durch die langjährige Gefangenschaft wurde ich viel vorsichtiger und das ist gut. Ich bin aber noch immer davon überzeugt, dass nur eine richtige Revolution in der Türkei oder sonst auf der Welt wirklich etwas ändern kann. Ich kann sogar sagen, dass ich heute vom Marxismus noch viel überzeugter bin als 1968. Ein Kampf der organisierten Arbeiterklasse ist heute so wichtig wie damals. Ich glaube aber heute nicht mehr, dass es eine einzige richtige Methode gibt, diesen Kampf zu führen, jede hat zu einer bestimmten Zeit ihre Berechtigung. Daher werde ich die Kurden auch nie dafür verurteilen, einen gewaltsamen Kampf zu führen, oder es bereuen, dass wir früher Gewalt angewendet haben. In anderen Ländern ist Gewalt heute kein Thema mehr: In Griechenland, Italien oder Spanien wird sie nicht geduldet. Politische Gewalt muss historisch legitimiert sein.

Türkische und kurdische GenossInnen und gar Mainstream-Medien in Europa sprechen von einem kommenden Krieg in Syrien. Wie schätzt du die Lage ein?

Die Situation innerhalb von Syrien ist komplizierter, weil die Opposition nicht so geschlossen ist wie in Tunesien oder Ägypten. Es gibt die Kurden, die Kommunisten und andere linke Gruppierungen, die an die Macht gelangen wollen. Wir und das türkische Volk sind gegen einen Einmarsch der Türkei in Syrien. Doch die Regierung Erdogans scheint in die kurdischen Gebiete Syriens eindringen zu wollen. Die europäischen Staaten und Russland scheinen aber kein Interesse an einem Krieg zu haben. Es wird darauf ankommen, ob die Amerikaner die Türkei zu diesem Schritt drängen.

Wie ist die Lage der Kurden in dieser Situation?

Nach dem Fall der Regime im Iran und Syrien wird die Türkei das Vakuum in der Region ausfüllen wollen, was zu mehr militärischer Stärke und einer stärkeren Unterdrückung der Kurden führen wird. Die kurdische Bewegung wird mit gleicher Kraft zurückschlagen, was auch in der Bevölkerung zu unvorhersehbarer Gewalt führen kann. Ich kann mir noch nicht vorstellen, was geschehen wird, wenn eine Dynamik der Gewalt zwischen gewalttätigen Nationalisten und Kurden angestossen ist. Die Situation könnte auch in Massakern enden. Wir wollen die Regierung nun dazu bringen, mit der kurdischen Bewegung zu verhandeln, um die drohende Gewalt zu verhindern. Diese Versuche sind bisher gescheitert. Alle Oppositionsparteien im Parlament sind aber gegen einen Krieg. Im Westen der Türkei werden die Leute für Proteste gegen den Krieg auf die Strasse gehen, im südöstlichen Teil hat die revolutionäre Linke keine Machtbasis. Die Meinung der Öffentlichkeit ist geteilt. Eine grosse Protestwelle gegen den Krieg erwarte ich jedoch nicht.

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Vom bewaffneten Revolutionär zum Parlamentarier

Ertugrul Kürkçüs Leben ist ein eindrückliches Zeugnis für die Kämpfe der politischen Linken und der kurdischen Bevölkerung in der Türkei seit den Siebzigerjahren. Sein politisches Engagement konfrontierte ihn immer wieder mit der harten Repression des türkischen Staates.


Ertugrul Kürkçü, Journalist, Schriftsteller und Abgeordneter im türkischen Parlament, gehört zu den wichtigsten Vertretern der revolutionären Linken seines Landes. Er setzt sich insbesondere für die Rechte der kurdischen Bevölkerung ein. Sein ganzes Leben ist von der Beteiligung an politischen Kämpfen geprägt. Vierzehn Jahre verbrachte er daher im Gefängnis, nachdem er in den Wirren des 1971 erfolgten Militärputschs fast getötet und dann verhaftet wurde.

Kürkçü gehörte 1970 zusammen mit Mahir Çayan zu den Gründern der "marxistisch-leninistischen Türkischen Volksbefreiungspartei-Front (THKP-C)". Nachdem die THKP-C eine Entführung durchgeführt hatte, um gefangene und zum Tod verurteilte Genossen freizubekommen, wurden Kürkçü und seine Genossen 1972 von der paramilitärischen Jandarma gestellt. Ausser Kürkçü wurden alle erschossen. Sein ursprüngliches Todesurteil wurde 1974 in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt. Kürkçü wurde 1986 nach einer Gesetzesänderung freigelassen.

Arbeit, Demokratie und Freiheit
1996 war Kürkçü Mitbegründer der antikapitalistischen Partei "Özgürlük ve Dayani ma Partisi" (Partei der Freiheit und Solidarität, ÖDP), die jedoch nie über einem Prozent Wähleranteil erzielen konnte. 1997 wurde Kürkçü wegen der Übersetzung eines Buches von "Human Rights Watch" zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die er jedoch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte abwenden konnte.

Als unabhängiger Kandidat für die Provinz Mersin wurde Kürkçü 2011 ins türkische Parlament gewählt, wo er sich bald darauf der prokurdischen "Bari ve Demokrasi Partisi" (Partei des Friedens und der Demokratie, BDP) anschloss, die aus der "Demokratik Toplum Partisi" (Partei der demokratischen Gesellschaft, DTP) hervorging und 2009 vom Verfassungsgericht aufgrund angeblicher Verstösse gegen die Verfassung verboten wurde. Weil die BDP nicht davor zurückschreckt, zu ausserparlamentarischen Aktionen aufzurufen, solche durchzuführen, oder trotz Verbot im politischen Kontext die kurdische Sprache zu verwenden, werden auch deren Mitglieder regelmässig Opfer von Gewalt und Verleumdung.

Um verschiedenen linken Kräften die Möglichkeit zu geben, die zehn-Prozent-Hürde zum türkischen Parlament zu überwinden, trat die BDP bei den Wahlen 2011 nicht als Partei an, sondern unterstützte Kandidierende des Blockes für "Arbeit, Demokratie und Freiheit". Auch Kürkçü erlangte auf diesem Weg seinen Sitz im Parlament. Kürkçü hat sich in Basel mit Leuten getroffen, die eine neue türkische Partei, Partei der Sozialen Zukunft, gründen möchten.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ertugrul Kürkçü (64), Abgeordneter im türkischen Parlament und revolutionärer Sozialist.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 19/20/2012 - 68. Jahrgang - 11. Mai 2012, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2012