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VORWÄRTS/854: "Ilva" Taranto - Arbeiten schadet der Gesundheit


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 31/32 vom 31. August 2012

"Ilva" Taranto: Arbeiten schadet der Gesundheit

von Maurizio Coppola



Im apulischen Taranto war dieser Sommer besonders heiss, denn im grössten Stahlwerk Italiens kam, es zu Protesten gegen die Ankündigung einer besonderen Art der Schliessung. Der genauere Blick hinter die Ereignisse deckt die Relevanz dieses Konflikts in Krisenzeiten auf.


Den 26. Juli 2012 werden die Bewohner des Arbeiterquartiers Tamburi in Taranto noch lange in Erinnerung behalten: Das Ermittlungsgericht der apulischen Stadt ordnete die Festnahme von sechs Verantwortlichen des Stahlunternehmens "Ilva" und die Beschlagnahmung und somit die Schliessung des Produktionsareals an. Rund 14.000 ArbeiterInnen sollten ihre Arbeit verlieren. Grund: Die massive Umweltverschmutzung durch die veralteten Produktionsanlagen. Seit der Gründung des Stahlwerkes 1905 hat die Ilva jährlich direkt und indirekt 90 Krebstote verursacht. Die Ilva ist der grösste Arbeitgeber der Region, mit ihr stehen und fallen die wirtschaftliche Entwicklung und die materielle Existenz der Familien. Die ArbeiterInnen heschreiben das Leben rund um die Stahlfabrik mit folgenden Worten: "Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, muss ich zentimeterhohen schwarzen Staub auf dem Balkon zusammenschaufeln." "Ich bin vor zehn Jahren in den Betrieb gekommen, habe die Stelle meines Vaters übernommen. Hier zu arbeiten ist wie in einem Vulkan zu leben."


Zwischen Pest und Cholera

Im krisenerschütterten Italien hat die Ankündigung der Schliessung massive Reaktionen ausgelöst. Die Belegschaft der Ilva selbst hat tagelange Streiks und Demonstrationen organisiert und wichtige Zugangsstrassen rund um Taranto blockiert. Doch sehr schnell sahen sie sich mit einer den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen inhärenten Widersprüchlichkeit konfrontiert: Entweder sie akzeptieren aus gesundheitlichen Interessen den Schliessungsentscheid, verzichten aufgrund mangelnden Alternativen auf Arbeit und Lohn und somit auch darauf, ihre Familie füttern zu können; oder aber sie kämpfen weiter für eine Arbeit, die mittelfristig tödliche Krankheiten provoziert. Aus diesem "falschen Dilemma" von "Umwelt oder Fabrik" auszubrechen war die erste Aufgabe der Bewegung.

Die Regierung Monti sprach sich hingegen klar gegen die Schliessung aus, wohl weniger aber wegen seiner ausserordentlichen Sensibilität für die soziale und gesundheitliche Situation der ArbeiterInnen, als vielmehr für die politischen Konsequenzen, die der technokratische Regierungschef fürchtet. Denn der Süden Italiens ist schon seit Ende des Zweiten Weltkrieges beschäftigungspolitisch vernachlässigt. Die Schliessung eines der wichtigsten Standorte in der Region würde Proteste auslösen, denen die Regierung nicht tatenlos zusehen könnte. Tatsächlich hat das Gericht dann am 7. August den Schliessungsentscheid zurückgezogen und die sofortige Umsetzung der Sanierungsarbeiten angeordnet.


Wenn die Sozialpartnerschaft der Gesundheit schadet...

Wenige Tage nach der Urteilsverkündung organisierten die grossen Gewerkschaften eine Kundgebung in Taranto. Doch die ArbeiterInnen kritisierten diesen Versuch der Gewerkschaften, sich auf der Seite der Belegschaft zu profilieren. Die Vorsitzenden der drei Grossverbände (CGIL, CISL und UIL) wurden ausgepfiffen und aus der Stadt gejagt. "Wir fühlen uns alleine gelassen, darum glauben wir ihnen nicht", so ein Arbeiter. Tatsächlich wurden zwischen 2003 und 2006 Vereinbarungen unterzeichnet, nach denen 24 Prozent des Umsatzes der Ilva in Massnahmen zur Einhaltung von Umweltnormen investiert werden sollten. Zu den Unterzeichnenden dieser Vereinbarungen gehörten neben dem Umweltministerium, der Region, der Provinz und der Gemeinde Taranto auch und vor allem die Gewerkschaften. Sie übernahmen die Verantwortung für die Kontrolle der Umsetzung dieser Normen. "Ich habe über 20 Jahre bei der Ilva gearbeitet und ich kann euch versichern, dass sich nie etwas verändert hat", so ein anderer Arbeiter. Die Haltung der Gewerkschaften in Taranto ist nur ein weiterer Ausdruck ihrer Anpassungspolitik in der aktuellen Krise. Dass sich die Wut der ArbeiterInnen nun nicht nur gegen das Unternehmen und das Gericht, sondern auch gegen die Gewerkschaften richtet, scheint mehr als nur plausibel.


...hilft nur Selbstorganisation

Zeitgleich mit den Protesten gegen die Schliessung des Stahlwerkes und gegen die Konzertationspolitik der Gewerkschaften gründeten die ArbeiterInnen das "comitato cittadini e operai liberi e pensanti" (Komitee der freien und denkenden ArbeiterInnen und BürgerInnen). Mit der Gründung einer solchen Versammlung scheinen ArbeiterInnen und BewohnerInnen der Region Taranto die Wichtigkeit des Kampfes zu verstehen, der in einem breiteren Kontext einbettet ist. Denn mit diesen Versammlungen haben die Menschen einen Prozess angestossen, der einen "positiven und produktiven Horizont" anvisiert und aus den herrschenden Widersprüchen auszubrechen versucht. Genau an diesem Punkt konvergiert ihr Kampf mit der Bewegung für die Entschädigung der Opfer von Eternit in Turin, mit derjenigen in der Val di Susa gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon und mit den Menschen, die sich in der Region Neapel gegen den Bau neuer Kehrrichtverbrennungsanlagen wehren. Gerade in Süditalien ist die Frage von Arbeit, Gesundheit und Umwelt ein zentrales Mobilisierungsmoment, da die Krebserkrankung weit über dem italienischen Durchschnitt liegt.


Keine Alternativen

"Ich habe versucht wegzugehen, aber hier gibt es keine Alternativen. Meine Kinder verdienen was besseres. Lange Zeit war die gängigste Antwort auf die Probleme: Lass sein, was interessiert uns das. Doch nun müssen wir selbst Protagonisten unserer Zukunft werden." So beschreibt ein weiterer Arbeiter die aktuelle Situation. Wenn die Bewegung den Kampf innerhalb und ausserhalb des Arbeitsplatzes tatsächlich weiterhin verbinden kann, wenn sie die Fähigkeit haben wird, die sozialen Kämpfe in Italien in ihrer Vielfalt zu analysieren und sich mit diesen Kämpfen zu verbinden, dann kann das Konfliktniveau erhöht werden und die Hoffnung auf eine radikale Transformation Form annehmen. Das ist aber immer auch der schwierigste Schritt im Kampf für eine bessere Welt.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 31/32/2012 - 68. Jahrgang - 31. August 2012, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. September 2012