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VORWÄRTS/840: Die Befreiung der marokkanischen Frau


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 25/26 vom 22. Juni 2012

"Die Befreiung der marokkanischen Frau würde die Befreiung der ganzen Gesellschaft bedeuten"

von Pascal Mülchi



Samira Kinani ist stellvertretende Generalsekretärin der Menschenrechtsorganisation Association Marocaine des Droits Humains (AMDH). Die 52-jährige ist wohnhaft in der Hauptstadt Rabat und ist Mitglied der Gewerkschaft Union Marocaine du Travail (UMT). Der vorwärts sprach mit ihr über die Affäre Amina Filali, die Befreiung der Frau in Marokko und ihre Rolle bei den landesweiten Protesten des "Mouvement du 20 Février".


Mitte März sorgte in Marokko der Tod der 16-Jährigen Amina Filali für einen gesellschaftlichen Aufschrei. Nach offizieller Version nahm sich das Mädchen das Leben, nachdem es an seinen Vergewaltiger zwangsverheiratet wurde. Artikel 475 des marokkanischen Strafgesetzbuchs besagt, dass ein Vergewaltiger straffrei davon kommt, wenn er sein minderjähriges Opfer im Einverständnis mit dessen Eltern heiratet. Die Heirat Minderjähriger in Marokko wird vom Familienkodex Moudawana gedeckt. Zur Diskussion steht auch Artikel 20 des Familiengesetzes, der die Heirat Minderjähriger erlaubt. Eine Internetpetition (vgl. avaaz.org) verlangt die Aufhebung des Artikels 475.

Frage: Frau Kinani, der mediale Wirbel rund um die Affäre Amina Filali hat sich seit ihrem Tod Mitte März gelegt. Erzählen Sie uns kurz, was seither geschehen ist.

Samira Kinani: Es fand ein Kolloquium statt, wo die Familienministerin und mehrere Organisationen, darunter auch die Präsidentin der Menschenrechtsorganisation Association marocaine des droits humains (AMDH), zusammen kamen, um die Geschehnisse gemeinsam zu diskutieren. Die Vergewaltigung von Kindern und die Zwangsheirat sind in der marokkanischen Gesellschaft weit verbreitete Phänomene. Es handelt sich dabei aber um Vorfälle, über die kaum gesprochen wird. Das Thema wird tabuisiert. Amina Filali hat nun Licht auf diese Problematik geworfen. Eigentlich sollten Organisationen, welche sich für die Rechte der Frauen einsetzen, alles dafür tun, um diese Tabus zu brechen. Seit dem Fall Filali hat sich aber vor allem die Zivilgesellschaft eingeschaltet. So wurde beispielsweise intensiv auf Facebook darüber diskutiert. Allerdings wurde das Gesetz, das dem Vergewaltiger die Heirat mit seinem Opfer erlaubt, bis zum heutigen Tag nicht geändert - und zwar unter dem Vorwand kultureller Besonderheiten.

Frage: Der Fall Amina Filali wurde zum Symbol. Welche Wirkung hatte er auf die marokkanische Gesellschaft?

Samira Kinani: Er hat den Deckmantel des Schweigens, der über dem Tabu der Vergewaltigung von jungen Mädchen lag, zerrissen. In diesem Sinn hat der Fall auch eine gute Seite, weil zuvor nicht auf diese Weise, das heisst mit Demonstrationen und Sitins, auf die Problematik aufmerksam gemacht wurde. Das ist der Verdienst dieses Vorfalls. Doch es ist auch traurig, dass erst ein junges Mädchen sterben musste, bis sich die Leute dazu entschieden, auf die Strasse zu gehen, um das Gesetz zu denunzieren.

Frage: Bassima Hakkaoui, die marokkanische Ministerin der Solidarität, der Frau, der Familie und der sozialen Entwicklung, hatte nach dem Vorfall eine Debatte um die Änderung des Gesetzes angekündigt. Zeichnet sich nun wirklich eine Reformierung oder gar eine Aufhebung der besagten Artikel ab?

Samira Kinani: Wie ich vorher schon betonte: Bis zum jetzigen Zeitpunkt hat sich nichts Konkretes getan. Was die Debatte betrifft: Abgesehen von einigen Konferenzen über den Vorfall und damit die Thematik der Vergewaltigung Minderjähriger wird nicht mehr viel darüber gesprochen. Und ich habe auch das Gefühl, dass die virtuelle Mobilisierung und das Interesse eher abgenommen haben.

Frage: Wie ist die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), die stärkste Kraft in der Regierung, mit der Affäre umgegangen?

Samira Kinani: Die PJD als die stärkste Kraft zu bezeichnen, ist bloss eine Sichtweise. Man weiss aber genau, dass in Marokko nicht die Regierung regiert. Es handelt sich um eine Fassadenregierung. Als Partei hat sich die PJD dahin geäussert, dass es sich beim Vorfall nicht um eine Vergewaltigung, sondern vielmehr um eine Liebesbeziehung gehandelt habe.

Frage: Wessen Opfer ist denn Amina Filali letztendlich?

Samira Kinani: Sie ist das Opfer einer ganzen Gesellschaft und ihrer Auffassung, welche die Frau als Objekt sieht. Einerseits ist das Mädchen also Opfer einer heuchlerischen, patriarchalen und masochistischen Gesellschaft, in der das Gesetz schwache Frauen nicht schützt. Andererseits ist sie das Opfer ihres Umfelds, weil sie verheiratet wurde, um einen so genannten Skandal zu verhindern. Denn eine entjungferte, nichtverheiratete Frau ist in Marokko verpönt, vor allem auf dem Land.

Frage: Welche Rolle spielen die Werte des Islams wie die "Ehrerhaltung" oder die "Schambeseitigung" in dieser Geschichte?

Samira Kinani: Das sind nicht Werte des Islams, sondern Werte einer masochistischen Gesellschaft. Beim in Marokko angewendeten und praktizierten Recht handelt es sich übrigens um ein französisches und nicht um ein muslimisches. Deshalb kann man hier nicht vom Islam reden. In unseren Gesellschaften ist der Masochismus ein Übel, das jegliche Hoffnungen einer blühenden Gesellschaft, in der Frauen und Männer in Freiheit und Gleichstellung leben können, erstickt. Diese Hoffnung ist nicht eine Frage der Wahl zwischen Islam, Christentum oder Judentum, also eine Frage der Religion, sondern eher des vorherrschenden Männlichkeitswahns. Denn in unseren Gesellschaften sind es noch immer die Männer, welche die Gesetze machen und dadurch bevorzugt werden.

Frage: In der neuen Verfassung, die bald ein Jahr alt sein wird, steht schwarz auf weiss geschrieben, dass die Politik und der König die Diskriminierung der Frauen und Mädchen beenden wollen, womit die Gleichstellung der Geschlechter proklamiert wurde. Es scheint, dass es in Marokko eine unglaubliche Diskrepanz gibt, zwischen dem, was in der Verfassung steht und dem was die Realität repräsentiert. Was ist der Grund dafür?

Samira Kinani: Die Regression Marokkos beruht auf der Tatsache, dass die Regierenden sich der Demokratie und damit den Hoffnungen vieler Marokkaner auf ein würdiges Leben quer stellen. Jene, die an der Macht sind, haben es sich so eingerichtet, dass sie sich einzig auf die fortschrittsfeindliche Seite der islamischen Religion beziehen und sie ihren Kindern weitergeben. Für das, was den MarokkanerInnen derzeit widerfährt, ist meiner Meinung nach zuerst der Staat verantwortlich, und zwar durch sein politisches Programm, seine Politik in den Schulen, in den Moscheen oder im Fernsehen. Der Staat hält alle Macht in seinen Händen. Wenn er denn wirklich den Willen hätte, die Dinge zu verändern, hätten wir es gesehen und gewusst. Doch was man uns erzählt, besteht einzig aus leeren Worten.

Frage: Seit Jahren verlangen Nichtregierungsorganisationen eine Feminisierung der Justiz mittels eines gerechteren Strafgesetzbuchs gegenüber Frauen und einer Desakralisierung des Familiengesetzes, inspiriert durch die Menschenrechte. Ein Memorandum wurde erarbeitet und dem Justizministerium anlässlich des "Printemps de la Dignité" im Jahr 2010 übergeben. Das Thema bleibt aber auch nach der Affäre Filali, so scheint mir, weit weg von der politischen Tagesordnung, warum?

Samira Kinani: Ich kann Ihnen sagen: Die Befreiung der marokkanischen Frau würde die Befreiung der ganzen Gesellschaft bedeuten. Und in Marokko hat man offenbar nicht wirklich Lust, dass sich die Gesellschaft befreit. Glauben Sie zudem, dass der Westen ernsthaft an einem freien Marokko interessiert ist?

Frage: Sie engagieren sich seit Jahren in sozialen Kämpfen, besonders für die Rechte der Frauen. Die Befreiung der marokkanischen Frau, was heisst das im Marokko unserer Tage genau?

Samira Kinani: Was Amina Filali angeht, handelt es sich um eine junge marginalisierte Frau in einem Marokko, wo es keine Arbeit gibt und die Leute nichts zu tun haben. Es kommen mehrere Faktoren zusammen: Man kann nicht von einer Befreiung der Frau einzig durch Gesetze sprechen. Die Befreiung muss auch eine ökonomische und kulturelle sein. Man könnte zum Beispiel ins Gesetz schreiben, dass ein Mann nicht das Recht auf eine zweite Ehefrau hat, wenn die Frau dies nicht zulässt. Doch wenn die Frau ökonomisch nicht unabhängig ist, hat sie dann wirklich die Wahl? Für eine ökonomische Befreiung der Frau muss das Volk erst selber mitbestimmen können. Das ist in Marokko im Moment nicht der Fall. Wenn wir also von der Befreiung der Frau in einer verarmten, marginalisierten Gesellschaft sprechen, die nicht selber über ihr Schicksal entscheiden kann und der sehr vieles vorgeschrieben wird, dann ist das pure Scheinheiligkeit. Wenn wir für die Befreiung und Würde der Frau kämpfen wollen, dann müssen wir gleichzeitig auch für die Selbstbestimmung unseres Volkes kämpfen, welches heutzutage noch immer von der westlichen Politik bestimmt wird.

Frage: Das "Mouvement du 20 Février" fordert seit mehr als einem Jahr demokratische Reformen, sprich eine Modernisierung des Landes. Welche Rolle spielen die Frauen in dieser Protestbewegung und welches sind ihre Hauptforderungen?

Samira Kinani: Im M20F haben wir eine sehr hohe Präsenz von Frauen, vor allem jungen Frauen und Mädchen, die oftmals aus modernen Quartieren kommen und eine Veränderung am stärksten fordern. Sie fordern die Gleichstellung der Geschlechter und ein würdiges Leben. Dagegen hat man die Bewegung der traditionellen Frauen, das heisst die Vereinigungen, welche stark mit aus dem Ausland beeinflussten Entwicklungsplänen arbeiten, gar nicht beachtet.


Pascal Mülchi ist freier Journalist in Südfrankreich.
Das Interview wurde im Mai 2012 per Telefon geführt und aus dem Französischen übersetzt.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 25/26/2012 - 68. Jahrgang - 22. Juni 2012, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2012